Falkan und das Haus am Stadtweg - Gerhard Krieg - E-Book

Falkan und das Haus am Stadtweg E-Book

Gerhard Krieg

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Beschreibung

In einem seit Jahrzehnten verlassenen Haus wird Kriminalhauptkommissar im Ruhestand Kurt Falkan mit der Vergangenheit des alten Gemäuers konfrontiert. Was lange in Vergessenheit geraten war, erwacht durch einen kurzen Telefonanruf zu neuem Leben. Auf der Suche nach der Wahrheit stochert Falkan in einem Sumpf von verloren gegangenen Erinnerungen und im Nebel der Zeit verborgenen Tatsachen herum. Im Laufe seiner Ermittlungen gerät er dabei selbst ins Visier der Geister von damals.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Dornröschen ist erwacht

Kapitel 2: Beförderung zum Fregattenkapitän

Kapitel 3: Dornröschens neuer Name

Kapitel 4: Besuch aus Berlin

Kapitel 5: Südwärts

Kapitel 6: Karolina Torres

Kapitel 7: Der verschwundene Tote

Kapitel 8: Gefangen in der Finsternis

Kapitel 9: Abteilung 13

Kapitel 10: Warten auf das Unerwartete

1

Dornröschen ist erwacht

Das Wetter meinte es dieses Jahr besonders gut mit der Altenhaßlauer Straßenkerb. Zwar hatten die Vereine ihre Stände auf Schulhof und Dalles mit aufgespannten Regenschirmen und eingezogenem Genick errichten müssen, doch pünktlich zum Bühnenaufbau am Freitag verzogen sich die letzten Regenwolken hinauf in den Vogelsberg, und die heiße Augustsonne verdampfte das Wasser auf den Dächern der Buden und in den Pfützen im Asphalt. Entsprechend war das Gedränge am Samstagabend.

Kurt Falkan und seine Freunde hatten am frühen Abend einen Stehtisch vorm Stand der Chorgemeinschaft ergattert und ließen sich das kühle Bier vom Kloster Kreuzberg schmecken. Die Musik von der nahen Schiffschaukel sorgte für die richtige Kerbstimmung.

„Das wird wohl meine letzte Kerb für die nächste Zeit sein“, sagte Michael Grebner etwas wehmütig und nuckelte an seinem Bier.

„In vier Monaten ist Jamhuri Day“, tröstete Melinda Boatonga ihren Freund und tätschelte ihm die Wange, „da kannst du dich austoben.“

Kurt Falkan zog fragend die Augenbrauen zusammen.

„Unabhängigkeitstag“, klärte Melinda ihn auf. „An diesem Tag wurde Kenia zur Republik. Jamhuri heißt Republik.“

„Wie steht’s eigentlich bei dir inzwischen mit Suaheli, Mike?“

Simone Friedrichsen, Michaels Schwester, hatte trotz der allgemein ausgelassenen Stimmung einen gewissen Trennungsschmerz im Blick. Melinda und ihr Bruder wollten morgen wieder abreisen. Mike wedelte mit der flachen Hand.

„Na ja, was Jamhuri heißt, hätte ich jetzt nicht gewusst, aber Schrauben und Werkzeug hab’ ich schon drauf. Der Rest geht eh auf Englisch.“

„Ich wollte in meiner Jugend auch immer nach Afrika auswandern“, bekannte Hannes Larrosch, der bisher stumm dem Gespräch der anderen gelauscht hatte. „Aber dann bin ich einfach hinterm Steuer meines Busses hängengeblieben und nicht weiter gekommen als bis nach Spanien.“

Er zuckte schicksalsergeben mit den Schultern und seufzte seinem verlorenen Jugendtraum hinterher. Hannes war schon seit dem Nachmittag mit seinem Sohn und der Schwiegertochter am Feiern und hatte gerade seinen schwermütigen Moment. Kurt Falkan griff sich die leeren Krüge.

„Bevor wir jetzt alle melancholisch werden, hol’ ich noch eine Runde.“

Während über dem Tisch heiteres Treiben herrschte, ging es unter dem Tisch nicht weniger gesellig zu. Lonni und Fritz, die beiden Dackel von Hannes Larrosch und Kurt Falkan, ergingen sich in gegenseitigen Liebesbezeigungen. Sie schnüffelten abwechselnd an sich und dann wieder an den Resten heruntergefallener Wurstschnippel.

Ein ständiger Strom von Besuchern schob sich über den Platz vor der alten Schule. Die Vereinsmitglieder, die an diesem Abend an den Zapfhähnen oder mit der Grillzange in der Hand Dienst taten, hatten gehörig zu tun. Auch am Stand der Chorgemeinschaft war die Hölle los. Falkan kam erst nach fünf Minuten mit dem Nachschub zurück.

„Ich glaube, das ist unser Letztes“, sagte Melinda, als die Runde angestoßen hatte. „Wir müssen um acht am Flughafen sein.“

Sie warf Friedrichsen einen vielsagenden Blick zu. Der sah auf die Uhr und nickte. Er hatte versprochen, die beiden nach Frankfurt zu fahren.

„Ja, ist wohl besser. Macht sich nicht gut in unserem Beruf, mit Restalkohol erwischt zu werden. Morgen ist auch noch ein Tag. Wie sieht’s aus? Morgen, gleich nach der Kirche Frühschoppen mit Bratwurst?“

Falkan und Simone stimmten freudig zu, Hannes grummelte etwas in seinen Bart, und Mike machte ein zerknautschtes Gesicht.

„Mein Frühschoppen wird wohl aus einem Orangensaft und einem dünn belegten blassen Toastbrot bestehen.“

„Ihr hättet ja auch noch ein bisschen länger bleiben können“, beschwerte sich Simone und legte ihrem Bruder besitzergreifend die Hand auf den Arm.

„Geht nicht, am Dienstag steht ein großer Viehverkauf an, da muss ich dabei sein“, sagte Melinda und legte ihrerseits die Hand auf Mikes anderen Arm. „Und gestern hat mein Vater angerufen. Der alte Dodge hat wieder mal schlappgemacht. Da ist Mikes Talent gefragt.“

„Ich hätte die alte Kiste schon längst auf den Schrott geschmissen“, nörgelte Mike, der an diesem Abend irgendwie den Eindruck vermittelte, dass ihm die Abreise am nächsten Tag nicht ganz recht war.

„Du weißt doch, wie mein Vater an dem Pickup hängt. Auf dem Ding hat er seine erste Kuh von Nairobi aus nach Hause transportiert.“

„Auf der Ladefläche?“, fragte Friedrichsen ungläubig.

„Klar“, lachte Melinda. „Kenia ist nicht Deutschland. Bei uns ist nicht alles so durchgeregelt.“

„Nach Kenia wollte ich auch mal“, sagte Hannes vor sich hin, den Blick in sein Bier gerichtet. Falkan schlug seinem zeitweiligen Mitarbeiter auf die Schulter und lachte.

„Ich glaube, so weit kommst du heute nicht mehr, Hannes. Besser, ich begleite dich heim, sonst schaffst du es nicht mal bis dorthin.“

„Bist ein Guter, Kurt, ein Guter.“

„Ich weiß, Hannes, ich weiß.“

Wenig später, als vom Turm der Martinskirche zehn Glockenschläge erklangen, bahnte sich das kleine Grüppchen seinen Weg durch das Gedränge vor der Bühne zur Hauptstraße, die im Gegensatz zu früheren Zeiten ruhig und im Dunkeln lag. An der Friedhofskreuzung verabschiedete Falkan sich mit wehmütigen Umarmungen von Melinda und Mike und setzte seinen Weg gemeinsam mit dem angeschlagenen Hannes Larrosch in Richtung Schaftrieb fort. Der Versuchung, noch auf einen Absacker in der Gaststätte `Zum Steines´ einzukehren, widerstand er im Interesse seines Freundes Hannes.

Das lästige Läuten des Telefons riss Falkan am Montag nach der Kerb aus tiefem und wohlbenötigtem Schlaf. Der Frühschoppen mit Bratwurst hatte sich am Sonntag arg in die Länge gezogen, und erst, als mit den Fidelios der letzte Stand den Zapfhahn umdrehte, hatte man sich gen Heimat aufgemacht. Diesmal war es Falkan gewesen, der Begleitung nötig hatte. Daher fiel ihm der Gang zum Telefon an diesem Montagmorgen einigermaßen schwer.

„Falkan.“

„Guten Tag, sind Sie der Privatdetektiv?“

„Mhm“, nuschelte Falkan ins Telefon. Ihm war noch so gar nicht nach geschäftlichen Angelegenheiten. Es war halb zehn. Konnten die Leute denn nicht zu menschlichen Zeiten anrufen?

„Ich hatte vor ein paar Wochen schon mal angerufen. Damals ist mir leider was dazwischen gekommen.“

Es dauerte eine Weile, bis sich in Falkans umnachtetem Gehirn die Erkenntnis durchsetzte.

„Dornröschen?“

So hatte Falkan damals den unbekannten Anrufer mangels näherer Kenntnisse und inspiriert von der märchenhaften Umgebung des alten Hauses genannt.

„Wie bitte?“

„Ach nichts. Firmeninterna.“ Falkan wurde zunehmend wacher. „Sie sind der Mann, der sich vor zwei Wochen mit mir in dem alten Haus am Stadtweg treffen wollte?“

„Richtig. Wie gesagt, es kam was dazwischen. Waren Sie dort?“

„Ja. Es ist ein romantisches Plätzchen, nur ein bisschen heruntergekommen.“

Ein Lachen am anderen Ende der Leitung.

„Ich war auch überrascht, dass sich in einem ordentlichen Land wie Deutschland ein Haus jahrzehntelang hinter einer Sandsteinmauer verstecken kann. Als ich herkam, hatte ich damit gerechnet, dass irgendwelche fremden Leute inzwischen dort wohnen.“

„Haben Sie denn früher dort gewohnt?“, stocherte Falkan in der Vergangenheit, obwohl Dornröschens Stimme zu jung für jemanden klang, der vor vierzig Jahren in dem Haus am Stadtweg gewohnt hat.

„Nein, ich bin nicht hier aufgewachsen. Können wir uns heute treffen?“

„Dort?“

„Ja.“

„Aber nicht gleich.“

Falkan fühlte, dass er noch einige Zeit brauchen würde, um auf Touren zu kommen.

„Ich könnte gegen drei Uhr dort sein.“

„In Ordnung.“ Falkan kam der nächtliche Besucher in den Sinn, der ihm vor ein paar Tagen entwischt war, nachdem der Schein einer Taschenlampe ihn nach Einbruch der Dunkelheit in das Haus gelockt hatte. Am nächsten Tag, als es hell war, hatte er einen Anhänger mit Skorpion auf dem Flurboden gefunden, den der Besucher auf der Flucht verloren haben musste. „Sind Sie eigentlich nach Ihrem letzten Anruf nochmal dort gewesen?“

„Nein?“

„Und Sie sind nicht zufällig Skorpion?“

„Widder. Wieso?“

„Erkläre ich Ihnen, wenn wir uns sehen. Also, heute Mittag, drei Uhr. Möchten Sie mir schon irgendeine Andeutung machen, um was es geht?“

„Ich möchte Ihnen einen Brief zeigen, in dem sich ein naher Verwandter von mir seine Schuld von der Seele geschrieben hat. Der Inhalt dieses Briefes hat mich vor einigen Monaten nach Linsengericht geführt. Ich wollte mir das Haus und den Ort ansehen, an dem die Dinge damals geschehen sind und habe mich schon mal ein bisschen umgehört. Dabei bin ich auf eine Unstimmigkeit gestoßen, die ich nun gerne aufklären möchte. Dafür benötige ich möglicherweise professionelle Hilfe eines Ortsansässigen. Ein Privatdetektiv, der vor Ort wohnt, erschien mir da die beste Lösung.“

„Sie machen mich neugierig. Also, bis heute Nachmittag.“

Seit dem ersten Anruf vor zwei Wochen, den Frau Krannich entgegengenommen hatte, zerbrach Falkan sich den Kopf darüber, was es mit dem alten Haus am Stadtweg auf sich haben konnte. Die Aussicht, das Rätsel endlich lösen zu können, machte ihn hungrig. Er zog sich an, ging in den Garten, pflückte zwei Tomaten, dann schlug er sich drei Eier in die Pfanne, warf die in Scheiben geschnittenen Tomaten dazu und vertilgte das Ganze mit einem ordentlichen Stück Schwarzbrot. Ein herzhaftes und gesundes Frühstück, welches außerdem noch vorzüglich dazu geeignet war, den pelzigen Geschmack, den er noch vom gestrigen Frühschoppen im Mund hatte, zu vertreiben. Fritz bekam eine Ration Büchsenfleisch.

Derart gestärkt, schnippte Falkan seine Hausschuhe in die Ecke und machte es sich auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich. Dornröschens Anruf hatte ihn zwar in freudige Erwartung versetzt, allerdings auch seinen dringend benötigten Schlaf unterbrochen. Bis drei Uhr waren es noch ein paar Stunden, und er konnte nur hoffen, dass die Krannich erst morgen zum Putzen kam.

Keine Türklingel hatte Falkans Erholungsschlaf gestört, und so kam es, dass er erst kurz vor drei erwachte und mit einer Viertelstunde Verspätung, dafür aber hellwach und brennend vor Neugier vor dem schmiedeeisernen Türchen am Stadtweg ankam. Kein Auto parkte in der Nähe. Dornröschen musste zu Fuß gekommen sein.

Falkan betrat das Grundstück und näherte sich der Haustür. Die drei Eisenstühle drüben zwischen den Bäumen mit dem verschnörkelten Tischchen in ihrer Mitte warteten immer noch auf ihre kleine Teerunde.

Die mächtigen Kronen der Eichen und des Nussbaums spendeten kühlen Schatten an einem heißen Augusttag. In den letzten Wochen war er aus Neugier schon vier oder fünf Mal hier gewesen, und so kam Falkan sich schon fast wie zuhause vor, als er die drei Sandsteinstufen zur Haustür hochstieg. Die Tür war, wie immer, nicht abgeschlossen.

„Hallo!“

Keine Antwort. Déjà-vu, dachte sich Falkan und betrat den Flur. Wie beim ersten Mal, als man ihn herbestellt hatte, schien niemand da zu sein. Dort, an der Wand, lag noch die Vase, die er neulich im Dunkeln umgestoßen und damit den nächtlichen Besucher vertrieben hatte. Nochmaliges Rufen blieb unbeantwortet. Falkan ging den Gang entlang und warf Blicke in die Zimmer. Sie waren alle leer bis auf das Letzte, das mit den Bildern und dem Kamin. Dort, auf dem Boden, lag ein junger Mann in einer Lache von Blut, das ihm aus dem Kopf lief. Die Farbe des Blutes war im dämmrigen Licht kaum von seinem dunklen Teint zu unterscheiden.

Routinemäßig kniete sich Falkan neben ihn und überprüfte den Puls, doch der starre, auf den Fußboden gerichtete Blick aus toten Augen sagte ihm schon alles. Dornröschen war wieder eingeschlafen, und dieser Schlaf würde länger als hundert Jahre dauern.

Falkan erhob sich und sah sich um. Das Gemälde, hinter dem er den Wandsafe wusste, hing normal an seinem Platz. Die Läden, die er bei seinem letzten Besuch wieder geschlossen hatte, standen offen. Der junge Mann musste sie geöffnet haben, bevor ihn das Schicksal ereilt hatte. Falkan vermisste den Schürhaken, der vor ein paar Tagen noch neben dem Kamin an der Wand gelehnt hatte. Es war zu vermuten, dass der Mörder diesen für den tödlichen Schlag auf Dornröschens Schädel benutzt hatte. Dies wiederum würde bedeuten, dass es sich nicht um vorsätzlichen Mord handelte, sondern höchstwahrscheinlich um eine Tat im Affekt. Allerdings war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für eine verfrühte Analyse des Tathergangs. Falkan ging zur Treppe und stieg ins Obergeschoss hinauf, um nachzusehen, ob sich noch jemand im Haus befand. Stets bereit, einen Schlag mit dem gefährlichen Eisen abzuwehren, durchsuchte er die Zimmer, doch der Täter war schon außer Haus. So stieg er wieder hinab und rief Friedrichsen an. Keine fünf Minuten später erstarb das Martinshorn eines Streifenwagens draußen auf dem Stadtweg. Falkan ging den Beamten entgegen.

„Er liegt im letzten Zimmer hinten links.“

Die beiden Uniformierten drangen mit gezückten Waffen in das alte Haus ein. Etwas zu theatralisch, wie Falkan fand. Zu seiner Zeit hatten die Kollegen nicht gleich James Bond gespielt, aber das lag wohl an den unruhigen Internetzeiten heutzutage. Friedrichsen und Silvester Müller kamen eine Minute nach ihren Kollegen den Weg hoch.

„Kannst du denn nicht wie jeder andere Rentner den Kerbmontag mit einem dicken Kopf zuhause verbringen, Kurt?“

„Wenn’s dich beruhigt, den dicken Kopf hab’ ich, aber der da drin hat keine Schmerzen mehr.“

„Wieso bist du eigentlich hier?“

„Hatte ich dir nicht von diesem Anruf vor zwei Wochen erzählt?“

„Nicht, dass ich wüsste, und wenn, dann hab’ ich’s vielleicht in der ganzen Aufregung wegen Mike vergessen.“

Mike Grebner war bei seiner Ankunft aus Afrika vor einigen Wochen in eine dumme Geschichte hineingerutscht, aus der die Detektei Falkan ihn in Zusammenarbeit mit Kriminalhauptkommissar Bengt Friedrichsen wieder hatte herausholen müssen. Falkans missglücktes Rendezvous mit Dornröschen war da wohl untergegangen.

„Vor zwei Wochen hat mich, beziehungsweise meine Frau Krannich, ein Mann angerufen, der sich hier in diesem Haus mit mir treffen wollte, um mir irgendwas über die Vergangenheit zu erzählen. Als ich herkam, war niemand da, aber heute Morgen hat er sich wieder gemeldet. Wir wollten uns um drei hier treffen. Er hat etwas von einem Brief und einer Schuld eines seiner Verwandten gesagt und dass er irgendwelche Unstimmigkeiten aufdecken wollte. Na ja, und als ich dann herkam.“

„Das kannst du uns dann alles nochmal haarklein im Büro zu Protokoll geben. Jetzt wollen wir uns erstmal die Sache ansehen. Du bleibst bitte draußen, Kurt. Wir wollen doch nicht noch mehr unnötige Spuren am Tatort hinterlassen, nicht wahr?“

„Die Tatwaffe war übrigens ein verrosteter Schürhaken“, kommentierte Falkan grinsend die Zurechtweisung.

Gemeinsam mit Friedrichsen verließ Falkan am Abend das Gebäude der Gelnhäuser Polizeistation. Die Leiche des jungen Mannes war vom Bestattungsunternehmer André Mann und seinem Kollegen Oliver Steiner abgeholt worden und wartete jetzt im Kühlraum der Firma auf den Beschluss der Staatsanwaltschaft, sie in die Pathologie zu überführen. Es hatte sich herausgestellt, dass der Tote weder den Brief eines Verwandten, noch irgendwelche Papiere oder sonstige Erkennungsmerkmale bei sich gehabt hatte, wodurch Friedrichsen in seinem Bericht die vorläufige Bezeichnung `Mordfall Dornröschen´ verwendete. Falkan fühlte sich geschmeichelt.

„Was hältst du von einem Feierabendbierchen?“

Friedrichsen fixierte Falkan von der Seite.

„Schon wieder Durst? Ich hätte gedacht, nach dem Tag gestern brauchst du erstmal `ne Pause.“

„Leichen finden macht mich durstig, Benji. Nicht gewusst?“

„Dann pass’ mal auf, dass du nicht zum Alkoholiker wirst.“

Sie brachten Friedrichsens Auto in die Garage und begaben sich in den `Buxbaum´, wo sich die Überlebenden des morgendlichen Kerbmontags an ihren letzten Bieren festklammerten.

„Und, was denkst du?“

Die beiden saßen unterm Sonnenschirm an einem Tisch, etwas abseits der laut lachenden und johlenden Kerbreste.

„Ich denke“, sagte Friedrichsen und nahm der Bedienung dankbar sein Bier aus der Hand, „dass das vor allem erstmal wieder so ein Fall fürs Radio ist. Du weißt ja, am soundsovielten wurde in sowieso die Leiche eines etwa soundsoalten unbekannten Mannes gefunden, für sachdienliche Hinweise wenden Sie sich bitte an die Polizeistation sowieso. Und natürlich werden wir sein Bild mit den Vermisstenlisten abgleichen.“

Auch Falkan bedankte sich bei der Bedienung und nahm einen ersten Schluck, der ihm trotz des harten Sonntags gleich wieder schmeckte. Er hatte inzwischen herausgefunden, dass die junge Frau Vaida hieß und aus Litauen kam. Seit dem Weggang der alten Wirtsleute hatten die Gesichter hinter der Theke oft gewechselt.

„Das Aussehen, die Tönung der Haut, er kommt mir südländisch vor.“

„Du sagtest, er hätte nicht mit Akzent gesprochen.“

„Nein, reinstes Hochdeutsch. Auf meine Frage, ob er in dem Haus gewohnt habe, sagte er, er sei nicht hier aufgewachsen. Das klingt für mich irgendwie nach Ausland. Ich habe das Gefühl, wo auch immer die Bergers damals abgeblieben sind, es war irgendwo südlich, und unser Toter ist ein Abkömmling von Karl und Marga Berger.“ Er tat noch einen kräftigen Zug, um herauszufinden, ob es ihm tatsächlich schon wieder schmeckte. „Wie gesagt, ist nur so ein Gefühl.“

Am Tisch der Übriggebliebenen stimmte jemand mit schwerer Zunge `Die Alehässeler Kerb, die Alehässeler Kerb, die Alehässeler Kerb´ an, brach jedoch ab, als er feststellen musste, dass den anderen die Luft ausgegangen war und er als Solist keine überzeugende Vorstellung würde liefern können.

„Dein Gefühl in allen Ehren, Kurt, aber die Welt ist groß, und die Sonne brennt in vielen Ländern. Solange die Identität des Opfers nicht geklärt ist, dürfte es schwierig sein, den Täter zu finden.“

„Man müsste nur herausfinden, wo die Bergers seinerzeit abgeblieben sind.“

Falkan hatte bereits vor einiger Zeit begonnen, in dieser Richtung nach Möglichkeiten zu suchen. Gemeindeverwaltung, Bundeswehr, Nachbarn, das waren die Anlaufpunkte, wenn man sich ein Bild vom Leben der Familie Berger machen wollte. Alle Informationen zusammengenommen ergaben dann vielleicht die Lösung, wie bei einem Kreuzworträtsel oder einem Puzzle. Je mehr Worte oder Teile man zusammenfügte, desto klarer sah man das Ergebnis vor sich.

„Morgen früh geh’ ich gleich auf die Gemeindeverwaltung und erkundige mich nach den Bergers“, schien Friedrichsen Falkans Gedanken zu erraten.

„Kannst du dir sparen. Ich war schon dort. Die wissen auch nicht, wo die Bergers geblieben sind. Allerdings gibt es da eine Adresse in Italien, wohin früher mal die Rechnungen für den Grünzeugschnitt an der Mauer geschickte wurden. Die Post kam allerdings unbekannt zurück.“

„Mir reicht erstmal schon das Geburtsdatum von Karl Berger, um eine Anfrage nach Berlin zu schicken. Im Bundesverteidigungsministerium dürften wohl noch Unterlagen über ihn existieren. Schließlich war der Mann Offizier. So jemand kann ja nicht einfach den Dienst schwänzen und zuhause bleiben.“

„Wo auch immer das sein mag“, sagte Falkan und blinzelte versonnen in die tief im Westen stehende Abendsonne.

Am nächsten Morgen frühstückte Falkan auf der Terrasse und dachte bei Leberwurstbrötchen und Kaffee in Ruhe über das Geschehene nach. Eigentlich ging ihn die Sache ja – wie so oft – nichts an. Er hatte keinen Auftraggeber mehr, denn der war ermordet worden, und somit auch keinen Auftrag. Den Mörder zu fangen war Sache der Polizei, und sicherlich wäre sein Freund Friedrichsen da mit ihm einer Meinung. Doch Kurt Falkan wäre nicht Kurt Falkan gewesen, wenn er nun Däumchen gedreht und auf neue Kundschaft gewartet – oder schlimmer noch – dem leichtlebigen Rentnerleben gefrönt hätte. Und irgendwie betraf ihn Dornröschens Tod ja doch persönlich. Der junge Mann hatte die Detektei Falkan auserwählt, ihm bei der Aufklärung eines Rätsels behilflich zu sein, dessen Ursprung in der Vergangenheit lag, und Falkan hätte keine ruhige Minute mehr gehabt, wenn er Friedrichsen die ganze Arbeit überlassen würde.

Apropos Friedrichsen. Falkan griff zum Telefon und wählte dessen Nummer.

„Warst du schon auf der Gemeindeverwaltung?“

„Ja.“

„Und?“

„Man hat mir gesagt, so viel man mir sagen konnte.“

Die ausweichende Antwort sagte Falkan, dass der Teamgeist, der zwischen ihnen geherrscht hatte, als es die letzten Wochen darum gegangen war, Friedrichsens Schwager vom Verdacht des Raubmordes zu befreien, entwichen war. Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf.

„Und das wäre?“

„Das wäre eine polizeiliche Ermittlungsmaßnahme, die eine Privatperson nichts angeht.“

„Du vergisst, dass ihr diese Leiche ohne mich wahrscheinlich gar nicht hättet.“

„Soll das ein Geständnis sein?“

„Wenn ich mich mit dem Mann nicht dort verabredet hätte, dann…“

Falkan hielt mitten im Satz inne. Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Es musste noch jemand von der Verabredung gewusst haben. Oder hatte vielleicht jemand Dornröschen beschattet und bis zu dem Haus verfolgt? Oder war jemand bereits dort gewesen, und Dornröschen hatte ihn bei irgendetwas überrascht? Der Skorpion möglicherweise?

„Ist noch was, Kurt?“, drängelte Friedrichsen ungeduldig. „Ich muss zur Dienstbesprechung.“

Falkan war so in seine Überlegungen vertieft, dass er Friedrichsens Besuch bei der Gemeindeverwaltung fürs Erste vergaß.

„Nee, Benji, alles klar. Schönen Gruß an Sly. Mach’s gut.“

Friedrichsens Kollege Sylvester Müller verdankte seinen Spitznamen dem berühmten Namensvetter Stallone und war deswegen über diese Benennung nicht unbedingt unglücklich.

Falkan erhob sich und machte einen kleinen Spaziergang durch den Garten. Fritz folgte auf Schritt und Tritt. Bei den Buschbohnen blieb Falkan grübelnd stehen.

Was war der Grund für Dornröschens Tod? War die Unstimmigkeit aus der Vergangenheit dem jungen Mann zum Verhängnis geworden? Falkan ging weiter und legte bei den Tomaten einen weiteren Halt ein.

Der Mord war nicht geplant, so viel stand fest. Der verschwundene Schürhaken war eine typische Zufallswaffe, prädestiniert für eine Tat im Affekt.

War Dornröschens Tod also das Ergebnis eines unerbittlichen Streits? Aber mit wem hatte er gestritten? Und worüber? Und was hatte in dem Brief gestanden, der zusammen mit Geld, Ausweis und allem sonstigen Persönlichen verschwunden war?

Falkan ging in die Knie und streichelte den Kopf seines Dackels. Die Tomaten verströmten ihren unvergleichlichen Duft.

„So viele Fragen, Fritzchen, eindeutig zu viele für Herrchens Neugier.“ Er pflückte eine der reifsten Tomaten ab. Sie leuchtete rot in der Morgensonne.

„Und Onkel Friedrichsen ist wiedermal zu bockig, um Herrchens Neugier zu befriedigen. Ich denke, da müssen wir selbst aktiv werden.“

Mit zielgerichteten Schritten ging Falkan ins Haus zurück, stieg voller Tatkraft die Kellertreppe hinunter und kam energisch und mit einer noch eingepackten Tapetenrolle wieder herauf. Er schnitt drei Meter ab und befestigte die Bahn mit Reisbrettstiften an der Wand im Arbeitszimmer, die bereits unzählige winzige Löcher vergangener Fälle aufwies. Dann notierte er sämtliche bisher bekannten Daten auf der Tapete. Leider stand hinter jedem Wort noch ein großes Fragezeichen. An einem der Reisbrettstifte hing das Armband mit dem Skorpionanhänger.

2

Beförderung zum Fregattenkapitän

Dank des Internets und der Trauer, die viele ehemalige Soldaten der Flugabwehrraketengruppe 42 über die Schließung des Standorts in Kilianstädten empfanden, klopfte Falkan am späten Nachmittag an der Tür von Oberstabsfeldwebel a.D. Thorsten Jung in Oberdorfelden. Im Gegensatz zu KHK Friedrichsen setzte er bei seinen Ermittlungen auf die Basis, nicht auf die Mithilfe des Verteidigungsministeriums.

Es war eine Leichtigkeit gewesen, diese Basis zu finden. Im Netz gab es mehrere Seiten, auf denen an die ehemalige Nidder-Kaserne in Schönecks Ortsteil Kilianstädten erinnert wurde. Es gab eine Seite, die sich mit der Geschichte der Kaserne befasste, dann gab es noch die Homepage eines Ehemaligenstammtischs und noch einige andere Seiten, die sich mit der Vergangenheit und der Gegenwart des Standortareals befassten. So war Falkan nach dem Mittagessen zwischen Bildern von Flugabwehrraketen und Manövereindrücken der letzten sechzig Jahre auf den Namen von Oberstabsfeldwebel a.D. Jung gestoßen und hatte sich mit diesem für den Nachmittag verabredet.

Jung war Mitte siebzig und machte den Eindruck, als hätte er noch viel vor. Aus seinem T-Shirt quollen noch beachtliche Muskeln hervor.

„Kommen Sie rein, Meister, wollen Sie’n Bier?“

Man merkte Jungs Haus auf den ersten Blick die militärische Vergangenheit seines Besitzers an. Selbst an den Wänden im Flur hingen Fotos, auf denen er mit Kameraden in Tarnbemalung oder vor dicken Lkws mit Raketenbestückung posierte. Das Arbeitszimmer, in das er seinen Besucher führte, war der reinste Schrein. Von einer Tapete war nichts mehr zu sehen. Jungs ganzes Soldatenleben hing an den Wänden. Bilder, Urkunden, Auszeichnungen. Auf Falkans unmilitärisches Gemüt wirkte das alles, als habe Thorsten Jung nie etwas anderes gesehen als Schützengräben und Exerzierplätze. Er musste innerlich grinsen, als er sich vorstellte, wie es aussehen musste, wenn bei ihm zuhause sämtliche Bilder von allen Mördern und sonstigen Gesetzesbrechern, die er gefangen hatte, die Wände zieren würden und er daneben, triumphierend die Handschellen hochhaltend.

„Sie haben aber ganz schön was erlebt“, sagte er, weil er wusste, dass ein Mann wie Jung so etwas gerne hörte.

„Kann man sagen, ja. Bei der Versicherung wär’s bestimmt langweiliger gewesen.“ Jung lachte und deutete auf ein kleines, kaum erkennbares Foto. „Das bin ich als Lehrling bei einem Versicherungsmakler in Hanau. Zum Glück hab’ ich bald erkannt, dass das nicht meine Welt ist. Was ist mit dem Bier? Oder was anderes? Dort ist ein Sessel.“

Falkan hockte sich wie befohlen.

„Nein danke. Wir hatten am Wochenende Kerb, ich bin noch satt.“

Jung lachte herzhaft auf und warf sich auf den Bürostuhl. Auf dem Schreibtisch lagen haufenweise Papiere und anderer Krimskrams.

„Ich bin gerade dabei, so was wie meine Memoiren zu schreiben. Da kommen Erinnerungen hoch, kann ich Ihnen sagen.“

Falkan fand, diese Äußerung sei ein guter Aufhänger für sein Anliegen.

„Deswegen bin ich bei Ihnen. Ich hoffe auf Ihr Gedächtnis. Erinnern Sie sich an einen Mann mit Namen Karl Berger? Er muss ein ziemlich hohes Tier gewesen sein, so Ende der Siebziger.“

Jung führte seine gefalteten Hände zum Mund und schloss die Augen. So saß er sekundenlang da, bis er sich erhob und zum Fenster ging, durch das der Garten hinterm Haus zu sehen war. Er nahm ein Bild von der Wand neben dem Fenster und kam damit zu Falkan zurück.

„Ich bin der ganz rechts, dann kommen Dombrowski und Lüdenscheid. Der in der Mitte, das ist Berger. Oberstleutnant. Ich war damals StUffz in der Dritten. Berger war uns, wenn ich mich recht erinnere, als Einsatzstabsoffizier vom Ministerium zugeteilt. Das Bild hat der kleine Brandner gemacht, Nato Manöver Blaue Donau, `78.“

Falkan nahm das golden gerahmte Foto und betrachtete den Mann in der Mitte. Es war der Offizier aus dem Wohnzimmer im Haus am Stadtweg.

„Ich bewundere Ihr Gedächtnis. Wissen Sie noch, was er für ein Mensch war?“

„Ach Gott, er war eben Offizier, da sieht unsereins nicht unbedingt den Menschen drin. Soweit ich mich erinnere, war er ganz umgänglich. Was interessiert Sie denn nach all den Jahren an ihm?“

Falkan zückte eines seiner Kärtchen und reichte es Jung. Am Telefon hatte er sich nur als Interessent für die Vergangenheit der Nidder Kaserne ausgegeben.

„Privatdetektiv.“ Jung musterte Falkan wie einen seiner Rekruten, der Wochenendurlaub beantragte, obwohl er gerade Scheiße gebaut hatte. „Schon lange im Geschäft?“

Falkan wusste, was er meinte.

„Ich war früher KHK bei der Kripo Frankfurt.“

Jung grinste kameradschaftlich.

„Verstehe. Wir können wohl beide nicht aus unserer Haut. Also Privatdetektiv? Was hat er denn ausgefressen, der Herr Oberstleutnant? Geht es um die alten Gerüchte?“

„Gerüchte?“

Falkan wurde hellhörig. Gerüchte waren genau das, was er brauchte. Ein vollständiger Ermittlungsbericht wäre zwar wünschenswert, aber Gerüchte taten es vorerst auch.

„Berger war damals von einem Tag auf den anderen weg vom Fenster. Er war immerhin fünf oder sechs Jahre bei unserem Haufen gewesen, da verschwindet man nicht so sang- und klanglos. Aber Berger war Anfang Dezember einfach weg. Nicht, dass wir ihn großartig vermisst hätten, aber gewundert haben wir uns doch.“

„Und was waren das für Gerüchte?“

„Eben Gerüchte, die immer aufkommen, wenn niemand was weiß und alle gern was wissen wollen. In dem Jahr war Leber als Verteidigungsminister zurückgetreten, der Militärische Abschirmdienst hatte überall seine Finger drin, die StaSi mischte auch mit, und die Illustrierten berichteten ausführlich über das, was sie wussten und das, was sie zu wissen glaubten. Es war ganz schön was los im Land. Und dann verschwindet ohne Vorwarnung plötzlich ein hoher Offizier von der Bildfläche. Dass die Kasernenleitung keine Erklärung zu seinem Fortgang abgegeben hat, hat die Gerüchteküche natürlich noch befeuert.“

„Hatte Berger denn etwas mit dem MAD zu tun?“

„Keine Ahnung, aber er kam immerhin vom Ministerium, und da niemand wusste, ob er auch dorthin zurückgekehrt war oder wo er sonst geblieben sein konnte, wurde eben rumgerätselt. Als sich dann die