1,99 €
Vera Bachstein verliert unverhofft ihren gut bezahlten Job und wenig später auch ihren langjährigen Freund Tobias. Ihr Leben gerät aus den Fugen.
Jeder Versuch, das Chaos in den Griff zu bekommen, scheitert kläglich - bis sie eines Tages einem verzweifelten Mädchen auf dem Weihnachtsmarkt begegnet. Mit schimmernden Tränen in den Augen schiebt die sechsjährige Carlotta ihre kleine, warme Hand in die ihre. Sie hat ihren Vater in der Menge verloren. Obwohl Vera mit Kindern eigentlich rein gar nichts anfangen kann, nimmt sie sich der Situation an und macht sich mit der Kleinen auf die Suche.
Als Vera endlich dem vielbeschäftigten Vater Johannes gegenübersteht, bleibt ihr die Luft weg. Nein, unmöglich! So attraktiv kann doch kein Papa sein! Und doch wirkt dieser schöne Mann unbeschreiblich ... verloren. Süß verloren, irgendwie, denkt sich Vera.
Sein Angebot kommt völlig unerwartet. Der Witwer bittet sie, eine ihm absolut Fremde, die Nanny ihrer Tochter zu werden! Das kann doch nicht sein Ernst sein - oder etwa doch?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 137
Cover
Ein Engel für Vera
Vorschau
Impressum
Ein Engel für Vera
Wie ein kleines Mädchen ihr Herz raubte
Von Marlene Menzel
Vera Bachstein verliert unverhofft ihren gut bezahlten Job und wenig später auch ihren langjährigen Freund Tobias. Ihr Leben gerät aus den Fugen.
Jeder Versuch, das Chaos in den Griff zu bekommen, scheitert kläglich – bis sie eines Tages einem verzweifelten Mädchen auf dem Weihnachtsmarkt begegnet. Mit schimmernden Tränen in den Augen schiebt die sechsjährige Carlotta ihre kleine, warme Hand in die ihre. Sie hat ihren Vater in der Menge verloren. Obwohl Vera mit Kindern eigentlich rein gar nichts anfangen kann, nimmt sie sich der Situation an und begibt sich mit der Kleinen auf die Suche zwischen Weihnachtsbuden und Glühweinständen.
Als Vera endlich dem vielbeschäftigten Vater Johannes gegenübersteht, bleibt ihr die Luft weg. Nein, unmöglich! So attraktiv kann doch kein Papa sein! Und doch wirkt dieser schöne Mann unbeschreiblich ... verloren. Süß verloren, irgendwie, denkt sich Vera.
Sein Angebot kommt völlig unerwartet. Der Witwer bittet sie, eine ihm absolut Fremde, die Nanny ihrer Tochter zu werden! Das kann doch nicht sein Ernst sein –
oder etwa doch?
»O nein!«, rief Vera Bachstein aus und krallte ihre Finger panisch um ihren Wecker. Sie schüttelte das klappernde Gerät mehrmals, doch auch danach setzten sich die Zeiger nicht mehr in Bewegung. Ihr Wecker war tot. »So ein Mist!«
Vera warf die Decke zurück und hechtete aus dem Bett. Sie musste sich am Türrahmen festhalten, um nicht hinzufallen. Vor ihren Augen drehte sich auf einmal alles. Ihre Beine drohten einzuknicken.
Sie torkelte zum Waschbecken im angrenzenden Badezimmer und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht. Danach fühlte sie sich wieder lebendiger.
Vera betrachtete ihr müdes, schmales Gesicht in dem schmutzigen Spiegel vor ihrer Nase. Hastig putzte sie sich die Zähne, stylte ihre aschblonden Haare mit viel Gel, damit niemand bemerkte, dass sie noch nicht gewaschen waren, und legte etwas Make-up auf, um ihre Augenringe zu kaschieren.
Durch die alten Vorhänge blitzte bereits die Sonne des neuen Tages herein. Der schmelzende Dezemberschnee hinterließ feuchte Schlieren auf den Fensterscheiben.
Vera war viel zu spät dran. Als sie gerade dabei war, ihre auf dem Boden verstreute Kleidung zu greifen, bewegte sich ihr Bett. Geschockt machte sie einen Satz zurück, ehe die Erinnerung sie aufatmen ließ.
»Tobi?«, fragte sie mit krächzender Stimme und räusperte sich.
»Hmm?«, antwortete der Mann in ihren Laken mit einem müden Brummen. Endlich setzte er sich auf und streckte sich ausgiebig. »Was ist denn los? Du rennst hier ja rum wie von der Tarantel gestochen.«
Tobias gähnte und öffnete endlich seine Augen. Vera hätte sich gerne wieder zu ihrem Nachbarn gelegt und den Tag einfach im Bett verbracht.
»Wie viel haben wir gestern getrunken?«, wollte sie nun wissen und rieb sich ihre angespannte Stirn.
Tobias zuckte mit den Schultern.
»Es ging uns gut, du hattest Lust darauf, warum also nicht? Du bereust es doch sonst nicht, mit mir durch die Bars zu ziehen und anschließend im Bett zu landen.«
»Aber doch nicht mitten in der Woche!«, rief Vera entsetzt. »Ich komme zu spät zur Arbeit! Es kann nicht jeder von zu Hause aus Computerzubehör verkaufen wie du.«
»Ach«, erwiderte der durchtrainierte Brünette mit den blauen Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung.
Er schälte sich aus der Bettdecke und stand schließlich splitterfasernackt vor Vera. Sie unterdrückte den Drang, seine ausgeprägte Bauchmuskulatur zu berühren.
Erst gestern Nacht war Vera mit ihren Fingerspitzen mehrmals daran entlanggefahren. Sie bekam nicht genug von Tobias, der in der Wohnung neben ihr lebte. Ob es daran lag, dass die beiden niemals eine feste Beziehung aus ihrer Liaison gemacht hatten, konnte Vera nicht sagen. Ihr gefiel das lockere Abkommen zwischen ihnen, da sie ohnehin nicht der Typ Frau für eine feste Bindung war. Nicht, seitdem sie ihre Mutter mit ihrem Stiefvater erlebt hatte. Beziehungen bedeuteten für Vera Abhängigkeit und Zwang.
»Alles okay?«, fragte Tobias und fasste sie behutsam an den schmalen Schultern.
Vera schreckte hoch. Sie hatte sich erneut in unschönen Erinnerungen verfangen. Sie setzte ein Lächeln auf, griff nach ihrem Smartphone und checkte mit flinken Fingern ihre Nachrichten und verpassten Anrufe.
Natürlich hatte ihr Vorgesetzter mehrmals vergeblich versucht, sie zu erreichen. Seit fünfzehn Minuten musste sie bereits hinter dem Schalter stehen und Kunden bedienen.
»Entschuldige, aber ich muss los. Zieh einfach die Tür hinter dir ins Schloss«, meinte Vera im Hinausgehen, ehe sie die Treppe des Wohnhauses hinunterhetzte.
Sie wartete seine Antwort nicht ab. Tobias kannte dieses Verhalten von seiner chaotischen Nachbarin bereits.
Vera überlegte sich auf dem Weg zum Auto eine passende Ausrede für ihren Chef. Dass sie die Nacht mit einem Mann verbracht hatte, würde sicher kein geeignetes Argument sein. Sie brauchte diesen Job. Er stellte die einzige Konstante in ihrem Leben dar.
Mehrmals rutschte sie auf dem glitschigen Boden vor dem Haus aus. Ihr alter, zerschlissener Mantel wärmte sie nur bedingt. Durch jede Ritze davon schoss eiskalter Wind und peitschte Nadelstiche auf ihre Haut.
Per Freisprechanlage rief sie Wolfgang Stetter vom Bankhaus Stetter an, der bereits nach dem ersten Klingeln abhob.
»Vera, wo zum Teufel steckst du? Ich musste Peer bitten, seine Schicht zu wechseln, damit er dich ersetzt!«, polterte er ohne Begrüßung.
»Es tut mir so leid, aber ich war in diesen Unfall verwickelt ...«
»Was für ein Unfall? Ist das wieder eine deiner seltsamen Ausreden? Vera, das ist bereits der dritte Fall von Unpünktlichkeit. Du weißt, dass du bereits an einem dünnen Ast hängst.«
»Ja, es tut mir auch wahnsinnig leid, aber ich konnte nichts dafür. Da war dieser LKW, der ...«
»Das kannst du mir hier gerne im Büro noch einmal erzählen. Komm so schnell wie möglich her. Ich muss sowieso mit dir sprechen.«
»Bis ...« Wolfgang legte auf. »... gleich«, beendete Vera ihren Satz.
Sie schluckte und krallte ihre Hände um das Lenkrad.
An seinem Tonfall hatte sie herausgehört, dass mehr in der Luft lag als eine Standpauke wegen Zuspätkommens ...
♥♥♥
Vera schlüpfte so unauffällig wie möglich durch die gläserne Tür. Alle Schalter waren besetzt und mit Kunden ausgelastet.
Sie ärgerte sich, sich nicht einfach krankgemeldet zu haben. Das wäre wahrscheinlich auf mehr Verständnis gestoßen als die angebliche Vollsperrung auf der Autobahn.
Sie achtete darauf, dass der glatte Marmorboden unter ihren nassen Schuhsohlen nicht zu laut quietschte, während sie sich zu den Umkleidekabinen schlich, in denen ihr Kostüm von gestern hing. Sie hatte vergessen, es mit nach Hause zu nehmen.
Der Rest ihrer feinen Röcke und Hosenanzüge lag noch immer als schmutziges Bündel auf der Waschmaschine. Da kam ihr vergessenes Kostüm vom vorigen Tag gerade recht, um nicht in Jeans und Bluse am Schalter zu stehen. Wolfgang sah es nicht gerne, wenn man sich nicht an den Dresscode der Bank hielt. Kleider machten eben Leute, so auch im Bankhaus Stetter.
Der gestrige Tag hatte Vera den Rest gegeben. Zunächst hatte sie mehrere unfreundliche, vorlaute Kunden bedienen müssen, während ein erzwungenes Lächeln in ihrem Gesicht gestanden hatte, und im Anschluss hatte man ihnen allen eine Lohnkürzung angedroht, wenn die Geschäfte weiterhin in den Keller wanderten.
Vera hatte nicht verstanden, wieso ausgerechnet die Angestellten an den Schaltern für die miesen Geschäftszahlen verantwortlich sein sollten. Und es hatte sie auch nicht minder unter Druck gesetzt, denn sie brauchte ihren gut bezahlten Job, um sich über Wasser halten und sorglos ihre Miete bezahlen zu können. Gerade erst hat sie ihre Berufsausbildung zur Bankkauffrau abgeschlossen und war übernommen worden. Sie wollte das alles nicht gleich wieder verlieren. Viel zu lange hatte sie auf einen festen Arbeitsplatz hingearbeitet.
Nach ihrem Schulabbruch und dem viel zu frühen Auszug aus ihrem Elternhaus war sie von Aushilfsjob zu Aushilfsjob gewechselt, hatte in unterschiedlichen Wohngemeinschaften oder Garagen gewohnt, teilweise sogar Flaschen gesammelt, um über die Runden zu kommen. Vera wusste, wie es war, ganz unten zu sein und keine Hilfe von außen annehmen zu wollen.
Als sie dann die Chance bekommen hatte, ihren Abschluss nachzuholen und anschließend das Fachabitur abzulegen, war es mit ihrem Leben endlich wieder bergauf gegangen.
»Vera!«, riss eine Stimme sie brutal in die Gegenwart zurück.
Sie fuhr zusammen und drehte sich ganz langsam um.
Wolfgang hatte nicht abgewartet, bis sie ihr Oberteil ganz zugeknöpft hatte, und war in die Umkleide gestürzt.
»Ich glaube, das hier ist die Frauenumkleide«, meinte Vera altklug und schloss sich die letzten Knöpfe ihrer Bluse.
Mit ihren Worten wollte sie Zeit schinden, um sich innerlich auf seine Standpauke vorzubereiten.
Wolfgangs Kopf lief tiefrot an. Er stemmte seine Fäuste in die Seiten und funkelte sie böse aus seinen hellen grauen Augen an.
Manchmal erinnerte sie der kleine, wohlgenährte Mann an eine dicke Maus.
Sein Schnauzbart vibrierte vor Wut, und auf seiner Stirn standen feine Schweißperlen.
»Du wärst längst umgezogen, hättest du mal auf die Uhr geschaut! Was zum Henker sollte das?«
»Ich habe es dir schon erklärt. Es war nicht meine Schuld.«
»Ja, natürlich!«, entgegnete er mit rollenden Augen und warf die Hände theatralisch in die Luft. »Es ist nie Vera Bachsteins Schuld. Wie konnte ich nur glauben, dass du mir einen Bären aufbindest? Deine Ausrede war immerhin besser als die letzte, als du behauptet hast, es seien Zootiere ausgebrochen und auf den Straßen herumgelaufen.«
»Aber es sind wirklich ...«
Wolfgang hob einen Finger und brachte Vera damit sofort zum Schweigen.
»Du hast Glück, dass ich letzte Nacht gut geschlafen habe. Komm in mein Büro, wenn du hier fertig bist.«
Vera deutete in Richtung Wand, hinter der der große Saal mit ihrem Schalter lag.
»Aber sollte ich nicht lieber Peer ablösen?«
»Er übernimmt für heute. Komplett.«
»Was meinst du damit?«, hauchte Vera entsetzt und weitete ihre großen grünen Augen.
Sie fuhr sich einmal nervös durch das aschblonde Haar. Vom vielen Gel fühlte es sich starr an, aber auch klebrig von den frischen Schneeflocken.
»Hast du mal in den Spiegel gesehen? So lasse ich dich ganz sicher nicht auf meine zahlenden Kunden los. Ich möchte sie schließlich nicht vergraulen«, sagte Wolfgang etwas ruhiger und seufzte niedergeschlagen. Er senkte den Blick. »Komm bitte einfach zu mir, wenn du dich bereit fühlst. Ich habe dir noch etwas zu verkünden. Marie und Stefan hatten ihr Gespräch bereits. Auch du wirst es überstehen.«
Wolfgang machte auf dem Absatz kehrt, bevor Vera zu einer Antwort ansetzen konnte.
Was wollte ihr Wolfgang mitteilen? Sie hatte Marie und Stefan heute tatsächlich noch nicht gesehen, obwohl zumindest ihre junge Kollegin dieselbe Schicht schob wie sie.
Vera bekam es auf einmal mit der Angst zu tun. Hatte sie ihren Arbeitsplatz mit der heutigen Verfehlung ein für alle Mal verloren?
Wolfgang hatte sich noch nie so streng und unnachgiebig gezeigt wie heute. Sie kannte ihn als vorbildlichen Chef, der auf Pünktlichkeit und ein sauberes Äußeres Wert legte. Wolfgang war ein verständnisvoller und empathischer Mann, mit dem man auch über ernste private Themen sprechen konnte.
Vera ärgerte sich, dass sie nicht wenigstens ehrlich zu ihm gewesen war. Sie hatte all das viel zu sehr auf die leichte Schulter genommen ...
♥♥♥
Mit klopfendem Herzen ging Vera in das Chefbüro. Ein riesiger Safe stand gegenüber der Tür. Sie wusste nicht, ob dieser wirklich gebraucht wurde oder nur zu Dekorationszwecken diente. Zu ihrer Linken saß Wolfgang an seinem Schreibtisch aus Mahagoni und beugte sich soeben über ein paar Papiere. Als sie eintrat, warf er ihr einen ernsten Blick über die feinen Brillengläser zu.
»Da bist du ja«, begrüßte er sie und verbarg das Schriftstück zunächst unter seinen breiten, stark behaarten Unterarmen. »Setz dich bitte.«
Veras Beine bewegten sich wie ferngesteuert. Ihr Innerstes stauchte sich schmerzhaft zusammen. Sie fühlte sich so unendlich klein in diesem Zimmer.
Auf dem Stuhl ihm gegenüber ließ sie sich nieder und wartete ab, was er zu sagen hatte. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet. Außerdem rumorte ihr Magen, weil sie noch nicht gefrühstückt hatte.
Wolfgang schien sich zu sammeln. Er wich ihrem Blick aus. Veras Nervosität nagte immer mehr an ihr.
Der Mann fuhr sich einmal über seine schweißfeuchte Halbglatze. Das Licht der runden Deckenlampe reflektierte auf der glatten Oberfläche und ließ es ironischerweise so wirken, als trage Wolfgang einen Heiligenschein. Sein langgezogenes Seufzen durchbrach die unangenehme Stille.
»Das jetzt fällt mir wirklich nicht leicht«, begann er vorsichtig. Noch immer sah er Vera nicht in die Augen. »Auch im dritten Gespräch wird es nicht einfacher. Es tut mir wirklich leid, Vera, aber die Firma muss abspecken.«
»Ab ... was?«, war das Einzige, was die schöne Bankkauffrau über ihre trockenen Lippen brachte. »Abspecken? Was meinst du damit?«
Vera knetete nervös ihre dünnen Finger. Als einer davon unangenehm knackte, ließ sie es sein und nestelte stattdessen am Bund ihres Blazers. Ihr brach nun ebenfalls der Schweiß aus.
Sie wollte sich fortwährend einreden, dass dieses Gespräch in eine andere Richtung verlaufen würde, als sie annahm. Vielleicht verstand sie Wolfgang bloß falsch. Doch ihre stillen Gebete wurden nicht erhört.
Endlich blickte ihr Chef sie direkt an. In seinen hellgrauen Augen stand echtes Bedauern.
»Es bedeutet, dass wir Stellen streichen müssen. Die Geschäfte der letzten Jahre sind rückläufig. Uns gehen seit der Eröffnung eines neuen konkurrierenden Bankinstituts Kunden verloren. Auch der Investor hat sich nicht mehr gemeldet, von dem ich vor zwei Wochen gesprochen habe. Vielleicht erinnerst du dich daran. Hoffnung, Schweiß und Geld fließen seitdem leider in den Gully. Wir müssen uns nun komplett neu aufstellen, um weiter zu existieren. Das Jahresende rückt näher. Bis dahin möchten meine Vorgesetzten Ergebnisse sehen. Dadurch bin ich gezwungen, meine Angestellten mit der kürzesten Unternehmenszugehörigkeit zu entlassen. Dazu gehörst auch du, Vera.« Nun schob er der entsetzten Blondine seine Papiere über den Tisch. »In diesem Vertrag verzichtest du auf nachträgliche Klagen und Beschwerden, dafür erhältst du dein aktuelles Monatsgehalt im Voraus und einen mehr als fairen Bonus für Weihnachten. Ich denke, dass es für alle am besten ist, das hier erwachsen und vernünftig über die Bühne zu bringen.«
Vera saß noch immer mit offenem Mund da und rührte sich nicht.
Tausende Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Sie glaubte, in einem Albtraum gefangen zu sein, und hoffte, dass der Wecker gleich klingelte und sie daraus befreite.
»Ich ... du ...«, stammelte sie und atmete daraufhin tief durch.
Sie musste sich sammeln, um Wolfgang nicht an die Gurgel zu springen. Sein kühler, herzloser Tonfall war natürlich nur Fassade und nicht echt. Er mimte ihr den unnachgiebigen Chef, um keine Schwäche zuzulassen und den Abschied für beide erträglicher zu machen. Ein Zurück schien es also nicht mehr zu geben. Vera hatte keine Chance. So viel erkannte sie auf den ersten Blick. Und ihm waren ebenso die Hände gebunden, denn sogar als Leiter der Bank gab es Personen, die über sein Tun und seine Entscheidungen bestimmten. Wolfgang konnte nichts dafür. Er hatte sich wahrscheinlich sogar für sie eingesetzt. Dennoch schmerzte die Kündigung höllisch.
Veras Finger krallten sich in den Stoff ihrer Kleidung.
»Das bedeutet, ich bin raus? Entlassen? Gekündigt?«, fragte sie sicherheitshalber noch einmal nach.
Wolfgang senkte den Blick und deutete mit müder Geste auf die Schriftstücke.
»Ich befürchte, ja. Es tut mir wirklich leid, Vera, aber deine Verfehlungen der letzten Monate und die kurze Zeit, die du erst für uns arbeitest, haben uns zu dem Entschluss gebracht, dass du diejenige bist, die es trifft. Es wäre unfair, jemand anderen stattdessen gehen zu lassen, der länger bei uns ist. Verzeih mir.«
Vera griff mit zitternden Händen nach dem Schreiben und überflog die Worte darauf. Ihr Gehirn wollte nicht verstehen, was dort stand. Sie las mehrmals dieselben Sätze, ohne das Wirrwarr aus Buchstaben zu begreifen. Schließlich unterschrieb sie blind.
Ernüchterung machte sich in ihr breit.
Was sollte es? Vorbei war vorbei.
Sie fühlte sich plötzlich abgestumpft und ausgelaugt, als habe man ihr die Kräfte ausgesaugt. Daheim käme sicher noch Verzweiflung hinzu, weil sie nun keiner Arbeit mehr nachging und kein Geld mehr verdiente. Das Einzige, das sie fest im Leben verankert hatte, war soeben weggebrochen.
»Mach dir keine Vorwürfe, Wolfgang«, meinte sie erstaunlich gefasst. Selbst ihr Gegenüber schien sich über diese Reaktion zu wundern. Von Veras Impulsivität war nicht mehr viel übrig geblieben. Wolfgang runzelte die Stirn und presste die Lippen fest aufeinander, bis sie weiß wurden. »Ich finde schon etwas anderes.«
»Ich habe dir ein gutes Arbeitszeugnis beigelegt«, erklärte er und griff nach dem unterzeichneten Papier. Eine zweite Version blieb bei Vera. »In der Kündigung steht nichts von deiner Unpünktlichkeit. Es heißt, dass du betriebsbedingt gehen musstest. Niemand wird dir etwas vorwerfen können. Falls du Hilfe bei der Suche benötigst, kannst du gerne auf mich zukommen. Ich kenne ein paar Leute.«