Flüsterwind - Sandra Gernt - E-Book

Flüsterwind E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Ellinor ist völlig am Ende. Alleinerziehend, kein Geld, mal wieder einen Aushilfsjob verloren, und ihre kleine autistische Tochter Amy steckt in einem ihrer Anfälle. Jetzt wäre ein guter Moment für den Prinzen in strahlender Rüstung! Und tatsächlich erhält sie einen Anruf von einem märchenhaft reichen Mann, der alles verändern wird. Der ist allerdings der Vater des Prinzen und Ellinor die Auserwählte, seinen Sohn zu retten. Denn seit dem Tod seiner Mutter weigert sich Ethan, der ebenfalls autistisch ist, am Leben teilzunehmen. Rasch ist Ellinor fasziniert von diesem jungen Mann, und auch wenn sie weiß, dass er ihre Gefühle nicht erwidern wird, kämpft sie darum, ihn aus seiner inneren Festung zu befreien ... Ca. 40.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte einen Umfang von ungefähr 200 Seiten.

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Ellinor ist völlig am Ende. Alleinerziehend, kein Geld, mal wieder einen Aushilfsjob verloren, und ihre kleine autistische Tochter Amy steckt in einem ihrer Anfälle. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für den Ritter in strahlender Rüstung!

Und tatsächlich erhält sie einen Anruf von einem märchenhaft reichen Mann, der alles verändern wird. Der ist allerdings der Vater des Prinzen und Ellinor die Auserwählte, seinen Sohn zu retten. Denn seit dem Tod seiner Mutter weigert sich Ethan, der ebenfalls autistisch ist, am Leben teilzunehmen. Rasch ist Ellinor fasziniert von diesem jungen Mann, und auch wenn sie weiß, dass er ihre Gefühle nicht erwidern wird, kämpft sie darum, ihn aus seiner inneren Festung zu befreien …

Ca. 40.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 200 Seiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Flüsterwind

von

Sandra Gernt

 

Das Telefon klingelte. Ellinor starrte feindselig auf das dumme Ding. Welche Hiobsbotschaft würde sie diesmal erreichen? Bislang hatte sie am heutigen Tage vier Anrufe erhalten. Einen von ihrem Vermieter, dass sie bis Ende der Woche sein Geld überbracht haben musste, andernfalls würde er sie vor die Tür setzen. Einen von ihrer Bank, sie solle bitte schön, danke sehr, ihr Konto ausgleichen. Heute noch, falls es keine Umstände bereitete. Einen von Amys Kindergarten, da ihre kleine Tochter mal wieder einen schweren Anfall hatte, seit zwei Stunden schreiend und heulend in einer Ecke hockte und sie bitte sofort kommen und Amy abholen müsse. Der letzte Anruf stammte von ihrem zukünftigen Ex-Arbeitgeber, der ihr ohne weitere Erklärung den Job gekündigt hatte.

Nicht, dass sie furchtbar traurig wäre, fortan nicht mehr um vier Uhr morgens Bürogebäude zu putzen, aber es war der negative Höhepunkt dieses Dienstags gewesen. Ellinor hatte weder Kraft noch Lust herauszufinden, wie viel noch an einem verregneten und viel zu kühlen siebten Mai schiefgehen konnte. Sie wollte keine weiteren Nachrichten dieser Art und überlegte ernstlich, das Klingeln zu ignorieren.

Eigentlich war sie ja schon zur Tür raus, quasi mit einem Fuß in der Straßenbahn. Sie musste Amy retten, von was auch immer ihre fünfjährige, autistische Tochter gerade bedroht werden mochte. Vielleicht war es allerdings Claire, Amys Erzieherin, um ihr mitzuteilen, dass inzwischen alles wieder in Ordnung war?

Seufzend ergriff Ellinor den Hörer und nahm das Gespräch an.

„Ja?“

„Bin ich richtig verbunden mit Mrs. Ellinor Floyd?“

Die kühle, sachliche Frauenstimme klang fremd und weckte ungute Vorahnungen.

„Ja, das bin ich, was …?“

„Einen Moment, ich verbinde.“

O Gott, hoffentlich kam jetzt nicht der endgültige Vernichtungsschlag! Wenn nun etwas mit Amy geschehen sein sollte …

Mit zittrigen Fingern wischte sich Ellinor einige hellblonde Strähnen aus der Stirn, die sich aus dem strengen, taillenlangen Zopf gelöst hatten. Es sparte eine Menge Geld, das Haar wachsen zu lassen, statt zum Friseur zu gehen.

„Mrs. Floyd?“ Eine tiefe Männerstimme diesmal, warm und überhaupt nicht sachlich, sondern merkwürdig emotional. Die Stimme eines älteren Mannes, die Erinnerungen an Amys verstorbenen Großvater weckte.

„Mrs. Floyd? Alec Hammond, guten Tag. Wir kennen uns noch nicht. Ich habe Ihre Nummer von Dr. Sinclair.“

Das war Amys Kinderarzt, ein weithin anerkannter Fachmann für Asperger-Autismus.

„Legen Sie bitte nicht auf, Mrs. Floyd. Ich möchte Sie zu einem persönlichen Gespräch einladen. Es ist kein unsittliches Angebot, das kann ich Ihnen versichern. Es geht um meinen Sohn Ethan. Hätten Sie genau jetzt Zeit für mich?“

Völlig überrumpelt ließ sich Ellinor auf den wackligen Hocker sinken, der als Stuhlersatz diente. Möbel kosteten Geld, sie besaß nur das Allernotwendigste.

„Okay, langsam, ja? Ich muss meine Tochter gerade aus dem Kindergarten holen, das hat Vorrag, und überhaupt, ich wüsste schon gerne genauer, worum es geht. Brauchen Sie einen Babysitter für Ihren Sohn?“ Babysitterjobs waren nicht gerade ihr Favorit – viel Zeitaufwand, wenig Geld. Wenn der Mann ihre Nummer von Dr. Sinclair bekommen hatte, war es allerdings vermutlich ein autistischer Junge, um den es hier ging, und da konnte man einen höheren Lohn verlangen. „Hören Sie, Mr. Hammond, vielleicht können wir heute Nachmittag noch einmal telefonieren? Ich muss leider dringend weg.“

„Sie müssen mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, um Ihre Tochter abzuholen, nicht wahr? Das nimmt recht viel Zeit in Anspruch.“

„Ja, das stimmt, woher …?“

„Es spielt keine Rolle, woher ich das weiß, Mrs. Floyd. Ich bitte Sie inständig, mir Gelegenheit zu geben, alles zu erklären. Ich schicke Ihnen einen meiner Firmenwagen, dann sind Sie schneller bei Ihrem Kind. Der Fahrer wird sich als Angestellter von HaVic ausweisen.“

Ellinor schnappte überrascht nach Luft, als die Erkenntnis einrastete, mit wem sie gerade sprach.

„Sie sind … SIE sind Alec Hammond, der Milliardär?“

„Ja. Alles Weitere klären wir in ungefähr eineinhalb bis zwei Stunden in meinem Büro, wenn Sie einverstanden sind.“

„Und wenn nicht?“, entfuhr es ihr spontan. Blöde Kuh, ein stinkreicher Kerl will was von dir!

„Wenn nicht, setzt mein Fahrer Sie und Ihre Tochter Zuhause ab und wir telefonieren noch einmal. Am Ende werden wir uns einig werden, das weiß ich genau. Bis bald, Mrs. Floyd. Ich freue mich schon sehr, Sie kennenzulernen.“

Verdutzt starrte Ellinor auf den Hörer, aus dem das gleichmäßige Piepen des Besetztzeichens erklang.

Hatte sie gerade wirklich mit einem der hundert reichsten Männer der Welt telefoniert? Hammond hatte nach einer wilden Jugend mit zahlreichen Skandalen und Affären die Softwarefirma seines Vaters übernommen und zu märchenhaftem Erfolg geführt. HaVic, wie die Firma nach einer Fusion hieß, vertrieb die Software für Flugzeugnavigation, belieferte die NASA und war marktführend bei Antivirenprogrammen. Er war an die sechzig, wenn sie sich richtig erinnerte, und ja, er hatte einen Sohn. Von dem hörte man allerdings nie etwas und er müsste mindestens so alt wie Ellinor sein, also fünfundzwanzig oder älter.

Nun gut, vielleicht hatte Hammond eine Affäre gehabt und war noch ein weiteres Mal Vater geworden. Ellinor verfolgte solchen Klatsch und Tratsch nicht.

Gütiger Gott, ein Milliardär, der ausgerechnet sie persönlich anrief. Da konnte irgendetwas nicht ganz stimmen. Andererseits, welcher Trickbetrüger könnte derart dreist und zugleich dämlich sein, eine solche Persönlichkeit vorzutäuschen? Jedenfalls nicht, um eine alleinerziehende Mutter reinzulegen, bei der sowieso nichts zu holen war. Vielleicht lauerten nachher irgendwo Kameras und das alles sollte ein dummer Scherz sein?

Doch wer würde ihre Nummer dafür hergeben, sie hatte keine Feinde. Und auch keine Freunde.

Oder dieses Telefonat gerade war ein Tagtraum gewesen. Obwohl, nein, ein Tagtraum hätte einen Lottogewinn beinhaltet, das unverhoffte Erbe einer unbekannten Tante, oder wenn schon Milliardär, dann bitte mit Heiratsantrag.

Ellinor rang immer noch mit sich, als es eine Viertelstunde nach dem Anruf an der Tür klingelte. Amy! Sie musste doch sofort zu Amy! Ihre Tochter wartete! Ohne weiter nachzugrübeln eilte sie hinaus, zog sich im Laufen ihre einzige Jacke an, schloss ab und rannte die Treppen dieses verkommenen Mehrparteienhauses hinunter.

Ein freundlich lächelnder Asiate begrüßte sie, zeigte unaufgefordert einen sehr echt aussehenden Ausweis und führte sie zu einem schwarzen BMW. In einem solch teuren Wagen hatte Ellinor noch nie gesessen. Beinahe schämte sie sich, mit ihrer verwaschenen Jeans auf dem edlen weißen Leder der Rückbank Platz zu nehmen. Die Fahrt verlief schweigend und da der Motor extrem leise war, fühlte es sich ein wenig wie schweben an. Erst als sie bereits vor dem Schulgebäude hielten, wurde ihr bewusst, dass sie Mr. Barrows, dem Fahrer, gar nicht die Adresse genannt hatte. Alles sehr seltsam!

„Ich warte hier auf Sie. Für Ihre Tochter befestige ich derweil einen Kindersitz“, sagte Mr. Barrows.

„Es kann länger dauern, meine Tochter …“, begann sie entschuldigend.

„Machen Sie sich bitte keine Gedanken, Mrs. Floyd. Sie brauchen sich nicht zu beeilen.“ Das Lächeln und die gesamte Ausstrahlung des Fahrers weckte Vertrauen, und das, obwohl Ellinor doch wachsam und skeptisch bleiben wollte.

Claire wirkte überrascht, sie schon so rasch zu sehen – normalerweise benötigte sie rund eine halbe Stunde allein mit der Straßenbahn, denn kein nahegelegener Kindergarten hatte sich in der Lage gefühlt, ihre Tochter mit ihren besonderen Bedürfnissen zu betreuen. Wenn Ellinor Pech hatte, musste sie bis zu zwanzig Minuten warten, bevor sie eine Bahn in die gewünschte Richtung besteigen konnte. Offenbar überwog die Erleichterung, dass Ellinor da war, denn Claire fragte nicht nach, wie sie es derart rasch geschafft hatte. Kein gutes Omen …

Diese Schule mit integriertem Kindergarten war auf behinderte Kinder spezialisiert. Streng genommen war Amy fehl am Platz, da sie nur leicht betroffene Aspergerin war. Aber sie wurde hier individuell gefördert, musste sich nicht eine Betreuerin mit zwanzig anderen Kindern teilen und konnte sich emotionale Aussetzer leisten, ohne dass man Ellinor nahelegte, das Kind abzumelden.

Das Schulgeld und die Ausgaben für den Kinderarzt fraßen beinahe alles auf, was Ellinor mit ihren Aushilfsjobs verdiente. Die ungeplante Schwangerschaft hatte sie das College-Stipendium gekostet, seitdem schlug sie sich irgendwie durchs Leben. Arbeiten. Für ihr Kind da sein. Schlafen. Und von vorn.

Amy war bereits zu hören, noch bevor Ellinor die Räume des Kindergartens betreten hatte. Das schrille Kreischen in einer Tonlage, die augenblicklich Aggressionen schürte, beherrschten wohl ausschließlich Asperger. Ellinor hatte jedenfalls noch nie andere Kinder auf diese Weise schreien gehört. Sie eilte an spastisch gelähmten, mongoloiden und von Geburtsschäden aller Art betroffenen Kindern vorbei in den sogenannten Ruheraum. Man sagte nicht mongoloid, das war diskriminierend. Den anderen Begriff konnte sie sich nie merken … Und es spielte keine Rolle. Nicht für sie. Nicht ihre Baustelle.

Sobald sie durch die Tür kam, verstummte das infernalische Gebrüll und ihr unglückliches Töchterchen sprang ihr regelrecht auf den Arm. Ellinor presste das schweiß- und tränendurchweichte Bündel Elend an ihre Schulter. Zum Glück war Amy recht klein und dünn und damit noch leicht genug, um sie mühelos zu tragen. Es kam recht selten vor, dass sie sich behaglich ankuschelte, doch wenn sie Schutz vor der bösen Welt brauchte, krabbelte sie stets regelrecht in Ellinor hinein.

Geduldig wiegte sie ihren erschöpften kleinen Schatz, wartete, bis der Klammergriff nachließ, der sie zu erwürgen drohte, und Amy nicht mehr völlig verkrampft und angespannten zitterte.

„Was ist passiert, Süße?“, fragte sie und kramte zugleich ein Taschentuch hervor, um die Tränen von dem schmalen Gesichtchen zu wischen. Amy hatte von ihr die hellblonden, sehr feinen Haare geerbt, genau wie die blau-grünen Augen. Den Rest hatte sie von ihrem Vater – die schlanken Gliedmaßen, das hübsche Gesicht … Wie eine Prinzessin sah sie aus, auch wenn sie niemals eine sein wollte und ihre körperliche Erscheinung ihr vollkommen gleichgültig war.

„Ich konnte keinen Sport machen.“ Endlich hatte ihre Tochter sich gefangen und zappelte nach dieser Feststellung, um zurück auf den Boden gesetzt zu werden. „Ich konnte nicht. Das rote Shirt ist nicht da. Mrs. Callahan wollte, dass ich das gelbe anziehe und war wütend auf mich. Aber ich brauche doch das rote.“

Ellinor zuckte zusammen. Richtig, sie hatte heute Morgen vergessen, das rote T-Shirt in Amys Tasche zu packen. Keine andere Farbe kam für Sport infrage. Verdammt! Es befand sich noch im Wäschekorb.

„Süße, es tut mir wahnsinnig leid. Mama hat nicht aufgepasst. Es war mein Fehler.“ Zerknirscht streichelte sie über Amys Wange. Sie durfte ihr Kind nicht ungefragt umarmen, berühren hingegen jederzeit. Damit war sie die einzige Person auf dieser Welt, der Amy dieses Privileg zugestand. Viele Eltern von Aspergerautisten durften nicht einmal das, darum schätzte sie sich glücklich.

Asperger war eine Sonderform des Autismus‘. Die Betroffenen waren nicht völlig von der Welt abgeschieden, sondern konnten mit anderen Menschen interagieren, häufig unter Schwierigkeiten; Asperger war eine sozial-emotionale Störung. Die Bandbreite war allerdings riesig: Es gab unter ihnen schwer beeinträchtige Fälle, die ihr Leben lang auf Hilfe anderer angewiesen blieben und als geistig behindert galten, trotz normaler oder erhöhter Intelligenz. Leicht Betroffene hingegen konnten lernen, ein ziemlich normales Leben zu führen. Sie nahmen die Welt anders wahr, viele hatten Probleme mit der Motorik und Überempfindlichkeit der Sinne, da viel zu viel ungefiltert auf sie einprasselte. Emotionen anderer Menschen konnten sie schlecht begreifen, Gesichtsausdrücke oder Stimmlagen zu interpretieren war schwer bis unmöglich. Empathie war ihnen in der Regel nicht gegeben, doch ihre eigenen Gefühle ganz normal ausgeprägt. Vielfach sogar stärker, da es ihnen so schwer fiel, diese Emotionen zu verstehen und mit ihnen umzugehen.

Amy war glücklicherweise leicht betroffen und sollte bald in eine normale Vorschule wechseln. Es würde hart für sie werden, plötzlich mit zwanzig oder mehr Kindern in einem Raum zu hocken und keinen persönlichen Betreuer zu haben, aber da musste ihr kleiner Engel durch. Nur auf diese Weise konnte sie lernen, mit der fremdartigen Welt klarzukommen, die nicht für sie geschaffen wurde.

„Ich nehme sie mit“, sagte Ellinor zu Claire, die draußen gewartet hatte. „Es war meine Schuld, tut mir leid.“

„Schon gut, kein Problem.“ Claire, dieses wunderbare Wesen, gestand Eltern gerne zu, Fehler machen zu dürfen. Vorwürfe erhob sie praktisch nie, selbst wenn sie unter diesen Fehler mitleiden musste. Stattdessen lächelte sie freundlich und hielt Amy die Hand hin. „Bis morgen, Liebes.“

Amy senkte den Kopf tief, krümmte sich regelrecht, bevor sie die Hand ergriff und zudrückte.

„Nicht so fest!“, ermahnten Ellinor und Claire gleichzeitig. Ihre Tochter hatte kein Gespür dafür, wie viel Kraft sie einsetzen durfte, um anderen nicht wehzutun.

„Bis morgen“, flüsterte sie in Richtung Fußboden.

Ellinor wartete, bis sie auf der Bank vor Amys Spind saßen und ihre Tochter den Kampf gegen die Klettverschlüsse gewonnen hatte – die durften auf keinen Fall auch bloß einen Millimeter schief sitzen.

„Süße, wir fahren heute nicht mit der Straßenbahn nach Hause“, sagte sie dann mit fest entschlossenem „Keine Diskussion, klar?“-Tonfall. „Wir fahren gleich mit einem Auto zu einem großen Haus. Mama muss mit jemandem reden. Danach bringt uns dasselbe Auto heim und wir können uns etwas zu essen kochen.“

Amy spielte stumm mit ihrem Zopf und starrte angestrengt zu Boden. Als sie begann, den Reißverschluss ihrer Regenjacke auf- und zuzuziehen, wusste Ellinor, dass das Problem geklärt war. Diese Abweichung von der täglichen Routine war schwierig für Amy, beängstigend, doch sie hatte bereits gelernt, gelegentliche Ausreißer zu ertragen.

„Na komm.“ Ellinor nahm sie an die Hand und ging mit ihr zum Wagen. Vor dem Fahrer wich Amy erschrocken zurück, als dieser ausstieg und ihnen die Tür aufhielt. In ihrer Gegend wohnten viele dunkelhäutige Menschen, Asiaten waren ihr hingegen fremd.

„Das ist Mr. Barrows, er fährt das Auto. Sag Hallo und steig ein.“

Amy musterte den Mann kritisch, ohne ihm direkt in die Augen zu blicken, hauchte einen Gruß und setzte sich wortlos auf den Kindersitz, sodass Ellinor sie anschnallen konnte.

Während der Fahrt brütete sie sichtlich vor sich hin, bis sie unvermittelt laut verkündete: „Du siehst nicht aus wie Jackie Chan.“

Mr. Barrows lachte glücklicherweise, während Ellinor sich peinlich berührt innerlich krümmte.

„Ich bin auch nicht mit Mr. Chan verwandt, kann nicht schauspielern oder ähnlich kämpfen wie er“, erwiderte er gelassen. „Ich komme aus Südkorea und wurde von amerikanischen Eltern adoptiert, als ich so alt war wie du. Weißt du schon, was adoptiert bedeutet?“

„Ja. Deine Eltern sind tot. Du hast neue. Darum heißt du Barrows und nicht Chan.“ Amy sprach völlig emotionslos, der Tod im Zusammenhang mit Lebewesen ängstigte sie nicht weiter. Im Gegensatz zu Puppen, Masken und allem, was menschenähnlich aussah. Barbies versetzten sie regelrecht in Panik. „Todesgrinsen, kalt und gemein“, sagte sie stets zu diesen ewig lächelnden Plastikgeschöpfen.

Mr. Barrows blieb weiterhin entspannt und erzählte ein wenig von seiner Heimat, bis sie in der Tiefgarage eines Wolkenkratzers in der Innenstadt angekommen waren. Ein Wachmann hatte ihnen das Tor geöffnet und sie telefonisch vorangekündigt – bei wem, das wusste Ellinor nicht.

„Bitte aussteigen, junge Dame.“ Der Fahrer hielt Amy die Tür auf, sobald Ellinor sie losgeschnallt hatte, was diese mit einem scheuen Ducken und einem schmalen Lächeln quittierte. Ein sicheres Zeichen, dass sie den Mann sympathisch fand, aber noch ein wenig unsicher war, ob es bei diesem Urteil bleiben würde.

„Gehen Sie bitte dort rüber zu dem Fahrstuhl, Megan wird Sie gleich abholen. Megan Hardt, die persönliche Assistentin von Mr. Hammond.“ Er verabschiedete sich freundlich von ihnen, wobei auffiel, dass er nicht einmal versuchte, Amys Hand zu schütteln. Er schien mit Autisten vertraut zu sein und, noch bedeutsamer als das, sehr genau über ihre Tochter Bescheid zu wissen. Man sah Amy nicht an, dass sie anders war, zumeist das größte Handicap wie auch der größte Vorteil der Asperger. Sie wirkten normal, wurden von Fremden normal behandelt und man erwartete entsprechend normale Reaktionen und Leistungen von ihnen. Ellinor kannte einen Jugendlichen aus der Arztpraxis, der von Gleichaltrigen in einer U-Bahn zusammengeschlagen wurde, weil er nach einem heftigen Rempler ängstlich zurückgezuckt war. Auf eine vermutlich spöttisch gemeinte Bemerkung hin war er in Tränen ausgebrochen, eine unheilvolle Dynamik entwickelte sich und am Ende hatte er blutend und mit multiplen Knochenbrüchen am Boden gelegen. Sie war heilfroh, dass ihr Kind den Mädchenbonus hatte – die meisten Asperger waren männlich und wurden als Heranwachsende Opfer von Gewalt, weil sie sich unmännlich verhielten, während man Mädchen jederzeit zugestand, dass sie ohne erkennbaren Grund weinten und emotional unangemessen handelten.

„Mama, ist Südkorea weit weg von hier?“, fragte Amy in diesem Moment und riss sie damit aus dem sinnlosen Gegrübel.

„Ja, mein Schatz, das ist sehr weit weg von hier.“

„Ist es ein sehr kleines Land?“

„Kleiner als Amerika, aber da wohnen trotzdem viele Menschen.“

„Warum konnten ihn dann nicht Eltern von da adoptieren? Mögen die keine Kinder?“

Ellinor zögerte, ob sie jetzt Zeit und Lust hatte, Amy über die politischen Verhältnisse in Nord- und Südkorea aufzuklären und entschied sich dagegen. Ihre Tochter interessierte sich für alles, was sie noch nicht kannte und hätte ihr stundenlang zugehört, auch wenn sie dabei nichts oder bloß wenig verstanden hätte. Es tat ihr gut, wenn all ihre Fragen ernst genommen und bestmöglich beantwortet wurden, es half ihr, die Welt zu begreifen. Oft wurde Ellinor ungläubig angestarrt, wenn sie in der Straßenbahn saß und diesem niedlichen Kleinkind Fragen über Polareisschmelze, Sterbehilfe, Bürgermeisterwahlen oder auch Sinn und Unsinn von korallenrotem Nagellack beantwortete. Man hielt Amy rasch für höchstbegabt bei diesen ernst und seltsam reif klingenden Fragen, dabei fragte Amy einfach nach allem, was sie sah oder hörte. Wobei ihre Gedankengänge tatsächlich erstaunlich sein konnten.

Ellinor kümmerte sich nicht um das Getuschel der Leute und tat, was sie für richtig hielt. Hier und Jetzt war allerdings ein schlechter Zeitpunkt für ein hochkomplexes Thema, über das sie selbst nicht genau Bescheid wusste, darum erwiderte sie: „Süße, ich muss das Zuhause nachlesen, okay? Merk dir die Frage.“

Amy nickte zufrieden. Bis sie daheim waren, hatte sie das Thema üblicherweise vergessen, beziehungsweise zugunsten tausend neuer Fragen verdrängt, worüber Ellinor meistens froh war. Dieses Kind brachte sie regelmäßig an die Grenzen ihres Wissens, ihrer Kraft und manchmal auch ihrer Geduld.

Der Fahrstuhl öffnete sich, eine ältere Frau in strengem Kostüm stieg aus. Erfrischenderweise schien Mr. Hammond bei der Wahl der Angestellten auf Kompetenz statt Äußerlichkeiten zu achten, denn als klassische Schönheit konnte man Mrs. Hardt nicht bezeichnen. Sie war groß für eine Frau, grob geschätzt 1,90m, brachte sicherlich hundertzwanzig Kilo oder mehr auf die Waage, und dass sie die schulterlangen, blondierten Haare offen trug, wirkte optisch bei ihrem runden Gesicht ungünstig. Ihr haftete die Aura eines burschikosen, tatkräftigen Menschen mit spitzer Zunge an, der gut anpacken und organisieren konnte und dabei kein Verständnis oder Gnade für Zimperlichkeiten kannte.

Bei der Begrüßung erkannte Ellinor die kühle Stimme vom Telefon wieder. Amy ging hinter ihr in Deckung, was man ihr nicht verübeln konnte, zumal Mrs. Hardt sie streng über den Rand ihrer Brille musterte. Für einen Moment hätte Ellinor sich gerne ebenfalls verkrochen. Aber dann lächelte die Frau, was ihr einen freundlicheren Ausdruck verlieh.

Sie folgten ihr in den Aufzug, wo sich Amy sofort nach vorne drängelte, für gewöhnlich durfte sie den Etagenknopf drücken.

„Den allerobersten, Liebes“, wurde ihr beschieden. Ellinor hob sie hoch.

„Achtundfünfzig Stockwerke“, verkündete Amy. Mrs. Hard lobte sie und stellte ihr einige typische Erwachsenenfragen – ob sie bereits lesen könne, ob sie sich auf die Schule freute und so weiter. Amy antwortete hauchleise, den Kopf eisern in Richtung Boden gesenkt.

Ellinor hörte nicht hin. Zu sehr beschäftigte sie ihre Aufregung und die Frage aller Fragen: Was wollte Mr. Hammond von ihr?

Hoffentlich würde das Ganze nicht zu lange dauern. Amy hatte bestimmt Hunger und nach einem großen emotionalen Aussetzer reagierte sie noch dünnhäutiger als sonst auf unerwartete Anforderungen. Über Stunden warten zu müssen, bis der vielbeschäftigte Mann Zeit für sie hatte, könnte Grenzen sprengen.

Sie durften jedoch wider Erwartens das Büro des Milliardärs sofort betreten, er schien tatsächlich auf sie gewartet zu haben. Ellinor nahm von dem gediegenen Luxus in ihrer Umgebung wenig wahr. Dunkles Holz, schwarzlederne Lehnstühle, Palmengewächse, Kunstwerke. Alles war edel und spürbar teuer. Auch der überwältigende Ausblick, den die großen Fenster ermöglichten, interessierte sie kaum. Wichtiger war die Frage, wie sie ihre schweißnassen Hände unauffällig abwischen konnte. Verdammt, sie hatte schon einiges in ihrem Leben gemeistert und keinen Grund, in Ehrfurcht zu erstarren. Trotzdem fühlte sie sich in der Gegenwart dieses berühmten Mannes wie ein Schulmädchen, das zum Direktor gerufen wurde.

Alec Hammond kam mit ausgestreckten Armen und strahlendem Lächeln auf sie zu. Er gehörte zum Sean Connery-Typus. Dem Schauspieler sah er zwar keineswegs ähnlich, doch er war vom jugendlichen Herzensbrecher zu einer imposanten Persönlichkeit gereift, groß und breitschultrig. Unabhängig vom Alter wirkte er charismatisch und mit seinen grauen Haaren und den markanten Zügen im faltigem Gesicht interessant und attraktiv.

Soweit sie wusste, hatte er seit dem Tod seiner Frau vor einigen Jahren keine Beziehung mehr geführt. Da es um seinen Sohn ging, musste wohl trotzdem irgendeine Dame Glück gehabt haben. Ellinor erkannte seinen Sexappeal mühelos, sprang allerdings nicht darauf an. Das tat sie nie. Mit Männern war sie fertig, dafür hatte Amys Vater gründlich gesorgt.

„Mrs. Floyd! Und Amy. Wie schön, dass Sie gekommen sind.“ Er begrüßte Ellinor mit festem Händedruck, ließ Amy allerdings in Ruhe. Die hatte sich wieder hinter sie geflüchtet und klammerte sich an Ellinors Bein fest.

„Bitte, setzen Sie sich.“ Er wies auf einen der Lehnstühle, in den sie beinahe hineinsank. Das Ding schien exakt für ihre Körpermaße gebaut zu sein, so perfekt konnte man darin sitzen. Wie schön es sein musste, Geld für solchen Luxus verschwenden zu können …

Sie nahm Amy auf den Schoß, die sich schutzsuchend an sie schmiegte und den Hinweis auf die Spielzeugkiste einen Meter links von ihr still ignorierte.

„Mrs. Floyd …“

„Ellinor, bitte.“

„Ellinor, ich will nicht lange drumherum reden und damit kostbare Zeit vergeuden. Ich brauche Hilfe für meinen Sohn Ethan.“ Er griff nach einem Bild auf dem Schreibtisch und drehte es um. Es zeigte einen jungen Mann, etwa Anfang bis Mitte zwanzig. Er sah seinem Vater unglaublich ähnlich, vor allem wenn man Fotos von dessen wilder Jugend aus den Zeitschriften kannte, die in den Wartezimmern der Ärzte herumlagen. Die schwarzen Haare waren beinahe militärisch kurz gehalten, es gab ihm trotz seiner scharf geschnittenen Gesichtszüge einen verletzlichen Ausdruck. Ethan blickte nicht in die Kamera, seine eisblauen Augen besaßen einen entrückten, beinahe seelenlosen Ausdruck.

„Es ist kein Geheimnis, dass mein einziges Kind ein Asperger-Autist ist, vielleicht haben Sie davon gehört? Nein? Nun, das spielt keine Rolle. Ethan war dank bester Förderung und ebenso liebevoller wie strikter Erziehung seitens meiner Frau ein recht normaler Junge geworden. Er hatte einige Freunde gehabt, diverse Hobbys und Leidenschaften gepflegt und wollte später Informatik studieren. Auch wenn er sich mit zahllosen Dingen schwer tat, er hat oft gelacht und war, nun, sagen wir, zufrieden mit seinem Leben. Als er siebzehn war, starb meine Frau bei einem Helikopterabsturz. Es hat ihn völlig aus der Bahn geworfen.“

Mr. Hammond verströmte eine Präsenz, sobald er sprach, wie Ellinor es noch nie zuvor erlebt hatte. Dieser Raum war gefühlt groß genug, um darin Tennis zu spielen und dennoch schien er für so viel Charisma zu klein zu sein. Die Trauer und der Schmerz, als er vom Tod seiner Frau sprach, schlugen wie unsichtbare Wellen gegen Ellinors Bewusstsein. Einen Moment lang musste sie tatsächlich mit den Tränen kämpfen, als Mitleid sie zu überwältigen drohte. Wie seltsam, dass ein solch extrovertierter, charismatischer Mann einen Sohn bekommen hatte, der seine Gefühle hinter dicken Festungsmauern verbarg.

„Ethan hat seit Hannahs Beerdigung kein Wort mehr gesprochen. Oder falsch, auch davor schon nicht mehr, denn er war bei dem Begräbnis nicht dabei. Ich wollte ihn dazu zwingen, sich von seiner Mutter zu verabschieden, was zum ersten mentalen Ausraster seit fünf Jahren geführt hatte. Bis heute war es zugleich der letzte.“

Unwillkürlich schaute Ellinor auf ihre Tochter herab, die den Blick mit ruhigem Ernst erwiderte. Sie wusste, dass diese kräftezehrenden, lautstarken Zusammenbrüche in der Regel mit den Jahren besser werden würden, doch es tat immer wieder gut, es bestätigt zu bekommen.

„Ethan hat sich völlig in sich selbst zurückgezogen. Er spricht nicht, verlässt nicht das Haus und muss rund um die Uhr beaufsichtigt werden.“

„Mr. Hammond …“

„Alec. Ich bestehe darauf.“

„Alec, verzeihen Sie bitte, dass ich Sie unterbreche.

---ENDE DER LESEPROBE---