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Wenige Sekunden entscheiden zuweilen über Leben und Tod, Glück und Verlust. Wie auch im Fall der Familie Grombach: Ein Auto übersieht die grüne Fußgängerampel, rast auf eine Frau zu und schleudert sie durch die Luft. Sie stirbt noch an der Unfallstelle. Es ist Carola Grombach, die Mutter eines kleinen Mädchens, das atemlos am Straßenrand zusieht.
Rund drei Jahre ist das Unglück nun her. Seitdem spricht die nun sechsjährige Sara nicht mehr. Als sich das Mädchen eines Tages beim Blumenpflücken im Wald verläuft, wird ihm das zum Verhängnis. Eine fremde Frau und ihr Rauhaardackel Max finden die Kleine verängstigt wimmernd auf einem Hochsitz. Kein Wort kommt Sara über die Lippen.
Nur wie soll sie zu ihrem Vater zurückgebracht werden, wenn ihre Retterin nicht einmal ihren Namen kennt?
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Seitenzahl: 142
Cover
Der stille Weg zum Glück
Vorschau
Impressum
Der stille Wegzum Glück
Warum die kleine Sara nichtsprechen wollte
Von Caroline Steffens
Wenige Sekunden entscheiden zuweilen über Leben und Tod, Glück und Verlust. Wie auch im Fall der Familie Grombach: Ein Auto übersieht die grüne Fußgängerampel, rast auf eine Frau zu und schleudert sie durch die Luft. Sie stirbt noch an der Unfallstelle. Es ist Carola Grombach, die Mutter eines kleinen Mädchens, das atemlos am Straßenrand zusieht.
Rund drei Jahre ist das Unglück nun her. Seitdem spricht die nun fast sechsjährige Sara nicht mehr. Als sie sich eines Tages beim Blumenpflücken im Wald verläuft, finden eine fremde Frau und ihr Rauhaardackel Max die Kleine verängstigt wimmernd auf einem Hochsitz. Doch kein Wort kommt Sara über die Lippen.
Nur wie soll sie zu ihrem Vater zurückgebracht werden, wenn ihre Retterin nicht einmal ihren Namen weiß?
Sven Grombach näherte sich zügig der belebten Fußgängerzone in der Ortsmitte von Kirchheim. Der Trubel auf dem Marktplatz war wahrscheinlich dem Wochenmarkt geschuldet, der jeden Samstagvormittag stattfand. Um hölzerne Verkaufsstände, die mit roten und grünen Tüchern überdacht waren, versammelten sich Kleinfamilien mit Lastenrädern, Senioren und geschäftige Frauen aller Altersklassen. Sie hatten große Taschen dabei, trugen geflochtene Körbe über dem Arm oder hielten Stofftüten in der Hand. Aus einigen lugten Lauchstangen hervor, Rhabarber und Baguette und manches mehr.
Sven jedoch war nicht wegen des Marktes in die Stadt gegangen. Er musste zur Buchhandlung Hübner, das Geschenk für Sara abholen, die Ende des Monats sechs Jahre alt wurde. Er vermied den Blick zum Café Frenzel, das sich auf der gegenüberliegenden Seite in der Fußgängerzone befand und betrat den Laden.
Eine junge blonde Frau mit einer übergroßen Hornbrille stand hinter der Kasse und lächelte ihm zu. Auf einem kleinen Schildchen, das auf Brusthöhe an ihrer Bluse steckte, stand: Schubert.
»Guten Morgen«, grüßte sie freundlich und ließ ihren Blick wohlgefällig an ihm herabwandern.
»Hallo«, erwiderte Sven und lächelte leicht irritiert. »Mein Name ist Grombach. Für mich wurde ein Buch zurückgelegt.«
»Einen Moment bitte.« Frau Schubert wandte sich zu einem Regal um, das hinter ihr stand und suchte die Reihen ab. Reichlich Bücher standen darin und aus jedem lugte oben ein weißer Zettel heraus, auf dem vermerkt stand, für welchen Kunden das Buch bestellt oder zurückgelegt worden war. »Es tut mir sehr leid, Herr Grombach. Ich kann es nicht finden. Ich sehe schnell im Lager nach.«
Sie eilte davon, ehe er antworten konnte.
Sven seufzte und sah durch die Scheibe des Schaufensters nach draußen. Sein Blick blieb am Café Frenzel hängen. Rasch wandte er sich wieder ab.
Frau Schubert war noch nicht wieder zurück. Sven spürte, wie er unruhig wurde.
Das konnte ja wohl nicht wahr sein. Er hatte gestern angerufen und nachgefragt, ob »Das große Conni-Buch« vorrätig war. Ein beflissener Angestellter mit dem Namen Schmidt hatte ihm versichert, sie hätten gerade noch ein Exemplar im Laden.
Ob er es ihm zurücklegen sollte? Unbedingt.
Sara liebte die Buchreihe um das kleine Mädchen Conni, und der Sammelband, in dem gleich zwölf Geschichten auf sie warteten, war ihr Herzenswunsch zum Geburtstag.
In Kirchheim gab es nur eine einzige Buchhandlung. Wenn Frau Schubert das Buch nicht fand, aus welchem Grund auch immer, so blieb ihm eigentlich nur noch der Weg über das Internet. Oder er fuhr in die nächstgrößere Stadt. Vielleicht konnte er es dort in einem Geschäft aufstöbern. Das war sehr ärgerlich. Er steckte schließlich bis zum Hals in Arbeit. Allein dieser Gang heute Vormittag in die Stadt kostete ihn Zeit, die er eigentlich nicht hatte.
Frau Schubert erschien mit gerötetem Gesicht wieder am Verkaufstresen.
»Es tut mir wirklich leid, aber ... wer hat denn das Buch für Sie zurückgelegt?«
»Ein Herr Schmidt«, knurrte Sven.
»Hm, ach ja. Gut. Dann hätte ich Ihnen einen Vorschlag zu machen, Herr Grombach. Herr Schmidt ist noch nicht im Haus. Er kommt in etwa einer halben Stunde. Haben Sie noch etwas zu erledigen? Ich würde mich nach Ihrer Bestellung erkundigen, sobald er hier ist«, bot Frau Schubert entgegenkommend an.
Sven hatte in der Stadt nichts mehr zu erledigen. Er musste zurück nach Hause und an seinen Schreibtisch. Für einen Augenblick zog er in Erwägung, das ersehnte Geschenk dann eben doch im Internet zu bestellen. Er bestellte kaum je etwas, und eigentlich lehnte er es auch ab. Solang es irgend möglich war, wollte er den Einzelhandel unterstützen.
»Ich komme in einer halben Stunde wieder«, entschied er mit düsterem Blick.
»Sehr gerne«, versicherte die Buchhändlerin.
Sven verzichtete auf eine Antwort und verließ den Laden.
♥♥♥
Nun musste Sven sich notgedrungen dreißig Minuten in der Stadt herumdrücken. Nach Hause zu fahren, lohnte sich nicht.
Unschlüssig stand er wenige Schritte vor der Buchhandlung in der warmen Morgensonne. Passanten eilten an ihm vorbei, hektisch, zielstrebig. Andere wiederum ließen sich Zeit, schlenderten durch die Fußgängerzone und betrachteten Auslagen in Schaufenstern oder aßen Eis. Ein kleiner Junge, der auf einem knallbunten Laufrad vorwärtsstrebte, wäre beinahe gegen seine Beine gefahren. Sven wich aus, und dabei blieb sein Blick wider Willen am Café Frenzel hängen.
Dass sich soeben die Eltern des Jungen bei ihm entschuldigten, hörte er gar nicht mehr. Er erstarrte, das Atmen fiel ihm schwer. Und doch hielt dieser Ort seinen Blick gefangen, der so qualvolle Erinnerungen in ihm hervorrief.
Die kleinen runden Tische vor dem Lokal glänzten im hellen Licht der Sonne. Es waren neue Tische, andere als damals. Eben rieb Elli, die Tochter des Inhabers, mit einem Tuch die türkisfarbenen Platten ab. Ihr Mann Stefan rückte die weißen Aluminiumstühle mit den kunstvoll geflochtenen Rückenlehnen zurecht und verteilte gelbe und grüne Kissen auf den Sitzflächen, damit die Gäste es bequem hatten. Ellis Vater, Gunter Frenzel, spannte erste Sonnenschirme auf. Keiner der drei hatte ihn bemerkt, dabei trennten sie nur wenige Meter.
Sven wusste, er konnte niemals wieder Gast in ihrem Café sein. Allzu entsetzlich und schmerzhaft war das Lokal mit seinem und Saras Schicksal verbunden. Er spürte ein Ziehen in der Brust und fragte sich, ob die Qual je nachlassen würde.
Nun, wo er einmal hinsah, konnte er den Blick nicht mehr abwenden. Hier war das Unglück geschehen, das ihn seither Nacht für Nacht in den Träumen verfolgte.
Wollte er sich jetzt, in diesem Moment bestrafen, weil er zugelassen hatte, dass Carola gestorben war?
Stopp. Er musste akzeptieren, was nicht zu ändern war. Er durfte nicht in Leid versinken, er musste stark bleiben und dem Besten und Liebsten, das er noch besaß, seinem Töchterchen, ein fürsorglicher, verlässlicher Vater sein.
Sven schob die Fingerspitzen in die Vordertaschen seiner Jeans und ging weiter.
Ein paar Meter links von sich sah er eine Bank, auf der gerade niemand saß. Sie stand neben einem der jungen Laubbäume, von denen die Stadt vor drei Jahren etliche in großzügige Aussparungen zwischen den Pflastersteinen gepflanzt hatte.
Zögerlich näherte er sich der schattigen Sitzgelegenheit. Er konnte hier die halbe Stunde verweilen, die er sich gedulden musste, und ein wenig dem lebendigen Treiben zusehen. Allerdings konnte er von diesem Platz aus auch direkt auf die Stelle des Unglücks sehen ...
Die Stadt hatte sich seither alle Mühe gegeben, die Fußgängerzone zu begrünen. Zwischen den Laubbäumen verteilt, standen große quadratische Kübel mit grasgrünem Anstrich, in denen eine Vielzahl bunter Blumen üppig gediehen. Bienen umschwirrten die Blüten, die allesamt weit über den Rand der Pflanztöpfe hinaus wucherten. Der gleiche Anblick bot sich auch links von der Bank, auf die sich Sven soeben setzte, und ebenso auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes.
Er stützte die Ellbogen auf die Knie und musterte die Pflastersteine zu seinen Füßen. Ein Sonnenstrahl fiel durch die noch zarten Blätter der Zweige über ihm und zeichnete wabernde Lichtmuster darauf.
Es gefiel ihm und doch schmerzte sogar dieser Anblick. Carola hätte ihre Freude an diesem Lichterspiel der Natur gehabt.
Carola. Sie fehlte ihm unendlich.
Sven lehnte sich zurück. Von hier aus konnte er den gesamten Marktplatz überblicken. Er sah auch die Stelle, an der man vor drei Jahren mithilfe einer Ampelanlage die viel befahrene Straße hatte überqueren können, ehe die Stadt entschieden hatte, das Zentrum zur Fußgängerzone umzugestalten.
Wenn er den Kopf wandte, konnte er die Bäckerei sehen, drei Häuser neben der Buchhandlung Hübner. Die Bäckerei, zu der Carola gewollt hatte.
Sven verschränkte die Arme vor der Brust und tauchte ab in die Vergangenheit.
Er sah seine Frau vor sich, in diesen letzten gemeinsamen Minuten. Ihr Lächeln, die zärtliche Geste, mit der sie seine Hand berührt hatte, ehe sie aufgestanden war, um den Weg zu gehen, von dem sie nicht mehr zurückkehren sollte ...
♥♥♥
Drei Jahre zuvor ...
Es war der erste warme Frühlingstag in diesem Jahr und Gunter Frenzel, Inhaber des gleichnamigen Cafés, hatte die Bestuhlung nach draußen gestellt.
Sven und Carola saßen an einem Tisch in der Vormittagssonne, zwischen Ihnen thronte die kleine Sara in einem Kinderhochstuhl.
Es war Samstag. Sven hatte Urlaub, und er wollte jede Minute davon mit seiner Frau und seiner Tochter teilen.
Sein Blick glitt voller Liebe über seine kleine Familie.
Carola hatte sich im Stuhl zurückgelehnt, die Augen geschlossen und hielt ihr Gesicht in die warmen Strahlen der Sonne. Ihre Arme lagen locker auf den Lehnen. Auf dem Tisch vor ihr stand ein halb volles Glas Milchshake mit der Geschmacksrichtung Mango-Ananas, ihrer Lieblingssorte.
Wie sehr er seine Frau liebte. Ob es eine höhere Macht gab, die dafür gesorgt hatte, dass sich vor fünf Jahren ihre Wege gekreuzt hatten? Er war täglich dankbar für das Glück, sie an seiner Seite zu wissen.
Spontan hatte er den Wunsch, aufzustehen und sie fest in die Arme zu schließen, doch für den Augenblick begnügte er sich damit, sich zur Seite zu beugen und hinter Saras Stuhl nach Carolas Hand zu greifen. Sie öffnete die Augen, lächelte ihn verträumt an.
Sara bohrte ein Fingerchen in den Rest einer Kugel Erdbeereis, die ihr die Eltern bestellt hatten, und steckte ihn dann in den Mund.
»Mmm«, machte sie.
»Schmeckt es dir, Schätzchen?«, fragte Carola liebevoll.
Die Kleine strahlte über ihr ganzes, mit der rosa Leckerei verschmiertes Gesichtchen und nickte eifrig.
»Nix mehr«, erklärte sie.
»Soll das heißen, dass du satt bist?«, erkundigte sich Carola.
»Satt«, bekräftigte Sara.
»Gut, dann gehen wir jetzt ins Lokal und waschen dich«, entschied Carola.
Sven beugte sich zu ihr herüber und legte ihr die Hand auf den Arm.
»Lass mich das machen«, sagte er. »Und trink erst mal in Ruhe deinen Milchshake aus.«
Wieder lächelte Carola ihm zu. »Danke, Schatz.«
Sven stand auf und hob Sara aus ihrem Stühlchen.
»Teamwork, nennt man das«, erwiderte er mit einem Zwinkern, streichelte Carolas Schulter und sah seine kleine Tochter an. »Wir beide schaffen das, stimmt's, Sara?«
»Hmm.« Bekräftigend nickte das Kind und rieb sich mit den Handrücken die Augen.
»Oh«, bemerkte Sven lachend. »Da ist jemand müde. Wir machen schnell und gehen dann nach Hause.«
Er beugte sich zu Carola, die zu ihnen hochblickte und küsste sie sanft. Sara grapschte mit ihren klebrigen kleinen Fingern nach den dunklen Haaren der Mutter.
»O nein, tu das nicht, Mäuschen.«
Sanft löste Sven die Finger des Töchterchens aus Carolas Haaren und ging mit ihr ins Café zu den Toiletten.
Wenige Minuten später war er mit der Kleinen zurück und setzte sie wieder in ihren Hochstuhl.
»So, Sara, ich zahle noch, und wenn die Mama ausgetrunken hat, dann gehen wir.«
Seine Tochter antwortete nicht. Sie griff nach dem Löffel, der neben ihrer Eisschale lag und begann, mit ungelenken, aber konzentrierten Bewegungen in der geschmolzenen rosa Flüssigkeit zu rühren.
Ein leichter Wind war aufgekommen und von irgendwoher zog der Duft von Gegrilltem. Er mochte vom Bratwurststand herüberwehen, der gut fünfzig Meter entfernt von Frenzels Café seinen Platz hatte.
»Was hältst du davon, wenn wir heute Abend Steaks und Würstchen grillen?«, fragte Sven und sah zu seiner Frau.
Carola lachte leise. »Du wirst es nicht glauben, den Gedanken hatte ich auch gerade. Wir könnten das Fleisch bei Metzger Reinberger holen. Sein Geschäft liegt auf dem Weg zu unserem Parkplatz.«
»Super Idee.« Sven schmunzelte. »Dann laufe ich nach dem Bezahlen schnell zum Bäcker und hole Brötchen dazu.« Er wies mit dem Kopf zur anderen Straßenseite. »Hoffentlich hat er noch welche. Er schließt gleich.«
»Nein.« Liebevoll sah Carola ihn an und legte sanft ihre Hand auf seine. »Ich gehe zum Bäcker, und du bleibst sitzen. Ich bin gleich wieder hier.«
»In Ordnung. Dann zahle ich in der Zwischenzeit«, stimmte Sven zu.
Carola nickte. Sie stand auf, nahm ihre Handtasche, die über der Lehne des Stuhls hing und ging zu der Fußgängerampel, die nur wenige Meter von Frenzels Café entfernt stand. Die Ampel schaltete auf Grün, kaum, dass sie sie erreicht hatte.
»Mama?«, fragte Sara und deutete mit ausgestrecktem Ärmchen zur Mutter. »Brötchen holt?«
»Ja, Schätzchen«, bestätigte Sven.
Carola sah noch einmal zu beiden Seiten, ehe sie die Straße betrat.
Ein LKW näherte sich in bedächtiger Geschwindigkeit der roten Ampel. Im gleichen Moment hörte Sven das Aufheulen eines Motors. Sein Blick schnellte in Richtung seiner Frau.
In hohem Tempo kam ein weißer Wagen angeschossen. Der Fahrer riss das Steuer herum, setzte zu einem waghalsigen Überholmanöver an, schoss links an dem LKW vorbei und dann gab es ein entsetzliches Geräusch. Für Sven passierte plötzlich alles nur noch in Zeitlupe. Der Autofahrer schien Carola nicht gesehen zu haben. Seine große Liebe und Mutter seiner Tochter ...
Sie schleuderte wie eine leblose Puppe durch die Luft, prallte auf die Straße auf und blieb mit verrenkten Gliedern liegen, etliche Meter von der Ampel entfernt.
Der weiße Wagen stand quer zur Fahrbahn. Er war in ein parkendes Auto gekracht. Der LKW-Fahrer stieg aus, von allen Seiten liefen Menschen zu der Unfallstelle.
Sara schrie. Sie schrie ununterbrochen. Sven hob die Kleine aus dem Hochstuhl. Das war doch alles nicht geschehen! Wie in Trance eilte er zu Carola. Er schob die Leute beiseite, die ihm den Weg versperrten und beugte sich über die geliebte Frau.
Carola sah ihn an, ungläubig, staunend. Das Licht in ihren Augen brach, und ihr Kopf fiel zur Seite. Fassungsloses Entsetzen machte sich in Sven breit, packte ihn mit aller Macht. Sie war gegangen. Man hatte ihr die Liebe seines Lebens genommen! Und nun schrie auch er, ohne zu begreifen, dass es seine eigene Qual war, die er hörte.
Dazwischen drang Saras tränenersticktes Stimmchen: »Mama? Mama!«
Jemand fasste Sven behutsam am Arm und versuchte, ihn beiseitezuziehen.
Danach setzte seine Erinnerung aus ...
♥♥♥
Sven schnürte es die Kehle zu, so deutlich hatte er den grauenhaften Moment eben wieder durchlitten. Er fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht, um die Erinnerungen zu verscheuchen. Es wollte nicht gelingen. Sein Herz pochte gegen seine Rippen, der Schmerz drückte ihm die Luft ab. In seiner Kehle saß ein Schluchzen, das er nur mühsam unterdrückte.
Ruhig, ganz ruhig. Er hatte doch mittlerweile gelernt, damit zu leben. Es war immerhin inzwischen bereits drei Jahre her.
Manchmal fragte er sich, ob die Stadt den Innenbereich komplett umgestaltet hatte, um die Stelle, an der es passiert war, verschwinden zu lassen. Das war natürlich Unsinn.
Die Pläne für die Änderungen waren längst beschlossene Sache gewesen, als das Unglück passiert war. Das wusste er von Stadtrat Steffen Kaiser, mit dem er vor über dreißig Jahren in die Grundschule gegangen und seither befreundet war.
In düstere Gedanken versunken, beobachtete Sven das Gewimmel um sich und nahm es doch nicht wahr. Er fühlte sich wie unter einer unsichtbaren Glocke. Getrennt vom echten Leben, von den Menschen – allein und verlassen.
»Hallo, Sven«, vernahm der junge Vater eine sanfte, weibliche Stimme.
Der Hauch eines süßlichen Parfüms stieg ihm in die Nase. Er brauchte einen Moment, um ins Hier und Jetzt zurückzufinden.
Jemand hatte ihn angesprochen. Er sah nach links und rechts und drehte sich schließlich um.
Hinter der Bank stand Pia Seeger, die Nichte seiner Nachbarin und Haushaltshilfe Gaby Seeger. Sie stand so nahe bei ihm, nur getrennt von der hölzernen Rückenlehne der Bank, dass ihr weißes Sommerkleid seinen Arm streifte. Ein breiter roter Gürtel betonte ihre schlanke Taille. Über ihrer Schulter hing der gleichfarbige Riemen einer kleinen roten Lackledertasche.
Sven zog den Arm zurück.
»Hallo, Pia«, grüßte er zurück und rang sich ein Lächeln ab.
Die junge Frau lachte leise und legte ihre Hand auf seine Schulter, ganz leicht, sodass sich die Berührung wie ein Hauch anfühlte. Mit grazilen Schritten umrundete sie seinen Sitzplatz, wobei sie mit ihrer Hand über seinen Oberarm streifte, und setzte sich zu ihm.
»Du klingst, als hätte ich dich geweckt«, bemerkte sie amüsiert und schlug ihre langen Beine übereinander.
Der Saum ihres Rockes rutschte ein Stückchen in die Höhe und gab ihrer wohlgeformten Oberschenkel frei. Sie legte die Hände aufeinander in ihren Schoß und musterte ihn. Ihre rötlichen Haare, die in Wellen weit über ihre zarten Schultern fielen, schimmerten im Licht der Sonne, die durch das Blätterdach über ihnen drang.
»Natürlich hast du das nicht«, erwiderte er angestrengt.
Er wollte keine Gesellschaft und die von Pia schon gar nicht.
Der belustigte Ausdruck auf ihrem Gesicht verschwand und machte Besorgnis Platz.
»Geht es dir nicht gut, Sven? Du wirkst so ... abwesend. Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Es ist alles bestens. Danke, Pia«, wehrte er ab.