Fünf Leute - Alex Gfeller - E-Book

Fünf Leute E-Book

Alex Gfeller

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Meine 5 ersten Bücher in einem Band zusammengefasst

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Inhaltsverzeichnis

Marthe Locher

Paul

Zimmermann

Der Große Kurt

Harald Buser

Marthe Lochers Erzählungen

Du kannst hier anhalten, ja, hier. Wir brauchen nur um die Ecke zu gehen, dann sind wir schon bei mir. Es ist ein bisschen finster; jemand hat die Straßenlampe kaputtgeschlagen. Aber das ist schon lange so, und von der Stadt ist noch niemand gekommen, um sie zu reparieren. Es soll sowieso alles abgerissen werden, das ganze Haus hier, das ganze Quartier. Da brauchen sie nicht noch extra die Straßenlampe zu flicken. Alles ist baufällig; manchmal geht sogar der Strom aus, oder das Gas. Seitdem die Italiener und die Spanier weg sind, will hier niemand mehr wohnen. An den Häusern ist, glaube ich, seit dem Krieg nichts mehr gemacht worden. Du musst dich am Gerümpel im Treppenhaus nicht stören. Da wohnt noch eine alte Frau, die sammelt allerlei Zeug und stellt es nachher hier ab. Ich weiß nicht, wofür sie es braucht, sie hat es mir nie sagen wollen. Ich wohne ganz oben. Direkt unter dem Dach. Eigentlich hätte ich vorausgehen sollen, um etwas Ordnung zu machen. Ich habe schon eine Ewigkeit nicht mehr aufgeräumt bei mir. Manchmal packt es mich, dann putze ich die Wohnung in einem Atemzug. Darauf reicht es wieder für eine Weile. Ich habe eine Menge Krimskrams, der sich angesammelt hat. Da kommt man mit Ordnung machen nirgends hin. Das Plakat ist von einer Ausstellung von Dalí. Es hat mir damals sehr gefallen, weil es mich immer an meine eigenen komischen Träume erinnert hat. Aber jetzt gefällt es mir nicht mehr; ich habe fast Angst davor. Darum habe ich es außen an die Türe geheftet, zur Abschreckung.

Pass auf, wenn du eintrittst! Im Korridor habe ich Wäsche aufgehängt. Ich kann sie sonst nirgendwo aufhängen. Doch, ich könnte sie vor dem Fenster aufhängen, aber da hat es nicht viel Platz. Wenn ich viel Wäsche habe, muss ich sie hier im Korridor aufhängen. Ich kann sie draußen oder im Keller nicht mehr aufhängen, sonst stiehlt mir einer meine Unterhosen und Büstenhalter und sogar die Strümpfe. Einer, der daran Freude hat. Es hat eine Weile gedauert, bis ich es überhaupt gemerkt habe. Ich habe immerzu in den Schrank geguckt und gedacht: Ich habe doch mehr von dem Zeug? Wo ist das nur geblieben? Einmal sind mir sogar zwei Leintücher von der Leine geklaut worden, da habe ich endlich gemerkt, dass auch meine Unterwäsche so verschwindet.

Wenn ich abends spät nach Hause komme, bin ich immer viel zu müde, um noch etwas im Haushalt zu machen. Dann falle ich sogleich auf mein Bett und schlafe erst mal ein bis zwei Stunden, einfach so, wie ich nach Hause gekommen bin, in Kleidern und Schuhen. Dann wache ich auf, lege eine Platte auf und ziehe mich aus, gehe in die Küche und esse etwas, sitze herum und weiß nicht, was ich tun soll. Immer genau gleich. Zum Ausgehen bin ich zu müde oder habe kein Geld dafür, zum Putzen bin ich zu faul, dann lese ich vielleicht den Anzeiger der Stadt – ich lese den Anzeiger immer – und gehe dann einfach zu Bett. Doch dann kann ich manchmal nicht einschlafen. So stehe ich halt wieder auf, sitze herum, lese ein Buch, wenn ich eins habe, oder höre einfach nur Radio.

Natürlich ist es nicht immer so. Manchmal ist auch etwas los. Du kannst deine Jacke übrigens hier aufhängen, wenn du willst. Es ist zwar noch etwas frisch hier. Ich habe das Fenster offengelassen. Aber du hast ja eine Flasche Wein mitgebracht, die wird uns etwas wärmen. Willst du in der Küche bleiben, oder willst du in die Stube kommen? Ich sage Stube, das klingt so vornehm, dabei ist es nur das Zimmer für alles. Ich habe da leider keine Möbel; alles spielt sich am Boden ab. Aber du kannst mit den Kissen einen Sitz machen. Willst du Musik hören? Ich habe Platten von Bob Dylan. Magst du Bob Dylan? Früher habe ich ihn sehr gemocht. Ich kann alle seine Lieder auswendig. Aber jetzt habe ich ihn so oft gehört, dass ich ihn beinahe nicht mehr hören kann. Aber das sind lange Zeit meine einzigen Platten gewesen. Vor einer Woche habe ich eine von Georges Moustaki geklaut. Willst du die hören? Die ist schön! Siehst du, ich schlafe hier einfach auf einer Matratze mit einem Teppich darauf. Und dann noch diese Decke, das ist alles. Ich habe mich schon längst daran gewöhnt, auf dem Boden zu schlafen. Ich schlafe gerne so. Wenn ich in einem richtigen Bett liege, dann ist mir ganz unwohl. Kürzlich bin ich ins Hobby-Zentrum gegangen und habe mir ein Bett bauen wollen. Aber da habe ich gemerkt, dass mich nur das Holz allein teurer zu stehen käme als ein neues Bett aus der Möbelabteilung. Klar, wenn du das Bett selber baust, dann kannst du es ganz nach deinen Wünschen machen, aber trotzdem. Da habe ich verzichtet.

Die Musik von Moustaki ist schön, nicht wahr? Ich glaube, das ist ein griechischer Zigeuner, oder so ähnlich. Aber jetzt ist der natürlich reich, mit all dem Erfolg, das ist klar. Er wohnt in Paris. Dieses Kissen kommt auch aus Paris. Überhaupt, all das Zeug, das hier herum liegt, das hat sich mit der Zeit einfach angesammelt. Jedes Ding hat eine eigene Geschichte, meist eine schlechte. Ich sollte endlich einiges wegschmeißen, aber ich mag die Sachen. Ich kann einfach nichts wegschmeißen. Die Dinge gehören zu meinem Leben, verstehst du? Dabei ist fast alles wertloser Ramsch. Diese Kette ist von einem Musiker, der studiert Musik. Sagt er. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist. Vielleicht ist er durchgedreht. Viele drehen durch, heutzutage. Es ist eine Krankheit. Ich drehe manchmal auch fast durch, du nicht? Wenn man zum Arzt geht, deswegen, hört er gar nicht erst richtig hin, so oft hat er das schon gehört, verschreibt Valium. Einfach Valium für und gegen alles. Dann schluckt man das Zeug eine Weile und ist den ganzen Tag high. Erst wenn man keine mehr hat, könnte man sich aus dem Fenster stürzen. Ich habe mir oft überlegt, ob ich mich nicht einfach aus dem Fenster stürzen sollte. Eine Bekannte von mir wohnt in einem Hochhaus, im achten Stock, und, stell dir vor, es kommt vor, dass sie drinnen beim Essen sitzt, und es plötzlich draußen rauscht, ganz laut und heftig und schnell, und ein Schatten saust am Fenster vorbei. Dann weiß sie, dass sich wieder jemand hinuntergestürzt hat. Fremde Leute, selten jemand aus dem Haus. Die kommen einfach, und weil vor dem Haus eine Busstation ist, steigen sie da aus und nehmen gleich den Lift bis ins oberste Stockwerk, steigen auf die Dachterrasse und werfen sich hinunter. Jetzt haben sie wenigstens die Tür zur Dachterrasse verschlossen. Früher ist sie immer hinaus gerannt um nachzuschauen, und dann ist sie immer eine Woche oder vierzehn Tage lang verstört gewesen. Später hat sie sich daran gewöhnt. Doch jetzt ist sie weg. Nach Südamerika oder nach Australien, ich weiß nicht genau, mit einem Typen. Ohne Geld, ohne nichts. Einfach so. Hier hat es ihr vollkommen ausgehängt. Sie hat einfach weg sein wollen, ganz egal wo, nur nicht hier. Sie hat ihre Stelle aufgegeben, ihre ganzen Ersparnisse aufgebraucht, dann ist sie weg. Niemand weiß, wo sie ist, und, ehrlich gesagt, es nimmt auch niemanden wunder. Das ist die Gleichgültigkeit. Viele hauen einfach ab; das wundert mich nicht mehr. Auf der Einwohnerkontrolle haben sie die größte Sauordnung deswegen. Von an- und abmelden keine Spur mehr. Wenn du später etwas von den Leuten vernimmst, die einfach abgehauen sind, sind sie entweder tot, krank, in der Kiste oder in der Klapse. Das ist eigenartig; ich kenne niemanden, der ein normales Leben hat, weißt du, so wie man es von den Leuten erwartet. Alle sind irgendwie ausgeflippt. Vielleicht kenne ich die falschen Leute.

Geordnete Verhältnisse – wenn ich das schon höre! Ich weiß gar nicht mehr, was das ist. Vor ein paar Jahren – vor zwei, oder drei, glaub’ ich – da bin ich bei den Eltern in Frutigen zu Besuch gewesen. Mich hat beinahe der Schlag getroffen! Es ist dort alles genau so geblieben, wie ich es verlassen habe: Da bekümmerte Gesicht der Mutter. Sie serviert immer noch ihm Bahnhöfli. Das Gejammer des Vaters. Er ist mittlerweile pensioniert, arbeitet aber immer noch hie und da in der Sägerei. Ich habe mich überhaupt nicht mehr zurechtgefunden; ich habe mich wie ein englischer Tourist in Pension gefühlt. Und die gut gemeinte Fürsorge der Mutter: Ich habe das nicht mehr ertragen können. Ich bin bald wieder weg, ohne mit ihnen richtig gesprochen zu haben. Die können mit mir nichts mehr anfangen, und ich kann mit ihnen auch nichts mehr anfangen. Obwohl, wenn man bedenkt, wie die ein Leben zusammen geführt haben! Die haben es nie leicht gehabt. Mann, wenn ich vergleiche! Von allem Anfang an haben’s die verschissen gehabt! Gekrampft und nochmals gekrampft haben die, ohne Pause, ohne Unterlass, und haben zeitweise trotzdem fast nicht zu essen gehabt. So ist das gewesen, man glaubt es kaum. Und die Kinder dazu. Jedes Jahr eines. Und dann hat der Vater noch den Unfall gehabt, da ist es ihm doppelt dreckig ergangen. Was die haben ertragen müssen! Niemand hat ihnen geholfen, niemand. Immerhin haben sie das Haus vom Großvater her, immerhin das, da ist wenigstens diese Sorge weniger. Aber was für ein Haus! Einmal hat der Sturm das ganze Dach weggeweht; da hat der Vater einen ganzen Sommer lang immer am Sonntag das Dach flicken müssen. Niemand hat ihm dabei geholfen, und Geld hat er natürlich auch keines gehabt, um sich etwas machen zu lassen. Jetzt noch steht das Haus schief. Da hat er zu saufen angefangen und ist nach Feierabend immer besoffen nach Hause gekommen, und darauf haben sich die Alten geprügelt, und wir Kinder haben uns hinter dem Haus versteckt. So ist es verständlich, dass jedes Kind gleich als erstes abgehauen ist, sobald es aus der Schule gekommen ist. Die Buben sowieso. Für die Mädchen hat es ein bisschen schwieriger ausgesehen. Da hat die Mutter immer ein Theater gemacht.

Als ich sechzehn geworden bin, bin ich sofort weg, zuerst nach Thun. Dort habe ich eine Lehre angefangen, als Schneiderin. Aber das hat mir schön ausgehängt! So bin ich nach Bern gegangen. Mit nichts. Aber eigentlich bin ich nirgendwo zu Hause. Das ist ein Saugefühl. Die Alten, die haben ihr Haus, und die können wenigstens sagen: Da bin ich zu Hause. Aber ich? Du kannst doch nicht behaupten, dass man hier zu Hause sein kann? Schau dich mal um! Innerlich, meine ich, innerlich zu Hause sein, verstehst du? Innerlich fühlst du dich hier wie ein abgedroschenes Kornfeld.

Früher hat man noch eigenartige Illusionen gehabt. Da hat man sich eine Familie vorgestellt – oder irgendwie so. Ich weiß gar nicht recht, aber irgendwie hat man das Gefühl gehabt, man könne sich ständig verbessern, es gehe stetig aufwärts, einem bestimmten Ziel entgegen, das man vielleicht nicht einmal kennen muss, aber man hat immer etwas vor Augen gehabt, etwas Wichtiges, das es braucht, damit man anständig leben kann. So ein Gefühl ist das gewesen. Das fehlt jetzt. Mehr fehlen als fehlen kann es gar nicht. Du könntest zum Beispiel traurig darüber sein. Aber dann kommt das Stadium, wo du nicht einmal mehr traurig sein kannst. Du bist wie ein toter Fisch. Ich habe manchmal Träume von toten Fischen.

Man sagt oft, die Mädchen hätten in einem bestimmten Alter kitschige Träume, so clichéhafte Vorstellungen von einem trauten Glück, von einem schönen und erfolgreichen Mann, von einem Einfamilienhaus, von einem großen Auto und einer modernen Küche, von zwei herzigen Kindern, so wie man es in den Illustrierten vorgeführt bekommt, oder in den Fernsehfilmen, oder in der Reklame für Spülmittel, Brotaufstrich und Waschmaschinen. Aber ich glaube eigentlich nicht an sowas; ich habe nie an sowas gedacht. Vielleicht ist mein eigenes Zuhause zu rüde für mich gewesen; aber ich habe mir immer vorgestellt, dass ich mich einmal selber werde durchsetzen können, dass ich einmal eine selbstständige Person werde sein können. Ja, so etwas habe ich mir damals vorgestellt. Natürlich habe ich das damals nur fühlen, aber nicht ausdrücken können; ich habe ja nur eine minimale Schulbildung gehabt. Aber wenn ich es mir heute überlege, muss es etwa so gewesen sein. Ich habe mir zudem gar nicht überlegt, dass ich ein Mädchen bin, sonder ich habe gedacht, ich sei eine Person wie alle andern, irgendwie geschlechtslos, auf gleicher Stufe mit allen andern Personen. Das Geschlechtliche ist mir nicht wichtig gewesen. Aber ich habe mittlerweile gelernt, dass es nicht so ist und auch nicht so sein kann.

Warte, ich hole den Flaschenöffner und zwei Gläser. Bleib du nur sitzen! Du kannst die Platte wenden. Weißt du, wie man das Gerät bedient? Zuerst den Hebel da, ja.

Ich bin noch sehr jung gewesen, als ich nach Thun gekommen bin, und schön blöd dazu. Anders kann man es gar nicht sagen. Ich habe ein Inserat gelesen, im Anzeiger, die haben weibliche Hilfskräfte gesucht, weibliche Hilfskräfte, genau so hat es geheißen, und die würden angelernt. Angelernt. In einer Fabrik für Unterwäsche. Ich habe ja keine Ahnung gehabt! Da habe ich mich gemeldet und habe gesagt, ich möchte gerne eine Schneiderinnenlehre machen, weil mir die Mutter gesagt hat, ich müsse unbedingt eine Lehre machen, sonst werde ich nie etwas. Etwas werden, so hat es geheißen; man müsse etwas werden. Das hat mir eingeleuchtet, weil doch die Mutter, die nur sieben Jahre zur Schule gegangen ist, ihr Leben lang servieren musste. Du kannst dir ja vorstellen, was das für eine Arbeit ist. Dazu die Familie, die sechs Kinder! Einer anderen hätte es längst ausgehängt. Aber sie hat ja nichts anderes gekannt, hat auch nichts anderes gewusst. Für sie ist alles einfach gottgegeben. Oder so ähnlich. Schicksal halt. Der Vater ist immerhin ein wenig drausgekommen; am Anfang ist er ja fast der einzige Sozialdemokrat im Dorf, nein, im ganzen Tal gewesen. Aber der hat auch schnell gemerkt, wie das geht. Der hat plötzlich die Stelle verloren, und nirgendwo hat man ihn mehr nehmen wollen. Das geht bei uns nur so. Die Unternehmer haben ihm ins Gesicht gesagt, Politik gehe ihn nichts an, und solange er nicht aufhöre damit, werde er auch keine Stelle mehr finden, im ganzen Tal nicht.

Da hat ihn einer wieder aufgenommen, weil es fast nicht mehr anders gegangen ist mit der vielen Arbeit, mit den vielen Aufträgen im Holzbau, aber zu den widerlichsten Bedingungen, ich glaube als Tagelöhner, ja, genau. Als Tagelöhner hat er immer den letzten Dreck machen müssen, und immer haben sie ihm mit der Kündigung gedroht. Dann ist noch der Unfall hinzugekommen. Ein Balken hat ihm den Arm kaputtgeschlagen. Jetzt hat er einen lahmen Arm. Glaubst du, die hätten ihm etwas gegeben? Etwas bezahlt dafür? Nicht einmal die Spitalrechnung hat er bezahlen können, denn er ist nicht versichert gewesen. Die Gemeinde hat für ihn bezahlen müssen. Und das hat man ihm noch jahrelang auf der Straße vorgehalten. Da ist er halt versoffen geworden, verstehst du? Der Alkoholismus kommt nicht von nirgendwo und nirgendwas. Er hat sich aber später wieder davon lösen können. Jetzt, im Alter, ist er einfach vertrottelt. Er hört fast nichts mehr wegen dem Lärm in der Sägerei, das ihm das Gehör kaputt gemacht, und er ist auch nicht mehr ganz klar im Kopf. Zum Glück ist noch die Mutter da und kann immer noch arbeiten, wenn auch nur stundenweise. Im Service, wie immer. Zwar nicht mehr in den aufgemotzten Gaststätten, da haben sie jetzt lauter schicke Maderl aus Österreich, denen sie nur die Hälfte zu bezahlen brauchen, aber bei den Festen in den Festzelten. Das reicht gerade noch.

Ihre Kinder hat es natürlich nicht zu Hause gehalten. Eines nach dem andern ist verduftet. Ich weiß gar nicht mehr, wo sie jetzt alle sind und was sie machen. Einer fährt zur See, glaube ich, der andere ist gleich im Militär geblieben, in den mechanischen Werkstätten in Thun, die älteste Schwester ist in Basel mit einem Italiener verheiratet. Die jüngste macht, glaube ich, den Strich in Zürich, und von der anderen habe ich nichts mehr gehört. Ich weiß nicht einmal, wohin sie gegangen ist. Nicht einmal die Mutter weiß es.

Mich hat ja zu Hause auch nichts mehr zurückgehalten. Als ich nach Thun gegangen bin, habe ich gedacht: Jetzt beginnt dein eigenes Leben! Das ist mein schönster Gedanke gewesen. In der Fabrik haben sie mir gesagt, ich könne später eine Schneiderinnenlehre machen; aber zuerst müsse ich handlangern wie alle andern, hilfsarbeiten, weißt du, als Hilfsarbeiterin, zu zwei sechsundachtzig die Stunde. Da staunst du. Bei einem entfernten Onkel habe ich ein Zimmer gemietet. Dort habe ich fürs Essen und Schlafen hundertfünfzig bezahlen müssen, und da ist mir immer noch etwas übriggeblieben, mehr Geld übrigens, als ich jemals in meinem Leben gesehen habe. Damit habe ich lauter Schleckereien gekauft; ich habe damals Unmengen von dem Dreckszeug gegessen: Schokolade, Eiskrem, Kuchen, Torten, Kekse, dazu Süßgetränke in riesigen Mengen. Das ist wie zum Aufholen gewesen, irgendwie, und wie zum Ausgleich. Ich bin dann prompt dick geworden. Und erst darauf haben meine Brüste zu wachsen angefangen. Ich habe sie erst mit sechzehn bekommen. Auch die Periode. Als ich zum ersten Mal da unten geblutet habe, bin ich in Panik geraten, denn ich habe gedacht, ich müsse jetzt sterben. Ich habe nicht gewusst, was das ist; niemand hat es mir jemals erklärt. Ich bin schön erschrocken! Da bin ich endlich voller Scham zur Frau des Onkels gegangen und habe ihr das erzählt, und die hat mir eine Binde gereicht und gesagt, von nun an müsse ich sie selber kaufen, jeden Monat einmal. Das ist meine ganze Aufklärung gewesen.

Erst bei der Arbeit in der Fabrik, das heißt, in den Arbeitspausen, als ich unter den Kolleginnen etwas herumgefragt habe, hat man mir Bescheid gesagt. Du kannst dir aber nicht vorstellen, wie das dort geklungen hat. Mit allen dreckigen Witzen, die dazu gehören. Ich habe mich halb zu Tode geschämt dabei.

Die Arbeit ist das Elendeste gewesen, was du dir nur vorstellen kannst. Von morgens bis abends immer das gleiche. Jeder Schimpanse hätte das auch machen können. Jeder Roboter, kein Problem. Das hat überhaupt keine Anforderungen an irgendwen gestellt. Und das Ganze stundenlang. Nur zwei Pausen. Eine am Morgen, eine am Nachmittag. Da beginnst du, die Sekunden zu zählen. Einmal hat’s einen Streit wegen der Geschwindigkeit der Bänder gegeben. Ein paar Italienerinnen haben gesagt, sie schafften das Tempo nicht mehr. Und das ist tatsächlich so gewesen, das hat gestimmt, denn immer ist versucht worden, die Geschwindigkeit zu erhöhen. Da hat’s einen Riesenauflauf und ein lautes Geschrei gegeben. Die Bürolisten sind aus ihren Büros gerannt, und ich glaube, man hat sich in den Korridoren sogar geprügelt. Die ganze Fabrik ist geschlossen und alle sind auf die Straße gestellt worden. Wer ohne zu mucksen hat weiterarbeiten wollen, ist wieder hineingelassen worden, die anderen nicht. Das hat einen Riesenkrach gegeben. Damals habe ich von alledem natürlich überhaupt nichts begriffen. Ich habe ja nur arbeiten und etwas Geld verdienen wollen, sonst nichts. Und ich habe eine Lehre machen wollen. Das ist alles. Deshalb bin ich gleich wieder hinein gegangen, und diejenigen, die draußen geblieben sind, haben mir die heftigsten Schimpfwörter nachgerufen. Das hat mich gewaltig aufgeregt, und als der Abteilungsleiter ihnen zugerufen hat, sie sollten doch endlich abhauen, wenn es ihnen nicht passe, da habe ich gefunden, er habe ganz recht.

Da sind wir dann herumgesessen, ein paar wenige Streikbrecherinnen, in der leeren Halle, und haben natürlich nicht weiterarbeiten können, wegen dem ganzen Arbeitsablauf. Es haben ja mehr als die Hälfte der Frauen gefehlt. So haben wir uns einfach Mut gemacht, denn von draußen sind die Schimpfereien noch lange zu hören gewesen. Der Abteilungsleiter ist zu mir gekommen und hat mit mir geplaudert, als wären wir gute Bekannte, und hat natürlich auf die Italienerinnen geflucht. Das hat mich ganz schön stolz gemacht. Da hat er mich ins Kino eingeladen; am Abend sind wir hingegangen. Als es dunkel geworden ist, hat er mir ständig an die Brüste und zwischen die Beine gegriffen – das habe ich damals noch nie erlebt. Ich bin ganz starr vor Schreck gewesen und habe mir den Film natürlich nicht ansehen können. Er hat sich ständig herüber gebeugt und hat mich küssen wollen, hat mir mit seiner Zunge in den Mund fahren wollen. Das ist so eklig gewesen für mich, das kann ich gar nicht beschreiben. Ich habe mich richtig wehren müssen, mit Kraft. Wir haben einen etwa stündigen Ringkampf gegen einander geführt, alles ganz leise, alles ganz langsam, dass die Leute rings herum nichts davon haben merken können. Und als der Film endlich zu Ende gewesen ist, bin ich schnell hinaus und weg gelaufen, so dass er mich nicht mehr hat einholen können.

Das ist meine erste sexuelle Erfahrung gewesen. Darauf bin ich, glaube ich, aus lauter Schrecken die halbe Nacht herumgelaufen, in völliger Verwirrung. Ich habe unter Schock gestanden, habe die Arbeit, die Fabrik, den Streik, das Kino und den sexuellen Angriff nicht mehr richtig auseinanderhalten können, verstehst du? Die Verwirrung, verstehst du?

Am anderen Morgen ist in der Fabrik alles wieder beim Alten gewesen, denn die Italienerinnen sind alle wieder zurückgekehrt. Was hätten sie sonst tun sollen? Der Abteilungsleiter hat mich nicht mehr gekannt und hat genau wie vorher herumgebrüllt. Es ist wieder alles wie früher gewesen, als sei gar nichts geschehen. Ich bin damals völlig fertig gewesen; jedesmal, wenn ich von der Arbeit in mein Zimmer zurückgekommen bin, habe ich mich aufs Bett geworden und bis zum Abendessen geheult. Ich habe ja nichts von alledem verstanden; ich bin völlig überfordert gewesen. Es hat niemand mit mir gesprochen, niemand hat mir etwas erklärt, ich bin ja nur ein bescheidenes, etwas dickliches, sechzehnjähriges Mädchen vom Dorfe gewesen, sonst nichts, etwas dämlich, etwas langsam und etwas hinterwäldlerisch, zudem völlig unerfahren in allem und jedem. Ich habe keine Zusammenhänge erkennen können, und ich habe auch niemanden gekannt, dem oder der ich mich hätte anvertrauen können. Da ist einfach nichts gewesen, in Thun, keine Hilfe, kein Vertrauen.

Prost. Wo hast du diesen Wein her? Der ist gut! Es gibt Abende, da mag ich ein Glas Rotwein, wirklich, so wie heute. Eigentlich sollte ich nicht soviel schwätzen, aber manchmal tut es gut, wenn einem jemand zuhört. Warte, ich lege eine neue Platte auf. Diesmal nehme ich irgendeine. Sie wird dir schon gefallen; du bist ja nicht so heikel.

Nach einem Jahr in der Unterwäschefabrik hat man mir gesagt, dass ich jetzt mit der Schneiderinnenlehre beginnen könne. Aber da ist’s nicht mehr das Gleiche gewesen. Mein Lehrlingslohn wäre vollständig für Essen und Zimmer drauf gegangen. Zudem habe ich längst gelernt, diese Arbeit zu hassen. Ich habe mich umgesehen, und ich habe Bescheid gewusst. Ich bin nicht mehr neu und unerfahren gewesen, auch nicht mehr unwissend. Von Textilien habe ich genug gesehen. Die ausgelernten Schneiderinnen haben genau dieselbe Arbeit wie ich als nur Angelernte gemacht; da ist kein Unterschied auszumachen gewesen. Sie sind alle ganz schlecht bezahlt worden und haben überhaupt keine Vorteile gehabt, oder Vorteile, deren Tragweite ich nicht begriffen habe, wie zum Beispiel die Altersvorsorge und solche Sachen. Wie auch immer; auf alle Fälle habe ich ihnen gesagt, dass ich mir die Sache erst mal überlegen wolle, und so habe ich vorerst versucht, eine Entscheidung hinaus zu schieben. Ich weiß eigentlich noch heute nicht, ob ich die Lehre hätte beginnen sollen oder nicht. Der Onkel hat abschätzig gesagt: Für Mädchen ist das nicht so wichtig wie für Buben. Die Mädchen heiraten sowieso, und dann ist die ganze Mühe umsonst gewesen. Ich wäre besser dran, wenn ich als Hilfsarbeiterin weiter arbeiten würde wie bisher, dann hätte ich wenigstens einen richtigen Lohn. Das hat mir eingeleuchtet. Auf der anderen Seite hat mich die Sache trotzdem beunruhigt. Ich habe gefühlt, dass etwas schieflaufen würde, wenn ich keinen Beruf habe.

Mit einigen Arbeitskolleginnen, die ich im Verlaufe der Zeit näher kennen gelernt habe, bin ich an Samstagabenden tanzen gegangen. Da sind die Verwicklungen, die sich daraus automatisch ergeben haben, plötzlich wichtiger geworden als die Frage nach der Berufslehre. Da ist viel geschmust und geschäkert worden, und der Onkel ist wütend geworden, wenn ich nicht vor Mitternacht zu Hause gewesen bin. Er hat mit mir geschimpft, hat gedroht, mich hinaus zu werfen, und ich habe mich gefragt, was er eigentlich mit meinem Privatleben zu schaffen habe. Ich habe seine Einmischung nicht verstanden, so grob sie auch gewesen ist. Das hätte auch nicht viel geholfen, denn ich habe es inzwischen sehr gemocht, Freundinnen zu haben, mit denen ich stundenlang habe schwatzen können, umgeben von Buben, die sich deutlich für mich interessiert haben. Ich habe begonnen, auf meine Kleidung und auf mein ganzes Aussehen zu achten und habe mich geärgert und gegrämt, wenn ich einen Pickel im Gesicht gefunden habe, oder wenn sich meine Haare nicht in der gewünschten Form haben frisieren lassen. lauter solche Sachen. Ich habe angefangen, auf meine etwas üppigen Formen zu achten, habe Kosmetika gekauft und bin in der Folge auch wieder etwas schlanker geworden. Kleinigkeiten, auf die ich früher gar nicht geachtet hätte, sind plötzlich sehr wichtig geworden, und eigentlich hätte es für meinen Geschmack immer so weiter gehen können. Ich bin jemand geworden.

Trotzdem habe ich mit der Lehre angefangen. Widerwillig. Ich weiß nicht, warum. Ich habe die genau gleiche Arbeit gemacht, mit dem Unterschied, dass ich an einem Tag in der Woche die tödlich langweilige Schule habe besuchen müssen und nur noch ein Taschengeld als Entlöhnung erhalten habe. Das ist mir außerordentlich ungerecht erschienen. So habe ich begonnen, regelmäßig krank zu nehmen und zu schwänzen. Wohl ist mir dabei nicht gewesen, aber ich habe inzwischen die Fabrik derart gehasst, ihre graue Farbe, ihren typischen Geruch, ihren Lärm, aber auch die Arbeiterinnen, die Vorgesetzten, das Arbeitsklima, dass ich immer neue Ausreden gesucht habe, um fern bleiben zu können. Natürlich sind sie mir bald einmal auf die Schliche gekommen, spätestens dann, als ich, mit einer schweren Angina abgemeldet, von den Einkäufern im Strandbad gesehen worden bin. Das hat ein Theater gegeben! Alle haben mich angebrüllt, alle haben mich gewarnt. Ich bin ziemlich eingeschüchtert gewesen, aber gleichzeitig auch sehr wütend. Die haben alle von mir verlangt, dass ich arbeite, und ich habe nicht das geringste Interesse daran gehabt.

Als ich weiterhin einfach weggeblieben bin, haben sie allerlei Leute bei mir vorbei geschickt. Unter anderen ausgerechnet auch den Abteilungsleiter, der mir im Kino unten den Finger hat reinstecken wollen. Ausgerechnet. Der hat mir die Hölle heiß gemacht. Schließlich ist der Vater aus Frutigen nach Thun gekommen und hat mich verprügelt. Darauf bin ich zu einem Psychologen geschickt worden, der mir einzureden versucht hat, dass meine Arbeit als zukünftige Schneiderin äußerst schön und kreativ sei – ja, kreativ, hat der gesagt! Hat der eine Ahnung gehabt! Er hat in Wirklichkeit und Wahrheit einfach versucht, mich mit raffinierteren Mitteln als mein Vater zur ungeliebten Arbeit zurück zu zwingen. Da bin ich einfach endgültig weggeblieben. Ich bin nie mehr in die Fabrik gegangen.

Aber ich bin natürlich bald einmal am Ende gewesen. Als ich dem Onkel das Zimmer nicht mehr habe bezahlen können, hat er mich einfach nach Hause geschickt. Noch bevor ich den Koffer gepackt habe, ist das Zimmer schon dem nächsten Lehrling versprochen gewesen. Aber ich habe unter keinen Umständen nach Hause zurückkehren wollen. Die erste Nacht habe ich frierend im Wartesaal des Bahnhofs verbracht. Im Bahnhofrestaurant habe ich mit meinem letzten Geld, das ich eigentlich für die Rückfahrt gebraucht hätte, gefrühstückt.

Schenk mir noch etwas ein!

Wie ich also dort beim Frühstück gesessen bin, ist eine Arbeitskollegin vorbeigekommen, die auf dem Weg zur Arbeit in der Fabrik gewesen ist. Sie hat sich sofort zu mir gesetzt und gleich beschlossen, auch einfach krank zu nehmen. Erst haben wir zusammen gefrühstückt, dann hat sie von der Kabine aus in die Fabrik telefoniert, mit einem Taschentuch vor dem Mund, damit sie kränker klingt. Als sie zurückgekommen ist, haben wir erst mal lachen müssen. Wir haben uns unter die Bäume auf die Bänke gesetzt und zugeschaut, wie die Leute zur Arbeit gegangen sind, und ich habe mich plötzlich ganz wohl gefühlt, dass ich nicht mehr dazu gehört habe. Einige Zeit haben wir dort gesessen und Kirschen gegessen, die wir auf dem Markt gekauft haben, haben gelacht und gelärmt, dass sich die Passanten nach uns umgedreht haben. Darauf sind wir durch die ganze Altstadt spaziert. Das hat mir gefallen, weil ich mir wie eine Touristin vorgekommen bin. In einem Keller ist eine Bilderausstellung angekündigt gewesen. Ich bin noch nie in einer Ausstellung gewesen und habe nicht einmal gewusst, was eine Galerie ist, und meine Begleiterin hat darauf gedrängt, dass wir uns die Ausstellung ansähen. Da wir keinen Eintritt haben bezahlen müssen, sind wir hinein gegangen. Drinnen ist es schön sauber und hell gewesen, obwohl nur ein Keller, und die Bilder haben mir recht ordentlich gefallen, alles Berg- und Alpenlandschaften, aber auf eine eher eigenartige Weise gemalt, mit viel Gelb und Grün und Braun. Und in den leeren Flächen kleine Kritzeleien mit Bleistift, Farbstift, Filzstift und Kugelschreiber.

Da ist auch der Maler gewesen, der Mann, der diese großen Bilder gemalt hat, der Maler Zimmermann, so hat er geheißen, der ist ganz erstaunt gewesen, so früh am Morgen jemanden in seiner Ausstellung anzutreffen. Er hat hinter einer Mappe gesessen und hat uns zugeschaut. Deshalb haben wir uns zu ihm gesetzt, und er hat uns gefragt, ob uns die Bilder gefallen. Ich habe ihm gesagt, dass man sie erst ein wenig studieren müsse, bevor sie einem gefallen. Er hat uns gefragt, ob wie Gymnasiastinnen seien, und meine Freundin hat sofort ja gesagt, bevor ich etwas anderes habe sagen können. Dabei habe ich nicht einmal gewusst, was das ist. Sie hat ihm frech erklärt, wir hätten Ferien.

Der Maler Zimmermann hat von sich zu erzählen begonnen, von seiner Arbeit, von seinem Leben. Für mich ist das alles sehr aufregend gewesen, und ich habe mich am Gespräch beteiligt. Es hat so ausgesehen, als ob wir nur über belangloses Zeug sprächen, aber ich habe das damals sehr interessant und wichtig gefunden, worüber wir in dieser Ausstellung in diesem Kellerloch gesprochen haben, denn ich habe noch nie über die interessanten Dinge diskutiert, die der Maler Zimmermann dort unten angesprochen hat.

Schließlich habe ich begriffen, dass er uns zum Mittagessen eingeladen hat, und darüber bin ich recht froh gewesen. Bei ihm zu Hause – er hat am Rande der Stadt in einem alten, baufälligen Haus gewohnt – hat er uns sein Atelier und seine übrigen Bilder gezeigt. Wir haben die ganze Zeit angeregt geschwatzt miteinander, während er gekocht hat. Ich habe bis dahin noch nie einen Mann kochen sehen, das hat mich sehr beeindruckt, zudem hat er Ratatouille gekocht, etwas sehr Eigenartiges, von dem ich noch nie gehört habe. Zu Essen hat es Rotwein gegeben – an einem gewöhnlichen Werktag! Da habe ich gewusst, dass es sich beim Maler Zimmermann um einen außergewöhnlichen Mann handeln muss, weil alles, was er gesagt oder gemacht hat, neu für mich gewesen ist. Dazu hat meine Begleiterin andauernd von Gymnasium gesprochen, als ob sie dort verkehre, und sie hat mich in ihre völlig erfundenen und erlogenen Schilderungen mit einbezogen, als ob auch ich dazu gehöre.

Der Maler Zimmermann hat offenbar recht einsam gelebt; er ist mir etwas vertrottelt und vernachlässigt vorgekommen, auch hat er ziemlich viel Rotwein getrunken, lauter Dinge, die ich mir genau gemerkt habe. Aber er hat sich sehr gefreut, Besuch zu haben, und er hat es sichtlich genossen, dass jemand bei ihm zu Hause gewesen ist, wenn auch nur zwei junge Mädchen, die keine Ahnung vom Leben gehabt haben. Wir haben ihm gerne zugehört, denn alles, was er uns erzählt hat, ist für mich neu gewesen.

Der Nachmittag ist angebrochen, und er hat lachend gesagt: Heute nehme ich mir auch frei! Meine Begleiterin hat ihn keck aufgefordert, sie abzuzeichnen. Er hat ein wenig zögernd eingewilligt, hat einen Zeichenblock von ungewöhnlichen Ausmaßen und krumme Kohlestifte hervorgeholt, etwas, was ich bis dahin auch noch nie gesehen habe. Ich habe nicht gewusst, dass man mit Holzkohle zeichnen kann. Während er meine Begleiterin abgezeichnet hat, habe ich erst eine Weile zugeschaut, dann habe ich das fremde Haus durchstreift und habe es genossen, überall lauter neue Dinge zu entdecken, die ich noch nie gesehen habe, auch wenn es nur Ramsch gewesen ist. Überall hat er Bilder aufgehängt gehabt; einzig die Bilder von nackten Frauen haben mich ein wenig gestört.

Als ich ins Atelier zurückgekehrt bin, habe ich nicht schlecht gestaunt: Meine Begleiterin hat halb ausgezogen auf dem Podest gelegen, und der Maler Zimmermann hat sie so abgezeichnet. Er hat mir zugewinkt und mich aufgefordert, mich doch auch ausgezogen hinzulegen, damit er uns beide malen könne! Da habe ich es mit der Angst zu tun gekriegt, und während die andere nur verlegen gekichert hat, habe ich stotternd vorgegeben, ich müsse jetzt nach Hause gehen. Unvermittelt bin ich auf der Straße gestanden und habe aus lauter Ratlosigkeit geheult, wohl auch aus Unvernunft und Verlegenheit, denn bei diesem Maler hat es mir richtig gefallen. Doch der Traum ist auf einen Schlag ist zu Ende gewesen. Nach Hause! Ich habe doch gar nicht nach Hause gehen wollen, ich dumme Kuh! Wäre ich doch nur beim Maler geblieben! habe ich mir immerzu gesagt. Ich bin in die Stadt zurück geschlichen und habe mich wieder ins Bahnhofbuffet gesetzt, ohne etwas zu konsumieren, denn ich habe ja gar kein Geld mehr gehabt.

Daraufhin bin ich zu meinem Onkel zurück gegangen, der gleich mit mir zu schimpfen begonnen hat. Der Vater ist auch bald aufgetaucht und hat mich einfach wortlos verhauen. Dann sind wir zusammen nach Frutigen zurück. Ich habe die ganze Nacht geheult. Am nächsten Tag habe ich der Mutter im Garten geholfen. Wir haben stillschweigend den ganzen Tag gejätet. Niemand hat mit mir reden wollen; ich habe als Versagerin gegolten. Wie ist’s weiter gegangen?

Irgendwann mal ist der Fürsorger der Gemeinde zu uns gekommen. Der hat mich wieder zum Psychiater geschickt. Dieser hat mir empfohlen, die Lehre an einem andern Ort wieder aufzunehmen, zum Beispiel in einem Schneideratelier. Er hat mit tatsächlich eine neue Lehrstelle vermittelt, obschon das überhaupt nicht einfach gewesen ist. Ich bin sofort hingegangen und anständig behandelt worden. Die Leute dort sind freundlich und das Atelier ist klein gewesen; nur drei Leute haben dort gearbeitet, neben dem Meister. Ich habe sogar im Hause wohnen können; aber das Essen habe ich mir selber machen müssen. Ich habe mich von Schokolade und Coca-Cola ernährt.

Eines Tages habe ich den Maler Zimmermann besucht. Es ist Winter gewesen, und es ist ihm gesundheitlich schlecht gegangen. Er hat andauernd übel gehustet, hat sich aber an mich erinnern können. In seiner armseligen Küche haben wir Tee mit Rum getrunken. Von meiner damaligen Begleiterin hat er nichts mehr gewusst. Er ist überhaupt nicht sehr gesprächig gewesen, und zudem hat er Fieber gehabt. Er hat andauernd vom Abkratzen gesprochen, und ich habe versucht, ihn zu trösten, so gut es mir gelungen ist. Er ist ja nicht mehr der Jüngste gewesen, aber zum Sterben hat es mir noch ein bisschen früh geschienen. Ich habe ihm versprochen, am nächsten Tag wieder zu kommen und ihm etwas zu kochen, eine kräftige Suppe, oder sowas. Ich selber habe ja eine währschafte Mahlzeit auch vertragen können.

Eigentlich bin ich ja beruhigt gewesen, was die Eskapaden des Malers betroffen hat, habe das nicht mehr als so erschreckend empfunden, dass er uns damals nackt hat malen wollen. Ich habe verstanden, dass dies nun mal zur Kunst gehört – oder so ähnlich. Und auch der Schneidermeister ist bemüht gewesen, mir wirklich etwas beizubringen, mit aller Geduld. Das Leben hat sich für mich richtig normalisiert; ich habe mich sogar erstmals aufgehoben gefühlt. Nur die Schule habe ich nicht gemocht; ich habe sie als völlig langweilig und überflüssig empfunden. Die Arbeit, die ich im Atelier verrichtet habe, ist nicht besonders interessant gewesen; ich habe tagein tagaus Vorhänge nähen müssen, hunderte von Vorhängen, immer dieselben aus demselben Material. Bald einmal habe ich Vorhänge nicht mehr ansehen können. Aber der große Arbeitsdruck ist es nicht mehr gewesen, denn es hat kein Fließband mehr gegeben, das unablässig gelaufen ist, und die wenigen Leute, mit denen ich zusammen gearbeitet habe, sind einfach, freundlich und anständig gewesen. Ich habe mir also Mühe gegeben, die Arbeit recht zu machen.

Zurück zum Maler Zimmermann: Am nächsten Tag, einem Samstag, habe ich eine Menge frische Esswaren eingekauft – mein ganzes Taschengeld ist drauf gegangen. Ich habe Bohnen und Zwiebeln, Knoblauch und Kartoffeln, Speck, Würste und einen ganzen Rollschinken beschafft, aber auch Hustentee und Hustensirup. Damit bin ich am Sonntagmorgen zum Maler Zimmermann gegangen, der zwar immer noch gehustet hat; aber er hat sich eindeutig gefreut, mich wieder zu sehen. Wiederum haben wir erst Tee mit Rum getrunken, dann habe ich ihm eine Thermoskanne voll Hustentee zubereitet. Darauf habe ich mich gleich ans Kochen gemacht. Ich bin guter Laune gewesen und habe mich darauf gefreut, dem Maler Zimmermann helfen zu können, denn sonst sind meine Tage eher etwas langweilig gewesen, ganz besonders die Wochenenden. Diese Abwechslung hat mich richtig beschwingt. Es ist aber nicht das Gefühl von mütterlicher Fürsorge gewesen, das mich dabei erfasst und so glücklich gestimmt hat, und ich habe während des Kochens lange überlegt, was mich wohl so zufrieden hat werden lassen. Schließlich habe ich entschieden, dass es der Umstand sein müsse, erstmals aus eigenem Entschluss eine Initiative ergriffen zu haben, der mich so unbeschwert hat werden lassen. Ich bin mir zudem schon recht erwachsen vorgekommen, besonders deshalb, weil mich der Maler Zimmermann wie eine Erwachsene behandelt hat. Er hat zu meinen Kochkünsten nicht viel gesagt, hat mir aber vom Küchentisch aus aufmerksam zugeschaut, hat dazu seinen Hustentee getrunken und hat immer wieder die Art und Weise gelobt, wie ich die Speisen zubereitet habe, alles in allem ein deftiges Sonntagsessen, wie es bei uns in Frutigen üblich gewesen ist. Ich habe gespürt, dass er sich aufs Essen freut, und ich bin zudem stolz darauf gewesen, als ich gemerkt habe, wie selbständig ich über mich selber habe nachdenken können, und dies mit einer Distanz zu mir, die mich überrascht hat. Der Maler Zimmermann hat auch nicht versucht, sich näher mit mir einzulassen; dazu ist er einerseits zu krank gewesen, und anderseits hat er wohl auch Schiss gehabt, ich würde gleich wieder gehen, wie das erste Mal. Er hat ja mittlerweile gewusst, dass ich ein einfacher Lehrling bin und somit viel zu jung für ihn, der ja damals fast vierzig Jahre älter als ich gewesen ist.

Ich bin in seiner Küche ganz übermütig geworden, während das Essen im Topf gekocht hat. Wir haben ein Feuer in seinem alten Kamin gemacht, und ich habe ihn nass rasiert, so wie ich es bei meinem Vater abgeschaut habe, habe ihm sogar die Haare gewaschen und geschnitten, habe ihm ein sauberes Hemd angezogen, habe nicht einmal davor zurück geschreckt, ihm spöttisch den nackten Bauch zu tätscheln und dazu laut zu lachen, denn ich habe mich tatsächlich noch nie so fröhlich und ausgelassen gefühlt wie damals in dieser kleinen Küche. Was habe ich gelacht! Nie zuvor habe ich zudem überhaupt einen Mann angefasst – nicht einmal meinen Vater.

Wir haben solange gegessen, bis wir beide keinen Bissen mehr hinuntergebracht haben, so ausgehungert, wie wir gewesen sind. Das sonntägliche Mittagessen hat sich über den ganzen Nachmittag hingezogen. Wenn wir nicht mehr haben weiter essen können, haben wir eine Weile gewartet, haben uns Geschichten erzählt, haben Karten gespielt oder sind im ganzen Haus herumgelaufen. Dann haben wir weiter gegessen. Wir haben alles aufgegessen, das ganze Sonntagsessen für gut und gerne vier Personen. Darauf haben wir bis Mitternacht Domino gespielt, nachdem er mir das alte Spiel beigebracht hat. Er ist einfach am Tisch eingeschlafen, und ich bin zu müde gewesen, um nach Hause zu gehen. Ich habe eine Wolldecke genommen, habe noch einige dicke Scheiter ins Feuer geschoben und habe mich zuletzt einfach aufs alte Sofa in der Stube gelegt.

Obwohl ich noch nie zuvor an einem fremden Ort übernachtet habe, habe ich wie ein Stein geschlafen und bin erst aufgewacht, als mich die Morgenkälte geweckt hat. Zimmermann ist nicht mehr am Tisch gewesen; offenbar ist er mitten in der Nacht aufgewacht und ins Bett gegangen. Ich habe mich in der Küche über dem Berg von schmutzigem Geschirr gewaschen, so gut es eben gegangen ist, und daraufhin bin ich mit dem Bus zur Arbeit gefahren.

Weißt du, dies alles hat mich stark verändert, hat mich innerlich mehr verändert, als man sich jemals vorstellen kann, ich weiß nicht recht wie, aber ich habe mich danach ganz anders gefühlt, etwa so, als sei ich jemand anderes geworden. Ich habe mit dem Kollegen im Schneideratelier viel vernünftiger sprechen können, viel ruhiger und gelassener, ohne die Ängste von vorher, ohne die Scheu und die Verlegenheiten; ich bin nicht mehr die junge Ziege gewesen, die sich vor allem fürchtet. Ich habe die Leute und ihre Situation besser verstanden, habe gewusst, was sie meinen, wenn sie etwas erklärt haben, ohne immer gleich zu glauben, sie hätten es auf mich abgesehen. Dem Meister ist es egal gewesen, wo ich schlafe, für ihn hat einzig gezählt, dass ich pünktlich zur Arbeit erscheine.

So habe ich den Maler Zimmermann, der sich langsam von seiner hartnäckigen Winterkrankheit erholt hat, regelmäßig besucht. Er ist es nun gewesen, der einkaufen gegangen ist, und wir haben regelmäßig zusammen gekocht. Wenn ich jeweils abends spät nach Hause gekommen bin, in das elende Zimmer mit dem französischen Bidet – ja, ein richtiges Bidet hat darin gestanden, und ich habe gar nicht gewusst, wozu das gut ist; ich habe einfach hinein gepisst – dann habe ich mich gefragt, ob ich nicht einfach zum Maler ziehen sollte. Ich habe ihn gefragt, und er hat zugestimmt, ganz einfach. Er hat wirklich nicht viel Geld zur Verfügung gehabt, aber zusammen mit meinem hat es fürs Essen ausgereicht, und er hat nichts fürs Wohnen verlangt. Ich bin also bei ihm eingezogen, mit nichts als einer Tasche voller Wäsche und Kleider, und ich habe niemandem davon erzählt. Der Schneidermeister hat es anfänglich gar nicht wahrgenommen, und als er gemerkt hat, dass ich nicht mehr in seinem Hause wohne, hat er nichts gesagt. Ihm ist es, wie schon gesagt, egal gewesen, was ich privat treibe. Er ist zufrieden mit meiner Arbeit gewesen, und einzig das hat bei ihm gezählt.

Ich habe von nun an beim Maler Zimmermann auf dem Sofa in der Stube geschlafen. Er hat am Morgen eingekauft, hat am Nachmittag seine Bilder gemalt, und am Abend haben wir zusammen gekocht und gegessen. Das hat bis weit in den Frühling hinein so gedauert, friedlich und unkompliziert. Schenk mir noch ein.

Im Frühling ist der Maler Zimmermann wieder aktiv geworden. Er hat tagelang in den Bergen verweilt, hat gemalt und skizziert, hat seine neue Bilderserie geplant und ist ganz aufgeräumt gewesen. An den Wochenenden habe ich begonnen, systematisch sein Haus zu putzen, habe all den Mist und Krempel in den Schopf gestellt und habe die alten Möbel mit Ölfarbe bunt angemalt. Der Zimmermann ist begeistert gewesen. Er hat sofort töpfeweise weiße Farbe gekauft und das ganze Haus innen neu gestrichen. Nur außen herum ist sein Haus hässlich geblieben, aber das hat ihn nicht gestört – nur die Nachbarn. Im kleinen Garten haben wir den Anfall haufenweise verbrannt; das ganze Haus, den ganzen Schopf haben wir geräumt. Der Zimmermann hat sich ob allem Aufräumen richtig begeistern können; vive la civilisation! hat er auf Französisch ausgerufen, denn er hat es punkto Zivilisation mehr mit den Franzosen gehalten.

Eines schönen Morgens hat uns der Meister zusammen gerufen und uns unter Tränen erklärt, dass er keine Arbeit mehr für uns habe und den Betrieb schließen müsse. Alle sind schockiert und wütend gewesen. Ich habe sie nicht recht begriffen, denn der Meister hat ja getan, was er hat tun können. Deshalb hat mich die Nachricht nicht sonderlich erschreckt, auch weil ich die Konsequenzen für mich nicht verstanden habe. Ich hätte zwar in einem anderen Betrieb mit meiner Lehre weiterfahren können, aber das wäre in Bulle, also im Welschland gewesen, und dorthin habe ich nicht ziehen mögen. So bin ich gar nicht erst hin gegangen.

Vom Augenblick an, da ich keine Arbeit mehr gehabt habe, habe ich dem Maler Zimmermann gesagt: Ich bleibe bei dir. Vorläufig. So kann ich in aller Ruhe weiter sehen. Ihm ist das natürlich recht gewesen, denn ich habe für ihn eine Haushaltshilfe dargestellt, die nichts gekostet hat, und zudem ist er froh gewesen, dass noch jemand im Hause gelebt und zu ihm geschaut hat, denn er hat von morgens bis abends gemalt. Oft haben ihn alte Freunde besucht, haben mit ihm stundenlang geschwatzt und diskutiert, dazu ist auch tüchtig getrunken worden, und ich bin immer wie selbstverständlich dabei gewesen. Das hat mir gefallen. Keiner von den vielen Besuchern hat sich über mich aufgehalten, im Gegenteil, man wendete sich auch ganz selbstverständlich an mich und fragte mich nach meiner Meinung zu den verschiedensten Themen. Oft bin ich überfragt gewesen, doch der Maler Zimmermann hat sich meine Verlegenheiten gemerkt und mir nachträglich viel erklärt. Dabei ist es vorwiegend um Kunst gegangen; das ist ein schier endloses Thema gewesen. Aber auch um Geschichte und Politik; davon habe ich überhaupt nichts gewusst. Ich habe die unglaublichsten Sachen gehört. Neben seinen Malerfreunden sind oft auch bessere Leute aus Bern oder Basel oder von sonstwo auf Besuch gekommen; die haben sich aber jeweils mehr für seine Bilder als für seinen Rotwein interessiert.

Eine größere Ausstellung als üblich ist geplant worden, Zimmermann ist ganz aus dem Häuschen gewesen. Eine Retrospektive und ein Katalog, das hat ihn ganz aufgeregt werden lassen. Er hat nicht mehr aufhören können mit Malen; um fünf ist er aufgestanden und hat bis abends um zehn gemalt. An einem Stück. Und ich habe geschaut, dass er dabei nicht zusammenklappt, habe gekocht und gewaschen, habe ihn umsorgt und gefüttert und habe geholfen, wo ich haben helfen können. Wenn er am Abend fertig geworden ist, ist er wie tot ins Bett gefallen. Aber er ist guter Dinge gewesen; die Ausstellung hat ihn richtig beflügelt. Ich selber habe es nach der großen Säuberung nicht mehr so streng gehabt; ich habe mich gefreut für ihn, habe an seiner Arbeit Anteil genommen, denn er hat es gern gehabt, in meiner Gegenwart zu malen. Er fühle sich dann nicht mehr so allein beim Malen, hat er gesagt. Dazu hat er in einem fort geschwatzt und hat laufend aus seinem Leben berichtet, oder er hat mir Dinge erzählt, die mit seiner Arbeit zusammenhängen, mit der Kunst überhaupt, mit dem Kunsthandel oder was immer ein Thema für ihn hat sein können. Das ist wohl meine beste Schule gewesen. So viel wie damals habe ich vorher und nachher nie mehr gelernt. Er hat von der jüngsten Geschichte erzählt, vom Ersten und vom Zweiten Weltkrieg, vom Kolonialismus, vom Imperialismus, aber auch von der Kunstgeschichte, vom Impressionismus und vom Expressionismus, vom Kubismus und von der Auflösung der traditionellen Sehweise, von Renoir, Miró, Braque, Manet, Mondrian und wie sie alle heißen, aber auch von Brecht und Kafka und all denen. Dies alles ist sehr neu und interessant gewesen, ein Gemisch aus Malerei, Literatur und Politik. Das hat für den Maler Zimmermann alles sehr nahe beieinander gelegen.

So ist der ganze Sommer vorbei gegangen. Im Herbst ist endlich die Ausstellung gekommen. Das ist vielleicht eine Aufregung gewesen! Sie hat in Bern stattgefunden, in mehreren großen Sälen. Eine Menge Leute sind gekommen, und alle sind des Lobes voll gewesen, wie man sagt. Viele Leute sind darunter gewesen, die ihm das Blaue vom Himmel versprochen haben, und zu guter Letzt hat man auch noch getanzt und getrunken. Jemand hat uns mitten in der Nacht nach Thun zurückgebracht, weil der Maler Zimmermann nicht mehr hat Auto fahren können, und als wie alleine gewesen sind, habe ich ihn ins Schlafzimmer gebracht, damit er sich endlich ausziehen und hinlegen könne. Dabei hat er etwas durcheinandergebracht, denn er hat versucht, mich auszuziehen. Ich bin prompt in Panik geraten, doch der besoffene Zimmermann hat nichts davon gemerkt. Er hat schon seinen dicken Schwanz in der Hand gehabt und nur noch auf meinen Schoß gestiert. Ich habe ihm mit weinerlicher Stimme gesagt, dass ich nicht schwanger werden wolle, doch er hat mich festgehalten, hat sich auf mich gelegt und ist in mich eingedrungen; er hat mich ganz einfach vergewaltigt. Es hat weh getan, aber es ist zum Glück schnell vorbei gewesen. Er ist auf mir eingeschlafen.

Ich habe ihn weggerollt, bin in die Küche gelaufen und habe versucht, die Scheide mit Wasser und Seife auszuwaschen, so gut es eben gegangen ist, habe daraufhin bis zum Morgengrauen schwarzen Kaffee getrunken und mehrere Male in den Spültrog gekotzt. Als er gegen Mittag herunter gekommen ist, habe ich ihn keines Blickes gewürdigt und bin überzeugt gewesen, schwanger zu sein. Ich hätte ihn in dem Moment erstechen können. Er hat murmelnd begonnen, die vielen schmutzigen Gläser vom Vorabend zu waschen und hat darauf sein Atelier aufgeräumt, ohne ein Wort zu sagen, während ich wie ausgeleert da gesessen und in alten Illustrierten geblättert habe. Einmal hat er mich ansprechen wollen, da habe ich einfach weggeschaut. Ich bin sehr wütend gewesen. Aufgebracht wie noch nie zuvor. Ich habe mich aufgerafft und bin weg gegangen, bin den ganzen Tag lang in der Stadt herumgeirrt. Wo sollte ich hin? Ich bin knapp achtzehn gewesen und zum ersten Mal durchgevögelt worden. Es ist nicht zum Lachen gewesen, doch komischerweise ist mir auch nicht ums Weinen zumute gewesen.

Gegen Abend bin ich zum Maler Zimmermann zurückgekehrt, weil ich Hunger bekommen habe. Ich habe viel von dem gegessen, was er beiläufig zubereitet hat, aber ich habe kein Wort zu ihm gesagt, obwohl er mehrmals versucht hat, mich anzusprechen. Schließlich hat er sich resigniert in sein Schlafzimmer zurückgezogen.

Ich bin in eine richtige Todesstimmung geraten, habe mich allein und verlassen gefühlt und niemandem mehr getraut. Die Periode hat prompt auf sich warten lassen und hat mich im Glauben bestärkt, jetzt ein geschändetes und alleine gelassenes Mädchen zu sein. Schon habe ich mich von allen Leuten, die ich nicht gemocht habe, gedemütigt gesehen: vom Vater, vom Fürsorger, vom Pfarrer, vom Psychologen, vom Doktor und vielleicht sogar von der Polizei. Ich habe überall Arbeit gesucht, während ich nur noch spät abends zum Maler Zimmermann zurückgekehrt bin, um ihn nicht sehen zu müssen. Aber in Thun hat sich nichts gefunden; niemand hat ein junges, verstörtes Mädchen ohne jede Ausbildung einstellen wollen. So habe ich tagsüber in Bern die Ausstellung gehütet und die Tageszeitungen nach einem Stellenangebot durchgesehen. Auch die wieder einsetzende Periode hat mich nicht mehr von meiner ganzen Trübseligkeit befreien können. Ich habe zu rauchen begonnen und habe bald wie eine alte Dampflokomotive gequalmt.

Hat’s noch Roten? Schenk mir bitte ein. Vergiss auch dein Glas nicht.

Zwei junge Kerle, wohl Gymnasiasten, sind in die Ausstellung gekommen und haben mit mir angebändelt. Sie haben mich zu Segeln eingeladen, und ich bin gleich mit ihnen weg gegangen. Auf dem Murtensee haben sie oder ihre Eltern eine kleine Jolle besessen, und damit sind wir bis zum Einnachten auf dem kleinen See herumgesegelt. Das Segeln hat mir gefallen und es hat mich gefreut, wie sich die beidem um mich bemüht haben, obschon ich ihnen den ganzen Nachmittag lang eher die kalte Schulter gezeigt habe. Sie sind nicht so gewandt im Umgang mit Mädchen gewesen, und ich habe sie ziemlich kindisch gefunden. Sie haben die ganze Zeit nur dummes Zeug geschwatzt und gekichert wie Backfische. Im kleinen Zelt des einen, das er versteckt in einem Wäldchen aufgestellt hat, habe ich ziemlich lange geschlafen, während die beiden Buben die Nacht im Zelt des andern verbracht haben.

Am nächsten Morgen bin ich nach Thun zurückgekehrt und habe dem Maler Zimmermann erklärt, dass ich nicht mehr bei ihm wohnen wolle. Er hat keine Miene verzogen. Ich habe meine Tasche gepackt, und so, wie ich gekommen bin, bin ich auch wieder verschwunden: ohne Geld, ohne eine Spur zu hinterlassen und ohne Reue. Mein Onkel ist nicht zu Hause gewesen, und die Tante hat mir Geld für die Bahn geliehen. Aber statt nach Frutigen zu fahren, habe ich den Zug nach Bern genommen. Dort habe ich bislang zwar einige Tage in der Ausstellung verbracht, doch ansonsten habe ich von Bern nichts gewusst und nichts gekannt; insbesondere habe ich niemanden gekannt, weder gut, noch flüchtig. Bern ist für mich einfach eine unbekannte Stadt gewesen. Ich bin in der Altstadt durch die Lauben geschlendert und habe in einem Warenhaus Schokolade und Biskuits geklaut, weil ich Hunger bekommen habe. Ich habe eher zufällig die Galerien durchstreift; immerhin habe ich bereits gewusst, was für eine Art von Leuten dort anzutreffen ist. Ich habe diese Leute immer als angenehm empfunden.

In einer dieser Galerien bin ich auf eine Frau gestoßen, die an Zimmermanns Vernissage gewesen ist und die mich deshalb allein vom Sehen gekannt hat. Sie hat ganz offen und arglos mit mir geplaudert, so dass ich schnell Zutrauen zu ihr gefasst habe, und deshalb habe ich ihr die ganze Geschichte erzählt. Sie hat mich in ein Café eingeladen, und dort hat sie sogar den Anzeiger durchgesehen, um eventuell eine Arbeit für mich zu finden. Insgeheim habe ich gehofft, bei ihr übernachten zu können, doch vorerst hat sie nichts davon wissen wollen. Noch am selben Tag meldete ich mich an drei verschiedenen Stellen, wo leichte Arbeit angeboten worden ist, doch Bescheid habe ich noch keinen erhalten.

Ich bin verärgert gewesen, dass es nicht sofort geklappt hat, denn ich habe alles gleich gelöst haben wollen, und es hat mir nicht gepasst, dass man mir gegenüber an allen drei Orten, wo ich mich gemeldet habe, vorerst nur vage Andeutungen gemacht hat. Aber die Frau, die mich auf die Stellenangebote hingewiesen hat, hat mich fürs Erste am Hals gehabt und hat mich wohl oder übel mit nach Hause nehmen müssen, auch wenn es nicht den Anschein gemacht hat, als hätte ich mich ihr aufgedrängt. Ich bin jetzt gerade in die richtige Stimmung gekommen, die gutmütigen Leute auszunützen.

Bei ihr zu Hause in ihrer kleinen Wohnung hat ein Mann breit am Tisch gesessen und die Zeitung gelesen. Sie hat ihn mir als ihrem Freund vorgestellt. Er hat allerdings ziemlich ungepflegt ausgesehen und deshalb nicht so recht in ihre saubere und aufgeräumte Wohnung passen wollen, doch der Freund hat sich offensichtlich sehr wohl gefühlt bei ihr. Sie ist gleich in die Küche geeilt und hat ihm das Abendessen zubereitet, während er ihr ungeduldig seinen Hunger verkündet hat. Inzwischen hat er die Zeitung durchgeblättert und dazu andauernd über irgendwelche Leute geschimpft, die offenbar seine Arbeit nicht richtig geschätzt haben.

Nach dem Abendessen sind die beiden zusammen ins Schlafzimmer verschwunden, während ich liebenswürdigerweise das fremde Geschirr gespült habe, und ich habe kurz das Bett knarren hören. Darauf ist sie, in eine Bettdecke gewickelt, wieder heraus gekommen und hat sich entschuldigt, dass sie keine Zeit für mich habe. Sie hat für mich eine Decke hervorgesucht und mich angewiesen, selber außerhalb ihres Schlafzimmers einen geeigneten Platz zum Schlafen zu suchen. So habe ich dort unter dem Stubentisch auf dem Teppich geschlafen, ohne mich auszuziehen.

Als ich anderntags erwacht bin, ist niemand mehr da gewesen. Ich habe mir in aller Ruhe einen Kaffee zubereitet und habe den Anzeiger, den ich auf der Treppe gefunden habe, von vorne bis hinten durchgelesen. Ich hätte servieren gehen können, wie meine Mutter, aber genau das habe ich unter keinen Umständen machen wollen. Diesbezüglich bin ich einfach zu empfindlich gewesen: Servieren, das wäre nicht gegangen. So habe ich mich wieder in einem kleinen Textilbetrieb gemeldet und bin zu meinem Erstaunen sofort angestellt worden. Der Lohn in Bern ist etwas besser gewesen als der in Thun, und deshalb habe ich sofort eingewilligt.

Als ich zurückgekommen bin, ist die Frau, die mich gestern beherbergt hat, wieder zu Hause gewesen. Ich habe ihr von meiner neuen Arbeit erzählt, und sie ist ziemlich erleichtert gewesen, mehr erleichtert als ich selber. Wahrscheinlich hat sie sich mit ihrer spontanen Gastfreundschaft etwas übernommen. Wie haben zusammen Tee getrunken und über belanglose Dinge geschwatzt, doch ich habe schnell gemerkt, dass sie gerne mehr mit mir gesprochen hätte; es hat so ausgesehen, als ob sie froh darüber gewesen sei, jemanden gefunden zu haben, mit der sie hat reden können. Darum habe ich sie gefragt, was denn ihr Freund so mache. Auf diese Frage hin hat sie etwa eine halbe Stunde lang geheult. Er mache lauter dummes Zeug, hat sie geschluchzt, nichts als dummes Zeug. Aber als ich ihr daraufhin vorschlug, sie solle ihn doch gleich fortjagen, hat sie sich plötzlich beleidigt gezeigt und die Nase gerümpft. Auf einmal hat es so ausgesehen, als sei ihr Freund etwas zwischen Omar Sharif und John Wayne. Ich habe sie sogar beschwichtigen müssen, indem ich ihr erklärt habe, ich hätte das nur so gesagt, aber nicht so gemeint, denn ich könne ja nicht alles wissen.

Nun ist sie beruhigt gewesen – oder es hat zumindest so ausgesehen. Jetzt ist plötzlich alles anders gewesen. Erst hat sie ja allein der Gedanke an ihren Freund zum lauten Heulen gebracht, aber jetzt hat sie nur noch Liebes, Schönes, Gutes und Nettes über ihn erzählt. Ich habe aber trotzdem nicht herausgefunden, was er denn wirklich macht, ich habe nur begriffen, dass er genug Geld hat ohne zu arbeiten. Ich habe mir aber heimlich gedacht: Wie blöd müssen Frauen sein, wenn sie sich solchen Typen an den Hals werfen? Er lässt sich von ihr bedienen, und dafür behandelt er sich auch noch schlecht. Sie kocht für ihn, sie wäscht für ihn, bezahlt die Miete und den Strom und lässt sich von ihm vögeln – ohne jede Gegenleistung. Er ist einfach ihr Freund, und diese Zauberposition scheint alles aufzuwiegen. Der Freund sagt dies, der Freund sagt das, der Freund macht dies, der Freund macht das, der Freund will dies, der Freund will das, und das hat ihr gereicht. Ihr ganzes Leben hat nur aus Freund bestanden; sie ist nur für den Freund da gewesen. Das hat ihr offenbar genügt, aber ich habe das nicht begriffen.

Und wieder ist er am Abend nach Hause gekommen, hat mir kurz zugenickt, hat sein Essen verlangt, hat in der Zeitung geblättert, hat anschließend ein frisches Hemd haben wollen, ein besonderes, eines mit hohem Kragen, hat sich noch schnell die Schuhe putzen lassen und ist dann wieder verschwunden. Offenbar hat er an diesem Abend etwas Wichtiges vorgehabt. Sie ist pausenlos für ihn herumgerannt, und als er gegangen ist, hätte ich auch noch bestätigen sollen, dass ihr Freund wirklich jemand Außergewöhnliches sei. Darauf ist sie todmüde zu Bett gegangen, und ich habe mich wieder unter dem Stubentisch in die Decke gewickelt.

Am anderen Morgen ist er zu Hause und sie weg gewesen; ich bin beim Kaffee gesessen, als er hereingekommen ist, völlig verschlafen und stinkend. Er hat sich zu mir gesetzt und mir den Hintern getätschelt, und als ich seinen schaurigen Atem gerochen habe, bin ich aufgestanden, habe meine Tasche aufgenommen, habe auf Wiedersehen gesagt und bin verschwunden. Die Frau hat mir angedeutet, dass ich ja jederzeit in die Jugendherberge gehe könne, ein Wink, den ich jetzt gerne befolgt habe, und sei es nur, um dem stinkenden Typen ausweichen zu können. Aber auch für die Frau muss es eine Erleichterung gewesen sein, mich los geworden zu sein. Von der Jugendherberge aus habe ich mir, so habe ich mit vorgenommen, eine dauerhafte Bleibe in Bern suchen wollen, ein möbliertes Zimmer oder eine billige Mansarde, was immer sich anbietet. Das Problem ist vorerst hauptsächlich das Essen gewesen; ich habe ja noch kein Geld gehabt.