From A Distance - Pit Vogt - E-Book

From A Distance E-Book

Pit Vogt

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Beschreibung

Manche Dinge verstehen wir erst aus der Entfernung, aus einer gewissen Distanz. Wenn wir mittendrin sind, begreifen wir oft nicht den Sinn, empören uns und sind dann sehr niedergeschlagen. Aus der Entfernung aber erkennen wir, was wirklich dahintersteckt. Dennoch geschehen undurchschaubare Dinge, bleiben lange unerklärlich, unbegreiflich, unfassbar. Sie vermögen die Weichen unseres Schicksals, unseres Lebens zu stellen. Doch wie seltsam und sonderbar die Geschehnisse auch sein mögen, eines lässt uns am Ende niemals zweifeln, niemals aufgeben und niemals resignieren: unsere Hoffnung!

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Inhalt:

Weiße Taube

Der Turm

Auf der Brücke

Der Engel im Schnee

Die Blues-Bar

Das Grauen von Schloss Grünholm

Drei Frauen

Das Licht

Der Engel der Freiheit

Die Fremde im Lift

Weihnachten aus „Ausfahrt 77“

Nachts auf dem Kiez

Der Zaubergarten

Timmis Geschenk

Nur ein kleines Lied

Die kleine Petroleumlampe

Nur eine Träne

Der Sturm im Wald

Weiße Taube

Es war am Abend des 24. Dezember, am Heiligen Abend. Die Bescherung war längst vorüber und die kleine Familie saß bereits beim Essen. Mutter Anne und Sohn Jason waren glücklich. Glücklich, dass sie sich hatten und jedes Jahr Weihnachten miteinander verbringen konnten. Doch an diesem Weihnachten trübte etwas die Freude. Anne hatte kurz vor Weihnachten ihren Job verloren und musste nun zusehen, wie sie ihren kleinen Jason durchbrachte. Die Stütze reichte nicht aus und das, was sie sich mit Näharbeiten dazuverdiente, machte sie auch nicht wesentlich reicher. Trotzdem gab sie nicht auf. Schließlich erwartete Jason, dass ihn seine Mutter nicht im Stich ließ. Doch der war nicht dumm und wusste längst, wie es um die beiden stand. Aber er jammerte nicht und freute sich, dass er mit seiner Mutter feiern konnte. Draußen vorm Haus hatte es zu schneien begonnen und Anne schaute mit ihrem Sohn noch sehr lange aus dem Fenster. Viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Was würde mit dem Haus? Lange könnte sie es nicht mehr halten und dann müsste sie es verkaufen. Oder der Gerichtsvollzieher würde es pfänden. Wäre das dann schon das Ende? Sie wollte einfach nicht mehr weiterdenken, hielt ihren Sohn ganz fest in ihren Armen. Der beobachtete die sanft vom Himmel fallenden Flocken und wusste, dass seine Mutter Angst hatte. Und er ahnte, dass sie wohl nicht mehr ewig in dem kleinen Haus am Wald leben könnten. Die beiden hatten Tränen in den Augen und Anne meinte schließlich, dass es Zeit wäre, ins Bett zu gehen. Sie waren auch schon so müde, dass es ohnehin nichts brachte, weiter über alle Not und die schlimmen Probleme nachzudenken. Es half ja doch nichts, sie mussten da eben durch. Es blieb nur die vage Hoffnung, dass es nicht noch schlimmer käme, denn dann wäre alles vorbei! Die beiden legten sich in ihre Betten und konnten doch nicht einschlafen. Anne ging noch immer so viel durch den Kopf. Warum nur der schreckliche Unfall damals, als Jim ums Leben kam. Gerade er musste gehen. Sie hatte ihn so geliebt und Jason sah ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Er lachte auch so frech wie Jim. Warum nur musste alles so schlimm kommen, warum? Sie schaute durch die Gardine zum Himmel hinauf, doch der schwieg. Nur die Flocken schwebten sanft zur Erde herab. Dabei hätten die beiden so dringend ein Wunder gebraucht. Irgendwann schliefen sie ein und bemerkten nicht, dass sie die Kerzen auf dem Tisch im Wohnzimmer des Hauses zu löschen vergaßen. Da auch das Fenster, durch welches sie eben noch gemeinsam geschaut hatten, nicht richtig verschlossen war, drückte es der plötzlich aufkommende Wind auf. Der Luftzug fegte die Kerzen vom Tisch und die Glut des Dochtes fiel auf den Teppich. Sehr schnell fing er Feuer und brannte schon nach kurzer Zeit lichterloh. In rasanter Geschwindigkeit breitete sich das Feuer aus. Nach einer halben Stunde stand das gesamte Erdgeschoss in Flammen. Anne bemerkte einen beißenden Geruch. Sie hatte eine schwache Ahnung und sprang aus dem Bett. Doch als sie die Schlafzimmertür öffnete, war es bereits zu spät. Die Flammen standen schon auf der schmalen Treppe und fraßen sich schnell auf den Flur in der oberen Etage. Jasons Zimmer befand sich gleich neben Annes Schlafzimmer. In Windeseile nahm sie eine Decke und rannte in Jasons Zimmer. Der schlief wohl noch und Anne rüttelte ihn. Da er nicht gleich reagierte, nahm sie alle Kräfte zusammen und hob Jason aus dem Bett. Jetzt ging es um Sekunden! Jason war schwer, doch sie konnte ihn halten, da züngelten bereits die ersten Flammen in der Tür. Anne überlegte gar nicht lange. Sie wusste, dass sie zur Tür nicht mehr herauskamen und öffnete das Fenster. Der Luftzug setzte augenblicklich und mit einem lauten Knall das ganze Zimmer in Brand. Anne schaffte es in buchstäblich letzter Sekunde, aus dem Fenster zu springen. Glücklicherweise befand sich unter den Fenstern ein Sandhaufen und die beiden landeten relativ sanft. Unterdessen war Jason wach geworden und schrie wie am Spieß. Er begriff gar nicht, was geschehen war und fuchtelte nur mit seinen Armen und Beinen in der Luft herum. Die Anstrengung war wohl zu viel für Anne. Ihr wurde schwindlig. Doch Schwäche zeigen lag ihr nicht. Blitzschnell nahm sie ihren Sohn an die Hand und die beiden konnten sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen, bevor die ersten brennenden Trümmerteile herunterfielen. Irgendwann stürzte schließlich das ganze Haus in sich zusammen und vor den Augen der beiden verwandelte sich die allerletzte Hoffnung in einen verkohlten Schutthaufen.

Nichts war mehr geblieben und beinahe wären sie sogar selbst ums Leben gekommen. Lange saßen die beiden unter dem kleinen Mandelbaum, unter den sie sich geflüchtet hatten. Sie konnten gar nicht mehr weinen, so schlimm war der Anblick ihres zerstörten Zuhauses. Wie sollte es nun weitergehen? Wie sollten sie weiterleben? Sie hatten nichts mehr, gar nichts mehr. Sie schauten sich in ihre rußverschmierten Gesichter und wussten nicht mehr, was sie denken sollten. Sollte das ein Heiliger Abend sein?

Als die Feuerwehr kam, war schon alles vorbei. Man untersuchte die beiden und brachte sie in eine Notunterkunft. Doch wovon sollten sie sich eine neue Bleibe kaufen? Anne war total verzweifelt und vollkommen am Ende. So viel Unglück auf einem Haufen hatte sie nicht vermutet. Sie glaubte bereits, der Teufel hatte seine Hand im Spiel. Doch was nutzte das schon? Diese Erkenntnis brachte ihnen auch keine neue Unterkunft mehr. Es war die blanke Not, welche sich tief in ihren Gesichtern eingebrannt hatte. Anne hatte recht seltsame Gedanken. Was wäre, wenn sie ihrem Leben und dem ihres Sohnes einfach … doch sie verwarf ganz schnell diese Wahnidee. So etwas wollte sie niemals denken. Nie! Es musste weitergehen, irgendwie! Und so beschloss sie, sich als Putzfrau irgendwo in der Stadt zu bewerben. Aber auch das gestaltete sich mehr als schwierig. Keiner wollte sie einstellen, denn sie hatte einen Sohn und keinen Mann daheim! Anne verstand die Welt nicht mehr. Irgendwann mussten sie aus dem Obdachlosenasyl ja raus und dann wären sie auf der Straße und allen Gefahren ausgeliefert. Das durfte niemals geschehen. Und es war ja Weihnachten! In der darauffolgenden Nacht ging sie zu den Überresten des Hauses und kniete sich in die erloschene Asche. Sie hatte dicke Tränen im Gesicht und dachte in einem fort nur noch an ihrem kleinen Jason. Was sollte denn nur aus ihm werden, wenn sie keine Lösung fand? Es durfte doch nicht sein, dass er keine Chance mehr bekam. Es durfte nicht sein. Und völlig verzweifelt faltete sie ihre Hände und schaute zu den unzähligen funkelnden Sternen dort oben am Firmament. Da sah sie den Schweif einer Sternschnuppe am nachtschwarzen Himmel und sie senkte den Kopf. Leise sprach sie: „Ach lieber Gott, wenn es Dich gibt, dann hilf meinem kleinen Jason. Nimm mich an dessen Stelle und lasse es ihm wieder gut gehen. Wenn es Dich wirklich dort oben gibt, dann finde einen Weg aus dieser furchtbaren Not. Tu es nicht für mich, tu es für Jason. Er hat doch sonst keinen mehr. Nicht einmal mehr seinen Vater. Du kannst doch nicht wollen, dass gerade jetzt an Weihnachten ein so kleiner Junge so traurig ist und weint.“ Ihre Tränen und der dicke Kloß im Hals verwehrten ihr das Weitersprechen. Sie starrte in die Dunkelheit und dachte immerzu nur an Jason. Und sie dachte an Jim, der so früh gegangen war. Sie konnte nicht glauben, dass all ihre Mühen und ihre Hoffnung für Jason vergeblich gewesen sein sollten. Da hörte sie ein Gurren über sich. Sie schaute hinauf und sah, wie eine kleine weiße Taube über ihrem Kopf herumflatterte. Sie setzte sich schließlich auf einen verkohlten Balken und schaute Anne lange an. Dabei bewegte sie ihr Köpfchen ganz sacht und Anne lächelte das Täubchen an. Sie konnte sich gar nicht erklären, woher diese Taube so plötzlich gekommen war, denn immerhin war es Nacht und was wollte die Taube schon auf einem abgebrannten Trümmerhaufen? Doch die Taube kam ein wenig näher und pickte Anne in den Finger. Das tat jedoch gar nicht weh. Irgendwie schien die Taube etwas von ihr zu wollen. Schließlich sprang die Taube auf den eingestürzten Kaminschacht und schlug lange mit ihren Flügeln. Dann setzte sie sich auf den Balken zurück und schaute Anne wieder so seltsam an. Anne konnte sich das nicht erklären, aber sie verspürte plötzlich den Drang, zu diesem Kaminschacht zu klettern und nachzuschauen, was dort sein konnte. Sie fand diese Idee zwar total daneben, doch sie musste es tun. Außerdem war es doch ohnehin egal, ob sie das tat oder eben nicht. Was sollte schon noch passieren? Es war doch schon alles kaputt. Und so raffte sie sich auf und kletterte über die Balken und die verbrannten Reste des Hauses zu dem Kaminschacht hin. Auch die kleine Taube kam dorthin geflogen und schlug wieder mit ihren Flügeln. Anne wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.

Sie konnte einfach nicht verstehen, was die Taube ihr zeigen wollte. Mit ihren Händen hob sie die verbannten Ziegelsteine aus dem Schacht und sah bald aus wie ein Schornsteinfeger. Und die Taube flog nicht fort. Sie beobachtete Anne interessiert und gurrte zwischendurch immer wieder. Anne wollte ihre Suche gerade aufgeben, da stieß ihre Hand an etwas Metallisches. Zunächst glaubte sie, es sei ein Trümmerteil des Kamins. Doch das war es nicht. Sie zog noch einmal kräftig an dem Gegenstand und barg schließlich eine rätselhafte Metallkassette aus dem Schutt. Staunend betrachtete sie sich das verrußte Fundstück und versuchte, den Deckel zu öffnen. Doch das ging nicht, denn die Kassette war verschlossen. Und einen Schlüssel konnte sie in den Trümmern nirgends entdecken. Sie hob die Kassette an und rüttelte sie heftig hin und her. Im Inneren klapperte irgendetwas. Mit einem herumliegenden Stein schlug sie schließlich auf das Schloss ein. Irgendwann gab es nach und der Kassettendeckel sprang auf. Was Anne dann erblickte konnte sie zunächst gar nicht glauben. Vor ihr glitzerte und funkelte es im matten Licht des Mondes und die Taube kam und setzte sich auf den offenstehenden Deckel. Unter einer Schmuckschatulle lagen mehrere Bündel Geldscheine. Es mussten wohl Tausende Dollar sein, die sie in ihren mit Ruß verklebten Händen hielt. Unter all dem Geld entdeckte sie außerdem noch mehrere Schriftstücke, es mussten irgendwelche Aktien sein. Doch so genau konnte sie es nicht erkennen. Schließlich flatterte ihr ein Brief vor die Füße. Sie nahm den Brief und öffnete ihn. Im schwachen Mondlicht konnte sie einige Zeilen entziffern – sie erkannte die Schrift – es war ein Brief ihres verstorbenen Mannes Jim. Die Taube erhob sich und flatterte noch einige Male um Annes Kopf bevor sie in der Dunkelheit verschwand. Anne schaute ihr noch lange hinterher. Und Fragen schossen ihr durch den Sinn: Hatte Jim damals all das viele Geld zurückgelegt? Und warum hatte er nie etwas gesagt? Sie nahm die Kassette an sich und lief zurück in die Notunterkunft zu Jason. Der lag in seiner Koje und schlief. Anne wusch sich erst einmal den Ruß von Gesicht und Händen. Dann setzte sie sich an den kleinen Tisch neben den Betten und las im Licht einer kleinen Nachttischlampe Jims Brief: „Liebe Anne. Wenn Du das liest, bin ich längst tot. Ich habe eine schwere Stoffwechselerkrankung und werde vermutlich bald sterben. Doch ich habe etwas zurückgelegt. Und ich habe Aktien gekauft. Und noch etwas – bitte nimm das Collier. Es gehörte einst meiner geliebten Mutter. Wenn Du mal so sehr in Not bist, dass Du nicht mehr weiterweißt, dann verkaufe es. Es soll aber nur Jason zugutekommen. Der Rest ist für Dich mein Schatz. Und nun, Adieu, ich liebe Dich. Jim.“ Die letzten Worte konnte Anne gar nicht mehr so richtig lesen, denn die Tränen liefen ihr in Strömen übers Gesicht. Doch sie hatte Angst, Jason könnte erwachen und sie weinen sehen. Sie musste ihre Tränen verbergen. Jason musste immer sicher sein, dass seine Mutter stark war und ihm helfen würde. Und so wischte sie sich auch dieses Mal die Tränen aus dem Gesicht und lächelte ihren kleinen Sohn an. Sie zog ihm die etwas verrutschte Decke wieder nach oben und gab ihm ein Küsschen auf die Stirn. Denn es war ja Weihnachten. Am nächsten Tag fuhr sie mit ihm in die Stadt, um den Schmuck schätzen zu lassen. Auch das Geld hatte sie gezählt. Es waren genau fünfzigtausend Dollar. Das Collier brachte sogar 150.000 Dollar ein, und sie legte das Geld für Jason an. Die Aktien lagen gut im Kurs und brachten noch einmal Hunderttausend. Die beiden konnte ihr Glück nicht fassen. Von dem Geld konnten sie sich ein neues kleines Häuschen kaufen und Jason war versorgt. Nur darum ging es Anne. Sie wollte ihren Sohn wieder lachen sehen. Und so langsam ging es aufwärts mit den beiden. Anne bekam wieder einen Job und Jason fehlte es an nichts. Welch ein Glück kehrte da in die kleine Familie zurück. Als Anne ein Jahr später mit Jason vorm Weihnachtsbaum saß, klopfte es plötzlich gegen die Scheiben. Die beiden wunderten sich, denn wer sollte um diese Uhrzeit schon noch kommen. Als Anne das Fenster öffnete, saß eine kleine Taube auf dem Fensterbrett und gurrte fröhlich vor sich hin. Und Anne streichelte sie, denn sie wusste längst, wer die kleine Taube war. Sie trug einen Ring um eines ihrer Füßchen. Es war der Ehering ihres verstorbenen Mannes Jim!

Der Turm

Die Millionärswitwe Agnes Miller wollte sich an jenem regnerischen Donnerstag auf den Weg zu ihrem Bankhaus begeben. Da sie nicht mehr sehr jung war, fühlte sie sich nicht sehr wohl. Doch das schien sie nicht zu stören. Denn noch am Morgen entließ sie auf telefonischem Wege einen ihrer Geschäftsführer, der ihr angeblich zu langsam arbeitete. Nachdem sie bereits die Hälfte ihres Bankhauses unter fadenscheinigen Gründen aus dem Hause gejagt hatte, musste sie nun endlich nach dem Rechten sehen. Und auch, wenn sie das überhaupt nicht wollte und bei diesem schlechten Wetter viel lieber in ihrem Schloss vor dem Kamin sitzen würde, trieb sie ihre Unruhe hinaus. Sie ließ sich von ihrem Diener Paul die lange schwarze Stretch-Limousine vor die Tür fahren und wartete nur noch auf den Schirm, den Paul über ihr stark geschminktes Haupt zu halten pflegte. Paul erschien und Agnes ließ sich stöhnend und vor sich hin schimpfend auf die weichen Lederpolster der Rückbank ihres Fahrzeuges fallen. Dann rief sie nur noch: „Worauf warten Sie noch? Wollen Sie hier herumstehen, bis ich tot aus dem Wagen falle?“, und Paul fuhr los. An diesem Tage jedoch schien sich alles gegen sie verschworen zu haben. Viele Straßen waren wegen Überschwemmungen gesperrt und Paul musste einen riesigen Umweg fahren. Leider verfuhr er sich derart, dass er den Wagen erst vor einem Waldstück, wo es nicht mehr weiter ging, zum Stehen brachte. Agnes schob das schwarze Gardinchen am Fenster beiseite und rief: „Seit wann befindet sich meine Bank im Wald?“ Paul wollte noch etwas zu seiner Rechtfertigung einwerfen und auf die Umleitungen hinweisen, doch Agnes rief wütend: „Was sagen Sie da? Sind Sie verrückt? Wollen Sie mich etwa entführen? Öffnen Sie den Wagen! Wenn Sie nicht fähig sind, die Bank zu finden, muss ich eben laufen! Und Sie tragen meine Laptoptasche! Na, los, ich bin nicht zum Schlafen hier!“ Paul sprang aus dem Wagen und öffnete die Tür. Agnes stieg stöhnend aus und Paul hielt den Schirm über sie. Augenrollend und schlecht gelaunt lief Agnes los, allerdings geradewegs in den Wald. Paul wagte nicht, etwas zu sagen, und Agnes hätte ihm vermutlich gehörig ihre Meinung gesagt. Sie liefen und liefen und schienen sich immer noch mehr zu verlaufen. Schließlich meinte Paul, dass er mal dringend müsste. Agnes fauchte ihn an, er sollte sich gefälligst beeilen. Und als Paul hinter den Bäumen verschwand, schaute sich Agnes ein wenig unsicher um. Noch nie war sie allein in einem Wald und noch niemals fühlte sie sich so schlecht wie an diesem kalten Nachmittag. Als Paul nach zehn Minuten noch immer nicht zurückkehrte, rief Agnes laut: „Paul, wo blieben Sie denn! Ich darf Sie daran erinnern, dass wir etwas vorhaben! Außerdem könnte ich Sie entlassen, wenn Sie streiken! Ich habe Ihnen schon tausendmal gesagt, dass es nicht mehr Gehalt gibt!“ Es kam jedoch keinerlei Antwort. Paul war nirgends zu sehen und die seltsame Stille, die nur vom Wind, der sich zwischen den Bäumen des Waldes verfing, unterbrochen wurde, ließen Agnes ängstlich werden. „Paul“, rief sie laut, „sind Sie noch da, Paul!“ Doch es kam keine Antwort. Agnes wusste nicht so genau, was sie tun sollte. Sollte sie in die entgegengesetzte Richtung laufen, um zum Wagen zurück zu kommen? Aber wo war die entgegengesetzte Richtung? Sie wusste ja nicht einmal, wo sie war, geschweige, wo sie hergekommen war. Sie verzog ihr Gesicht und lief los. Das Gebüsch wurde immer dichter und der Regen immer stärker. Es gab keinen Weg und Agnes musste sich durchs Unterholz kämpfen. Irgendwann war sie derart aus der Puste gekommen, dass sie sich auf einen Baumstumpf setzte, um zu verschnaufen. Das seltsame Knacken, welches aus allen Richtungen an ihre Ohren drang, war kaum noch auszuhalten. Als sie das Gebüsch vor sich ein wenig auseinanderdrückte, sah sie zwischen den hohen Bäumen des Waldes einen rätselhaften Turm. Er sah so merkwürdig aus, dass sie neugierig wurde. Doch sie fürchtete sich auch. Sollte sie dorthin gehen? Es half nichts, sie musste es wagen, denn sie fror und es wurde immer dunkler. Es brachte gar nichts, wenn sie in der Dunkelheit nach dem Wagen suchte. Außerdem würde sie an diesem Abend ganz sicher nicht mehr in die Bank kommen. Ein wenig nervös zog sie ihr Handy aus der Manteltasche. Und natürlich hatte sie kein Netz. Ärgerlich schob sie das Handy in die Manteltasche zurück. Als sie sich von dem kalten Baumstumpf erhob, spürte sie, wie ihr sämtliche Knochen und Gelenke schmerzten. Ihre Kleider hatten die Grenze ihrer Schutzfunktion, die Nässe abzuhalten, längst überschritten. Andauernd musste sie niesen und sie fühlte sich so richtig schlecht. Mühsam war der Weg durchs sperrige Unterholz. Doch plötzlich lichtete sich das Gebüsch und sie stand vor dem sonderbaren Turm. Er war ebenso hoch wie die umstehenden Tannen und besaß eine Kanzel ganz oben. Agnes ging zu der schmalen rostigen Metalltür. Sie ließ sich mühelos öffnen und im Inneren des winzigen Treppenhauses, führte eine rostige Wendeltreppe nach oben. „Auch das noch! Auch noch Treppensteigen! Die hatten wohl mal wieder kein Geld für einen Lift oder so was!“, rief Agnes laut und stieg die knackenden Stufen nach oben. Da sie kaum noch etwas erkennen konnte, holte sie ihre kleine Taschenlampe aus ihrer Aktentasche. Der Wind hatte sich unterdessen in einen heftigen Sturm verwandelt und erzeugte im Inneren des Turmes ein merkwürdiges Geräusch. Es pfiff und dröhnte und Agnes schaute sich ständig um, denn sie hatte das Gefühl, verfolgt zu werden. Vielleicht hätte sie die Tür nach einem Riegel untersuchen sollen? Als sie endlich oben war, staunte sie. Denn sie stand in einem kleinen Raum mit großen Fenstern, in dem kleine alte Holzstühle an einem winzigen Tisch standen. Darauf thronte ein uralter schmiedeeiserner