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Als Jarid von seinem ungeliebten Bruder einer Gruppe Marút aufgezwungen wird, bricht für ihn eine Welt zusammen. Er muss schnell lernen, sich mit den furchterregenden Kriegern zu arrangieren; denn sie befinden sich auf der Suche nach dem Siegel des Großfürsten, wodurch sie alle in tödliche Gefahr geraten. Seit Jahrhunderten wird das Siegel von Kriegern und Abenteurern gesucht, doch um es zu finden, braucht man mehr als nur Mut, Kampfgeschick und jene Landkarte, die dem Wissenden den Weg weist ... Und weitaus mehr als all das ist nötig, um ein einsames Herz zu erobern.
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Seitenzahl: 312
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von Sandra Gernt
© dead soft verlag, Mettingen 2013
http://www.deadsoft.de
© the author
Lektorat: Sandra Busch
Cover: M. Hanke nach einer Idee von Sandra Gernt
Coverbild: Warrior of light,© CURAphotography - Fotolia.com
1. Auflage
ISBN 978-3-943678-73-4 (print)
ISBN 978-3-943678-74-1 (epub)
„Jarid!“ Er zuckte zusammen, als er die nur allzu vertraute Stimme hörte. Dennoch schaffte er es, den riesigen Stapel schmutziger Teller nicht fallen zu lassen.
„Hier, Ceon!“, brüllte er über den Lärm der Gäste hinweg, in die ungefähre Richtung, von wo der Ruf gekommen war.
Das wie so oft rot angelaufene, feiste Gesicht seines älteren Bruders tauchte im Gewimmel der Zecher auf.
„Schläfst du wieder auf deinen Füßen, Kerl? Bring deinen faulen Arsch in die Küche!“
Innerlich seufzend verzichtete Jarid auf eine Antwort sondern schlängelte sich lediglich weiter durch das Gemenge verschwitzter, ungewaschener Körper. Die Taverne seines Bruders – und genau genommen, auch seine – lag an der Kreuzstelle zwischen den beiden größten Handelsstraßen, die Norden und Osten, Küste und Gebirge des Reiches Panao verbanden. Das Fürstentum Goar, zu dem sie gehörten, war eines der bedeutenderen von vielen größeren und kleineren Ländern, die allesamt unabhängig regiert wurden. In längst vergangenen Zeiten hatten sämtliche Landesfürsten einem Großkönig unterstanden, doch daran erinnerten nur noch Lieder und Legenden. Zumeist herrschte Frieden, Streitigkeiten zwischen den Landesherren wurden in kurzen Schlachten ausgetragen.
Zu jeder Stunde des Tages war in Ceons Taverne viel los, und jetzt, am frühen Abend, näherte sich der Andrang seinem Höhepunkt. Händler, Söldner, Bauern, Reisende aus allen Landen quetschten sich in den Schankraum, um Speis, Trank und Unterkunft zu erwerben. Es wurde gezecht, gewürfelt, Karten gespielt, es wurden Gerüchte ausgetauscht oder auch verkauft, gesungen, geredet, geschrien, gestritten.
Jarid schaffte es lediglich dank lebenslanger Übung, sturzfrei über Bierlachen, Erbrochenes und die ersten Besinnungslosen hinweg in die Küche zu kommen, wo er das Geschirr sofort in den Spültrog versenkte.
„Harrit, du musst helfen“, sagte er zu seinem Neffen und wies auf den Schankraum. Der baumlange, etwas dümmliche, aber herzensgute Kerl, den seine jüngere Nichte geheiratet hatte, war unter anderem dafür verantwortlich, volltrunkene Gäste an die Luft zu schaffen und den Boden sauber zu halten.
„Bring die Teller da an den rechten Ecktisch, beeil dich!“, keifte seine Schwägerin Mira über die Schulter, ohne den Blick vom Schneidbrett zu nehmen, auf dem sie gerade Gemüse für ihren weit gerühmten Hammeleintopf zerkleinerte. Jarid nickte Miras Rücken stumm zu, schnappte sich vier tiefe Teller mit Kohlsuppe und kehrte zurück in das Chaos.
Bei Kaave, er war so müde! Doch das würde er Mira niemals sagen, er war schließlich nicht verrückt. Ceons Frau konnte ihn nicht leiden und nutzte jede Gelegenheit, ihn mit einer ihrer legendären Backpfeifen zu bedenken. Grobknochig und stark, wie Mira war, konnte sie mit einem Schlag ihrer schaufelgroßen Hände einen Ochsen betäuben. Auch Ceon selbst brachte Jarid nicht allzu viel brüderliche Liebe entgegen. Die Ursache dafür waren nicht bloß die siebenundzwanzig Jahre, die zwischen ihnen lagen. Ihre Mutter hatte sich bereits im fünften Lebensjahrzehnt befunden, als sie unverhofft mit Jarid schwanger wurde. Sieben Tod- und Fehlgeburten und Ceon als einziges lebendes Kind hatte Rahanna überstanden. Jarid hingegen hatte sie gerade noch mühsam ins Leben gepresst, bevor sie verblutete. Ceon hatte ihm das nie wirklich verzeihen können … Als ein paar Jahre später noch ihr Vater starb, musste Ceon ihn widerwillig wie einen eigenen Sohn aufziehen.
Das bedeutete für Jarid nichts anderes als harte Arbeit von morgens früh bis spät in die Nacht. In den zweiundzwanzig Jahren seines Lebens hatte Jarid wenig Zeit für Faulenzerei gefunden, egal, was Ceon ihm ständig vorwarf. Gemeinsam mit Ellera und Nika, Ceons Töchtern, die beide deutlich älter als er waren, deren Ehegatten sowie wechselnden Schankmägden und -burschen, schuftete Jarid Tag für Tag für sein Essen und die winzige Kammer, die man ihm zum Schlafen zugestand. Zumindest, wenn kein Gast bereit war, jedweden Preis für ein nächtliches Dach über dem Kopf zu bezahlen.
Jarid lud die Teller ab und kassierte sofort die Zeche von den murrenden Fuhrleuten. Es war die einzige Möglichkeit, in dem Gedränge nicht um das Geld betrogen zu werden.
„Hey!“ Ellera tauchte an seiner Seite auf. Sie war groß und stämmig wie ihre Mutter, hatte allerdings das widerspenstige dunkelblonde Haar von Ceon geerbt, mit dem auch Jarid selbst bestraft war. Es wuchs wie Unkraut und ließ sich durch nichts bändigen, darum trug er es zu vielen schmalen Zöpfen geflochten, die ihm bis zu den Schulterblättern reichten. Wie üblich hatten sie sich inzwischen teilweise aufgelöst. Zum Glück interessierte es zu dieser Stunde niemanden mehr, wie unordentlich er aussah.
„Vater schickt nach dir, du sollst ins Nebenzimmer kommen“, schrie Ellera ihm ins Ohr, bevor sie sich einen Berg leerer Bierhumpen auflud und damit verschwand.
Wenn Ceon ihn ins Nebenzimmer rief, wo die edlen und reichen Gäste in ruhiger, sauberer Umgebung speisen durften, stand zu befürchten, dass Jarid schon wieder seine Kammer räumen musste, um im kalten, feuchten Keller neben den Weinfässern zu nächtigen. Zum Bedienen wurde er jedenfalls nicht geholt, sein Bruder ließ nur die hübschesten Mägde an die Tische der zahlungskräftigen Kunden treten.
Möglicherweise aber hatte einer der hohen Herrschaften einen Auftrag? Auch das kam vor, etwa, dass jemand einen Laufburschen für Nachrichten oder Lieferungen in das nahe gelegene Dorf brauchte. Dafür gab es stets ein großzügiges Trinkgeld, von dem Jarid die Hälfte behalten durfte, und natürlich die Gelegenheit, frische Luft zu atmen, ohne dafür angeschrien und wegen Faulheit bestraft zu werden. Mit einem Funken Hoffnung kämpfte er sich zu der Tür vor, die ihn in Ceons Heiligtum brachte.
***
„Setz dich da rüber und sei still.“
Neugierig musterte Rujo den schmal gebauten jungen Mann, der sich folgsam auf eine Bank in der Ecke des Raumes setzte. Er sah zu Boden und gab kein Zeichen, dass er Rujo und seine Männer überhaupt bemerkt hatte. Anhand der hellen blauen Augen und dem struppigen Blondhaar war die Ähnlichkeit mit Ceon unverkennbar, sicherlich war es sein Sohn. Bloß, dass Ceons Haare kurz geschnitten waren und wie Igelstacheln abstanden. Warum der Wirt darauf bestanden hatte, dass der Junge dabei sein musste, blieb vorerst ein Rätsel, doch Rujo hatte ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Eigentlich bei der gesamten Angelegenheit hier, aber sie brauchten die verdammte Karte! Es sprach einiges dafür, den Wirt einfach umzubringen und ihm die Karte abzunehmen, auch wenn das nicht dem Kodex entsprach. Ceon würde einen viel zu hohen Preis dafür verlangen, wissend, dass Rujo auf sie angewiesen war. Das hatte er bereits heute Morgen klar gemacht. Glücklicherweise schien er die wahre Bedeutung dieser Landkarte nicht zu kennen, sonst hätte er sie wohl eher verbrannt … Oder wäre zum Opfer von anderen geworden, die weniger Skrupel besaßen als Rujo.
Leider hatte der schlaue Alte dafür gesorgt, dass Dutzende Leute Zeuge wurden, wen er in sein Nebenzimmer geladen hatte. Sie könnten sich nach einem ungerechtfertigten Mord an Ceon niemals mehr in dieser Gegend blicken lassen, was ihr Leben noch mehr verkomplizieren würde. Ganz zu schweigen von der Reaktion seines Lehnsherrn. Nein, Rujo würde geduldig warten, was der Wirt für ein Spielchen treiben wollte. Umbringen konnte er ihn zur Not jederzeit.
„Nennst du uns jetzt deinen Preis?“, fragte Tamas betont höflich. Rujo spannte sich an, er kannte seinen Vetter nur allzu genau – wenn Tamas höflich wurde, drohte danach ein Massaker. Er war der Jüngste von ihnen und ein ziemlicher Hitzkopf.
„Kein Geld“, sagte Ceon mit einem heiteren Grinsen, das seine Nervosität nicht verbergen konnte. Er schwitzte und hatte die rechte Hand um seine Kitteltasche verkrampft. Vermutlich befand sich darin das Objekt ihrer Begierde. Hoffentlich befand es sich dort!
„Also?“, fragte Rujo mit sorgsam gewähltem scharfem Unterton. Ceons Sohn zuckte zusammen, wie er aus den Augenwinkeln wahrnahm. War er als Zeuge hier? Sie könnten womöglich nicht beide gleichzeitig ausschalten, nicht auszuschließen, dass der Kleine angewiesen war, zur Tür zu rennen, sobald jemand eine Waffe zückte.
„Wir werden eine Runde Edelknappen spielen.“ Ceons Blick wanderte unruhig zwischen ihnen umher. Sie hatten ihn umringt, um ihn einzuschüchtern. Zumindest das war gelungen.
„Wir spielen, ja.“ Der Wirt hustete, hielt sich jedoch tapfer. Er wies auf Rujo, bevor er fortfuhr: „Gewinnst du, erhältst du die Karte sofort. Gewinne ich, schuldest du mir einen Gefallen.“
„Und welcher Gefallen könnte das wohl sein?“, fragte Rujo misstrauisch. Verlangte der Kerl wirklich, er solle sich auf ein Spiel einlassen, bei dem er die Verluste nicht abschätzen konnte? „Keine Sorge, es wird nicht unangemessen sein.“ Ceon lachte mit vorgetäuschter Fröhlichkeit und zog ein Kartenspiel hervor.
„Also?“
„Rujo, mach schon, ich will heute noch fertig werden!“, knurrte Tamas. Auch Krys, Hollin und Andrez waren angespannt, beherrschten sich allerdings besser.
„Bring erst einmal Essen für mich und meine Gefährten. Ich verlasse mich darauf, dass es aufs Haus geht.“ Rujo beobachtete die Reaktionen des Wirtes sorgfältig – er wirkte erleichtert. Der Mann hatte Angst, warum ging er trotzdem so ein Risiko ein? Warum verlangte er nicht einfach, was er für angemessen hielt? Sie würden ihn niederhandeln müssen, ihre Geldreserven waren knapp bemessen. Wollte er sie mit einem Kartenspiel in Hochstimmung versetzen? Hoffte er, dass sie einem höheren Preis zustimmen würden, wenn sie gewannen? Nun, das würde ein frommer Wunsch bleiben, Rujo würde sich weder von Sieg noch Niederlage beeinflussen lassen.
Die Wartezeit, während sie aßen, würde an Ceons Nerven zehren, vielleicht half ihnen das weiter. Verflucht, Tamas hatte schon Monate verloren, um die Karte aufzuspüren, auf eine halbe Stunde kam es da auch nicht mehr an.
Ceon wandte sich an den jungen Mann, der unbeteiligt sitzen geblieben war. „Lauf, Jarid, bring vom guten Hammeleintopf. Sag Nika, sie soll Bier …“
„Kein Bier. Zumindest nicht für mich. Ich will einen klaren Kopf behalten“, fiel Rujo ihm ins Wort.
„Klares Wasser für uns alle“, bestimmte Krys. Er war der Ruhepol der Gruppe, ein stiller, sehr ernster Mann. Selten, dass er das Wort erhob, doch wenn, hörte ihm jeder zu und fügte sich zumeist ohne Diskussion, was immer er anordnete. Krys gehorchte ausschließlich ihm, Rujo, das allerdings ebenfalls meist ohne Widerspruch.
Der junge Mann stand bereits an der Tür, nickte bloß kurz zum Zeichen, dass er die Bestellung verstanden hatte, und eilte dann hinaus.
Rujo setzte sich an den schweren Eichentisch, sofort gefolgt von seinen Gefährten. Ceon entspannte sich ein wenig, jetzt, wo sie einander nicht länger feindlich gegenüberstanden. Er ließ sich selbst auf einen Schemel niedersinken und wischte sich mit dem Ärmel seines roten Hemdes die Stirn ab. In seiner Nervosität hatte er nicht einmal um Erlaubnis gebeten, mit ihnen an einem Tisch sitzen zu dürfen. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, ihn hinzuhalten. Ceon hatte sicher damit gerechnet, dass er die Situation beherrschen würde, als er heute Vormittag verlangt hatte, dass sie erst zur achten Abendstunde kommen durften, um den Kauf der Karte auszuhandeln.
Verflucht, hätte Lakin nicht in irgendeiner miesen Kaschemme sterben können? Bei einem Wirt, dem niemand glaubt, wenn er behauptet, er sei von Marút bestohlen worden?
Aber ein solcher Wirt hätte wohl kaum die Karte aufbewahrt.
Niemand sprach ein Wort, bis der junge Mann zurückkehrte, gefolgt von einer drallen Schankmagd. Das Mädchen versuchte mit Tamas zu flirten, der sie allerdings mit einem finsteren Knurren verscheuchte. Sein Vetter ließ normalerweise keine solche Gelegenheit ungenutzt, doch er hatte in den letzten Monaten offenkundig gelernt, seinen Verstand zu gebrauchen. Tamas wusste, was für sie auf dem Spiel stand.
„Du bleibst hier, Jarid!“, befahl Ceon barsch. Er trank ein Bier in hastigen Zügen, während Rujo und die anderen schweigend den Eintopf aßen. Das Essen war köstlich, wie üblich – Ceons Taverne gehörte zu den Besten in weitem Umkreis.
Rujo sah, dass Krys den jungen Mann scharf beobachtete. Der Kleine wirkte erschöpft und achtete darauf, den Kopf gesenkt zu halten.
Gut erzogen, dachte Rujo. Die besser gestellten Gäste niemals anstarren.
Ängstlich oder auch nur ansatzweise so nervös wie Ceon schien er nicht zu sein. Was auch immer der Alte vorhatte, der Junge ahnte nichts davon. Er wirkte froh über die unverhoffte Pause, das war alles. Ein Zeuge sollte er sein. Ceons Rücksicherung.
Nachdem sie ihr Mahl beendet hatten, räumte Jarid den Tisch frei. Wieder wurde er angewiesen, zurückzukehren und still in seiner Ecke zu bleiben. Diesmal runzelte er die Stirn, protestierte aber nicht.
Ceon griff zu den Spielkarten, doch Krys schüttelte den Kopf.
„Wenn es genehm ist, will ich erst überprüfen, ob sie in Ordnung sind.“
Widerstandslos wurden ihm die Karten ausgehändigt, was für Rujo Beweis genug war, dass alles seine Richtigkeit hatte. Krys mischte und legte für Rujo und Ceon aus, nur sie beide würden spielen.
Edelknappen war ein Spiel, das mit Strategie gewonnen wurde, Glück besaß dabei lediglich eine geringe Rolle.
Rujo musste rasch erkennen, dass der so einfältig aussehende fette Wirt ein hervorragender Spieler war. Nach einer Viertelstunde war klar, dass ihm gerade eine demütigende Lektion erteilt wurde. Trotz aller Nervosität blieb Ceon ihm überlegen. Mühelos wurden Rujos Trümpfe beiseite gewischt, und ehe er sich versah, hatte Ceon alle vier Knappen in einer Reihe liegen. Seufzend gab er sich geschlagen. Hoffentlich ließ der Alte doch noch mit sich handeln, sonst würde es heute Nacht ein Blutbad geben.
„Ja, hm, damit schuldest du mir einen Gefallen“, flüsterte Ceon ängstlich. Sein Blick flackerte zu Jarid hinüber, der schlagartig erbleichte.
„Bruder, ähm, wie soll ich sagen … Mira und ich sind nicht mehr die Jüngsten. Unsere Töchter und Schwiegersöhne haben fleißig gespart und mich letzte Woche ausgezahlt. Die Taverne gehört nun ihnen. Ich werde bald mit Mira ins Dorf ziehen und nur noch gelegentlich hier aushelfen. Du bist … du …“
„Für mich ist kein Platz mehr“, sagte Jarid mit klarer Stimme und verschlossenem Gesicht. Er war aufgestanden, hatte sich die Arme um die Brust geschlungen, als könnte er sich so festhalten. Obwohl er keine Gefühle offen zeigte, wirkte er vollkommen verloren. Rujo wechselte einen ratlosen Blick mit seinen Gefährten. Offensichtlich wurden sie gerade Zeuge eines kleinen Familiendramas. Mit etwas Glück würden sie nur verpflichtet werden, den jungen Mann sicher in die nächstgelegene Stadt zu begleiten – lästig, aber keine harte Aufgabe.
„Ihr …“ Ceon hustete nervös, als er sich Rujo zuwandte.
„Ich habe einen Vetter zweiten Grades in der Hauptstadt, ein Weinhändler, der bereit wäre, Jarid als Lehrling anzunehmen … Hat mir einen Brief geschickt, letztes Jahr schon …“
„Das ist nicht dein Ernst! Hauptstadt? Du meinst Tybold?“ Fassungslos starrte Rujo den Wahnsinnigen vor sich an, der sich duckte, als würde er Schläge erwarten. In den legendären Zeiten hatte der Großfürst von Tybold aus regiert. Heute war es nur noch dank seiner günstigen Lage als Handelsstadt von Bedeutung, doch die Bezeichnung hielt sich hartnäckig.
„Es sind über zweitausend Meilen bis nach Tybold! Die Rokasümpfe liegen auf dem Weg, die nur im Frühjahr oder Herbst durchquert werden können, von allen anderen Gefahren und Hindernissen mal zu schweigen! Diese Reise würde mindestens ein Jahr dauern, mit ausreichend Pech auch zwei, falls sie uns nicht sogar das Leben kostet. Abgesehen davon haben wir Verpflichtungen, die in gänzlich anderer Richtung liegen!“ Rujo merkte, dass er allmählich laut wurde, und atmete tief durch.
„Wir können ihn nach Fürstenbrück bringen. Sicher wird sich auch dort jemand finden, der den Jungen in die Lehre nimmt“, schlug er hoffnungslos vor. Jarid war um die zwanzig, die Aussichten, dass ihn jemand annahm, waren gering. So schmal gebaut, wie er war, würden die meisten Handwerker sowieso abwinken, obwohl er auf den zweiten Blick sehr zäh wirkte.
„Als Schankbursche hat er jede Menge Erfahrung, oder? Warum stellst du ihm nicht ein Empfehlungsschreiben aus?“, fragte Andrez, kaum weniger hoffnungslos. Tavernenwirte waren ein eingeschworener Haufen. Jeder hatte seine eigenen Geheimrezepturen beim Bierbrauen, Schnapsbrennen und der Zubereitung der Speisen. Einem jungen Mann, der aus einer Familie alteingesessener Wirte stammte, würde man vermutlich nicht einmal einen Becher Wasser reichen, sobald er sich zu erkennen gäbe. Die Angst vor Spionen trieb oft seltsame Blüten und wer glaubte schon, dass ein Sohn eines solch guten Hauses woanders unterkommen wollte? In den schlechteren Häusern würde ihm das Schreiben nichts nützen, da man davon ausgehen musste, dass er zu hohen Lohn verlangen würde. Die Klöster nahmen niemanden an, der nicht ein großes Vermögen als Spende mitbrachte. So wie es aussah, gab es nirgends einen Platz für Jarid … Und so blass und niedergeschmettert, wie der Junge da mitten im Raum stand, den leeren Blick in die Ferne gerichtet, war ihm das vollkommen bewusst.
„Nein, hm … Hauptstadt, ich muss darauf bestehen“, murmelte Ceon unbehaglich. „Eine Überfahrt per Schiff kann ich ihm nicht bezahlen, aber es wäre eine Möglichkeit. Dauert dann bloß rund einen Monat.“ Die Antwort darauf konnte der Wirt von ihren Gesichtern ablesen. Eine Schiffspassage für sechs Männer über diese Entfernung würde mehr kosten, als diese Taverne in einem Jahr abwarf.
„Spielschulden sind Ehrenschulden“, fügte Ceon nachdrücklich hinzu.
Rujo bemerkte, dass Tamas’ Hand auf dem Schwertgriff ruhte. Der Narr würde sich nicht scheuen, das Problem mit Gewalt zu lösen. Für ihn war die Sache sehr persönlich, da er sich verantwortlich fühlte, dass es überhaupt erst soweit gekommen war.
„Nimm dich zusammen!“, raunte er ihm fast unhörbar ins Ohr.
„Ich sag euch was“, flüsterte Ceon und zog ein Bündel Papiere aus dem Kittel hervor. Wie es schien, hatte der verdammte Bastard sich gut vorbereitet. Tamas’ Mordlust schien ihm nicht entgangen zu sein, er zitterte mittlerweile panisch und ließ keinen von ihnen aus den Augen.
„Das ist ein Vertrag, ja, ein … Vertrag. Darin steht, dass ihr euch verpflichtet, Jarid mitzunehmen und alles Menschenmögliche zu versuchen, ihn innerhalb eines Jahres nach Tybold zu bringen. In dieser Zeit werdet ihr ihn weder umbringen noch als Sklaven verkaufen oder ihm sonst irgendwie ein Leid zufügen. Gelingt es nicht, bringt ihr ihn hierher zurück. Und als Entschädigung für eure Mühen erhaltet ihr die Karte, die ihr so dringend kaufen wollt, umsonst.“
Mit bebenden Fingern hielt er die Landkarte hoch, presste sie dann an die Brust, als hätte er Angst, dass jemand sie ihm ohne Gegenleistung entreißen könnte.
Rujo blickte seine Gefährten der Reihe nach an. Sie nickten alle stumm, erleichtert, dass sie das Objekt ihrer Begierde nun doch ohne großen Widerstand erlangen würden. Sich an den Vertrag zu halten war ausgeschlossen. Sie würden Jarid zur nächsten Stadt bringen, ihm dort ein schönes Leben wünschen und sich um ihre eigenen Belange kümmern. Das mussten sie Ceon natürlich nicht sagen …
Wortlos griff Rujo nach der Schreibfeder, die Ceon bereitliegen hatte, und unterschrieb den Vertrag, nachdem er eine Weile lang so getan hatte, als würde er ihn aufmerksam studieren. Er benutzte den falschen Namen, unter dem er sich auch vorgestellt hatte, was sein Ehrgefühl zum Schweigen brachte. Beinahe zumindest. Dass er überhaupt eine falsche Identität vortäuschte, nagte an ihm.
„Morgen früh beim ersten Hahnenschrei geht es los“, informierte er Jarid, der sich die ganze Zeit über nicht gerührt hatte. Der Kleine tat ihm leid, er wurde für eine Karte verkauft, die er vermutlich als einen alten Fetzen Pergament begriff.
„Wunderbar! Also ab in die Küche mit dir, Mira wartet …“, begann Ceon enthusiastisch.
„Nein!“, riefen Krys und Rujo gleichzeitig.
„Nein“, wiederholte Rujo nachdrücklich. „Der Junge untersteht ab sofort unserer Aufsicht. Er wird keinen Handschlag mehr für dich tun, verstanden?“ Er wandte sich zu Jarid und fragte in sanfterem Tonfall: „Hast du heute schon etwas gegessen?“
Der junge Mann fuhr erschrocken zusammen. „Ich … ja, heute früh …“
„Also nein. Wirt, bring unserem Schützling eine Portion von deinem wunderbaren Eintopf. Wir reisen schnell, er braucht seine Kräfte.“ Der Ausdruck hilfloser Wut auf Ceons Gesicht war eine kleine Entschädigung für den Ärger, den dieser Mann ihnen eingebrockt hatte. Er kam rasch zurück und servierte seinem Bruder eine eher geizige Portion. Ohne ein weiteres Wort ließ er sie danach allein.
Jarid nahm die Essensschale verlegen an sich, verdrückte sich in die hinterste Ecke des Raumes und löffelte den Eintopf, wobei er ihnen immer wieder flackernde Blicke zuwarf. Der Kleine hatte Angst vor ihnen, was richtig und verständlich war. Trotzdem stellte seine Anwesenheit ein lästiges Ärgernis dar.
„Fertig?“, fragte Tamas nach zwei Minuten ungeduldig. Jarid nickte, obwohl er noch kaute.
„Gut. Leg dich schlafen und sei morgen früh pünktlich bereit“, befahl Rujo. Er atmete erleichtert auf, als der junge Mann sie endlich allein ließ.
„Schleppen wir den Wicht wirklich mit?“ Hollin verzog angewidert das Gesicht.
„Wir sind Marút. Wir töten keine Unschuldigen, wenn es sich vermeiden lässt und hinterlassen keine unnötigen Spuren!“, herrschte Rujo ihn ungeduldig an. „Andernfalls wäre Ceon schon heute Morgen dran gewesen. Denkt an eure Ehre!
Wir führen den Jungen auf kürzestem Wege nach Fürstenbrück und sehen zu, dass er dort irgendwo unterkommt. Vielleicht hat sein feiner Bruder ihm beigebracht, Edelknappen zu spielen, damit könnte er eine Weile überleben.“ Die Schmach, wie ein Anfänger abgezogen worden zu sein, nagte an Rujos Stolz. Er spielte seit seinem fünften Lebensjahr Edelknappen, verflucht noch mal!
„Das hilft auch nicht weiter, der Bengel wird sich zurück nach Hause schleichen und niemand, der davon erfährt, wird jemals wieder einen Vertrag mit uns abschließen“, wandte Andrez ein. „Da helfen auch die falschen Namen nicht, solange man uns wiedererkennen kann.“
„Nein.“ Krys schüttelte entschieden den Kopf. „Jarid wird freiwillig keinen Fuß mehr über die Türschwelle setzen. Als Ceon rausgegangen ist, hat der Junge ihm einen Blick nachgeworfen, der einen wilden Eber in die Flucht geschlagen hätte.“
„Der Meinung bin ich ebenfalls.“ Rujo schaute seine Gefährten der Reihe nach an, doch es war bereits entschieden. Jarid würde ihnen hoffentlich keinen Ärger machen. Er war ein Paket, das sie ausliefern mussten, nichts weiter. Ein paar Tage, dann waren sie ihn los.
Bei Kaave, er hoffte es!
Jarid stand in seiner kleinen Kammer, in der er fast sein ganzes Leben lang geschlafen hatte. Ein fensterloser Raum, der gerade eben Platz für ein schmales Bett bot. Dieses Bett – ebenso sauber und ungezieferfrei wie alle anderen des Hauses – war bereits an einen Gast vermietet, wie Mira ihm im Vorbeilaufen zugerufen hatte. Er würde seine letzte Nacht in der Taverne also im Keller verbringen. Ohne seine Decke, die war wundersamerweise verschwunden. Nun, das konnte er im Frühsommer verschmerzen. Dass seine zweite Hose und das Ersatzhemd ebenfalls verschwunden waren, traf ihn mehr, waren sie doch beinahe seine einzigen Besitztümer. Zweifellos Miras Werk. Sie hasste ihn nicht, aber sie hatte ihn vom Tage seiner Geburt an noch mehr abgelehnt als Ceon, wenn auch aus dem gleichen Grund: Rahanna war wie eine Mutter für Mira gewesen. Jarid trug diese Schuld mit sich, seit er denken konnte. Er hatte überlebt, Rahanna war gestorben. Ein nutzloser Esser, den niemand gewünscht hatte, der seine Daseinsberechtigung ständig beweisen musste …
Jahrelang hatte Jarid zu Kaave gebetet, dass irgendjemand kommen und ihn von hier fortholen würde. Egal wer, egal wohin. Hauptsache fort aus diesem Haus, in dem einzig seine Nichten und deren Kinder gelegentlich ein freundliches Wort für ihn übrig hatten. Ohne Nika und Ellera wäre er vermutlich schon vor Jahren weggelaufen.
Jarid wandte sich seufzend um und ging hinaus in den Innenhof, um den Sternenhimmel und die laue Luft zu genießen. Es war zu früh zum Schlafen. Der Weinkeller lag genau unter dem Schankraum, er würde dort erst Ruhe finden, wenn der größte Teil der Zecher gegangen war.
Mach dir nichts vor, du wirst heute Nacht kein Auge zu tun können!, dachte er. Die Fremden machten ihm Angst. Man hörte viele Geschichten über die Marút. Elitekrieger nannte man sie, Spione und vieles mehr. Sie tauchten mal hier, mal dort auf, was sie taten und warum, wussten wohl nur sie selbst. Ihre schwarze Kleidung aus seltsam glattem Stoff und die offen getragenen Schwerter verrieten ihren Stand. Sie galten als ehrbare, nahezu unbesiegbare Kämpfer, die ausschließlich ihrem Landesfürsten unterstanden und Rechenschaft schuldig waren. Man sagte ihnen nach, dass sie einen Auftrag stets durchführten, sobald sie ihn einmal angenommen hatten, und nur der Tod sie daran hindern konnte. Wenn Jarid jetzt wüsste, ob diese Männer ihn als einen Auftrag ansahen oder aber als Hindernis bei der Erfüllung einer anderen Aufgabe … Er hatte ihren Unmut deutlich gespürt. Der Anführer der Marút, der mit Ceon gespielt hatte, war ihm besonders unheimlich. Dunkelbraune Augen, die Jarid so intensiv gemustert hatten, ein düsteres, verächtliches Lächeln, als er sich von ihm abgewandt hatte … Und er besaß von den fünf Kriegern die meisten Ehrenringe.
Ein Marút, der von einem Fürsten in den Dienst genommen wurde, musste sich den Kopf kahl scheren und glatt rasieren. Danach wurde das Haupthaar nicht mehr geschnitten und die meisten ließen auch ihre Bärte lang wachsen. Jedes Mal, wenn der Fürst einen Krieger belobigen wollte, schenkte er ihm einen goldenen Ehrenring, der ins Haar geflochten wurde. Bei einem Vergehen mussten ein oder auch mehrere Ringe zurückgegeben werden. Wurde der Krieger verstoßen, bekam er einen eisernen Schandring in ein Ohrläppchen und musste sich so lange den Kopf kahl rasieren, bis er einen neuen Herrn gefunden hatte. Je länger das Haar eines Marúts war, desto vertrauensvoller war er. Die Anzahl der Ringe verriet, wie tapfer, ehrenhaft und pflichtbewusst er sich bisher gezeigt hatte – und wie wenig klug es war, ihn herauszufordern oder sich ihm zu widersetzen.
Jarid fürchtete alle fünf, Marút waren ihm schon immer unheimlich gewesen.
„Ist das deine Art, Befehle zu befolgen?“ Eine eisige Stimme in seinem Rücken ließ Jarid erstarren.
„Habe ich nicht gesagt, dass du ein braver Junge sein und schlafen gehen sollst?“ Der spöttische Tonfall weckte trotzigen Zorn in ihm.
„Ich bin kein braver Junge!“, knurrte er unbeherrscht und fuhr ruckartig herum. Der Anführer der Marút stand mit verschränkten Armen da und bedachte ihn mit einem warnenden Blick von stählerner Härte.
Er überragte Jarid um mindestens eine halbe Kopflänge, und trotz der lässigen Körperhaltung strahlte er Kraft und Bedrohlichkeit aus. Den Bart trug er eher kurz, das dunkle Haar war zu einem straffen Zopf gebunden, in dem sich sicherlich zwanzig oder mehr Ehrenringe befanden.
„Dass du nicht brav bist, sehe ich. Du solltest es aber ganz schnell werden. Wir nehmen dich nicht auf ein Picknick mit. Du wirst jedem Wort gehorchen, das wir an dich richten. Falls du uns aufhältst oder durch irgendwelche Anfälle von Heimweh, Angst, Starrsinn oder leichtsinniger Neugier in Gefahr bringst, kannst du dankbar sein, sollten wir dich dafür lediglich in der Wildnis zurücklassen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Ja, Herr“, murmelte Jarid gedemütigt. Er senkte den Kopf, unfähig, noch länger in das harte, markante Gesicht des Kriegers zu blicken.
„Was wirst du jetzt also tun?“
„Schlafen gehen.“
Ein leises Rascheln war alles, was er hörte, im nächsten Moment befand er sich wieder allein im Hof.
Fröstelnd rieb sich Jarid über die Arme und kehrte dann zurück ins Haus. Es war sicher kein Fehler, sich im Weinkeller zu verkriechen. In der Dunkelheit konnte er versuchen zu begreifen, dass seine Welt innerhalb einer Stunde vollkommen vernichtet worden war. Er hatte kein Zuhause mehr, keine Familie, und nicht mehr als eine vage Aussicht für die Zukunft. Ceon hatte ihm einen Brief überreicht, den er diesem entfernten Vetter in der noch entfernteren Hauptstadt geben sollte. Jarid hatte noch nie von ihm gehört – gab es überhaupt einen Verwandten, der tatsächlich bereit war, ihn bei sich aufzunehmen? Oder wollte Ceon ihn lediglich so weit wie möglich fortschicken, um ihn niemals mehr sehen zu müssen?
Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden, dachte er, bevor er sich im hintersten Winkel des Weinkellers zusammenkauerte, direkt unter der Treppe, wo es am trockensten war. Den Lärm der Zecher, das Lachen und Stampfen der Füße blendete er aus. Seine Gedanken wanderten davon, in jene Welten, die nur ihm allein gehörten. Hier war er wirklich und wahrhaftig frei …
„Du nimmst das Pony!“ Einer der Marút, ein hünenhafter Kerl mit dunkelbraunem Haar und wild wucherndem Bart, drückte Jarid die Zügel des Lastponys in die Finger. Der Älteste der Gruppe, ein still und besonnen wirkender Mann in den Mittdreißigern, bezahlte Ceon die Zeche. Sein hüftlanger, dunkelblonder Zopf mit den vielen Ehrenringen und die beiden Kurzschwerter in den Rückenscheiden waren das einzige Zeichen, dass er tatsächlich ein Krieger war. Von seiner Körpersprache her hätte Jarid ihn eher für einen Jäger gehalten, oder vielleicht noch für einen Kampfausbilder. Der Anführer sprach mit den beiden verbliebenen Marút, einem strohblonden Krieger, der gut gelaunt über irgendetwas lachte, und einem noch sehr jung wirkenden Mann, der auf Jarid einen gefährlichen Eindruck machte. Niemand beachtete ihn, die Marút ritten einfach los.
Jarid folgte mit dem Pony, ohne zurückzublicken.
Ellera, Nika und deren Kinder hatten sich mit betretenen Gesichtern und leisen Stimmen von ihm verabschiedet, ohne ihn anzusehen. Mit Ausnahme von Dari, seinem jüngsten Großneffen, der ihn kurz umarmt hatte, bevor dieser von seinem Vater weggezogen wurde. Ceon hatte sichtlich geschwankt, ob er ihn umarmen wollte oder nicht und sich für das „oder nicht“ entschieden. Sein „Leb wohl“ hatte er dem Boden zugestammelt. Jarid hatte gehofft, dass sein Bruder ihm zumindest Proviant für die lange Reise geben würde. Eine Decke. Einen Mantel. Ein Messer. Irgendetwas Nützliches. Anscheinend war das zu viel verlangt, er erhielt nicht einmal einen echten Abschiedsgruß.
Wie betäubt stolperte Jarid neben dem Pony her. Er hatte gewusst, dass ihn niemand hier geliebt hatte, aber diese offene Ablehnung machte ihn tatsächlich fassungslos. Zweiundzwanzig Jahre hatte er in dieser Taverne gelebt und gearbeitet. War das nichts wert, nicht einmal ein Lächeln? Einen Händedruck? Ein geheucheltes wir werden dich vermissen und für deine sichere Reise beten? Er hatte dieses Haus als seine Heimat betrachtet, doch er ging fort wie ein Fremder. Ein ungern gesehener Gast, der bloß niemals mehr wiederkehren solle.
„Sag mal, willst du nicht langsam in den Sattel steigen?“ Der Anführer der Marút riss Jarid aus seiner inneren Starre.
„Ich kann nicht reiten“, erwiderte er beschämt. „Aber ich bin es gewohnt, den ganzen Tag zu laufen, ich kann mithalten“, fügte er hinzu, als sich fünf Augenpaare ungläubig auf ihn richteten.
„Und falls wir uns genötigt sehen sollten, ein schnelleres Tempo einzuschlagen? Galopp zum Beispiel? Vielleicht würdest du es dann wenigstens einmal versuchen?“ Der jüngste Krieger trieb sein Pferd an Jarids Seite. Er trug das schwarze, nackenlange Haar, in dem sich lediglich zwei Ehrenringe befanden, offen. Das schmale glatt rasierte Gesicht wurde von hohen Wangenknochen dominiert, was ihm zusammen mit dem missbilligenden Zug um die Mundwinkel ein strenges, hartes Aussehen verlieh. Seine Stimme klang überaus höflich, der Ausdruck seiner eisblauen Augen hingegen sprach von einem raschen, brutalen Tod.
„Tamas!“ Der Anführer warf dem anderen Marút einen ähnlich warnenden Blick zu wie Jarid in der vergangenen Nacht. Schulterzuckend entfernte sich Tamas von ihm.
Was mache ich hier eigentlich?, dachte Jarid verzweifelt. Verdammt, Ceon, warum hast du mich an diese Mörder verschachert? Wobei, sein Bruder hatte ihn ja keineswegs verkauft, sondern seinerseits einen hohen Preis bezahlt, nur damit die Marút ihn auch tatsächlich mitnahmen. Vorausgesetzt, diese seltsame Landkarte besaß tatsächlich einen ungeahnten Wert.
Die Marút ließen ihn von nun an in Ruhe, nur gelegentlich warf der Anführer oder der Älteste, der Krys hieß, einen kurzen Blick über die Schulter, um zu prüfen, dass er nicht zurückblieb. Anhand der Wortwechsel zwischen den Männern gelang es Jarid im Verlauf der nächsten Stunden, ihre Namen zu erlauschen – und dass seine Reise deutlich früher enden sollte als zunächst gedacht. Von Fürstenbrück hatte er bereits gehört, eine kleine Stadt, die recht günstig an einer Grenze zwischen zwei Fürstentümern lag und darum eine wichtige Zollstation war. Wenn nichts dazwischen kam, würden sie schon innerhalb von drei oder vier Tagen dorthin kommen. Jarid war das nur recht, je früher er diesen Leuten entfliehen durfte, desto besser!
Falls es wirklich einen Vetter Iddo gibt, der mit Wein handelt, müsste ich dort etwas über ihn erfahren können, dachte er. Obwohl – wer einen Lehrling quasi vom anderen Ende des Kontinents anwirbt, kann keinen allzu guten Ruf haben …
Ob er auf eigene Faust versuchen würde, Tybold zu erreichen oder sich doch lieber ein neues Leben aufbauen sollte, konnte er vor Ort entscheiden. Jarid strich über den Beutel aus wasserdichtem Leder, den er am Gürtel trug, verborgen unter seinem viel zu weiten Hemd. Darin befand sich der Brief, den Ceon ihm gegeben hatte, und die Ersparnisse seines ganzen Lebens. Wann immer es möglich war, hatte er die vielen Kupfermünzen in Großgeld gewechselt, um es leichter aufbewahren zu können. Vom Trinkgeld hatte er stets die Hälfte behalten dürfen, das einzige Zugeständnis seines Bruders an die Tatsache, dass ihm eigentlich die Hälfte der Taverne gehörte – das gemeinsame Erbe ihres Vaters. Nie hatte Jarid gewagt, Ceon danach zu fragen, sondern stillschweigend angenommen, dass er nur aus diesem Grund als Kind nicht in die Fremde verkauft worden war, obwohl weder Ceon noch Mira ihn mochten. Sein Anteil war der Preis dafür, dass er von ihnen wie ein ungeliebter Sohn groß gezogen worden war. Nicht nur einmal hatte Jarid sich gefragt, ob es ihm in der Fremde nicht besser ergangen wäre …
Darum hatte er jede Münze gespart, die man ihm schenkte. Genug Geld, um sich irgendwo eine eigene Existenz aufzubauen war es allemal. Also, es gab keinen Grund, Trübsal zu blasen. Jarid straffte die Schultern und marschierte erhobenen Hauptes weiter. Die Marút würden ihm nichts antun, solange er ihnen keinen Kummer bereitete, was er nicht vorhatte. Sein Heimweh nach dem einzigen Zuhause, das er je gekannt hatte, nun, das würde vergehen. Seine sogenannte Familie weinte ihm keine Träne nach, warum sollte er um sie trauern?
***
Rujo beobachtete, wie der Kleine plötzlich aufrechter ging und eine entschlossene Miene aufsetzte. Beeindruckend, wenn man bedachte, wie herzlos seine eigene Familie ihn behandelt hatte. Andrez hatte am Abend seinen natürlichen Charme genutzt und einer der Schankmägde die ganze Geschichte entlockt. Wäre Jarid ein Bastardsohn von Ceons Frau oder lediglich ein Halbbruder von Ceon, wäre ein solches Verhalten immer noch verwerflich genug. Mit einem leiblichen Geschwisterteil so umzugehen war gesetzeswidrig … Nun, Rujo würde sich hüten, sich in diese Sache einzumischen. Sie hatten genügend eigene Sorgen.
Als sie mittags eine Rast einlegten, um die Pferde zu tränken und ihnen Gelegenheit zum Grasen zu geben, übernahm Jarid es ungefragt, sich um die Tiere zu kümmern. Bei dieser Gelegenheit wurde offenbar, dass der junge Mann nichts besaß, abgesehen von dem, was er am Leib trug. Keinen Proviant, keinerlei Ausrüstung. Gar nichts.
„Ceon ist ein mieses Schwein“, murmelte Rujo an seine Gefährten gewandt. „Selbst einen Sklaven hätte man nicht so fortschicken dürfen!“
„Unser Fehler. Wir hätten darauf achten sollen, jetzt müssen wir den Jungen durchfüttern“, erwiderte Hollin kopfschüttelnd.
„Er geht gut mit den Tieren um, man sieht, dass ihm Pferde vertraut sind. Wie kann es sein, dass jemand das Satteln beherrscht, aber noch nie geritten ist?“, fragte Andrez.
„Ceon ist ein mieses Schwein“, wiederholte Rujo und griff nach einem Apfel aus der Provianttasche, den er Jarid zuwarf. „Bestimmt hat er ihn als Knecht schuften lassen, doch mal auf einem der hauseigenen Gäule aufsitzen zu dürfen, das wäre zu viel gewesen!“ Er atmete tief durch und zwang sich, ruhiger zu werden. Es ging ihn nichts an.
„Ruh dich aus, in einer halben Stunde geht es weiter“, befahl er an Jarid gewandt, was der junge Mann mit einem Nicken quittierte. Er aß so rasch, als fürchtete er, man könnte ihm den Apfel wegnehmen. Nach nicht einmal zwei Minuten hatte er ihn mit Kern und Stiel vollständig verschlungen.
„Meinst du, er hat gefrühstückt?“ Tamas beantwortete sich seine Frage selbst: „Nein, garantiert nicht.“
„Möglicherweise die Quittung dafür, dass wir gestern Abend darauf bestanden haben, dass er unter unserer Aufsicht steht.“ Krys holte ein Stück Brot hervor, das sie der Wirtin am Morgen abgekauft hatten, und brachte es dem Jungen, der sich dafür beinahe erschrocken bedankte.
„Er hat recht, das war vermutlich die logische Konsequenz in Ceons Augen“, murmelte Rujo verärgert. „Wir haben uns das offenbar selbst eingebrockt. Bei Kaave, ich kann es kaum erwarten, den Bengel loszuwerden!“
***
Sie ritten weiter, bis es fast dunkel geworden war. Oder liefen, in Jarids Fall. Er war klaglos den ganzen Tag hinter den Pferden hergerannt. Die Stille war verstörend. Er war daran gewöhnt, von früh bis spät von Menschen und Lärm umgeben zu sein. Hier im Wald gab es nur das gedämpfte Klappern der Hufe, Rascheln im Geäst, Vogelrufe, gelegentlich ein Schnauben der Pferde oder einige leise Worte zwischen den Marút. Die ganzen Bäume, die gewaltig über ihn ragten, bedrückten ihn. Umso mehr, je dunkler es wurde. Zudem erschöpfte ihn die frische Luft stärker, als er sich selbst eingestehen wollte. Das Laufen an sich war ihm leicht gefallen, und eigentlich war es eine Wohltat, nicht alle paar Minuten für irgendetwas angebrüllt zu werden … Obwohl ihm im Augenblick sogar eine Ohrfeige von Mira willkommen gewesen wäre, wenn er dafür sein altvertrautes Leben zurückbekommen hätte.
Wie selbstverständlich übernahm er es wieder, die Pferde zu versorgen. Schon immer hatte er es geliebt, wenn ein Gast ihn darum gebeten hatte. Es schenkte ihm innere Ruhe, sich um diese Geschöpfe zu kümmern und sie dabei ein wenig kennenzulernen. Die sanftmütigen, geruhsamen Gäule der Händler, die temperamentvollen, oft auch störrischen Pferde der Krieger, die edlen Tiere der Reichen und Adligen – er mochte sie alle, und sie mochten ihn. In Windeseile hatte er die sechs Pferde abgesattelt, trocken gerieben und so angebunden, dass sie mühelos grasen, aber nicht weglaufen konnten.
„Du musst das nicht tun“, sagte Rujo vorwurfsvoll, als Jarid sich danach die Sättel vornehmen wollte, um sie zu reinigen. „Du bist nicht unser Sklave.“ Sein Gesicht verriet Zorn bei diesen Worten, und auch Krys’ dunkle Augen drückten Missbilligung aus.