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„Fermer“ ist der Debütroman von Hanns-Josef Ortheil. Er erschien 1979 und wurde nach seinem Erscheinen sehr schnell zu einem Kultbuch der jungen Generation, die sich mit dem jungen Fermer auf eine weit ausschwingende, Motiven der Romantik nachspürende Deutschland-Reise begab. Untergründig geht es dabei um die Rückgewinnung eines poetischen Heimatempfindens, das sich weder in der Idylle einrichten, noch an früheren Heimat-Traditionen orientieren kann. Radikal subjektiv, „eigensinnig“ und doch emphatisch ist Fermers Reise, die von Liebe, Freundschaft, „poetischer Geselligkeit“ und dem Glauben an die Möglichkeit des Glücks getragen wird.
„Fermer“ wurde mit dem ersten „Aspekte“-Literaturpreis des ZDF für den besten deutschsprachigen Debütroman des Jahres ausgezeichnet.
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Seitenzahl: 442
»Fermer« ist der Debüt-Roman von Hanns-Josef Ortheil. Er erschien 1979 und wurde nach seinem Erscheinen sehr schnell zu einem Kultbuch der jungen Generation, die sich mit dem jungen Fermer auf eine weit ausschwingende, Motiven der Romantik nachspürende Deutschland-Reise begab. Untergründig geht es dabei um die Rückgewinnung eines poetischen Heimatempfindens, das sich weder in der Idylle einrichten noch an früheren Heimat-Traditionen orientieren kann. Radikal subjektiv, »eigensinnig« und doch emphatisch ist Fermers Reise, die von Liebe, Freundschaft, »poetischer Geselligkeit« und dem Glauben an die Möglichkeit des Glücks getragen wird. »Fermer« wurde mit dem ersten »Aspekte«-Literaturpreis des ZDF für den besten deutschsprachigen Debütroman des Jahres ausgezeichnet.
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren, er lebt als Schriftsteller in Stuttgart und Wissen an der Sieg und lehrt als Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart, sein Werk ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Brandenburger Literaturpreis, dem Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck, dem Georg-K.-Glaser Preis, dem Koblenzer Literaturpreis und dem Nicolas Born-Preis. Sein Werk erscheint im Luchterhand Verlag.
»Ob ich nun auf einem so verzweifelten Spaziergang den Weg ins Freie und in die alte poetische Heimat gefunden habe, ob sich nicht vielmehr Aktenstaub statt Blütenstaub angesetzt hat ... überlasse ich Ihrem bewährten Urteil.«
Joseph von Eichendorff, Brief vom 2. Dezember 1817 an Friedrich Freiherrn de la Motte Fouqué
An einem Vorfrühlingsabend kehrte der junge Fermer nicht mehr in die Kaserne zurück. Es war noch recht kühl, doch waren die ersten Anzeichen des nahenden Frühlings zu bemerken. »Es tut sich etwas«, dachte Fermer, »scheint nicht alles aufspringen zu wollen?«
Um den Vollmond flogen eilend Wolkenfetzen, die sich sofort wieder zerstreuten; die sonst fahle Himmelsdecke war an einigen Stellen weit aufgerissen, und Fermer konnte die leuchtenden Sterne erkennen. Auch die Lastschiffe, die den Fluß hinauffuhren, schienen schneller zu fahren. Auf einem Schiff flatterten Wäschestücke an einer Leine, und eine Tür war so weit geöffnet, daß der Lichtschein auf ein neben der Wäsche stehendes Fahrrad fiel.
»Warum nicht sofort aufbrechen?« dachte Fermer und ging schneller voran. Das Neonlicht zwischen den Platanen am Ufer schien so hell auf die Knospen der Sträucher, daß sie künstlich zu sein schienen. Doch als Fermer plötzlich den noch schwachen Gesang eines Vogels hörte, war auch diese Künstlichkeit so unwichtig geworden wie die anderen verstummten Geräusche. Er wechselte singend den Schritt, begann zu laufen und hielt eine Zeitlang das Tempo eines Schiffes mit.
Schließlich erreichte er die Brücke, die aus der Stadt zu den Vororten führte, und als er sich auf ihrer Mitte umdrehte, sah er die Silhouette der Stadt wie ein eben fertig gewordenes Bild vor sich liegen.
Auf einigen Hochhäusern wechselte die Leuchtschrift. Manche Gebäude waren in gelbes Licht getaucht und erschienen wie Ton, der eben zu erstarren begann. Von den dunklen Häuserreihen hoben sich die langen Antennen ab, die in den erleuchteten Horizont ragten. Fermer erkannte die Hotelfassaden am Ufer. In den hell erleuchteten Rechtecken der Fenster bewegten sich Menschen; manche hatten sich auch hinausgelehnt und schauten auf den Fluß. In einem Fenster sah Fermer eine Frau, die sich vor einem Spiegel hin und her zu bewegen schien.
Das Hupen eines Lastschiffes weckte ihn aus seiner Vertiefung, und er ging schneller voran.
Der Fluß war an dieser Stelle sehr breit. Er teilte sich vor einer Insel, floß wieder zusammen und verschwand zwischen den an beiden Ufern sich erstreckenden Hügelketten. In der Nähe der Stadt war er noch von Fabriken und Schornsteinen eingefaßt; doch am Horizont wurde er immer mehr zu einer kaum noch gekrümmten Linie, die sich in die Linien der bewaldeten Hügel einordnete. Dort in der Ferne zitterten kleine Lichter in der allmählich immer stärker hereinbrechenden Dunkelheit.
Fermer verließ die Brücke über einen schmalen Steg, der zu einer Ulmenallee am Ufer führte. Er wußte seine Unruhe kaum zu beherrschen. Eingefaßt von den Bäumen, ging er im schwachen Wind. Hier bewegte sich alles, und laut wie nie erschien ihm das Rauschen des Wassers.
Er blickte zu der Reihe der alten Häuser hinüber, die nahe am Weg lagen. Einige hatten noch kleine Erker im ersten Stockwerk, von denen man über den Fluß auf die gegenüberliegende Stadt blicken konnte. Hier und da war auch eine Tür zum Balkon leicht geöffnet; ein Vorhang wehte nach draußen, oder ein schwaches Licht fiel auf die Efeuranken, die sich um die Vorbauten schlossen.
Lange blieb sein Blick an diesen Häusern hängen; er spürte die Ruhe, die sich in ihrem Inneren ausgebreitet hatte. Vögel kreisten über dem Fluß und flogen kreischend hinter den Schiffen. Im Geäst der Bäume hielten Krähen ein, der Wind war stärker geworden. Die Wolken schienen sich der Erde zu nähern, und über ihnen klaffte der dunkle Himmel, dessen Mitte der Mond noch hielt.
Er wollte weitergehen und steckte die Hände in die Taschen des Mantels, nach Wärme suchend. Im letzten Aufblicken bemerkte er eine Gestalt, die eine der schon geöffneten Türen weiter aufsperrte und auf den kleinen Vorbau hinaustrat. Sie lehnte sich auf die Brüstung und blickte in die Ferne. Sah er nicht deutlich eine Hand, die über dem Geländer lehnte, und flatterten nicht die Haare im Wind?
Fermer hielt wie erstarrt inne und glaubte, lange nichts Schöneres gesehen zu haben. Langsam trat er zurück ins Dunkel der Bäume, ängstlich schon, die Schöne könne in jedem Moment verschwinden und er allein zurückbleiben. Doch zugleich fühlte er auch schon, wie weit er von ihr entfernt war; ruhig schauend stand sie lange und schien den Wind nicht zu bemerken, während es um Fermer lauter wurde. Er wußte nicht, ob es das Rauschen des Flusses war, und drehte sich zum Wasser um. Das Ufer lief in langen Steinbänken aus, und zwischen den aufgeschichteten Steinen lagen Autoreifen und Abfall. Dort schlugen die Wellen mit dumpfem Geräusch an, während die Möwen noch niederfielen, um den angetriebenen Unrat aufzunehmen.
Als er sich wieder umdrehte, war die Gestalt verschwunden. Die Tür stand noch einen Spalt offen, und der schwere Vorhang wehte nach draußen. Inzwischen aber war auch das gedämpfte Licht im Inneren des Zimmers verloschen. Fermer ging langsam am Fluß entlang und redete sich zu, nicht in Traurigkeit zu verfallen. Er spürte eine milde Schwäche, die sich während des Gehens nicht aufhob, und atmete kräftiger durch. Ihm gerade gegenüber lag die Insel, die den Fluß teilte. Ihre dunklen Baumreihen hoben sich vom hell beschienenen Wasser ab. Bis auf das Klatschen der Wellen am Ufer und das ferne Summen der Autos war nichts zu hören.
Er wußte nicht, wohin der Weg führte, und blickte zur Insel, als habe er ein Ziel gefunden. Nur wenig bewegten sich dort die schweren Bäume hin und her; dunkel und still lag das Land in der erregten Umgebung.
Nicht weit entfernt sah er einen Bootssteg; dort hoffte er zu finden, was er brauchte. Das Bootshaus war abgeschlossen, aber am Ende des Steges war ein Kahn an einen hölzernen Pfeiler gekettet. Er ging auf ihn zu über den schwachen, knarrenden Steg und sah sein zitterndes Spiegelbild in den Wellen. Die Kette war leicht zu lösen; neben den Ruderbänken lagen die Ruder auf dem Boden des Bootes. Der Lack glänzte im Mondschein. Er setzte sich auf das Ende des Steges; seine Beine hingen über dem Wasser. Die Strömung war nicht stark, der Mond beschien die Strecke. Er glaubte, es sei einfach hinüberzukommen.
Die Erinnerung an die verschwundene Gestalt aber ließ ihn nicht los. Er beugte sich über das Wasser, als könne er so leichter vergessen. Die Arme erschienen ihm seltsam schwer, die Luft war knapp geworden, sein Atem ging rasch.
Schließlich löste er die Kette, die ins Boot rasselte, sprang hinter ihr her, balancierte den Kahn aus, setzte die Ruder ein und fuhr mit einigen kraftvollen Stößen los. Als er die Bewegung des Kahnes wahrnahm und sah, daß er langsam vorwärts kam, während das Wasser leicht an die Ränder klatschte, wuchs mit jedem Stoß sein Vertrauen zu sich selbst. Er atmete tiefer ein und bemerkte die Rinne, die der Kahn in die Wellen zog. Vom Ende des Bootes reichten die beiden Linien bis ans Ufer und hielten eine still gewordene Fläche. Die Möwen flogen flach hinter ihm; es schien beinahe zu stürmen, und doch wußte er, daß er es sich nur einbildete. Die Wellen gingen so hoch wie zuvor, und die Ulmen am allmählich verschwindenden Ufer bewegten sich nur schwach. Einmal mußte er vor Erschöpfung die Ruder loslassen, und der Kahn trieb ein wenig in der Strömung. Als Fermer sich umwandte, erkannte er schon die wild ineinandergewachsenen Baumgruppen, kleinere Büsche am Ufer und den schmalen Sandstreifen davor; mit jedem Ruderstoß näherte er sich einer Stille, die ihm groß und schwer erschien. Der Wind schwächer, nur die langsame Bewegung der Bäume, das Rascheln der Büsche in der Dunkelheit. Das Boot lief auf den Sandstreifen, und Fermer sprang heraus, um es vom Wasser wegzuziehen. Als er aufblickte, lag ihm gegenüber die Allee der Ulmen, hinter denen sich die alten Häuser verbargen, wie ein längst verlassenes Land, das er anschaute wie ein Fremder.
Er zwängte sich zwischen den Büschen hindurch und erreichte einen schmalen Pfad, der ins Dunkel führte. Durch die Baumreihen gelangte er in freieres Gelände. Er stolperte gegen die harte Erde eines Ackers und erkannte eine Wiese, die von Pappeln eingesäumt war. So war er an der anderen Seite der Insel angekommen und stand jetzt der Stadt gegen über, deren Bild grell aufleuchtete, flackernd wie ein Feuer, das noch im Wasser zu glühen schien. Es leuchtete stärker als zuvor und hob sich wie ein unruhig zitterndes Relief von der dunklen Umgebung ab.
Dahinter aber brodelte es; manchmal flogen Lichtfetzen hinaus über die Häuserfassaden im Vordergrund und verglühten wie Sternschnuppen im Dunkel. Auch war es lauter geworden – im fernen Dröhnen hörte er Autohupen und ein sich regelmäßig wiederholendes Zischen.
Er sah zum Bootshafen, erkannte die dunklen Lagerschuppen und die Schienen, auf denen im Sommer die Boote ins Wasser gelassen wurden. Zwischen den hohen Hotelfassaden riß es manchmal hell auf, und auf der breiten Uferstraße bildete der unablässige Strom der vorüberfahrenden Wagen ein helles Band, von dem sich die verblichenen Stämme der Straßenbäume abhoben. Flußabwärts die weißen Rückseiten der Wohnwagen in der Nähe der Schrebergärten; dort führte die Eisenbahnbrücke über den Fluß, über die die Züge glitten, in der Ferne flimmernde Ketten erleuchteter Fenster, die aufzuckten und verbrannten.
Er saß jetzt ruhiger, an eine Pappel gelehnt und fühlte, daß der innere Druck nachließ. Er schaute zum Mond, der zwischen den schnell ziehenden Wolken immer wieder hervortrat, und konnte sich wortlos nicht mehr an das erinnern, was vorgefallen war. Er wußte, daß etwas in ihm aufgebrochen war, und einmal nahm er den Kopf zwischen die erkalteten Hände.
So blieb er sitzen, bis die ersten Lichter verloschen und der Verkehr verebbte; längst waren die meisten Hotelfenster verdunkelt. Es war sehr kühl geworden, und als er die Kälte endlich bemerkte, stand er langsam auf und ging den Pfad zurück. Am Rand der Wiese traf er auf eine Hütte, die Tür war geöffnet. Im Inneren waren Hacken und Schaufeln gegen die morsche Holzwand gelehnt, einige Torfsäcke lagen herum. Er breitete sie in einer Ecke aus und zog die Tür an.
In seinem Kopf brauste es noch eine Weile, das Geräusch des Wassers war ihm einmal ganz nahe, als stehe das Wasser schon vor der Tür; dann glaubte er das Pfeifen eines Zuges zu hören, lange noch das monotone Summen der Autos. Ihm war, als sei er in ein stürmisches Dunkel gefallen. Die Bilder verschoben sich zu Leuchtzeichen.
Spät erst legte sich der Aufruhr durch die tiefe Müdigkeit; endlich schlief er ein.
Früh am Morgen erwachte Fermer, und mit den ersten Bewegungen wußte er, daß er jetzt schon gesucht wurde. Die Angst stieg scharf in ihm auf, er spürte die pochende Leere des Magens. Wie zum Hohn war es trüb, als er die Tür aufstieß, dunkle Wogen dicht über der Ebene. Nur am Horizont war der verdüsterte Himmel noch hell.
Erst jetzt bemerkte er, wie laut es schon um ihn geworden war. Aus der Nähe kam das Schürfen eines Baggers, das Rasseln von Ketten; auf der Brücke huschten die Wagen unter den noch schwach leuchtenden Straßenlampen.
Als habe er die rechte Zeit verpaßt, beeilte er sich, zurück zum Boot zu kommen. Es lag auch wirklich noch da, wo er es in der Nacht untergebracht hatte. Er schaute sich nicht mehr um, sondern schob es sofort ins Wasser, sprang hinein und ruderte zurück.
Er blickte nicht um sich, sondern ruderte so schnell es ging. Schließlich legte er mit dem Boot am Steg an, kettete es fest und ging sofort, ohne sich auch nur noch einmal umzuschauen, über den Steg zurück durch die Ulmenallee, in der der Wind noch rauschte.
Vor Anstrengung und Widerwillen gegen alles, was um ihn war, konnte er nicht mehr weitergehen. Er setzte sich auf eine Bank und nahm den Kopf zwischen die Hände, ließ ihn aber bald schon vor Müdigkeit fast auf die Brust fallen. Die Empfindungen waren schwach, nur die Aufregung blieb, und er wußte nicht, ob es Angst war oder die noch nicht verblaßte Erinnerung an die vergangene Nacht.
Er schüttelte sich und vermied es, zur Stadt zu blicken. In der Nähe roch das Wasser des Flusses stark nach Öl; er kam vom Uferweg ab und erreichte die Autostraße. Eine Bushaltestelle war nicht weit entfernt, und unter dem Wartehaus standen die Menschen schon eng nebeneinander, als habe es längst begonnen zu regnen. Einige schauten zu ihm hinüber, und für einen Moment empfand er die Gefahr, bemerkt und erkannt zu werden. Aber die Müdigkeit war so groß, daß dieser Gedanke schnell wieder verschwand; er ging auf das Wartehaus zu und stellte sich zu den Wartenden.
Sie machten ihm Platz; als er unter ihnen stand, bemerkte er sofort, daß niemand sprach. Einige hielten Zeitungen in der Hand; zum Lesen hatten sie die Blätter in der Mitte geknickt. Eine junge Frau mit einem roten Kopftuch blickte zu ihm, und er glaubte, ein Lächeln zu bemerken; doch die Frau wandte den Kopf sofort wieder ab, schaute auf die Finger, die sie vor dem Körper spreizte, und öffnete eine schwarze Handtasche.
Als wenig später der Bus kam, stiegen alle schweigend ein und setzten sich sofort ruhig hin. Im Wagen war der Geruch von Fäulnis, Urin und dem Papier der Zeitungen so stark, daß er sich beherrschen mußte, um sich nicht zu übergeben. Er blickte aus dem Fenster auf den grauen Fluß, den der Bus eben überquerte und bemerkte erst jetzt die junge Frau mit dem Kopftuch, die sich neben ihn gesetzt hatte, und, als sie seinen Blick spürte, leise zu sprechen begann.
Er müsse eine schlimme Nacht hinter sich haben, so müde wie er aussehe. Hier habe sie ihn noch nie gesehen; dabei kenne sie beinahe jeden in dieser Gegend. Fermer konnte sie nicht ansehen und hörte still zu, zum Fenster hinausschauend. Es gelang ihm nicht, zwischen den dichten Baumreihen am Ufer der Insel hindurch auf die Hütte zu blicken.
Die Frau erzählte weiter; sie sei Serviererin in einem Café. Morgens müsse sie früh zur Stelle sein, am Bahnhof ständen zu dieser Zeit immer einige Leute herum, die einen warmen Raum und etwas zu trinken brauchten.
Sie sprach langsam, nickte manchmal auch zwischen den Sätzen mit dem Kopf und blickte dabei lange auf eine Stelle. Ihr Sprechen beruhigte ihn. Für einen Moment kam es ihm vor, als kenne er sie schon lange. Bei diesem Gedanken mußte er lächeln, und sie schien es zu bemerken, denn auch sie lachte plötzlich, als habe sie etwas Lustiges gesagt. Ein Mann blickte sich um, und Fermer schaute schnell wieder zum Fenster hinaus.
Bald mußte der Regen beginnen. Im Bus war es jetzt warm. Fermer blieb still, weil ihm nichts einfiel; auch die Frau hatte das Sprechen aufgegeben. Ihm aber wurde es wohler; fast war er schon belustigt, als der Bus die Brücke verließ und nach einer Kurve in die große Straße einbog, die in die Stadt führte.
Er glaubte, den Gedanken an die Zukunft wieder ertragen zu können. Seine Sicherheit wuchs, je länger der Bus fuhr. Er wünschte sich, noch lange so neben der ruhig schauenden Frau sitzen zu dürfen. Die ihm plötzlich zugefallene Freiheit wollte er vorerst nicht aufgeben. Als er daran dachte, wurde er für einen Augenblick wieder so aufgeregt, daß er schlukken mußte, um sich zu beruhigen. Die Zukunft erschien wie eine grenzenlose Landschaft; bei diesem Gedanken beugte er sich zu der Frau hinüber und sagte fast übermütig, daß er in ihr Café kommen wolle.
Als sie ihn kurz anschaute, erkannte er die tiefe Müdigkeit in ihren Augen.
Am Bahnhof stiegen sie aus, die Frau deutete auf das nahe Café, und Fermer sagte ihr, daß er wenig später kommen werde. Er wollte sich eine Zeitung besorgen und ging in den Bahnhof, wo vor einem Stand die Zeitungsstöße lagen. Der Verkäufer holte sie gerade herein und schnitt mit einem Messer die Kordel durch, mit der die Bündel umschnürt waren. Er legte die Zeitungen aus, während neben Fermer schon einige Männer warteten, die schweigend das abgezählte Geld hinlegten und sich eine Zeitung vom Stoß nahmen.
In der Wartehalle saßen schlafende Männer; einem war der Kopf weit nach hinten auf die Lehne gesunken. Eine Frau kehrte den Unrat zusammen.
Auf dem großen Platz vor dem Bahnhof verfolgten sich schon die Tauben und drehten sich umeinander im Kreis. Als Fermer auf sie zuging, flogen sie auf, kreisten über dem Platz, landeten auf dem Dach des Bahnhofes und schüttelten das Gefieder. Der Platz war noch fast leer; nur die Straßenfeger in ihren orangenen Überzügen kehrten den Dreck zwischen den Straßenbahnschienen zusammen, und wenig später fuhr eine Maschine hinter ihnen her, die Wasser über den Boden sprühte, so daß die Papierfetzen zur Seite flogen.
Es war noch dunkler geworden, und als die Straßenbahnen und Autobusse vor dem Bahnhof hielten, flüchteten die Ausgestiegenen mit schnellen Schritten in die breiten Straßen, die vom Bahnhof ins Innere der Stadt führten, als duckten sie sich unter dem sich immer mehr zusammenziehenden Himmel. Nur in der Weite der Straßenschluchten war der Horizont hell aufgebrochen; die Dunkelheit aber schien alle Hoffnung aufzuschlucken, und schon bald, nachdem die Straßenbahnen gehalten hatten, waren die großen Straßen wieder leer, und nur Fermer behielt noch seinen langsamen Schritt bei, während die Ampeln an den Kreuzungen unermüdlich umsprangen. Fermer sah, als er ins Innere der Stadt ging, die noch unaufgeschnürten Zeitungsstöße vor den Tabakläden, die Katzen, die von einem Brunnen ins Dunkel eines Hauseinganges flüchteten, auch die noch geschlossenen Türen der Kaufhäuser, hinter ihnen die Fahrräder, an Schaufensterpuppen gelehnt.
Durch die Fußgängerzonen preßte der Wind Zeitungsblätter und Papierfetzen, die an den Blumenständen hängenblieben; Pappbecher kollerten in die Rinnsale. Die Geschäfte waren noch geschlossen, nur in einigen Bäckereien gingen schon Verkäufer umher und brachten Netze mit frisch gebackenen Brötchen nach draußen, wo der Motor eines wartenden Wagens noch lief.
Auf einem der weißen Stühle zwischen den Blumenständern, die aneinandergekettet waren, saß ein alter Mann und prostete Fermer mit einer Flasche zu. Der aber ging weiter. Er freute sich auf das Café, das erwärmt sein würde, und schüttelte sich in der Kälte des Windes, der stark durch die Straßen fegte und die dunklen Wolkenberge bewegte.
Als er aber wenig später in eine der kleinen Nebenstraßen einbog, die hinab zum Marktplatz führte, und die auf dem Platz schon aufgebauten Obst- und Gemüsestände erkennen konnte, kam ihm ein grüner Wagen langsam entgegen, und erst allmählich begriff er, daß es ein Polizeiwagen war. Die schmale Straße war sonst leer, er hörte das gleichmäßige Summen des Motors. Er erschrak und war im gleichen Moment doch schon fest entschlossen, seine Freiheit zu verteidigen. Er ging etwas schneller voran, in die Ferne schauend, wo es hell war über dem großen Gefälle der von der Dunkelheit überdeckten Häuser. Er nahm seine Schritte wahr, spürte, wie die Füße aufsetzten; es ärgerte ihn, daß er keine Tasche trug, nichts in der Hand hielt außer der Zeitung. Schon wagte er kaum noch zu schlucken; die Zeitung unter den Arm geklemmt, versuchte er, gleichgültig weiterzugehen. In seinem Kopf tickte es, als laufe die Zeit ab, während der Wagen langsam an ihm vorbeirollte und er die Stimmen des Polizeifunks hören konnte. Die Polizisten schauten an ihm vorbei, und ihr Blick schien in der Ferne hängengeblieben zu sein.
Fermer ging, langsam ausatmend, weiter wie auf Zehenspitzen; der Druck der plötzlichen Anspannung wich von ihm und machte einer Freude Platz, die er schließlich nicht mehr zu beherrschen wußte. Er nahm die Zeitung in die rechte Hand, und während er vor Glück zu laufen begann, schlug er mit ihr in die Luft.
Er hielt erst ein, als er am Marktplatz ankam und einige Frauen, die an den Gemüseständen hantierten, verwundert aufblickten, als sie die schnellen, weit hallenden Schritte hörten. Die vollen Kisten mit Gemüse und Obst wurden ausgeladen und auf die Stände geschoben, die vor dem befürchteten Regen überdacht waren. Eimer wurden mit Wasser gefüllt und Blumensträuße hineingestellt. Eine Frau packte auf ihrem Stand Tüten mit Gewürzen aus, es roch stark nach Anis, Lauch und Rosenkohl.
Er wusch sich die Hände und das erhitzte Gesicht mit dem Wasser des Marktbrunnens, und als er sich über den Brunnenrand beugte, erkannte er staunend seine weitaufgerissenen Augen und das wirre Haar.
Eilig nahm er dann den Weg zum Café, den Wind ließ er an sich vorbeistreichen mit dem milden Gefühl, daß er ihm durch den Kopf wehe.
Als er die Glastür des Cafés aufstieß, blickte ihn die Serviererin an, als habe sie auf ihn gewartet. Er setzte sich an einen der kreisrunden Tische, und sie kam hinter der Theke hervor. Als sie sich zu ihm niederbeugte, las er ihren Namen, Anna, auf einem weißen Schildchen über der linken Brust. Er bestellte ein Frühstück und bemerkte, als er sich umschaute, einige Männer, die meist allein an den Tischen saßen und rauchten.
Wenig später wurde das Frühstück auf einem Tablett gebracht. Anna setzte es vorsichtig auf dem Tisch ab, hob die Gegenstände langsam herunter und setzte sich schließlich auch.
Er konnte sie nicht unbefangen anschauen und ahnte doch, während er den Kaffee aus der Kanne in die Tasse füllte, daß sie ihm gerade ins Gesicht blickte. Der Wind in seinem Kopf verwehte, und die Wärme stieg allmählich in ihm hoch. Im Hintergrund spielte ein Kofferradio. Er erzählte vom Morgen in der Stadt und der Weite des Marktplatzes, auf dem die Verkäufer begonnen hatten sich einzurichten. Während er sprach, hörte er die Zeitansagen im Radio, später den Wetterbericht und die Nachrichten für die Autofahrer. Aber alles verhallte in der Stille des Raumes.
Er trank den Kaffee langsam aus und bat Anna um einen Cognac, den sie lächelnd holte. Durch die schmutzigen Gardinen konnte er auf den Vorplatz des Bahnhofs schauen. Vor dem Fenster liefen die Menschen jetzt zahlreicher vorbei als zuvor; an den sich biegenden schlanken Birken erkannte er das heftige Wehen des Windes. Anna kam mit dem Cognac zurück, und er nahm einen großen Schluck, der ihn noch mehr erwärmte und den er, während er weiter erzählte, in sich verrinnen spürte.
Er wurde gesprächiger und legte einmal seine Hand, ohne zu zögern, aber wie unbeabsichtigt, auf Annas Finger, die sie nicht bewegte. Kurz darauf entschuldigte sie sich, als sie an einen anderen Tisch gerufen wurde, um zu kassieren.
Jetzt wurde die Tür schon häufiger geöffnet, der Wind stieß für einen Augenaufschlag herein, und jemand setzte sich an einen Tisch. So füllte sich das Café langsam immer mehr, während Fermer seinen Cognac austrank, einen neuen bestellte und zum Bahnhof hinüberschaute.
Er hatte große Lust zu verreisen und stellte sich die einfahrenden Züge vor, in denen er verschwinden und durch die er in eine ganz andere Gegend entlassen werden könnte. Die Möglichkeit, sich so der Verfolgung zu entziehen, lockte ihn.
Er stellte sich Bahnübergänge vor, an denen der Zug vorbeifahren mußte, die wartenden Fußgänger mit den Regenschirmen vor den geschlossenen roten Schranken, die Regennässe auf den Schindeln der Häuser, die in den Gemüsegärten in der Nähe der Bahngeleise Arbeitenden, die aufschauten bei der Vorbeifahrt des Zuges, die Burgen auf den Höhen am Fluß und die regenblaue Breite des Flusses selbst, die sich vor ihm auftun würde wie ein nie zu vergessendes Zeichen. Tief über der Flußebene würden die dunklen Wolken stehen und sich bis an die Abhänge der Weinberge drängen, wo die Rebstöcke noch kahl und dunkel waren. Und der Boden zwischen ihnen wäre schon umgepflügt und überall die Erwartung auf die Helligkeit hinter diesem Dunkel der Wolken.
So träumte er vor sich hin und achtete nicht mehr darauf, wieviel er schon getrunken hatte. Leicht hatten ihn seine Gedanken aus dem verqualmten Raum geführt; er dachte sich immer neue Landschaften aus, sah sich auf Landstraßen entlanggehen, die in grüne Täler verliefen, wo die Äcker braun und naß sich gegen die Wiesen und die noch unbelaubten Wälder abhoben, die ersten kräftigeren Farben, an denen die Augen lange hängenbleiben mochten.
Lange saß er so an seinem Tisch, und erst als er sich wieder nach Anna umschaute, bemerkte er die Umgebung und sah, daß er das leere Glas in der Hand hielt. Er bestellte noch einen Cognac und hörte, daß es der vierte war. Verwundert stellte er fest, wie voll es inzwischen geworden war. Die ersten Schüler waren hereingekommen, drei schmächtige Jungen, die sich über ihre Hefte beugten und die Ergebnisse ihrer Arbeiten miteinander verglichen, während sie Zigaretten zwischen den Fingern hielten, darauf achtend, daß die Asche nicht aufs Papier fiel.
Als Fermer sie sah, lehnte er sich wie unter der Last einer Erinnerung zurück, und indem die Geräusche des Raumes, das Klirren der Teelöffel auf den Untertassen, die Ansagen des Radios, leiser wurden, entstand das Bild seiner Schulzeit, die erst wenige Monate zurücklag und von der er sich doch schon so weit entfernt fühlte, daß er sie begreifen und betrachten konnte wie etwas längst Vergangenes ...
Und im ersten Ansturm der Erinnerung erwuchs aus dieser Vergangenheit nur das Bild eines übermüdeten Menschen, dessen Finger feucht waren vom Kreidestaub, in dessen Kopf die nicht ausgeschüttelte Nacht beschwerlich drückte und vor dessen in der Helligkeit zitternden Augen die Lehrer auf den einsam vor den Schülern stehenden Stuhl fielen, lustloser noch als sie selbst.
In allem war diese Zeit eine nur halb gelebte gewesen. Karg wurde das Wissen aufgetischt, das schon auf Jahre hin abgemessen war; wie schwunglos war die Zeit vergangen, geduckt in Bänken, der schlechten Luft, in der man sich gähnend den Kopf hielt. Durch die Lehrbücher, die schon nach den ersten Lektionen ihren Reiz verloren, drangen die vom Bleistift verordneten Anmerkungen so langsam von Übung zu Übung, daß – wie in einem Dickicht – hinter dem eben eröffneten Weg die Büsche und Zweige wieder zusammenschlugen und das eben noch Gewußte ins Dunkel versank.
Es gab nur Augenblicke, und auf sie war das Wissen bezogen, das aus den Köpfen, mühsam wie aus der Tube gepreßt, quoll und sich in den Heften verkleckste.
Es war die Zeit ohne Entdeckungen, die Einübung der Stumpfsinnigkeit, in der jede Neugierde erstarb; der Drill der verrichteten Arbeit entlarvte sich bei den Ausflügen, wenn die Lehrer sich ihrer militärischen Kenntnisse brüsteten und die Schüler im Haufen und strengem Schritt durch die Landschaft befehligten.
Wie sehr hatte er diese Zeit als Demütigung empfunden! Wie stark hatte er sich bemühen müssen, sich gegen die verstreichenden Tage zur Wehr zu setzen, nicht in den eintönigen Verordnungen die Ahnung der Freiheit zu verlieren!
Die ungezählten Wege zur Schule den großen Berg hinab ins Tal hatten den Blick geschärft für unbewachte Plätze, etwa den Friedhof, den er an jedem Morgen durchquerte.
Umgeben von einer hohen Mauer lag er zwischen den Ausfahrstraßen, die aufs Land führten. Die alten Kastanienbäume standen an den schmalen Wegen, und in seiner Mitte lag auf steinernem Sockel ein wie eben in den Schlaf gesunkener Löwe, den schweren Kopf auf den weit ausgestreckten Vorderbeinen. Die Plastikgießkannen schaukelten im Wind an kleinen Eisenketten, und das Wasser des bemoosten Brunnens roch weit nach Fäulnis und schon verwelkten Blumen, Blütenblätter auf der dunklen Wasserfläche. Wie gern war er hier vorbeigegangen ...
Noch die Erinnerung versetzte ihm einen Stoß, und doch kam ihm diese stille Zeit vor, als habe sie nur zu seiner Kindheit gehört, von der er sich zu lösen glaubte. Aber diese Stille der Plätze des Friedhofs, die er geliebt hatte, würde er nicht vergessen, und nicht leicht würde er wieder so unbeteiligt und in sich versunken die Umgebung betrachten.
Dort hatte er die großen Grabdenkmäler gesehen, wie kleine Häuser, die vor dem Regen schützen sollten. Wenn man durch das rostige Gitter ins kühle und dunkle Innere schaute, so ging es dort eine Treppe hinab, oder der Blick fiel auf einen kleinen Altar. Steinerne Kandelaber, Efeuranken um runde Tempel, vor denen zwei Engel ihre Fackeln dem Boden zukehrten. Aus dem Giebel ragte ein Totengerippe mit der Sanduhr in der Hand, und neben den Schriftrollen aus Stein, die auf der Grabplatte lagen und auf denen eine Schrift verkündete, daß das Leben ein Traum sei, hielten zwei Frauen einen Lorbeerkranz.
Jede Familie hatte ihrem Geschmack hier ein Denkmal gesetzt, und man konnte lange herumgehen, ohne daß sich die Grabmäler ähnelten. Korinthische Kapitelle beugten sich unter schweren Architraven, Engel hielten Tafeln, von denen in goldener Schrift die Todesmahnungen des Alten Testamentes leuchteten.
An so manchem Morgen hatte er sich früher als nötig aus dem Haus gemacht. Hier sah er gerne die Schwalben unter den hohen Bäumen hervor- und hoch hinauf zum Himmel segeln. Weiter unten, wo der Boden sandiger und trockener war, schwankten die Pinien, und an den gräulich braunen Stämmen glänzte noch die Feuchtigkeit der Nacht. Hier hatte er seine Bücher aufgeschlagen und sich die zu lernenden Texte laut vorgesprochen, wenn er nicht zu lange im Blick auf die hohe schwankende Tuja verweilt hatte, die zwischen den Eibenhecken stand und breit und dunkel ihm seltsam feierlich erschien.
Manchmal, wenn die Sonne schon durchgebrochen war, hatte er sich auch schon auf der Bank ausgestreckt und in den Himmel geschaut, vor dem die Birkenäste schwankten und dessen schwaches Blau sich langsam ins Grün der Bäume senkte. Dann waren die Gedanken gleichsam hinausspaziert ins Freie, und erst ein fallender Tropfen mochte ihn an die Zeit erinnert haben und auch daran, die Bücher nicht zu vergessen.
Aber jenes gedankenvolle Empfinden, das Gefühl, still hin und her bewegt zu werden, lautlos höher gehoben – das ließ sich noch festhalten, wenn er den Friedhof schon weit hinter sich hatte und über die Straßenbahnschienen an den Autotankstellen vorbei zur Schule lief. Am Eingangstor stand hoch aufgerichtet eine Athene auf grauem Sockel, den Speer in der Rechten. Zwischen den Augenhöhlen sprang die spitze Nase hervor, und die Falten des Kleides waren scharf und fielen auf die nackten Füße, zwischen denen der Vogelkot sich versteckte.
Die ungeliebten Anstrengungen der Schulzeit hatten ihn, ohne daß er es merkte, immer mehr auf sich selbst verwiesen. Er hatte sich daran gewöhnt, alles, was er haßte, nicht mehr ernst zu nehmen, und darüber war auch allmählich seine Wut auf die Lehrer und einige Mitschüler, die ihnen bereitwillig zu folgen gewohnt waren, weil sie es nicht besser wußten, verschwunden. Er glaubte den Worten der Lehrer nicht mehr, er mißtraute ihren Ratschlägen, er lächelte manchmal über ihre Redensarten und hielt die meisten für so kleinlich, daß er sich ihr Leben nur in viel zu engen Wohnungen vorstellen konnte.
Sein Verhalten war auch den Lehrenden nicht unbemerkt geblieben. Sie wurden irritiert, wenn er manchmal still vor sich hinlächelte, und nicht selten fragten sie ihn nach dem Grund seiner Vergnügtheit. Zuerst hatte er nur unwillig den Kopf geschüttelt, sich später, als die Lage gefährlicher geworden war, Ausreden ausgedacht, schließlich aber keine Versuche mehr gemacht, sich zu verteidigen. Er saß zu dieser Zeit in der Nähe eines Fensters, und wenn es ihm zuviel wurde, stand er auf, um es zu öffnen; der frische Luftzug, manchmal der Geruch der Feuchtigkeit, im Sommer vom trockenen Asphalt des Schulhofes beruhigten ihn für eine Weile.
Schlimmer wurde es erst, als er in eine dunkle Ecke des Zimmers verwiesen worden war. Weil er durch seinen Widerstand zu erkennen gegeben hatte, daß ihm ein hellerer Platz nicht ganz unwichtig war, hatte man ihn um so lieber, mit dem Empfinden, ihn endlich einmal verletzen zu können, in die ungeliebte Ecke beordert. Hier führte er bald ein noch zurückgezogeneres Dasein. Nicht selten träumte er ins Licht der Fenster, durch die er auf die Kuppel einer Kirche schauen konnte. Im Winkel sitzend, erreichten ihn die Blicke der Lehrer seltener als zuvor. So begann er, sich in den langweiligen Stunden selbst zu beschäftigen. Er brachte sich Bücher mit und breitete sie unter der verschmierten Schulbank aus.
Einmal hatte er in die Stille hinein eine Seite umgeblättert und beim Heben seines Kopfes den Lehrer schon auf sich zukommen sehen. Er hatte das Buch hervorgeholt und sofort auf den Tisch gelegt. Es war eine Auswahl von Goethes Gedichten, und der schon auf seinen öffentlich zu zeigenden Zorn eingespielte Lehrer hatte das Buch nur kurz in die Hand genommen, dann aber vorsichtig durchgeblättert und schließlich nur stumm und kopfschüttelnd zurückgegeben, als sei er gegen solche Lektüre hilflos.
Bald konnte Fermer sich so mit der stillschweigenden Duldung einiger Lehrer in seine Bücher vertiefen. Nie hatte er die Erregung vergessen, die ihn befallen hatte, als er auf Goethes Gedicht vom »Schwager Kronos« gestoßen war. Die hastige, auffahrende Bewegung machte ihn wie trunken von innerer Stärke. Hier glaubte er endlich einen Verbündeten gefunden zu haben. Die Abkehr vom »rasselnden Trott«, der Aufruf »rasch ins Leben hinein« – das machte er sich zur Maxime, und er verband mit ihr das schnelle Laufen im Regen, das ihn oft so übermütig machte vor Freude und ihn auf die Höhen der die Stadt umgebenden Berge führte, von denen der Blick weit hinab in die Flußebene ging, wo schon seit langer Zeit die Stadt sich an den Fluß drängte und früher Schiffe und Kähne ausgeladen worden waren. Dann, hoch über der Ebene stehend, die manchmal golden im Leuchten des sonnenumglänzten Stromes zitterte, dachte er an die Verse, die den Blick beschrieben, der »weit hoch herrlich« »rings ins Leben hinein« ging.
Einmal hatte man den Schülern im Musikunterricht Schuberts Vertonung dieses Gedichtes vorgespielt. Fermer hatte mehr als sonst den Kopf eingezogen, wie beschämt darüber, daß man das, was er still und beharrlich liebte, so leichthin unter die kichernden und schwätzenden Mitschüler austeilte. Er hatte die ganze Zeit über geschwiegen und endlich, als es ihm zuviel wurde, gebeten, den Raum verlassen zu dürfen, weil ihm nicht wohl sei. Draußen hatte er sich auf eine kleine Mauer gesetzt, die den Schulhof von der Straße trennte und ruhig das Ende der Stunde abgewartet.
Sonst aber hatte er es vermieden, sich allzusehr von den anderen Schülern zu entfernen. Mochten die Nachmittage und frühen Abende auf den langen Spaziergängen ihre Geheimnisse auftun und ihn mit manchem plötzlichen Blick auf eine Lichtung in den Buchenwäldern, deren graudunkle Stämme er besonders liebte, überraschen – er fühlte doch, daß dies ein eigenes, wohl zu behütendes Leben sei, das er mit den Mühen der Schulstunden nicht vermischen dürfe. Schon früh ahnte er, daß er sich, schützend über sich selbst gebeugt, von den anderen zu entfernen begann. Und wirklich stellte sich auch ein immer größerer Abstand her, der sich in der respektvollen Weise, mit der man ihm begegnete, einer Art gesetzter Höflichkeit, äußerte, durch die man ihn anerkannte und doch zu verstehen gab, daß man ihn nicht durchschaute. Anstatt sich in seiner Einsamkeit einzurichten, vermied er jedoch alles, was den Abstand hätte vergrößern mögen. Er wußte, daß er, indem er auf seinen Träumen und der Innigkeit seines Lebens bestand, nur eitler und überheblich geworden wäre.
Wie verzaubert kam er an manchen Tagen von seinen weiten Gängen zurück in die Enge seines Zimmers, von den Obstfeldern, wo die Bäume im hellsten Blütenrausch standen, von den kleinen Seen in der Nähe des Flusses, auf deren Schilfinseln die Vögel nisteten. Aber er wollte sich in diesem Glück nicht einrichten, unduldsam bleiben, bis jene graue Alltäglichkeit, die er scheute, in jenes Glück eingegangen wäre. So schloß er sich manchmal bereitwillig den anderen an, die ihm oft hilfsbedürftig und unsicher erschienen. Wenn sie am Morgen im Dunkel des Schulhofes hinter ihren Schultaschen standen und noch einmal in ihren Büchern blätterten, glaubte er, ihnen zu Hilfe kommen zu müssen, so sehr schienen sie auf etwas zu warten, das sie selbst nicht einmal kannten.
Nichts war ihm furchtbarer als die Vorstellung des ereignislos verstreichenden Lebens, das kraftlos in den Tod versikkerte. Und doch stellten die anderen an manchem Morgen ein Bild jenes Lebens dar, wenn sie nebeneinander unter den aufgespannten Schirmen im Regen auf den Schulbeginn warteten oder im Sommer an den Wänden des Hofes lehnten, müde und sprachlos. Diese Leblosigkeit ängstigte ihn, und er versuchte, mehr von ihnen zu erfahren. In den Gesprächen erreichte er manchmal die Nähe eines Geständnisses, und auch die anderen schienen in ihm eine Gewißheit zu suchen. Zu Beginn eines neuen Schuljahres wählten sie ihn zu ihrem Sprecher.
Verwundert nahm er die Aufgabe ernst. Sie zog ihn für kurze Zeit ganz aus seiner selbstgewählten Einsamkeit. Gleichzeitig führte sie ihn in eine noch stärkere Auseinandersetzung mit den Lehrern, auf deren Fehler er mehr achtete als zuvor. Er kritisierte ihren Unterricht offen und duldete nicht mehr, daß einige seiner Mitschüler, die schon oft für die manchmal unvorhersehbar ausbrechende Wut der Lehrer hatten herhalten müssen, so beleidigt wurden, daß sie schließlich nur noch still und mutlos in ihren Bänken saßen. Er wollte jede Möglichkeit der Gegenwehr nutzen, darüber immer heftiger werdend, einseitiger und lauter. Aber so hatte er immerhin den Widerstand der Lehrer fast ganz auf sich gezogen, und die zahllosen, durch ihre Unscheinbarkeit um so stechenderen Ungerechtigkeiten prallten auf ihn. Durch die Emphase seines Widerstandes wuchs allmählich wieder der Abstand zu den anderen Schülern, die sich an seinen Aktionen kaum noch beteiligten. Die Angst, durch schlechte Noten bestraft zu werden, ließ sie die Ungerechtigkeiten ertragen und erstickte schon beinahe ihre ganze Aufmerksamkeit.
Als Fermer merkte, daß ihn auch diese Aufgabe nur noch einsamer und einseitiger machte, ließ er sie ebensoschnell fallen, wie er sie ergriffen hatte.
Im letzten Schuljahr war das Interesse seiner Mitschüler gespalten und richtete sich über die Schulzeit hinaus, die noch still ertragen wurde. Wenn einige jetzt früh am Morgen in einem Wagen vorfuhren, mit einer Tasche, die sorgfältig gegen Stöße und Schrammen geschont wurde, den Hof überquerten, so ahnte Fermer schon, daß mit ihnen kein Widerstand zu proben sei, ja daß sie ihren Lebenswillen bereits aufgegeben und ihr Leben mit dem Blick auf Automarken und gut eingerichtete Häuser beschlossen hatten. Die Schule hatte ihren Ehrgeiz und ihren Leistungswillen ausgebildet, aber sie hatte ihnen jede Fähigkeit genommen, ein eigenes, nicht maßgeschneidertes Leben zu führen. Voller Widerwillen bemerkte Fermer, wie sie allmählich auch bereit waren, ihre Neigungen aufzugeben, und sich in ihren neuen Interessen belogen, die eine große Zahl von ihnen Ärzte, Juristen oder Volkswirte werden ließ.
Fast auf einen Schlag hin hatten sie ihre Jugend verloren und schon die Plätze auf den Geldpolstern als ihr Erbe betrachtet. Sie wurden ernster und führten am Morgen ihre Mädchen, die sie als ihre »Frauen« bezeichneten und von denen sie sich mit einem Kuß und einem routinierten Lächeln verabschiedeten, vor das Schultor. Einige trugen bereits Anzüge, waren in Parteien eingetreten und saßen in den Schulbänken wie Monster, die durch eine falsche Ernährung viel zu groß geworden waren.
Stiller als jedes andere ging das letzte Schuljahr vorüber. Die Fragen der Lehrer wurden leiser, man verständigte sich über das Wissen in respektvollem Ton; auch die gegenseitigen Angriffe fielen bald fort und wichen einer hartnäckigen Geduld des Wartens, die jeden Blick auf die Gegenwart auslöschte und statt dessen in die Zukunft wies, in der man sich schon sicherer zu bewegen schien als in der Gegenwart. Fermer aber weigerte sich, so grundlos erwachsen zu werden. Spielten viele Mitschüler schon selbstverständlich diese Rolle, so gab er mehr als sonst sich als Kind. Den steifen Ernst der neuen Lebenshaltung machte er nicht mit, entsetzte durch sein manchmal albernes Verhalten die Lehrer wie die anderen Schüler, die dafür nur geheime Verachtung übrig hatten. Auch versuchte er nicht, seine Noten durch stärkere Anstrengungen zu verbessern, sondern wurde im Gegenteil in seinem Fleiß immer nachlässiger, während selbst die faulsten seiner Mitschüler nicht unbedeutende Anstalten machten.
Vor allem reizte ihn die Sicherheit, mit der sie in den jetzt immer häufiger werdenden Gesprächen während des Unterrichts, die von den Lehrern mit sachkundiger Miene geleitet wurden, ihren frisch erworbenen Lebensernst zur Schau stellten. Mochten die Themen dieser Gespräche noch so sehr dem allgemeinen Gerede entlehnt sein, das sich in den Zeitungen und Leitartikeln niederschlug – die meisten hielten in der Wahl ihrer Argumente mit und versuchten zu beweisen, daß sie den Standard dessen, was ›öffentlich‹ bedacht und beredet wurde, schon beherrschten. Obwohl ihre karge Erfahrung nicht einmal ausreichte, die eigenen Hemmungen und Reaktionen besser zu verstehen, behandelten sie mit großzügigen Gesten die allgemeinsten Themen und tauschten die dafür schon öffentlich angebotenen Redensarten aus wie eben erst entdeckte Neuigkeiten. Nichts ärgerte Fermer jetzt mehr als die Bereitschaft, mit der sie sich über »Schwangerschaftsunterbrechungen«, »Wehrdienstverweigerung« und »Tarifrunden« zu verständigen bereit waren. Diese Unterhaltungen gaben ihnen schon die polierte Nichtigkeit politischer Vertreter, und während sie flüssig zu reden bemüht waren und schon dieses Reden als Übung für den späteren Erfolg benutzten, versank Fermer immer mehr in hartnäckiges Schweigen, verschickte Papierschwalben durch den Raum und riß Fenster und Türen auf, daß der Durchzug die Notizen von den Bänken fegte.
Ihm aber blieben die einsamen Spaziergänge in Gegenden, die noch fast menschenleer waren. Niemand kannte die Stadt und ihre Umgebung besser als er, die kleinen Dörfer am Fluß, in denen die Weinbauern lebten, die weiten Ebenen östlich der Stadt, über die man tagelang gehen konnte zwischen den goldgelben Getreidefeldern, ohne einem Menschen zu begegnen. Die Gegend in der Nähe des Stromes war fruchtbar, und wenn der Boden nicht durch den Anbau von Getreide, Kohl, Kartoffeln und Rüben genutzt war, so standen doch die Obstbäume dicht, und Fermer pflückte Kirschen und Johannisbeeren und auch die dunklen und reifen Brombeeren von den Hecken, die sich an den Zäunen emporrankten. Er liebte die weiten Ausblikke, den Blick auf die langen Pappelreihen am Fluß, auf die Berge jenseits der Ebene, durch die der Strom floß.
Immer aber schob sich in seine Lektüre die Wehmut über dieses nur halb gelebte Leben, und der Druck, der durch die Schulstunden auf ihm lastete, war manchmal auch durch diese Gänge nicht zu vertreiben.
Dieser Druck ließ erst langsam nach, als die Schulzeit vorüber war. Zu den angesetzten Feiern erschien er schon nicht mehr, froh die Zeit der Verlogenheiten hinter sich zu haben. In den ersten freien Tagen hatte er wie ein vom Unglück Geretteter fast bis in den Mittag geschlafen. Er hatte die Schulbücher zusammengepackt und sie in den Keller geschafft.
Fast zur selben Zeit hatten seine Eltern die Stadt verlassen und waren an einen anderen Ort gezogen. Er forderte, in der von ihm geliebten Gegend bleiben zu dürfen, und die Eltern mieteten für ihn ein kleines Zimmer am Stadtrand, in das er bald mit wenigen Gepäckstücken einzog.
Er war jetzt fast völlig allein, und an regnerischen Tagen verließ er oft das Zimmer nicht, sondern zog sich in sein Bett zurück, um das sich die Bücher verstreuten.
Dort hatte er anfangs noch Pläne für eine längere Reise gemacht. In seinem Zimmer hatte er einige der Kupferstiche von Piranesi aufgehängt, und an ihnen blieb die Vorstellung hängen, an den Szenen des ländlichen Lebens, wo sich die Schafe, Hirten und Wanderer zwischen den hohen Ruinen verloren. Er stellte sich seine Reise nach Italien vor als ein Verschwinden in dieser von der Kunst so durchfurchten Natur, die ihm weiter und liebenswürdiger erschien als jede andere.
Aber noch mußte er warten. In den letzten Monaten seiner Schulzeit war er gemustert worden, und die Erinnerung an diesen Tag, an dem er in einem dunklen Gebäude untersucht und für tauglich zum Militärdienst befunden worden war, lag über der jetzt vollzogenen Befreiung von der Schule wie ein letztes drohendes Übel.
An einem Morgen hielt er dann den Einziehungsbescheid in den Händen, der ihm jede Hoffnung auf eine längere Zeit der Freiheit vernichtete und ihm die Stelle angab, wo er nach etwa zwei Wochen noch erlaubter Wartezeit sich einzufinden habe. Zuerst nahm er das Papier nicht ernst. Er ahnte, daß ihm ein Leben in der Kaserne schaden und ihm alle Lust auf die Zukunft nehmen könne.
Und wirklich erschienen ihm die ersten Tage in der Kaserne wie das Leben nach einer großen Katastrophe, der nur diese wenigen gänzlich den Befehlen untergeordneten Menschen durch die Flucht auf einen fernen Planeten entronnen seien.
Nur staunend konnte er anfangs den Ereignissen begegnen, der Ruhe, mit der er sich die Stiefel schnürte, der Ausdauer mit der er sein Gepäck auf den langen Fußmärschen durch die unbeobachtete Gegend schleppte, der Intensität, mit der er immer wieder die Sauberkeit des Gewehrlaufes überprüfte.
In den kurzen Pausen zwischen den einzelnen Verrichtungen fiel er müde und wie besinnungslos auf sein Bett und vermochte doch die Augen nicht zu schließen, die ihm weit geöffnet schienen, als habe sie ein inneres Entsetzen aufgerissen. Auch am Abend schlief er nicht ein; ein anhaltendes Dröhnen im Kopf versteckte die Ereignisse des Tages nicht, sondern kehrte sie immer wieder hervor und ließ sie Bild für Bild abrollen.
Einmal glaubte er schon mitten in der Nacht den schrillen Ton einer Trillerpfeife zu hören, die am frühen Morgen die Schlafenden aus den Betten trieb. Die immer wiederkehrenden Floskeln der Befehlssprache wiederholte er wie unter einem unabänderlichen Zwang oft bis tief in die Nacht.
Aber auch während des Tages trieb ihn alles von Verrichtung zu Verrichtung, so daß er kaum noch jene Unterhaltung mit sich selbst fortzusetzen vermochte, die ihm während der Schulzeit wenigstens einen Rest innerer Freiheit erhalten hatte.
Vor allem aber war ihm jede Möglichkeit zum Lesen genommen. Die Lektüre bildete zum Leben in der Kaserne einen so unüberbrückbaren Gegensatz, daß sie nicht – wie noch in der Schulzeit – zu helfen vermochte. Als er einmal am frühen Abend durch einen Zufall für kurze Zeit allein in der Stube sich aufhielt, versuchte er noch einmal, etwas zu lesen; doch schon die ersten nach ihm unendlich lang vorkommender Zeit gelesenen Sätze stimmten ihn so traurig, daß ihm die Tränen ins Gesicht liefen und er sich schämte, so hilflos seinen Gefühlen hingegeben zu sein. Alle Menschlichkeit war während der letzten Wochen vergangen, so daß er sich nur noch stumm und gefühllos im von Pfiffen und Befehlen zerrissenen Leben aufhielt. Das Leiden der Menschen in den Büchern hatte immerhin noch den Schein von Kreatürlichkeit, und in Momenten stieg das Bewußtsein dieser Menschen an ihr Leiden heran und überwarf es mit dem Schimmer der Verachtung. Das Leben in der Kaserne aber unterbot alle Möglichkeiten; es war ein Stillstand ohne jeden Anspruch. Die Energien trieben ins Nichts, und alle Formen eines menschlicheren Verhaltens, Rührung oder Anteilnahme, Interesse oder Abneigung, waren erstickt, als seien sie längst unnötig geworden.
So war auch die Unterweisung der Soldaten streng auf den Gebrauch der Waffen und die militärischen Anweisungen beschränkt. Es schien nichts mehr zu geben als das lange Warten auf eine Erlösung. Auch die anfangs noch bemühten Gespräche zwischen den Soldaten hörten bald auf; in den freien Stunden saßen sie Karten spielend in den dunklen Stuben oder hielten das Ohr an ein Kofferradio, das nicht zu laut spielen durfte, an den Abend denkend, an dem sie über ihren Biergläsern in einer Kneipe sitzen durften. Fast alle begannen, stärker zu rauchen und zu trinken, wurden stiller und gleichzeitig jähzorniger, und manchmal hörte Fermer in den langen durchwachten Nächten das Stöhnen eines Onanierenden im Schnarchen der anderen.
Er spürte, daß seine Gedanken langsamer wurden und die täglichen Handgriffe sich an ihre Stelle drängten. Schweigend hielt er still und wußte doch nicht aus noch ein.
Erst für einen kurzen Moment, dann in der weiten Ferne der Träume bildete sich in den Nächten der Wunsch, diesem Gefängnis zu entkommen. Der Blick aus den geöffneten Fenstern über die Mauern des Kasernenhofes schlug diesen Wunsch auch am Tage manchmal an. Er bedachte sich nicht weiter und ließ noch einige Zeit der Sache ihren Lauf.
An einem Vorfrühlingsabend kehrte er, den bewilligten Ausgang zu einem Spaziergang in die Nähe des Flusses nutzend, plötzlich und absichtslos nicht mehr in die Kaserne zurück.
Träumend noch saß Fermer in dem inzwischen wieder leerer gewordenen Café. An einer Fensterseite warteten noch zwei Männer, die einen Koffer neben dem Tisch abgestellt hatten. Auch der Vorplatz des Bahnhofs hatte sich geleert, und die Straßenbahnen fuhren leise vor und verschwanden ebenso still wieder zwischen den Häusern. Es regnete noch ein wenig, und einmal kam Anna mit einem nassen Regenschirm, den sie schnell ausschüttelte, ins Café zurück, nachdem sie draußen eine Schachtel Zigaretten geholt hatte. Sie hatte sich nur wenig um Fermer gekümmert, da sie zu beschäftigt gewesen war, und Fermer war es recht so, denn der Alkohol hatte ihn in seinen Gedanken gleichsam sanft beflügelt und ihm die Vergangenheit zugeführt wie eine schon liebgewordene Erinnerung. Er wußte aber, daß Anna sich wenig später zu ihm setzen werde, und er wartete darauf, in seine Träume versponnen, nachdem er die Zeitungen beiseite gelegt hatte, in denen er nicht zu lesen vermochte, weil die kurzen Artikel die Aufmerksamkeit nicht gefangenhielten und sie sofort wieder in die Leere entließen. Der Ton in den Zeitungen war oft ein seltsam mißgelaunter, nörgelnder, und die meisten Schreiber kamen ihm vor wie von aller Kraft und Lust verlassene Menschen, die sich selbst längst aufgegeben hatten.
Dann aber begann Anna die Tische zu ordnen; sie zog die Decken zurecht, stellte die Blumenvasen in die Mitte, leerte die Aschenbecher und stellte das Geschirr zusammen. Als sie fertig war, verschwand sie für eine Weile, und als sie wieder hinter der Theke hervortrat, lief schon eine andere Bedienung durch den Raum.
Anna hatte die Haare zusammengebunden, und im ersten Moment erkannte Fermer sie nicht, als sie sich an seinen Tisch setzte und ihn aufforderte, mit ihr hinauszugehen. Er suchte noch nach Geld, doch sie sagte ihm, daß sie alles bereits erledigt habe, und fast zog sie ihn mit zur Tür, vor der beide einen Moment stehenblieben, während Anna einen Schirm öffnete, ihn Fermer in die Hand drückte und sich dann bei den ersten Schritten einhängte, als seien sie ein längst miteinander vertrautes Paar.
Noch nie war Fermer so durch die Straßen gegangen. Er hatte vor diesen Posen der Zusammengehörigkeit immer einen nicht geringen Abscheu empfunden, doch jetzt fiel es ihm leicht, denn sie hatten nur einen Schirm, und der Regen fiel immer dichter. Auch war er so gut gegenüber der Umwelt versteckt, und Anna, die schnell neben ihm herlief, schien ihn gleichsam wie ein fremder Mantel zu bergen und zu schützen. Sie gingen eine der breiten Straßen hinunter, und Anna erzählte noch von der Arbeit, die sie ›unterhaltend ‹ nannte und deren Vor- und Nachteile sie bemüht verständlich zu machen suchte.
Sie arbeitete mit größeren Unterbrechungen schon seit zwei Jahren als Aushilfskellnerin in diesem Café; die Arbeit dauerte nur den halben Tag, so daß sie nicht eben viel Geld erhielt. Das Stipendium für ihr Studium, sagte sie, reiche nicht aus; so sei ihr jedes Trinkgeld wichtig. Eigentlich sei die Stimmung im Café meist eine sorgenvolle; schon die Gastarbeiter hätten diesen gegenwartsleeren Blick, den sie in der Nähe des Bahnhofs nicht zu unterdrücken vermochten. Einmal habe ein Türke schon früh am Morgen leise zu singen begonnen und so allein an seinem Tisch gesessen, daß der eigentlich sehr muntere Gesang ihr vorgekommen sei wie ein Lied auf den eigenen Tod.
Fermer hörte zu, während sie von den Erlebnissen mit den Gästen berichtete, und ging fast heiter neben ihr. Sie bogen in eine kleinere Straße ein, und er fragte sie, welchen Eindruck er denn auf sie gemacht habe. Sie blickte, während sie weitergingen, zu ihm auf, und antwortete, daß er ihr wie ein Neuling vorgekommen sei, so unbeholfen habe er den Alkohol getrunken und so unverhohlen den anderen bei ihren Verrichtungen zugeschaut. Er habe weder die unaufmerksam selbstgewisse Haltung der Schüler noch die weltverlorene der Einzelgänger an den Tischen, sondern die eines eben in der Stadt angekommenen Fremden, der sich noch neugierig umsehe.
Der Alkohol machte Fermer beinahe gesellig, und obwohl er eine nicht geringe Schwäche in den Beinen spürte, ging er aufgeräumt voran. Er legte seinen Arm um ihre Schultern und hielt den Schirm noch umständlich in der Linken, als Anna ihn darauf aufmerksam machte, daß es längst zu regnen aufgehört hatte.