Falkan und die Blasmusik - Gerhard Krieg - E-Book

Falkan und die Blasmusik E-Book

Gerhard Krieg

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Beschreibung

Es ist ein warmer Sommer, das Leben ist unbeschwert und Kriminalhauptkommissar im Ruhestand Kurt Falkan lässt mangels kriminalistischer Herausforderungen Seele und Füße baumeln. Dann beginnt mit dem Routineauftrag eines Freundes der Ärger. Um ihn herum sterben Menschen wie Fliegen, und er selbst gerät ins Visier der Ermittler, Grund genug für Falkan, die Füße wieder auf den Boden zu bekommen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Allmählich füllte sich der leere, kalte Gang mit Geräuschen. Müde Stimmen, ein paar Lacher, schwere Türen, die in den Angeln quietschten. Das allmorgendliche Konzert nach dem Wecken. Mit unmotivierten Schritten und lustlosem Gesichtsausdruck schlurften die Männer über das alte Linoleum in Richtung Kantine. Jeden Tag das gleiche Essen, bevor der immer gleiche Tagesablauf sie am Abend wieder in die Zelle entließ. Es gab wirklich keinen Grund für Euphorie.

Justizwachtmeister Detlef Bonhart lehnte lässig an der Wand und ließ die Karawane der Gefangenen an sich vorbeiziehen. In den vier Jahren, seit sie ihn nach Preungesheim versetzt hatten, hatte es noch nie einen ernst zu nehmenden Vorfall gegeben, und in ihm schlummerte die Hoffnung, dass sich das bis zu seiner Pensionierung im nächsten Herbst nicht ändern würde. Er war weder besonders strebsam noch sonderlich abenteuerlustig. Er hatte es gerne ruhig, und die Männer wussten das.

Manche grinsten ihn im Vorbeigehen an, andere warfen ihm ein freundliches `Moin´ zu oder hoben die Hand. Bonhart quittierte jeden Gruß mit stummem Nicken.

Als der Letzte an ihm vorbei war, stieß er sich von der Wand ab und schlenderte hinterher. Sein Kollege Dietmar Wenzel tat das Gleiche an der gegenüberliegenden Wand.

„Hast du gestern das Spiel gesehen?“

„Nee, Carmen wollte die Pilcher gucken, und so verrückt auf Fußball bin ich auch nicht, dass ich mir einen zweiten Fernseher hinstelle. Außerdem haben unsere ja doch wieder verloren.“

„Ich habe gestern die Gasrechnung bekommen.“ Bonhart hielt kurz an und warf einen Blick in Zelle 312, deren Tür nicht ganz offen stand. „Die werden auch immer unverschämter. Wenn das so weitergeht, stelle ich auf Holz um.“

„Tja, darauf habe ich als Mieter keinen Einfluss. Ich muss nehmen, was es gibt, und bei uns im Haus gibt’s eben Gas.“

Soeben war der letzte Gefangene auf der Treppe zum unteren Stockwerk verschwunden, auf dem sich die Kantine befand. Bonhart stoppte erneut. Die Tür zur 319 war noch geschlossen. Soweit er wusste, war die Zelle aber belegt.

„Da hat wohl einer keinen Hunger“, sagte er und betätigte den eisernen Türgriff. Als die schwere Tür nach außen aufschwang, blieb ihm der Atem weg. „Verdammte Scheiße.“

Bonharts Hoffnung auf ruhige letzte Monate war dahin. Wenzel, der noch einige Jahre länger machen musste, drängte sich an ihm vorbei und besah sich den Schlamassel näher. Dann drehte er sich zu seinem Kollegen Bonhart um, der mit blassem Gesicht in der Tür stand und um seine Fassung kämpfte.

„Der hat wirklich keinen Hunger mehr.“

Dann zückte er das Funkgerät und forderte medizinisches Personal an, obwohl ziemlich eindeutig war, dass hier kein Arzt mehr helfen konnte.

Kapitel 1

Trotz des Nieselregens, der den ganzen Morgen schon aus dem wolkenverhangenen grauen Himmel herabschwebte, waren die Bänke auf dem Dalles, wie der Dorfplatz im Herzen Altenhaßlaus genannt wurde, gut besetzt. Hier und da spannte sich ein Regenschirm über die Köpfe, doch die meisten Besucher hielten dem hauchdünnen Wasserschleier tapfer stand. Nach den Jahren der Pandemie waren den Leuten die feuchten Haare ziemlich egal.

Soeben kamen die letzten Menschen die Kirchentreppe herab. Der Freiluftgottesdienst war wetterbedingt kurzerhand vom Schulhof in die Martinskirche verlegt worden. Auf der überdachten Bühne richtete sich gerade die Kapelle ein, um den Frühschoppen musikalisch zu begleiten. Jemand vom Stand der Folkloregruppe schob zwei Körbchen mit Getränken auf die Bodenbretter neben eine der Lautsprecherboxen.

Nachdem der letzte Glockenschlag vom nahen Kirchturm verhallt war, erklangen die ersten Töne der Trompeten, um die Instrumente durchzupusten und die Lippen zu wetzen. Die zwei Akkordeonspieler schnallten sich ihre schweren Geräte um und orgelten ein paar Testakkorde. Der Dirigent schraubte sein Notenpult auf die passende Höhe und sah mit Freude auf die gut gefüllten Bänke hinter sich. Es war schön, den Leuten wieder ins Gesicht schauen zu können. Dann ordnete er seine Noten. Obenauf lag die Partitur für `Es ist so schön, ein Musikant zu sein´, mit dem die `Original Hessisch-Bayrischen´ die meisten ihrer Auftritte begannen.

„Ist das nicht schön?“, freute sich Kurt Falkan und grinste in den grauen Himmel hinauf. Ein paar hellere Flecken machten Hoffnung auf baldige Wetterbesserung.

„Ja, es war wieder mal Zeit“, pflichtete ihm Kriminalhauptkommissar Bengt Friedrichsen bei und prostete dem Nachbarn zu. „Wie heißt es so schön. Lieber ein kaltes Bierchen als ein fieses Virchen.“

Falkan lachte.

„Den Spruch lass’ dir patentieren. Damit kannst du in dieser Zeit sicherlich viel Geld machen.“

Die beiden Männer hatten sich für diesen Kerbsonntagmorgen freigenommen. Friedrichsen von Frau Simone und Sohn Paul, Falkan von seinem Dackel Fritz. Simone hatte keine Lust, sich bei diesem Wetter die Frisur versauen zu lassen, und Fritz war schon immer etwas wasserscheu.

Falkan ließ seine Blicke in die Runde schweifen. Ein paar Tische weiter entdeckte er André Mann und einige andere Leute, die mit der Organisation der Altenhaßlauer Straßenkerb zu tun hatten. Ein großer, breitschultriger Graukopf in Trachtenhose kam gerade an den Tisch, sagte etwas, das alle lachen ließ und hockte sich, nachdem die anderen enger zusammengerückt waren, auf die überfüllte Bank. Das Gesicht kam Falkan irgendwie bekannt vor.

„Kennst du den da neben André?“

Friedrichsen drehte sich um.

„Nee. Sieht aus wie einer von den Cartwrights.“

Falkan deutete mit dem Daumen auf die Bühne und grinste.

„Dann spielen die da oben aber die falsche Musik.“

Wie aufs Stichwort legten in diesem Moment Trompeten und Klarinetten mit einem kurzen Duett los, bevor das Akkordeon sich dranhängte und der Mann am Horn die Backen aufblies.

Schnell war der Platz erfüllt von gutgelaunten Oberkrainer Klängen. Drei Frauen in bunten Dirndln gaben musikalisch kund, wie schön es sei, ein Musikant zu sein. Der Graukopf am nächsten Tisch warf die Hände in die Höhe und klatschte den Takt mit, die Menschen um sich herum mit Blicken auffordernd, es ihm gleich zu tun. Es dauerte dann auch nicht mehr lange, bis sich zwischen Bühne und Feuerwehrgerätehaus Volksfeststimmung ausbreitete. Passend dazu riss der Himmel auf, und die ersten Sonnenstrahlen sorgten für das richtige Wetter zur heiteren Musik.

„Man merkt, dass die Leute ein paar Jahre weggesperrt waren“, rief Friedrichsen, sein eigenes Klatschen übertönend. Falkan nickte nur gut gelaunt und beteiligte sich an der allgemeinen Ausgelassenheit. Für einen kurzen Moment wünschte er sich, seine Frau Sigi würde jetzt neben ihm sitzen, doch er verdrängte den Gedanken schnell wieder. Es war kein guter Zeitpunkt, der Vergangenheit nachzutrauern. Er beobachtete stattdessen den Grauhaarigen gegenüber, der sich gar nicht mehr einkriegen wollte. Der Mann musste wirklich Blasmusik und Sliwowitz im Blut haben.

Von der Bühne herunter feuerte der Dirigent die Stimmung wild mit den Armen rudernd noch an, und als die Kapelle kurz darauf auch noch das Trompetenecho anstimmte, verwandelte sich die Straßenkerb in ein kleines Oktoberfest. Es war, als ließe sich der Himmel von der guten Laune tief unter sich anstecken. Mit jedem Trompetenstoß wehte eine Wolke davon, und schon bald spannte sich ein strahlendblauer Augusthimmel über das Kinzigtal.

Nach zwanzig Minuten verkündete der Dirigent, dass man eine kleine Pause einlegen würde und die beiden Körbchen neben dem Lautsprecher inzwischen leer seien. Bei der Folkloregruppe verstand man den Wink und sorgte schnell für Nachschub.

Auch die beiden Kriminalisten hatten inzwischen ihre Gläser geleert. Es war die dritte Runde, und Falkan war dran. Beim Getränkerondell der Folkloregruppe stieß er auf André Mann und den Graukopf. Der Bestattungsunternehmer hob sein Glas.

„Moin Kurt.“

Falkan präsentierte seine beiden leeren Gläser.

„Hallo André, kann leider noch nicht mit euch anstoßen.“

Er platzierte die Gläser auf der Theke und gab mit Handzeichen zu verstehen, dass er noch Durst habe.

„Macht nix, Kurt, wir haben ja noch bis zum Abend Zeit. Was hältst du von der Kapelle?“

Falkan fischte das Portemonnaie aus der Gesäßtasche und legte ein paar Münzen in eine kleine Bierpfütze auf der Theke. Dann nahm er ein frisch Gezapftes entgegen.

„Macht eindeutig Spaß, aber was ist denn dieses Jahr mit den Haingründauern, die haben doch sonst immer gespielt?“

André Mann klopfte dem Mann neben sich auf die Schulter.

„Es hat uns jemand ein Angebot gemacht, das wir nicht ablehnen konnten.“

Der Grauhaarige nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich danach über die Lippen.

„Ihr hättet schon ablehnen können, aber euer Kassierer hätte dann bestimmt gekündigt.“

„Das ist Moritz Männertreu, Kurt. Mercedes Männertreu, schon mal gehört?“

„Tut mir leid, ich fahre Pontiac.“

Männertreus Lachen erinnerte Falkan jetzt tatsächlich ein wenig an den alten Ben Cartwright.

„Das waren auch schöne Autos, werden nur leider nicht mehr gebaut. Meine schon noch.“

„Moritz hat die Kapelle gesponsert“, erklärte Mann und deutete auf das große Banner im Hintergrund der Bühne, auf der ein Mercedesstern und zwei große `M´ zu sehen waren. „Kostet uns keinen Cent.“

Falkan hob sein Glas und prostete Männertreu zu.

„Nobel, nobel.“

„Ach was nobel.“ Männertreu winkte ab. „Ist eine gute Reklame für unsere Firma. Außerdem sind die Original Hessisch-Bayrischen so was wie unsere Hauskapelle. Und ich bin ihr größter Fan. Ich liebe Volksmusik.“

„Das hat man gesehen. Sie haben ja mehr dirigiert als der Dirigent.“

Männertreus Miene schien sich für einen kurzen Augenblick zu verfinstern. Einem anderen wäre das nicht aufgefallen, doch Falkan war es seit Jahrzehnten gewohnt, im Gesicht seines Gegenübers zu lesen.

„Ja, unser Dirigent“, sinnierte Männertreu und nahm einen großen Schluck. Für Falkans geübte Ohren klang es so, als sei die unbeschwerte Welt der Volksmusik nicht immer so unbeschwert, wie sie sich anhörte. Er wechselte schnell das Thema.

„Mercedes Männertreu? Kenne ich gar nicht.“

„Wir sind drüben in Schöllkrippen, aber ich wohne seit drei Jahren hier.“

Falkan nickte.

„Ich wusste doch, dass Sie mir irgendwie bekannt vorkommen. Wir sind uns sicherlich schon irgendwo im Dorf über den Weg gelaufen.“ Er reichte Männertreu die Hand. „Mein Name ist Kurt Falkan, auch zugereist.“

Männertreu nahm die dargebotene Hand und drückte sie fest.

„Schon möglich. Ich kenne Ihren Namen übrigens von André. Er hat mir schon vom ortsansässigen Privatschnüffler erzählt. Spannend. Ich mag nicht nur Blasmusik, sondern auch Krimis, besonders die aus den Vierzigern und Fünfzigern, die in schwarz-weiß.“

Die Stimme des Dirigenten, der das Ende der kleinen Pause ankündigte, ließ die drei Männer aufhorchen. Falkan griff sich das zweite Glas.

„Ich setze mich mal wieder zu meinem Kumpel Benji, sonst verdurstet der mir noch.“

„Ach was, Jungs.“ Männertreu winkte die junge Frau hinter der Theke zu sich. „Ich geb’ noch einen aus. Ihr Benji soll herkommen, der kriegt auch einen. Nochmal vier Bier!“

Eine Stunde später, von der Bühne herunter erscholl soeben die schmissige Feuerwehrpolka, waren die vier Herren bester Laune. Man war inzwischen zum allgemeinen `Du´ übergegangen, und auch ein paar Kurze hatten schon den Besitzer gewechselt. Moritz Männertreu, der sich von seinen Freunden auch gerne MM nennen ließ, erwies sich als launiger Unterhalter mit einem unendlichen Repertoire an Witzen und Anekdoten. Falkan hätte ihn sich gut auf einer Kleinkunstbühne als Alleinunterhalter vorstellen können, was er ihm nach einem besonderen Kracher auch sagte.

Männertreu hielt einen Moment inne, nickte dann bestätigend und erstürmte – die letzten Töne der Feuerwehrpolka waren gerade verklungen und der Dirigent blätterte in seinen Noten herum – mit Riesenschritten die Bühne. Als er die kurze Treppe mit einem Satz hochsprang, hielt Falkan die Luft an. Doch die Biere und die Kurzen hatten den kräftigen Mann unverwundbar gemacht. Mit flinken Händen griff Männertreu sich das Mikrofon vom Notenständer des Dirigenten und richtete mit seiner tiefen, sonoren Stimme das Wort ans Publikum. Es dauerte keine zehn Sekunden, da herrschte auf den Bänken erwartungsvolle Stille. Nach dem ersten Witz hörte man nur vereinzeltes Klatschen – kaum jemand kannte den Mann am Mikro – doch mit jeder Pointe steigerte sich der Beifall, und als Männertreu nach fünf Minuten lachend und winkend die Treppe wieder hinab stieg, wurde er von tosendem Beifall begleitet.

Während des Auftritts hatte Falkan hin und wieder einen Blick auf den Dirigenten geworfen. Der verkniffene Mund des Mannes und die genervt dreinblickenden Augen zeugten eindeutig davon, dass er Männertreus Unterbrechung seiner Darbietung missbilligte. In der Volksmusik war wohl wirklich nicht alles eitel Freud und Sonnenschein.

„Ich sag’ doch, du solltest den Beruf wechseln“, begrüßte Falkan seinen neuen Bekannten zurück am Bierrondell. Männertreu zuckte mit den Schultern, streckte gut gelaunt vier Finger in Richtung Zapfhahn und klatschte anschließend wieder zum Takt der einsetzenden Musik. Der Gedanke, seine Tätigkeit als Autohändler zu wechseln, schien ihn nicht sonderlich zu interessieren.

So zog sich der Kerbsonntag in ausgelassener Fröhlichkeit bis in die frühen Abendstunden. Man gönnte sich an den Ständen der Vereine noch das eine oder andere Bierchen, dazwischen einiges vom Grill, und als den ersten Standbetreibern das Material ausging, machten sich die vier auf den Heimweg. Da sie alle die gleiche Richtung hatten, führte sie dieser Weg an der vor einigen Monaten wiedereröffneten Reinhardtsschänke vorbei. Männertreu ging voran und bog stumpf nach links auf den Eingang zu ab.

„Einer geht noch.“

Es war keine Frage, mehr eine strikte Anweisung. Er schien es von seinem Autohaus gewohnt, dass seine Anweisungen befolgt wurden.

`Ganz der alte Cartwright´, dachte Falkan belustigt und folgte dem Grauhaarigen in den Schankraum, in dem er sich in vergangenen Urlaubstagen mit seiner Frau Sigi so manchen Schweinebraten hatte schmecken lassen.

Heute empfingen ihn allerdings keine Gerüche aus der Küche hinter der Theke, dafür aber die elektronischen Lockrufe der Darts Automaten an der hinteren Wand. An der Theke und in der gemütlich eingerichteten Sofa und Sesselecke tummelten sich die üblichen Verdächtigen, mit denen Kurt Falkan seit dem Umzug ins Linsengericht schon so manchen Becher geleert hatte. Männertreu und sein Gefolge waren wohl nicht die einzigen, die einen Absacker auf dem Heimweg nahmen. Hinter der Theke stand Vaida, die Falkan noch vom `Buxbaum´ her kannte. Die junge Frau aus Litauen hatte nach Schließung der kleinen Pilsstube am Rathaus dankenswerter Weise die Reinhardtsschänke übernommen. Lächelnd empfing sie die neuen Gäste.

„André, Kurt, schön euch zu sehen. Pils?“

Alle Mann nickten widerspruchslos, und zwar mehrere Male, sodass der endgültige Heimweg zwei Stunden später etwas schwerer fiel als gedacht.

Am nächsten Morgen, es war bereits nach neun, erwachte Falkan mit dem festen Vorsatz, im nächsten Jahr seinen Dackel wieder mit auf den Frühschoppen zu nehmen, denn Fritz wusste, wann es genug war. Dennoch bereute er den Tag nicht. Dieser Moritz Männertreu war schon eine Type.

Falkan schlurfte in die Küche und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Als er den kleinen Löffel mit dem Pulver in den Filter kippte, kam ihm eine verschwommene Erinnerung hoch. Hatten sie nicht gestern Abend an der Kreuzung irgendetwas von einem gemeinsamen Katerfrühstück gefaselt? Irgendwie hatte er noch Männertreus keine Widerrede duldende Stimme im Kopf.

Während er noch versuchte, sich den genauen Wortlaut in Erinnerung zu rufen, klingelte das Telefon.

„Mensch Kurt, wo bleibst du denn? Die Eier sind schon heiß.“

Ja, genau das war es. Es waren die Begriffe Eierbacken und Aufwärmbierchen gefallen. Aber dass man eine bestimmte Uhrzeit festgelegt hatte, war ihm nicht mehr momentan.

„So früh?“, jammerte er ins Telefon.

Männertreu lachte ein raues Lachen.

„Wenn du erst wieder nüchtern bist, macht’s doch keinen Spaß mehr. Los, komm’ in die Socken. Und vergiss deinen Kumpel Benji nicht.“

Bevor Falkan ein halbherziges Wort des Einwands loswerden konnte, hatte Männertreu aufgelegt. Seufzend schüttete er den Kaffee wieder in die alte Kaffeebüchse, die Sigi vor Jahrzehnten mit Prilblümchen beklebt hatte. Die Blümchen waren inzwischen ziemlich verblasst, und die Büchse hatte Beulen und Dellen, aber Falkan brachte es nicht übers Herz, sie gegen eine neue auszutauschen. Es war wie mit dem alten schwarzen Hasen im Stall hinterm Haus. Der würde auch so lange im Hause Falkan seine Karotten muffeln, bis ihn sein natürliches Schicksal ereilte.

Falkans Blick ging aus dem Küchenfenster hinüber zum Nachbarhaus, wo gerade die Tür aufging und einen müden Bengt Friedrichsen in den warmen Montagmorgen entließ. Er sah Falkan am Fenster und winkte. Falkan nickte müde zurück und ging nach oben, um sich frühstücksfein zu machen.

„Ich glaub’, das war gestern Abend eins zu viel“, gab er kurz darauf zu, als sie auf dem Weg zu Männertreu waren. „Hab’s glatt vergessen.“

„Wir sind nun mal nicht mehr die Jüngsten, Kurt.“

„Danke“, sagte Falkan in Hinblick darauf, dass Friedrichsen zwanzig Jahre weniger auf dem breiten Buckel hatte als er selbst.

Zehn Minuten später standen sie vor Männertreus Haus in der Heinrich-Kreß-Straße. In der offenen Garage stand ein gelbes SL Cabrio.

„Hannes wohnt doch nur eine Straße weiter. Wollen wir ihn nicht abholen?“

Falkan betätigte die Klingel.

„Der ist mit seinem Sohn an der Nordsee. Die kommen erst in zwei Wochen zurück.“

Die Tür wurde mit einem wilden Ruck geöffnet. Männertreu konnte es scheinbar gar nicht erwarten, dort weiterzumachen, wo sie gestern Abend aufgehört hatten.

„Los, kommt rein. Die Party ist schon voll im Gange.“

Es stellte sich heraus, dass das Katerfrühstück nicht auf die kleine nächtliche Gruppe von der Friedhofskreuzung begrenzt war. In dem riesigen, an eine bayrische Bauernstube erinnernden Wohnzimmer und draußen, auf der Veranda, hielten sich neben André Mann noch sechs weitere Gäste, darunter drei weibliche, an bunt verzierten steinernen Bierseideln fest. Zwei der Frauen identifizierte Falkan als Mitglieder des Gesangstrios von gestern, und von den Männern hatte einer Akkordeon und einer Gitarre gespielt. Aus verborgenen Lautsprechern erklang, wie nicht anders zu erwarten, Blasmusik, und ein 30 Liter Fass auf einem hölzernen Schemel deutete darauf hin, dass Männertreu noch viel vorhatte. Ehe sie sich’s versahen, hatten die Neuankömmlinge Halbliterkrüge in Händen. Falkan sah auf die Uhr.

„Für Montagmorgen halb zehn ist ganz schön was los.“

Auf der Veranda stand ein monströser Holzkohlegrill, auf dem zwei gusseiserne Pfannen standen. Nachdem Männertreu seine neuen Gäste mit Bier versorgt hatte, ging er nach draußen und machte sich am Grill zu schaffen. Schon bald duftete es nach Eiern und Speck, und der Hausherr forderte seine Gäste auf, sich mit Tellern und Besteck zu bewaffnen.

„Gibt es denn keine Frau Männertreu“, fragte Friedrichsen André Mann, als sie in der Schlange vor der Essensausgabe warteten. Mann deutete mit dem Kopf unauffällig zu den drei Frauen, die noch miteinander kichernd im Wohnzimmer standen.

„Die linke, das ist Anna, Männertreus zweite Frau.“

Friedrichsen zog bewundernd die Augenbrauen in die Höhe. Die Frau war noch keine vierzig, eher Mitte dreißig, hatte die Figur eines Models und die Ausstrahlung eines Hollywoodstars der Fünfzigerjahre.

„Was so ein SL in der Garage alles ausmacht“, flüsterte er grinsend.

„Wir wollen doch nicht über unseren edlen Spender lästern“, rief ihn Falkan, der das Gespräch mitbekommen hatte, scheinheilig zur Ordnung, während er selbst beeindruckt zu Männertreus Frau hinüberschielte. Sie war wirklich ein hübsches Ding, und irgendwie konnte – oder wollte – er sie sich in trauter Zweisamkeit mit dem alten Cartwright nicht vorstellen. Andererseits, was ging es ihn an?

Als er an der Reihe war, streckte er Männertreu mit dankbarem Blick seinen Teller hin.

Je älter der Tag wurde, desto jünger wurde Kurt Falkan. Irgendwie erinnerte ihn der Aufenthalt im Hause Männertreu an die Partys seiner Jugendzeit. Die Sorgen – sofern vorhanden – waren im Bier ertrunken, und es war, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen. Die Welt war voller Lachen und Gesang. Einzig die Lieder, die gesungen wurden, entsprachen nicht den Erinnerungen seiner Jugend, doch nach zehn Minuten intensivem Gesangsunterricht durch die anwesenden Mitglieder der Kapelle schmetterte er mit Friedrichsen und André Mann zusammen den Volksmusikhit von Frau Meier und ihren gelben Unterhosen wie Profis. Nur nicht ganz so schön, was die Sache umso lustiger machte.

Die Stimmung steigerte sich zur Freude von Moritz Männertreu in ungeahnte Höhen, bis dann, gegen vier, eine allgemeine Mittagsmüdigkeit einsetzte. Die Gäste wurden ruhiger, ein paar waren gegangen, der Rest lümmelte sich auf der ausladenden Couch und den ledernen Sesseln herum oder lag auf der Veranda in der Sonne. André Mann, der nicht weit entfernt wohnte, hatte sich seine Badehose geholt und hing mit Männertreu gemeinsam zum Abkühlen am Beckenrand des Swimming Pools.

„Von hier aus gesehen, sieht man ihm den Privatdetektiv irgendwie gar nicht an“, sinnierte Männertreu, die Arme auf den feuchten Randsteinen neben dem Bierseidel liegend, während er durch die offene Verandatür zur Wohnzimmercouch blickte, auf der Falkan gerade mit ungewohnt aktiver Gestik einige Highlights seiner kriminalistischen Laufbahn zum Besten zu geben schien. Anna Männertreu saß im Schneidersitz neben ihm und lauschte fasziniert. Friedrichsen hockte einen Platz weiter, verdrehte hin und wieder die Augen und schüttelte den Kopf oder lachte besserwisserisch.

„Er sieht vielleicht aus wie ein Beamter, der froh ist, seine lebenslange Schufterei endlich hinter sich zu haben“, erklärte André Mann in ernstem Ton, „aber so viele Gangster wie er hat im Linsengericht noch keiner gefangen.“ Mann streckte den nassen Finger aus und deutete auf Friedrichsen. „Auch nicht sein Kumpel Benji. Deswegen lacht der immer so sauer.“

Männertreu grinste.

„In den drei Jahren, die ich jetzt hier wohne, hab’ ich gar nicht mitbekommen, dass Altenhaßlau so ein heißes Pflaster ist.“

„Isses aber.“ Mann schob seinen Krug über die feuchten Steine zu Männertreus hin. „Jedenfalls manchmal. Prost.“

Nachdem sie sich zugetrunken hatten, beobachtete Männertreu eine Weile schweigend Falkan und seine Frau.

„Du kennst ihn doch schon lange. Glaubst du, dass er ein Weiberheld ist?“

André Mann konnte sich ein amüsiertes Lachen nicht verkneifen.

„Ja genau, der Kurt. Der James Bond aus L.A. Nee, Moritz, da brauchst du dir keine Gedanken zu machen. In der Beziehung ist Kurt harmlos, auch wenn’s jetzt gerade ein bisschen anders aussieht.“

Falkan hatte soeben seinen Arm auf die Lehne der Couch hinter Annas Rücken gelegt und schien sich sichtlich wohl zu fühlen. Die beiden lachten.

„Ich will’s hoffen.“ Aus Männertreus Festtagslaune war für einen Moment jegliche Hochstimmung verflogen. „In der Beziehung versteh’ ich nämlich keinen Spaß.“

Mann sah ihn erstaunt von der Seite an.

„Sag’ bloß, du bist eifersüchtig.“

„Ich bin nun mal keine zwanzig mehr, da muss man schon ein bisschen aufpassen.“

„Kurt hat die Pubertät ja auch schon ein paar Tage hinter sich. Von dem hast du bestimmt nichts zu befürchten. Aber heute ist er wirklich gut drauf. So hab’ ich ihn schon lange nicht mehr erlebt.“

Drüben, auf der Couch, warf Anna Männertreu soeben ihre blonden Locken nach hinten und lachte aus vollem Halse. Falkan sah sie von der Seite an und sprudelte vor Witz.

„Vielleicht hätte ich ja kein 30 Liter Fass kaufen sollen“, grinste Männertreu und prostete seinem Mitschwimmer zu. Der Anfall von Eifersucht schien vorbei zu sein.

Der Friedhof lag mitten in der Stadt, doch die hohe Sandsteinmauer und das dichte Blattwerk der uralten Eichen dämpften den Lärm der Straße und verwandelten ihn in fernes Rauschen. Dafür dröhnte vom Himmel herab das Getöse einer viermotorigen Passagiermaschine, die gerade zum Landen ansetzte.

Der Mann, der am frühen Morgen mit starrem Blick über den mit feinem Sand bedeckten Weg an den Grabsteinen vorbeiging, hatte seit jeher ein besonderes Verhältnis zum Tod. Er mochte ihn nicht, aber er war fasziniert von der Vorstellung, dass auch er irgendwann einmal im absoluten Nichts sein würde, genau wie die, die links und rechts des Weges ruhten.

Zwei alte Frauen kamen ihm entgegen, doch er nahm sie nicht wahr. Seine Augen hatten schon die junge Linde ganz hinten am Ende des Friedhofs ausgemacht, die das Ziel seines morgendlichen Besuchs war. Die Linde war einer von mehreren Bäumen, die erst vor wenigen Jahren in diesem Teil des Friedhofs eingepflanzt worden waren, seit Baumbestattungen immer mehr in Mode gekommen waren.

Als er auf dem frisch geschnittenen Rasen vor dem dünnen Stamm stehen blieb, atmete er einmal tief ein und aus und schloss dann die Augen, nachdem sich der Name auf dem kleinen Messingschildchen auf seine Netzhaut gebrannt hatte und er ihn noch im Dunkeln sehen konnte. Wie immer überkam ihn in diesem Moment eine bohrende Wut auf die Welt und auf alles und jeden, den er dafür verantwortlich machte, dass er sich jetzt, um diese frühe Stunde, an diesem Ort aufhielt. Nach einer Weile verblasste der Name wieder und das leise Rauschen, das über dem Friedhof lag, wurde zu einem Dröhnen in seinen Ohren. Er glaubte, seinen Namen zu hören. Etwas im Boden schien ihn zu rufen. Erschrocken öffnete er die Augen wieder. Sie waren feucht. Sein Atem ging schwer. So war es noch nie gewesen, seit dem ersten Mal, als er hierhergekommen war. Noch nie hatte es ihn so mitgenommen.

War es vielleicht, weil er begonnen hatte, sein Vorhaben nach der langen Zeit des Nachdenkens endlich in die Tat umzusetzen?

Wahrscheinlich.

Obwohl, er war doch eigentlich nicht der sentimentale Typ, jedenfalls früher nicht, vor all dem, was er in letzter Zeit erfahren hatte. Nein, mit Sentimentalität hatte das Ganze nichts zu tun.

Es hatte nur mit einer Sache zu tun: Rache.

Der Mann riss sich von seinem Platz an der Linde los und machte sich mit eiligen Schritten auf dem Weg zum Ausgang. Er hatte noch einiges zu tun.

Kapitel 2

„Was hältst du von einem Ausflug ans Wasser?“

Es war später Nachmittag, und Falkan lümmelte sich faul auf der Liege hinterm Haus. Die Auswirkungen des gestrigen Gelages waren noch spürbar, und der große Sonnenschirm spendete angenehmen Schatten.

„Definiere Wasser.“

Karola Weißgerber saß in ihrem Büro in Lettgenbrunn und bereitete die Verteidigung im Fall Münger vor. Der Termin war für nächste Woche Mittwoch angesetzt, und Müngers Verteidigung war eine harte Nuss und bedurfte ihres gesamten Erfahrungsschatzes. Falkans Anruf störte sie ein wenig, was sie natürlich nie zugeben würde.

„Ein Bekannter hat mich auf sein Boot in Lohr eingeladen. Ich kann noch Leute mitbringen.“

„Leute?“

„Na ja, Freunde. Bekannte. Gute Bekannte.“

Falkan wollte sich nicht verheddern. Der Beziehungsstatus zwischen Karola und ihm war immer noch in der Schwebe.

„Und wann?“

Karola war nur mit halbem Herzen bei der Sache. Irgendwo in dem Wust auf dem Schreibtisch musste sich doch die Aussage von Kilian Merkel verstecken.

„Nächsten Samstag.“

„Geht nicht. Ich bin bis Mittwoch im Dauerstress, aber wenn alles gut geht, würde ich nächstes Wochenende bestimmt gerne die Füße ein bisschen im Main baumeln lassen.“

Fritz kam von einer Rundreise durch den Garten zurück und hockte sich mit bettelndem Blick zu Füßen seines Herrchens auf die Verandafliesen. Falkan fischte mit der freien Hand nach den Leckerlies auf dem Tisch und hielt ihm ein Hundeplätzchen vor die Schnauze.

„Lass’ es dir schmecken.“

„Was?“

„Ich meinte Fritzchen. Der Gute nimmt gerade einen Nachmittagssnack zu sich.“

„Du Kurt, ich würde gerne noch ein wenig plaudern, aber wenn das mit dem Füßebaumeln nächste Woche klappen soll, muss ich mich ranhalten. Sag Fritz einen schönen Gruß von mir.“

„Man könnte als Rentner direkt ein schlechtes Gewissen bekommen. Ich melde mich. Mach’s gut.“ Falkan tätschelte den warmen Kopf seines Dackels. „Schönen Gruß aus Lettgenbrunn. Da muss jemand noch schwer für seinen Lebensunterhalt ackern.“

Wenn er ehrlich war, beneidete Falkan Karola ein wenig um ihren Stress. Er selbst hatte schon seit Monaten keinen Auftrag mehr ins Haus bekommen. Er musste aufpassen, dass er sich nicht zu sehr ans Rentnerdasein gewöhnte. Die Gefahr bestand jedes Mal, wenn ihm längere Zeit nichts Kriminelles – oder wenigstens etwas Unmoralisches – über den Weg lief. Solche Aktionen wie die Einladung auf Männertreus Boot konnten einem das Nichtstun natürlich versüßen, sie konnten aber auch dafür sorgen, dass man in Zukunft mehr davon haben wollte und am Ende keine Lust mehr hatte, Leuten durch die Nacht nachzuschleichen oder im prasselnden Regen das Haus gegenüber zu beobachten.