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Ist ein Kind in Schwierigkeiten geraten, fühlen sich Eltern in Gesprächen mit Fachkräften schnell bevormundet oder kritisiert. Jesper Juul zeigt, welche meist verborgenen Ursachen hinter Familienkonflikten stehen und worauf es ankommt, damit Beratungsgespräche wirklich weiterhelfen. Konkrete Dialogbeispiele machen deutlich, welche verbalen und nonverbalen Kommunikationsformen zu einer Lösung beitragen.
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Seitenzahl: 259
Über das Buch: Das 1 x 1 der Familienberatung
Ein Buch für alle, die mit Kindern und Familien arbeiten: Jesper Juul, einer der bekanntesten Familientherapeuten Europas, fasst hier seine in jahrzehntelanger Praxis erworbene Erfahrung zusammen, wenn es darum geht, ein Beratungsgespräch auf Augenhöhe zu führen. Ist ein Kind in Schwierigkeiten geraten, fühlen sich die Eltern leicht bevormundet oder kritisiert und gehen in die Defensive. Jesper Juul zeigt, wie Sie das vermeiden können. Anhand von konkreten Dialogbeispielen erfahren Sie,
wie Sie herausfinden, welche möglicherweise verborgenen Ursachen hinter Konflikten stehen;welche verbalen und nonverbalen Kommunikationsformen Ihnen bei der Lösung helfen;wie Beratungsgespräche wirklich weiterhelfen.Jesper Juul sagt dazu: »Die beschriebenen Perspektiven, Methoden und ethischen Grundsätze basieren auf meiner langjährigen Arbeit als Familientherapeut und bilden ein gutes Grundgerüst, auf dem Sie problemlos aufbauen können.«
Das Standardwerk der Familienarbeit.
»Der dänische Familienexperte Jesper Juul hilft Erwachsenen, das schwierigste Problem einfacher zu machen: Wie sie mit Kindern umgehen sollten.«DIE ZEIT
Über den Autor
Jesper Juul, geb. 1948 in Dänemark, ist einer der bedeutendsten und innovativsten Familientherapeuten Europas, Konfliktberater und Gründer von familylab International. Durch zahlreiche Seminare, Vorträge, Medienauftritte und erfolgreiche Elternbücher wurde er international bekannt. Seine respektvolle, gleichwürdige Art, mit Menschen umzugehen, beeindruckt Fachleute und Eltern immer wieder neu.
Jesper Juul
Familien-beratung
Worauf es ankommt, wie sie gelingt
Aus dem Dänischen übersetzt von Knut Krüger
Herausgegeben von Mathias Voelchert
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der Originalausgabe: »Familierådgivning: Perspektiv og proces«
Copyright © Jesper Juul
Copyright für die deutsche Ausgabe © 2015 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Buch ist bereits im Mathias Voelchert GmbH Verlag, edition + plus, erschienen.
Cover: Weiss Werkstatt, München
Covermotiv: plainpicture / Nanine Renninger
ISBN 978-3-641-15332-8V002
Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter www.koesel.de
Inhalt
Einleitung
Perspektiven
Der Begriff der Familie
Alleinerziehende Eltern
Die Bedeutung von Aggressionen
Die Teenagerfamilie
Familie – eine Gesamtheit
Kooperation und Integrität
Prozess und Inhalt
Selbstgefühl und Selbstvertrauen
Verantwortung
Methode
Einleitung
Allgemeine Prinzipien
Demut – eine ethische Forderung
Die Rolle der Eltern
Die Rolle des Beraters
Die Rolle des Kindes
Signale, Symptome und Zustände
Beratung: Beginn – Verlauf – Ende
Abschluss
Prozess/Beginn
Das erste Gespräch
Familienberatung von Elterngruppen
Verlauf
Wenn es missglückt
Anmerkungen
Wenn Kinder aus dem einen oder anderen Grund in Schwierigkeiten geraten, finden häufig Gespräche zwischen Beratern, Lehrern oder Familientherapeuten* und ihren Eltern statt. Um solche Gespräche geht es in diesem Buch, wobei es in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle spielt, ob die Schwierigkeiten der Kinder sozialer, kognitiver, motorischer oder sprachlicher Natur sind.
* Die Worte »Berater«, »Lehrer« oder »Familientherapeut« stehen der leichteren Lesbarkeit halber im Folgenden für alle weiblichen und männlichen Personen, die mit Eltern beratende Gespräche über das Zusammenspiel in ihrer Familie führen.
Zunächst soll der Begriff der Familie diskutiert und einige familiendynamische Aspekte beschrieben werden, um dem Leser die Perspektiven aufzuzeigen. Im Anschluss daran werden entscheidende ethische Grundregeln sowie die Methoden zur Sprache kommen, die im Gespräch mit Eltern und Familien zum Einsatz kommen können.
Die beschriebenen Perspektiven, Methoden und ethischen Grundsätze basieren auf meiner langjährigen Arbeit als Familientherapeut, doch handelt dieses Buch nicht von der Therapie an sich, sondern von dem, was als »therapeutisches Gespräch« bezeichnet werden kann.
Der Psychiater David Cooper sagt in diesem Zusammenhang: »Wenn menschliche Gemeinschaft nicht therapeutisch ist, hat sie einen unterdrückenden Charakter.«1 Das Wort »therapeutisch« ist hier sehr allgemein statt rein fachlich zu verstehen. Coopers Aussage gründet auf der Überzeugung, dass es der menschlichen Natur entspricht, sich ein Leben lang zu entwickeln, und dass jede zwischenmenschliche Interaktion, die diese Entwicklung behindert, als unterdrückend betrachtet werden muss.
Das therapeutische Gespräch
Das therapeutische Gespräch ist ein Gespräch, das auf Augenhöhe geführt wird und beide Seiten bereichert – ein Gespräch, das bei den Teilnehmern im buchstäblichen Sinn etwas »bewegt«. Es ist die Art von Gespräch, wie wir es uns mit unseren Kindern, Partnern und Freunden wünschen. Ein Gespräch, das uns beeinflusst, inspiriert, unseren Blick weitet und unsere Handlungsmöglichkeiten vergrößert.
Diese Beschreibung deckt im Prinzip auch den Begriff der Therapie ab, sei es nun eine Psychotherapie oder Gesprächstherapie, doch müssen wir, was dieses Buch betrifft, zwei wichtige Einschränkungen machen:
Die wenigsten Angestellten in öffentlichen Betreuungseinrichtungen oder im Schulwesen haben eine psychoanalytische Ausbildung oder verfügen über ausreichend psychotherapeutische Erfahrung und sind daher nicht geeignet, die Rolle eines Familientherapeuten auszufüllen.Familientherapie ebenso wie andere Formen der Psychotherapie setzt im Prinzip die freie Entscheidung der Familie voraus. Da aber unser Sozialsystem vorbeugende Arbeit in der Regel nicht vorsieht, ist es nicht möglich, diesem Prinzip stets Geltung zu verschaffen. Die Folgen sind eine verminderte Effektivität und ein gewisser »freiwilliger Zwang«. Familientherapie sollte prinzipiell nur von Familientherapeuten ausgeübt werden, deren Macht sich auf das unumgängliche Maß beschränkt, wenn Menschen Hilfe benötigen und ihr Helfer seiner Profession nachgeht und sich dafür auch bezahlen lässt. Ökonomische und juristische Macht sind für den therapeutischen Prozess stets hinderlich.Dieses Buch handelt von Beratung, die ein wichtiger Bestandteil jeder guten Psychotherapie ist und schon allein therapeutischen Charakter haben kann. Es besteht eine Tradition, die Art der Beratung nach der Ausbildung des Therapeuten zu benennen, zum Beispiel Sozialberatung oder pädagogisch-psychologische Beratung. Da die existierenden Ausbildungsformen alle auf eine Spezialisierung entweder auf die Arbeit mit Kindern oder mit Erwachsenen hinauslaufen, scheint zunächst niemand so recht auf die umfassende Beratung von Familien vorbereitet zu sein.
Beratung
Familienberatung muss daher als selbstständiges, interdisziplinäres Fach etabliert werden, das sich in erster Linie um das Zusammenspiel zwischen den Familienmitgliedern kümmert und darüber hinaus Probleme in der Erziehung oder beim Zusammenleben im Blick hat.
Ausgehend von einer erlebnisorientierten Familientherapie widmet sich dieses Buch einigen Prinzipien der Familienberatung, die ein aktives und persönliches Engagement des Beraters voraussetzen. Die Erfahrung hat mich von der Qualität und Effektivität dieser Methode überzeugt, doch gibt es natürlich auch andere Möglichkeiten, die jeder Berater je nach seiner individuellen Persönlichkeit und Veranlagung selbst wählen kann.
Alle Erfahrung zeigt, dass die Bedeutung bestimmter Methoden und Techniken im selben Maße schwindet, in dem die Erfahrung des Therapeuten zunimmt. Ein erfahrener Berater ist in der Lage, sich frei verschiedener Methoden zu bedienen, wohingegen Kollegen mit weniger Erfahrung auf eine Art Geländer angewiesen sind, an dem sie sich festhalten können.
In dieser Hinsicht ist Familienberatung nur schwer zu erlernen. Sie stellt ebenso hohe Ansprüche an die interdisziplinären Fähigkeiten wie an die persönliche Reife und Flexibilität des Beraters. Spezielle Übungen und Techniken sind hingegen nur von untergeordneter Bedeutung. Diese Einschätzung wird von den meisten Untersuchungen bestätigt, die sich mit der Wirkung der verschiedenen Therapiemethoden beschäftigen. Für eine erfolgreiche Beratung ist die Person des Therapeuten wichtiger als die Methode, die er anwendet.
Wir leben in einer Zeit, in der auch Berater und Therapeuten von neuesten Techniken und sorgsam zusammengestellten Modellen fasziniert sind – was das betrifft, möchte ich den »altmodischen« Standpunkt vertreten, dass die professionelle Kooperation zwischen Berater und Ratsuchenden so komplex und von so vielen subjektiven Faktoren abhängig ist, dass man diese nicht auf vereinfachte Formeln reduzieren sollte.
Generell lässt sich feststellen, dass die Art der Beratung, die wir Eltern zukommen lassen, wenn ihre Kinder sich in einem Dilemma befinden, oft nicht gerade von herausragender professioneller Qualität ist. Aus einer gewissen Unsicherheit heraus schlagen die Berater oft einen höflichen, freundlichen, aber auch vollkommen unverbindlichen Ton an, dem jeder Nachdruck fehlt. Sie laden zur Kooperation ein und präsentieren ein paar »Angebote«. Den Eltern bleibt somit nur die Möglichkeit, die Rolle des passiven Jasagers oder des Querulanten einzunehmen. Aus Unsicherheit und Angst treten die Berater oft arrogant und besserwisserisch auf und vermitteln den Eltern das Gefühl, von oben herab behandelt zu werden. Und trotz ihres guten Willens und ihrer Bemühungen, tragfähige Lösungen zu finden, übersehen die Berater allzu oft die Prozesse, Gedanken und Gefühle sowie das kreative Potenzial, aus denen wirkliche Lösungen erwachsen können.
Natürlich gibt es dafür viele gute Gründe: Keine der gängigen Ausbildungen vermittelt grundlegende Einsichten und Kenntnisse, die bei der Beratung von Eltern erforderlich sind. Die verschiedenen Fachgruppen und Verwaltungszweige schieben sich den Schwarzen Peter zu, anstatt verlässlich und flexibel zusammenzuarbeiten. Demzufolge mangelt es dem einzelnen Pädagogen, Klassenlehrer, Sozialberater und Psychologen ebenso an kollegialer Anregung und Unterstützung wie an fachlicher Koordination und Supervision. Viele Experten klagen darüber hinaus über fehlende Zeit zur Elternarbeit, weil deren Stellenwert im System zu gering ist. Dessen ungeachtet möchte ich feststellen, dass ein klares Wort oft mehr bewirkt als ein zeitraubendes Gespräch, bei dem alle darauf bedacht sind, ihre Fassade aufrechtzuerhalten, und wie die Katzen um den heißen Brei herumschleichen.
Ein guter Berater braucht Mut, Engagement, Offenheit und Kreativität, aber nicht zwangsläufig mehr Zeit.
Meiner Meinung nach sollten diejenigen, die man auch als Frontsoldaten (Pädagogen, Lehrer, Erzieherinnen etc.) bezeichnen könnte, in den kommenden Jahren eine sehr viel wichtigere Rolle im Verhältnis zu den Familien spielen als heutzutage, wo vieles den eigentlichen Spezialisten überlassen werden muss, weil generell zu spät eingegriffen wird.
Wir haben eine Sozialgesetzgebung, die sich nach bestem Wissen und Gewissen dem Wohl der Kinder annimmt. Das bedeutet, dass wir beinahe per definitionem als Berater in Erscheinung treten, wenn es zu spät beziehungsweise fünf vor zwölf ist, was die Erfolgsaussichten mindert und weit mehr Ressourcen erfordert, als eigentlich nötig wäre.
In Anbetracht des heutigen Wissens über die psychische Entwicklung des Menschen gibt es keine sachlichen Argumente mehr dafür, die Familie in Eltern auf der einen und Kinder auf der anderen Seite aufzuspalten. Natürlich werden wir noch eine Weile damit leben müssen, dass wir durch unsere Ausbildungen darauf vorbereitet werden, uns entweder der Kinder oder der Eltern anzunehmen, doch Beratung als interdisziplinäres Fach birgt die einzigartige Möglichkeit, die Trägheit der Entwicklung zu kompensieren.
Hierbei spielen die »Frontsoldaten« eine entscheidende Rolle, vor allem deshalb, weil wir die Gesellschaft ohne Übertreibung zu einer Art »Anti-Familie« entwickelt haben. Die Kinder, die wir in die Krippe, in Kindergarten und Schule schicken, sind »hungriger« denn je, doch sind unsere Betreuungseinrichtungen oft nicht in der Lage, sie im übertragenen Sinne mit nahrhafter Kost zu versorgen. Beratung ist in diesem Zusammenhang oft nur als Notlösung zu verstehen, doch solange Familien in Not geraten, braucht es auch Notlösungen.
In diesem Abschnitt kommen die Erfahrungen zur Sprache, die man in den letzten beiden Generationen in theoretischer, praktischer und philosophischer Hinsicht innerhalb der Familientherapie gesammelt hat. Dabei sollen nicht alle Nuancen und Sichtweisen berücksichtigt, sondern die Aspekte beschrieben werden, die meiner Meinung nach von zentraler Bedeutung sind. Das ihnen zugrundeliegende Menschenbild stellt gleichsam den Orientierungsrahmen für die praktische Beratungstätigkeit dar.
Die Familie im Zentrum der Aufmerksamkeit
Als älteste Institution der Menschheit stand die Familie von jeher im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dabei wandte sich die Hauptkritik der letzten Jahrzehnte gegen ihre Abgeschlossenheit und gegen die Rolle der Frau in diesem Gebilde. Da uns die Ehe plötzlich zu eng wurde, erfanden wir die Paarbeziehung. Da uns die Kernfamilie um die Ohren zu fliegen drohte, etablierten wir neue Formen der Gemeinschaft, wie die Patchworkfamilie. Die Frauen entdeckten ihre Würde und Integrität; die überkommenen Rollenvorstellungen wurden einer notwendigen Revision unterzogen; die Söhne der abwesenden Väter kämpften um eine größere Nähe zu ihren eigenen Kindern; die Kinder erhielten einen neuen Spielraum, in dem sie gesehen und gehört wurden. Diese Neuorientierung innerhalb der Familienkultur hat jedoch nichts an dem fundamentalen, existenziellen Entwicklungs- und Konfliktpotenzial geändert, das von jeher die Liebesbeziehung der Erwachsenen sowie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern geprägt hat.
Der tiefgreifende Einfluss, den die Mitglieder einer Familie aufeinander nehmen, lässt sich weder wegdiskutieren noch durch neue Strukturen nivellieren. Die heutige Paarbeziehung ist ebenso eine existenzielle Erfahrung wie die Ehe früherer Zeiten. Die fundamentalen Prozesse in der Familie mitsamt der ihnen innewohnenden Dynamik bleiben für die Entwicklung und das Wohlergehen des Einzelnen von vitaler Bedeutung.
Es gibt mehr und mehr Familien, deren Vater oder Mutter sich dazu entschieden hat, allein mit den Kindern zusammenzuleben. Doch nur ein kleiner Teil dieser Gruppe, insbesondere Frauen, hat diese Familienform von Anfang an bevorzugt. Für die meisten ist der Status des oder der Alleinerziehenden die Folge einer Trennung oder Scheidung. Viele von ihnen gehen neue Liebesbeziehungen ein, doch nimmt der neue Partner in den betreffenden Familien oft nur eine untergeordnete Rolle ein, die klar hinter der biologischen Verbindung von Eltern und Kind zurücksteht.
Ich werde später noch darauf zurückkommen, inwieweit diese Form der Familie den Berater vor besondere Herausforderungen stellt. Gleichermaßen werden auch an Kinder und Eltern auf bestimmten Gebieten hohe Anforderungen gestellt. In den letzten Jahren hat sich unser Augenmerk auf Familien gerichtet, die einen besonders großen Nutzen von einer Familientherapie haben. Es handelt sich um Familien, deren Kinder relativ früh Signale unterschiedlichen Charakters aussenden. Das Neue an diesen Familien besteht darin, dass die Signale der Kinder nicht etwa dem destruktiven oder neurotischen Zusammenspiel in der Familie entspringen, sondern eine Folge unsicherer Eltern sind, die nicht wissen, wie sie die Gemeinschaft mit ihren Kindern auf lange Sicht sinnvoll und fruchtbar gestalten sollen.
Diese Eltern sind in der Regel mit einem alleinerziehenden Elternteil aufgewachsen und haben viele Stunden täglich in einer Betreuungseinrichtung verbracht. Daher fehlt es ihnen an Erfahrungen und Erlebnissen sowie an Rollenvorbildern, die ihnen zeigen, wie man als Vater oder Mutter mit seinen Kindern zusammen sein kann, ohne seine Familie zu einer Mini-Einrichtung zu machen, in der Kinder in pädagogischem Sinn »stimuliert« oder »beschäftigt« werden.
Diese Familien müssen nicht »behandelt« werden, sie haben jedoch einen großen Bedarf an relevanter Beratung, die sich nicht am Wertefundament der pädagogischen Institutionen, sondern an den Prämissen der Familie orientiert.2 Für den Berater ist es wichtig, eine über den individuellen Horizont hinausgehende fachliche Perspektive einzunehmen. Die fachliche Perspektive basiert auf unserem Wissen, was gesund und konstruktiv bzw. ungesund und destruktiv ist. Gesund bedeutet in diesem Zusammenhang, die zwischenmenschlichen Beziehungen beziehungsweise das Zusammenspiel in der Familie so zu gestalten, dass die mentale, psychische und physische Entwicklung des Einzelnen gefördert wird – und zwar ein Leben lang.
Angesichts dieser Forderung stehen die einzelnen Familienmodelle (die Kernfamilie, Familien mit nur einem Erwachsenen, die Patchwork- oder Mehrgenerationenfamilie) vor unterschiedlichen Herausforderungen, und keine von ihnen ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Doch müssen sich sowohl die erwachsenen Familienmitglieder als auch ihre Berater der spezifischen Aspekte dieser Familienmodelle bewusst sein und sie in ihre Überlegungen mit einbeziehen.
Familie – eine Gesamtheit
Die zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Familie sind für das Wohlergehen und die Entwicklung des Einzelnen von entscheidender Bedeutung. Zugleich beeinflusst jedes einzelne Familienmitglied diese Beziehungen und die Gesamtheit der Familie.
Die Art und Weise des (konstruktiven oder destruktiven) Einflusses, die der Einzelne auf die Gesamtheit ausübt, kann von extremer Passivität (Abwesenheit, »nehmend«) bis zu extremer Aktivität (Gegenwärtigkeit, »gebend«) reichen. Der Tod eines Kindes oder Elternteils beeinflusst die wechselseitigen Beziehungen der Hinterbliebenen. Auch geschiedene Eltern, die nicht mit ihren Kindern zusammenleben, beeinflussen die Beziehungen innerhalb der neuen Familie ihrer Kinder. Eltern, die aus gesundheitlichen Gründen oft nicht zu Hause sind, haben nichtsdestotrotz einen entscheidenden Einfluss auf die Gesamtheit. Als Familienmitglied ist es schlichtweg unmöglich, sich den innerfamiliären Prozessen zu entziehen oder diese nicht zu beeinflussen. Das Verhalten der einzelnen Familienmitglieder kann sich nur dann auf eine bestimmte Weise entfalten, wenn die anderen – bewusst oder unbewusst – ihren Teil dazu beitragen. Dominanz kann nur jemand ausüben, dem sich die übrigen Familienmitglieder mit oder ohne Protest unterwerfen. Kinder übernehmen die Macht in der Familie nur dann, wenn das Verhalten der Erwachsenen dies zulässt.
Es ist unser Problem
Ton, Atmosphäre und »Funktionsweise« einer Familie – all das, was wir fachsprachlich als Prozess bezeichnen – sind vom Zusammenspiel der einzelnen Familienmitglieder, insbesondere zwischen den Erwachsenen, abhängig. Dieser Prozess kann drei charakteristische Züge tragen. Er kann
symptomschaffendsymptomerhaltend odersymptomheilendsein. In den meisten Familien existieren diese drei Zustände nebeneinander, wobei in der Regel einer davon zu einem bestimmten Zeitpunkt überwiegt.
Wir alle bringen unsere individuellen Voraussetzungen und Verhaltensmuster, unser genetisches, kulturelles und soziales Erbe in die Familie ein. Wollen wir unbefriedigende Verhaltensmuster ändern, die wir in die Familie mitbringen oder dort entwickeln, so ist dies von der Qualität des Zusammenspiels, des Prozesses abhängig.
Diese Betrachtungsweise des Zusammenspiels in der Familie ist heute weithin anerkannt, obwohl es vielen Menschen immer noch schwerfällt, dieses Wissen ernst zu nehmen, wenn sie in der Klemme stecken. Wer sich mit einem aktuellen Konflikt konfrontiert sieht, neigt dazu, die Betrachtung des Ganzen zu vernachlässigen und stattdessen von »deinem Problem« oder »meinem Problem« zu sprechen.
Doch wenn man Mitglied einer Familie (oder auch einer Gesellschaft) ist, dann gibt es nichts, das sich auf dein oder mein Problem reduzieren lässt. Alles ist unser Problem, was bedeutet, dass die Verantwortung stets von der ganzen Familie getragen wird, ganz gleich, um welches Problem es sich handelt.
Dass sich angesichts von Konflikten so viele Menschen dem Gesamtblick auf die Situation entziehen, mag an dem Schuldgefühl liegen, unter dem wir oft leiden, wenn es unseren Nächsten schlechtgeht: »Liegt es an mir?« – »Bin ich den Anforderungen nicht gewachsen?« – »Haben denn immer die Eltern Schuld?« etc. Ich werde später noch auf diese Problematik zu sprechen kommen und möchte an dieser Stelle nur betonen, dass es bei der Charakterisierung der Familie als symptomschaffend, symptomerhaltend und symptomheilend nicht um Schuld oder Unschuld, sondern ausschließlich darum geht, die Verantwortung dort zu verankern, wo die größten Ressourcen sind. Wir sprechen also nicht von Schuld für die Vergangenheit, sondern von Verantwortung für die Zukunft.
Das Zusammenspiel zwischen uns und den Menschen, die uns am Herzen liegen, kann entweder das konstruktivste oder das destruktivste Element in unserem Leben sein. Der Einfluss von Pädagogen, Psychologen und Therapeuten ist nichts im Vergleich zu den Kräften, die der inneren Dynamik der Familie innewohnen.
Viele Berater reden mit gewissem Stolz davon, »auf der Seite der Kinder zu stehen« oder »sich mit den Kindern zu verbünden«. Unter fachlichen Gesichtspunkten ist diese Haltung jedoch völlig unangebracht, mag sie auch einem großen und warmen Herzen entspringen. Denn sich mit den Kindern zu verbünden, heißt allzu oft, sich gegen die Eltern zu stellen. Außerdem sollte man sich in diesem Zusammenhang darüber im Klaren sein, dass dieses Verhalten gegenüber Kindern unter 14 bis 15 Jahren das Unsinnigste ist, was man tun kann. Als Berater muss man immer mit der ganzen Familie an einem Strang ziehen und tut daher gut daran, sich den innerfamiliären Prozessen zu widmen, statt sich mit irgendeiner Seite zu solidarisieren.
In vieler Hinsicht ist die Familie von der größeren Einheit abhängig, die wir Gesellschaft nennen, und vieles, das die Familie und ihre einzelnen Mitglieder betrifft, lässt sich mehr oder minder direkt auf gesellschaftliche Phänomene zurückführen, seien sie nun politischer, sozialer oder kultureller Natur. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass die Familie stark und flexibel genug ist, um Verantwortung für die negativen Konsequenzen zu tragen, denen der Einzelne durch die Gesellschaft ausgesetzt ist.
Der ideale Berater wäre vermutlich derjenige, der Familien hilft, ihren konkreten Teil der Verantwortung zu übernehmen, und darüber hinaus die Gesellschaft dahingehend beeinflusst, ihr symptomschaffendes Zusammenspiel mit den Bürgern in ein symptomheilendes umzuwandeln. Aber damit sind die meisten Berater überfordert. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Gesellschaft ihre Form des Zusammenspiels ungleich langsamer ändert, als dies Eltern im Umgang mit ihren Kindern tun können.
Wenn das Zusammenspiel in der Familie unbefriedigend ist und das Leben der einzelnen Familienmitglieder negativ beeinflusst, dann liegt das niemals am fehlenden Willen, sich optimal zu verhalten. Oft fehlt einfach das nötige Wissen, wie wir liebevolle Gefühle in liebevolles Verhalten umwandeln können.
Die Zusammengehörigkeit der Familie hängt unter anderem von einer relevanten Führung ab. Die Verantwortung für den Ton und die Atmosphäre, ja für den gesamten Prozess, liegt fast ausschließlich bei den Erwachsenen. Doch leider gibt es immer mehr Familien, in denen die Kinder zu einem frühen Zeitpunkt die Verantwortung übernehmen – was allerdings nur geschieht, wenn die Eltern nicht in der Lage sind, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Kinder streben nicht nach Macht; sie kooperieren und füllen ein entstehendes Vakuum aus.
Kinder haben präzise Vorstellungen davon, was sie wollen und was nicht, doch wissen sie nicht, wie man langfristig die richtige Atmosphäre in der Familie schafft. Kinder wissen sehr genau, wozu sie Lust haben, aber wenig davon, was ihnen guttut. Es muss also für beide Seiten katastrophal enden, wenn die Führungsrolle in der Familie den Kindern überlassen wird.
Aus diesem Grund muss sich der Berater stets den Prozessen innerhalb der Familie widmen, statt sich auf irgendeine Seite zu schlagen. Das ist oft eine schwierige Aufgabe, vor allem, wenn der Berater starke Sympathien oder Abneigungen gegenüber bestimmten Familienmitgliedern hegt. Doch ist Eltern und Kindern auf lange Sicht am besten gedient, wenn der Berater sich bemüht, ihre Gemeinschaft zu stärken. Das gilt auch für den Fall, dass es zu einer räumlichen Trennung von Eltern und Kindern kommt, diese also woanders als zu Hause untergebracht werden.
Doch reicht es natürlich nicht aus, die Familie als dynamische Gesamtheit anzuerkennen, um seiner Aufgabe als Berater gerecht zu werden. Leider haben Berater die hartnäckige Angewohnheit, sich vor allem auf das Suchen von »Fehlern« und die Diagnose zu konzentrieren, statt eine umfangreiche Beratung zu bieten. Es ist ungeheuer wichtig, diese Tradition zu beenden, da sie auf einem negativen Menschenbild beruht. Einem diffusen negativen Menschenbild, das auch auf anderen Gebieten zum Tragen kommt und ein wenig verkürzt lautet: Eltern sind die Wurzel allen Übels.
Sind Eltern die Wurzel allen Übels?
Es ist zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass Mitarbeiter von Betreuungseinrichtungen die Eltern der Kinder als beschwerlich empfinden und der Meinung sind, den Kindern wäre am besten gedient, wenn sich ihre Eltern dezent im Hintergrund hielten. Doch widerspricht diese gegen die Eltern gerichtete Grundeinstellung dem Gedanken einer vorurteilsfreien Familientherapie und wird schnell zu einer sich selber erfüllenden Prophezeiung.
Als Konsequenz dieser unausgesprochenen Haltung wird oft mehr oder minder direkt die Frage aufgeworfen, ob diese oder jene Eltern denn überhaupt etwas für ihre Kinder empfinden würden. Es kann nicht deutlich genug gesagt werden, dass die Annahme, dem wäre nicht so, jeder Grundlage entbehrt. Der Ursprung eines solchen Denkens ist ungewiss, doch möchte ich im Kontext dieses Buches zwei Dinge unterstreichen: