Gefangene des Feuers - Linda Howard - E-Book

Gefangene des Feuers E-Book

Linda Howard

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Beschreibung

Die Waffe zielt auf ihr Herz. Und plötzlich ist Annie in der Gewalt eines Fremden - eines Mörders? Die junge Ärztin muss tun, was er von ihr verlangt: Seine Schusswunde versorgen und ihn dann begleiten, tief in die unbesiedelte Wildnis von Arizona. Wo sie erkennt: Nicht nur Rafe McCays Körper ist schwer verletzt, sondern auch seine Seele! Seit ihm ein Mord angelastet wird, ist er ist auf der Flucht. Soll Annie ihm glauben, dass eine Intrige ihn in diese verzweifelte Lage gebracht hat? Soll sie auf ihr Gefühl hören? Ja, sagt ihr Herz - das sie in die Arme des Desperados treibt. Und Nein, sagt ihr Verstand. Denn solange der Mörder nicht gefunden ist, hat ihre heiße Leidenschaft keine Zukunft.

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Seitenzahl: 498

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Linda Howard

Gefangene des Feuers

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Rita Koppers

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Jürgen Welte

Copyright dieser Ausgabe © 2019 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Touch of Fire

Copyright © 1992 by Linda Howington

erschienen bei: Pocket Books,

a division of Simon & Schuster Inc., New York

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Stefanie Kruschandl

Titelabbildung: Corbis GmbH, Düsseldorf; Thinkstock/Getty Images, München

ISBN eBook 9783745751680

www.harpercollins.de Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

1. KAPITEL

Arizona, 1871

Fast den ganzen Tag schon war jemand hinter ihm her. Das verräterische Licht in der Ferne hatte nur für einen Sekundenbruchteil aufgeblitzt. Aber das hatte gereicht, um ihn wachsam zu machen. Vielleicht war ein Sonnenstrahl auf eine Gürtelschnalle gefallen oder auf einen schimmernden Sporn. Aber wer auch immer da draußen sein mochte: Er war ein bisschen zu unvorsichtig, um das Überraschungsmoment jetzt noch auf seiner Seite zu haben.

Doch Rafe McCay verfiel nicht in Panik. Er ritt in aller Seelenruhe weiter, als hätte er kein bestimmtes Ziel und alle Zeit der Welt. Doch bald würde es dunkel werden, und er sollte herausfinden, wer ihm auf der Spur war, ehe er sein Nachtlager aufschlug. Wenn seine Berechnungen stimmten, müsste er seinen Verfolger inzwischen ausfindig machen können. McCay nahm seinen Feldstecher aus der Satteltasche und versteckte sich im Schatten einer hohen Kiefer, um sicherzugehen, dass ihn nicht ebenfalls eine Sonnenspiegelung verraten würde. Er richtete das Glas auf den Weg, wo er seinen Verfolger vermutete. Und schon bald entdeckte er den Mann: einen einzelnen Reiter auf einem dunkelbraunen Pferd. Der Mann hatte sein Pferd in eine gemächliche Gangart fallen lassen und beugte sich gerade hinunter, um den Weg nach Spuren abzusuchen. Den gleichen Pfad, den McCay vor etwa einer Stunde genommen hatte.

Irgendetwas an diesem Reiter kam ihm bekannt vor. Angestrengt starrte McCay durch den Feldstecher auf die Gestalt in der Ferne, um seine Erinnerung wachzurütteln. Aber er konnte das Gesicht des Mannes zu schlecht erkennen. Vielleicht war es die Art, wie er im Sattel saß, oder sogar das Pferd, das McCay das ungute Gefühl gab, diesen Kerl irgendwann schon einmal getroffen zu haben – und dass ihm das gar nicht gefallen hatte. Doch weder sah das Zaumzeug des Pferdes ungewöhnlich aus, noch trug der Mann außergewöhnliche Kleidung. Außer vielleicht seinem breitkrempigen Hut, verziert mit silbernen Konchas …

Trahern.

McCay atmete scharf aus.

Die Belohnung, die auf seinen Kopf ausgesetzt war, musste inzwischen hoch genug sein, um einen Kopfgeldjäger wie Trahern zu reizen. Denn der stand in dem Ruf, ein guter Fährtenleser zu sein. Und ein verdammt guter Schütze. Und er gab nie auf. Niemals.

Die vier langen Jahre, die McCay nun schon gejagt wurde, hielten ihn davon ab, etwas Übereiltes oder Dummes zu tun. Zeit und Überraschungsmoment waren auf seiner Seite, genauso wie seine Erfahrung. Trahern wusste schließlich nicht, dass der Gejagte zum Jäger geworden war.

Bevor Trahern ihn ebenfalls mit einem Feldstecher ausmachen konnte, stieg McCay wieder auf sein Pferd und ritt tiefer in den kleinen Kiefernwald hinein, ehe er in einem Bogen wieder nach rechts umkehrte, sodass nun eine kleine Anhöhe zwischen ihm und seinem Verfolger lag. Wenn es eines gab, was ihn der Krieg gelehrt hatte, dann dass er seine Umgebung immer genau kennen musste. Und er wählte automatisch Routen, die ihm, wenn irgendwie möglich, gleichzeitig Deckung und Fluchtweg boten. Und der Krieg hatte ihn noch etwas gelehrt: dem Feind niemals eine Möglichkeit zum Rückzug zu lassen. Trahern hatte sein eigenes Todesurteil unterschrieben, als er sich ausgerechnet für diese Kopfgeldprämie entschieden hatte. Denn McCay hatte schon lange keine Skrupel mehr, die Männer zu töten, die hinter ihm her waren. Ihr Leben gegen seins, so einfach war das. Und er war es verdammt leid, immer auf der Flucht zu sein.

Nachdem er kehrtgemacht und eine Meile geritten war, versteckte er sein Pferd hinter einem Felsvorsprung und machte sich zu Fuß auf, dorthin, wo er seine ursprüngliche Spur sehen konnte. Nach seinen Berechnungen müsste Trahern in etwa einer halben Stunde hier sein. McCay trug sein Gewehr in einer Tasche, die er über den Rücken gehängt hatte; eine Repetierbüchse, die er nun schon ein paar Jahre besaß. Dieses Gewehr traf sein Ziel auch aus etwa sechzig Yard Entfernung. McCay kauerte sich hinter eine hohe Kiefer mit einem zwei Fuß hohen Fels davor. Und dann wartete er.

Doch die Zeit verrann, ohne dass Trahern auftauchte. Reglos lag McCay da und lauschte angestrengt auf die Geräusche um ihn herum. An die Vögel, die ungestört zwitscherten, hatte er sich inzwischen gewöhnt; immerhin hatte er sich eine ganze Zeit lang nicht mehr bewegt. Ob irgendetwas Traherns Misstrauen geweckt hat? überlegte er. Doch ihm wollte nichts einfallen, womit er auf sich aufmerksam gemacht haben könnte. Vielleicht hatte der Kopfgeldjäger nur eine Pause eingelegt, sorgsam darauf bedacht, Abstand zwischen sich und seinem Opfer zu wahren, bis er bereit war zum großen Schlag. So machte Trahern es immer: Den rechten Augenblick abwarten, bis die Situation zu seinen Gunsten stand. McCay ging auch selbst gerne so vor. Viele Männer waren getötet worden, indem sie den Kampf forcierten, obwohl die Umstände noch gegen sie sprachen.

Laut Colonel Mosby war Rafe McCay der beste Mann für einen Überraschungsangriff aus dem Hinterhalt: Er besaß Geduld und Ausdauer. Weder Hunger noch Schmerz, Unbequemlichkeiten oder Langeweile konnten ihm zusetzen. Rafe ließ sich auf nichts davon ein, sondern konzentrierte sich ganz auf seine jeweilige Aufgabe. Die hereinbrechende Dunkelheit eröffnete allerdings weitere Möglichkeiten. Vielleicht hatte Trahern angehalten und sein Lager für die Nacht aufgeschlagen, statt im dämmrigen Licht weiter seine Spur zu verfolgen. Vielleicht glaubte er auch, dass er ein Lagerfeuer besser ausmachen könnte als eine Spur, und wartete nun in aller Seelenruhe ab. Auf der anderen Seite aber war Trahern klug genug, um zu wissen, dass ein Mann auf der Flucht sich oft genug mit einem kalten Lager zufriedengab. Nur ein Narr würde ein Feuer entzünden, um es warm zu haben in der Nacht.

McCay hatte jetzt mehrere Möglichkeiten: Er konnte bleiben, wo er war, und Trahern abfangen, sollte er tatsächlich irgendwann diesen Weg nehmen. Er konnte auch noch ein Stück zurückreiten und versuchen, Traherns Lager ausfindig zu machen. Oder er konnte die Dunkelheit nutzen, um noch mehr Distanz zwischen ihn und sich zu legen.

Sein Pferd wieherte bei den Felsen, und McCay stieß einen heftigen Fluch aus. Doch fast im gleichen Moment vernahm er noch ein Wiehern, einen zweiten Ruf direkt hinter sich. McCay reagierte blitzschnell. Er rollte herum und drehte den Lauf seines Gewehrs um. Trahern befand sich etwa zwanzig Yards links von ihm entfernt. Man konnte eine Münze darauf verwetten, wer überraschter war. Trahern hatte aufgeholt, doch sein Blick ging in die falsche Richtung, hinunter zu McCays Pferd. Verblüfft drehte er sich um, und McCay gab den ersten Schuss ab. Doch Trahern wich zur Seite aus, sodass die Kugel ihr Ziel verfehlte und irgendwo in der Wildnis aufschlug.

McCay rollte sich über die Hügelkuppe, die sich gleich hinter ihm befand, während er Erde und Kiefernnadeln schmeckte. Aber das war immer noch besser als eine Kugel im Leib! Er kam wieder auf die Füße, wobei er sich so tief bückte, dass die Hügelkuppe den Blick auf ihn versperrte. Lautlos bewegte er sich zurück zu seinem Pferd.

Seine Laune war inzwischen ziemlich im Keller. Verdammt! Warum hatte Trahern einfach den Weg verlassen? Er hatte ihn nicht hier vermutet – sonst wäre er nicht so überrascht gewesen, seine Beute direkt vor sich zu finden. Zur Hölle! Manchmal zeigten selbst die besten Fallen keine Wirkung. Jetzt war Trahern ihm auf den Fersen, und er selbst hatte den Überraschungsvorteil verloren.

McCay erreichte eine weitere große Kiefer und ging dahinter in die Knie. Er lauschte angespannt. Es war sehr eng für ihn geworden. Denn Trahern konnte in aller Ruhe abwarten und von seinem Posten aus McCays Pferd beobachten, während er, McCay, in der Falle saß. Seine einzige Chance war, den Kopfgeldjäger zu erwischen, bevor der ihm eine Kugel verpasste.

Ein grimmiges Lächeln umspielte seinen Mund. In wenigen Minuten würde es dunkel werden. Wollte Trahern etwa wissen, wer sich in der Dunkelheit besser bewegen konnte? Diesen Gefallen würde McCay ihm gerne tun.

Er schloss die Augen, um sich ganz auf sein Gehör zu konzentrieren und sich durch nichts, was in sein Blickfeld kam, ablenken zu lassen. Der Flügelschlag der Insekten ging fast unmerklich schneller, die nachtaktiven Frösche wurden allmählich munter. Als er sich etwa zehn Minuten später umsah, hatten sich seine Augen bereits an die Dunkelheit gewöhnt.

McCay schob Kiefernnadeln durch seine Sporen, damit sie nicht klirrten, und steckte das Gewehr wieder in die Tasche auf seinem Rücken; mit der langen Flinte in den Händen würde er sich schwertun, durch die Dunkelheit zu robben. Er zog seinen Revolver aus dem Holster, legte sich auf den Bauch und schlängelte sich zu einem Gestrüpp, das ihm Schutz bieten würde.

Der eiskalte Boden erinnerte ihn daran, dass der Winter diesen Landstrich immer noch fest im Griff hielt. Tagsüber war es dagegen vergleichsweise warm gewesen, sodass er seinen Mantel ausgezogen und ihn hinten am Sattel festgebunden hatte. Doch jetzt, nachdem die Sonne untergegangen war, war auch die Temperatur merklich gefallen.

Ihm war schon öfter kalt gewesen, und der stechende Geruch der Kiefernnadeln erinnerte ihn daran, dass er auch mehr als einmal auf seinem Bauch gerobbt war. Damals, 1863, hatte er eine Patrouille der Yankees komplett auf seinem Bauch umrundet, keine drei Yards hinter einem der Wachtposten. Dann war er zu Mosby zurückgekehrt, um ihm zu berichten, wie viel Mann stark die Patrouille war und wo die Wachtposten standen. Er war auch mal in einer verregneten Novembernacht mit einer Kugel im Bein durch Schlamm gekrochen, während die Yankees Büsche und Gestrüpp nach ihm absuchten. Allein die Tatsache, dass er damals über und über mit Schlamm bedeckt war, hatte ihm ermöglicht, für dieses Mal seiner Gefangennahme zu entgehen.

Er brauchte eine geschlagene halbe Stunde zurück zum Hügelkamm. Dann schlängelte er sich so geschmeidig über die Kuppe wie eine Schlange, die lautlos in den Fluss taucht. Erneut hielt er inne, während er den Blick schweifen ließ, auf der Suche nach einem Umriss, der nicht hierher gehörte. Seine Ohren lauschten auf das Stampfen von Hufen oder das Schnauben von Pferdenüstern. Sollte Trahern wirklich so clever sein, wie behauptet wurde, hätte er die Pferde inzwischen woanders hingebracht. Auf der anderen Seite würde er es vermutlich nicht wagen, sich damit vielleicht seinem Blick auszusetzen.

Wie lange konnte Trahern wohl wachsam bleiben, all seine Sinne geschärft? Für die meisten Männer war so etwas ungeheuer anstrengend, aber die waren es auch nicht gewohnt. Im Gegensatz zu McCay, der nicht einmal mehr darüber nachdenken musste; er hatte mehr als genug Übung darin. Die vergangenen vier Jahre unterschieden sich nicht besonders vom Krieg, nicht für ihn – außer, dass er jetzt allein war und auf keiner Gehaltsliste mehr stand. Und sollte man ihn jetzt schnappen, würde man ihn nicht nach einem Gefangenenaustausch freilassen. Nein, einen Richter würde er in diesem Leben nicht mehr zu Gesicht bekommen. Dafür sorgte das Kopfgeld, das auf ihn ausgesetzt war – tot oder lebendig.

Er ließ mehr als eine Stunde vergehen, ehe er zu dem Felsvorsprung kroch, an dem er sein Pferd zurückgelassen hatte. Da er sich sehr langsam vorwärtsbewegte und immer wieder innehielt, um zu lauschen, schaffte er in etwa einer halben Stunde gerade mal fünfzig Fuß, und er schätzte, dass er mindestens noch hundert Yards vor sich hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte er einen schwachen Laut, als ob ein Tier sein Gewicht verlagerte, und den tiefen, seufzenden Klang eines schlafenden Pferdes. Auch wenn er weder sein Pferd noch das von Trahern sehen konnte, sagten ihm die Geräusche, dass sein Brauner immer noch dort stand, wo er ihn zurückgelassen hatte. Trahern hatte wohl nicht riskieren wollen, seine Deckung zu verlassen, um die Tiere wegzubringen.

Die Frage war: Wo steckte Trahern? Irgendwo, wo er McCays Pferd im Auge behalten konnte, an einem Platz, der ihm selbst Deckung bot. War er immer noch hellwach und auf der Hut, oder waren seine Sinne schon benebelt von der Anstrengung? Wurde er allmählich schläfrig?

Nach McCays Berechnungen mussten etwa fünf Stunden vergangen sein, seit der Kopfgeldjäger in seiner Nähe aufgetaucht war. Also konnte es jetzt nicht mal zehn Uhr am Abend sein. Trahern war zu gewieft, um in seiner Wachsamkeit schon so bald nachzulassen. Diese Gefahr bestand eher in den frühen Morgenstunden, wenn die Augenlider schwer wurden und der Geist benommen war vor Erschöpfung.

Aber ging Trahern dann nicht davon aus, dass er, McCay, in aller Ruhe abwartete? Fühlte er sich wirklich sicher genug, jetzt eine Stunde zu schlafen, weil er annahm, dass McCay erst im Morgengrauen versuchen würde, an sein Pferd zu kommen und ihn damit wecken würde?

McCay grinste, während ihn Wagemut erfasste. Verdammt, er könnte genauso gut aufstehen und jetzt zu seinem Pferd gehen! Die Chancen blieben gleich, ganz egal, was er tat. Und wenn die Chancen gleich gut standen, zu gewinnen oder zu verlieren, war es seiner Erfahrung nach am besten, alles auf eine Karte zu setzen.

Er arbeitete sich weiter zu der Felsnase vor, die dem Pferd Schutz bot, dann wartete er, bis er an den Geräuschen merkte, dass das Tier aufgewacht war. Er wartete noch weitere Minuten, dann erhob er sich lautlos und ging zu dem großen Braunen, der seinen Geruch aufgenommen hatte und ihn liebevoll mit dem Kopf anstupste. McCay strich über die samtweiche Nase, ehe er die Zügel nahm, und schwang sich so leise wie möglich in den Sattel. Das Blut rauschte in seinen Adern, wie immer in solchen Situationen, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um seine Anspannung nicht durch einen markerschütternden Schrei zu lösen. Das Pferd unter ihm bebte, da es wohl seine grimmige Freude spürte, die das kommende Risiko mit sich brachte.

Es kostete ihn ungeheure Selbstkontrolle, das Pferd zu wenden und langsam davonzureiten, aber der Boden war zu uneben, sodass er selbst einen Trab nicht riskieren konnte. Jetzt war es am gefährlichsten, da Trahern um diese Zeit am ehesten wach werden könnte …

Er hörte, wie ein Abzugshahn gespannt wurde. Blitzschnell beugte er sich über den Hals des Pferdes, riss es scharf nach rechts und stieß ihm in die Flanken. Er spürte das scharfe Brennen in seiner linken Seite, einen Sekundenbruchteil, bevor er den Schuss hörte. Das Mündungsfeuer verriet genau Traherns Standort, und McCay hatte seine Waffe schon gezogen und abgefeuert, bevor der Kopfgeldjäger den nächsten Schuss setzen konnte. Dann stob der große Braune davon, angespornt von einem weiteren Druck in die Flanken. Selbst über den donnernden Hufschlag hinweg konnte McCay Traherns laute Flüche hören.

Da er um ihrer beider Hälse fürchtete, zügelte McCay schließlich sein Pferd, als sie eine Viertelmeile zurückgelegt hatten. Seine linke Seite brannte wie ein Höllenfeuer, und sein linkes Hosenbein war durchnässt. Während sein Pferd im Schritt weiterging, zog er mit den Zähnen einen Handschuh aus und betastete seine Seite. Er spürte zwei Löcher in seinem Hemd, und dementsprechend zwei Löcher in seinem Körper – dort wo die Kugel ein- und wieder ausgetreten war. Hastig riss er sein Halstuch herunter, knüllte es unter seinem Hemd zusammen und presste es mit dem Ellbogen gegen die Wunden.

Verflucht, ihm war so kalt! Ein Zucken durchfuhr ihn, von den Füßen hinauf in seinen ganzen Körper, sodass er durchgeschüttelt wurde wie ein nasser Hund. Der Schmerz raubte ihm beinahe das Bewusstsein. Er zog seinen Handschuh wieder an, band den Mantel los, den er an seiner Decke verknotet hatte, und zog ihn über. Immer noch hatte er Schüttelfrost, und die Nässe an seinem linken Bein breitete sich aus. Auch wenn der Hurensohn keine lebenswichtigen Organe getroffen hatte, verlor McCay doch eine Menge Blut.

Wieder begann er sich auszurechnen, wo Trahern stecken könnte. Der Kopfgeldjäger ging wahrscheinlich davon aus, dass er, McCay, wie der Teufel davonreiten würde, um so viel Abstand wie möglich zwischen sie zu legen, ehe die Sonne aufging. McCay hatte nach seiner Schätzung etwa eine Meile zurückgelegt, als er sein Pferd zu einer Gruppe dicht nebeneinanderstehender Kiefern lenkte und dann abstieg. Er gab dem Braunen eine Handvoll Futter und etwas Wasser, dann tätschelte er ihm anerkennend den Hals, weil es sich trotz der Widrigkeiten so gut behauptet hatte. Schließlich entrollte er seine Decke. Er musste dringend die Blutung stoppen und seinen Körper wärmen, sonst würde Trahern ihn bewusstlos auf dem Weg finden.

McCay stellte die Feldflasche mit dem Wasser neben sich, rollte sich in die Decke ein und legte sich auf die dicke Schicht Kiefernnadeln. Sein ganzes Gewicht ruhte dabei auf der linken Seite, um Druck auf die Wunde dort auszuüben und die Blutung zum Stillstand zu bringen, während er seinen Handrücken auf die Austrittswunde presste. Auch wenn diese Position ihn vor Schmerz aufstöhnen ließ, war die unbequeme Lage allemal besser, als zu verbluten. An Schlaf war dabei natürlich nicht zu denken. Selbst wenn der Schmerz Schlaf zulassen würde, wagte er es nicht, sich zu entspannen.

Auch wenn er seit dem Mittag nichts mehr gegessen hatte, war er nicht hungrig. Ab und zu trank er einen Schluck Wasser und sah zu dem dichten Dach aus Baumwipfeln hoch, zwischen denen hier und da ein Stern aufblitzte. Angestrengt lauschte er auf ein Geräusch, das auf seine Verfolgung hindeutete, obwohl er eigentlich nicht damit rechnete, dass Trahern ihm so bald nachsetzen würde. Doch er vernahm nichts als die üblichen Geräusche der Nacht.

Allmählich wurde ihm warm, und der scharfe Schmerz in seiner Seite schwächte sich zu einem dumpfen Pochen ab. Sein Hemd war jetzt steif, was bedeutete, dass kein weiteres Blut mehr ausgetreten war. Es fiel ihm immer schwerer, wach zu bleiben, doch er widerstand der Versuchung, sich seiner wachsenden Benommenheit hinzugeben. Er hatte noch genug Zeit zu schlafen, wenn er Trahern erst einmal getötet hatte.

Kurz vor der Morgendämmerung erhob er sich. Ein Schwindelanfall drohte ihn wieder zu Fall zu bringen, sodass er sich mit einer Hand an einem Baum festhielt, um nicht umzufallen. Verdammt, er musste mehr Blut verloren haben, als er geglaubt hatte! Denn er hatte nicht erwartet, dass er so geschwächt sein würde. Als er sich dann stark genug glaubte, ging er mit besänftigendem Murmeln zu seinem Pferd und nahm ein wenig Trockenfleisch aus der Satteltasche. Er wusste, dass Essen und Wasser ihn schneller wieder auf die Füße bringen würden als irgendetwas anderes. Er zwang sich zu kauen, ehe er das Pferd ruhig wieder auf den Weg lenkte, den sie gekommen waren. Beim ersten Mal war er mit dieser Taktik fehlgeschlagen, aber beim zweiten Mal müsste es funktionieren. Trahern würde sich sicher darauf konzentrieren, der Blutspur zu folgen.

Er hatte sich erst ein paar Minuten in Position gestellt, als er sah, wie Trahern mit seiner Handfeuerwaffe in der Faust das Tal heraufkam. McCay fluchte im Stillen. Dass Trahern zu Fuß unterwegs war, konnte nur bedeuten, dass er misstrauisch geworden war. Entweder hatte der Kopfgeldjäger einen siebten Sinn für Gefahr, oder er war ein verdammter Glückspilz, wie McCay noch keinen getroffen hatte.

Er nahm sein Gewehr in Anschlag, doch Trahern wusste seine Deckung geschickt auszunutzen, indem er sich nie ganz zeigte. Rafe sah entweder nur eine Schulter, ein Teil eines Beins oder eins seines unverwechselbaren Hutes. Zu keinem Zeitpunkt hätte er einen Treffer setzen können. Nun gut, sollte er ihm nur eine Wunde verpassen können, musste er eben damit vorliebnehmen. Zumindest würde der Kopfgeldjäger dann langsamer werden und die Chancen zwischen ihnen wären ausgeglichen.

Das nächste Ziel war ein Stückchen Hosenbein. Ein kaltes Lächeln umspielte McCays Lippen, während sein Blick sich auf den Lauf richtete. Seine Hand zitterte nicht, als er den Hahn spannte. Traherns Schrei kam fast im gleichen Augenblick wie der Rückschlag des Gewehrs, beide Laute gedämpft durch die Bäume.

McCay ließ die Waffe sinken und stieg dann in den Sattel. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihm diese Bewegung so schwerfallen würde. Seine Seite begann wieder zu brennen, und erneut spürte er Feuchtigkeit, die sich ausbreitete. Verflucht! Die Wunden hatten sich wieder geöffnet. Aber jetzt war auch Trahern verwundet, sodass der einige Zeit brauchen würde, um zu seinem Pferd zurückzugehen. Also blieb McCay genügend Vorsprung, den er nutzen sollte. Um die Wunden könnte er sich später noch kümmern.

Annis Theodora Parker brühte schweigend einen milden Baldriantee auf, während sie die ganze Zeit ein wachsames Auge auf ihre Patientin hatte. Die rundliche Eda Couey sah aus wie ein handfestes Mädchen vom Land. Ein Mädchen, von dem man erwartete, dass es leicht gebären würde, so wie es sich jede Frau nur wünschen konnte. Stattdessen tat sie sich sehr schwer und geriet allmählich in Panik. Annis, die seit Kindesbeinen Annie genannt wurde, wusste, dass es weit besser für Mutter und Kind war, wenn Eda ruhiger wurde.

Sie trug die Tasse mit dem heißen Tee zum Bett und hielt Edas Kopf, damit sie trinken konnte. „Das hilft gegen den Schmerz“, beruhigte sie das Mädchen. Eda war erst siebzehn, und es war ihre erste Geburt. Der Baldrian würde tatsächlich den Schmerz lindern und die junge Frau überdies ruhiger machen, sodass sie mithelfen konnte, ihr Baby auf die Welt zu bringen.

Eda wurde ruhiger, als das Beruhigungsmittel zu wirken begann. Doch ihr Gesicht war immer noch kalkweiß, als die Wehen wieder einsetzten. Wie Walter Couey, Edas Ehemann, berichtet hatte, hatte das Mädchen bereits seit zwei Tagen Wehen, ehe er deren Bitten um Hilfe nachgegeben und Annie zu der schlichten Hütte geholt hatte, in der es nur ein Zimmer gab. Er hatte sich lautstark beschwert, dass er bei dem Krach nicht schlafen könne. Annie hatte sich sehr zusammennehmen müssen, um ihm nicht eine Ohrfeige zu verpassen.

Das Baby lag falsch herum, sodass es eine schwierige Geburt werden würde. Annie betete im Stillen, das Kind möge lebend zur Welt kommen. Denn bei einer Steißgeburt passierte es ab und zu, dass die Nabelschnur dem Kind die Luft abdrückte und es tot geboren wurde. Allerdings fragte sie sich, ob dieses Kind überhaupt seinen ersten Geburtstag erleben würde, sollte es die Geburt überstehen. Die Bedingungen in dem schäbigen Schuppen waren denkbar ungünstig, und Walter Couey war ein aggressiver, einfältiger Kerl, der nie etwas Besseres auf die Beine stellen würde. Er war bereits in den Vierzigern, und Annie vermutete, dass Eda gar nicht seine richtige Frau war, sondern nur ein ungebildetes Bauernmädchen, das praktisch verkauft worden war, damit ihre Familie nicht noch ein Maul mehr zum Stopfen hatte. Walter hatte als Minenarbeiter keinerlei Erfolg, selbst hier in Silver Mesa nicht, wo die Männer das kostbare Metall in den Minen fanden. Die Arbeit untertage war sehr anstrengend, und Walter neigte nicht dazu, überhaupt irgendeine schwere Arbeit zu verrichten. Entschieden schob Annie den Gedanken beiseite, dass es ein Segen für das Kind sei, wenn es starb, auch wenn es ihr um Mutter und Kind leidtun würde.

Eda stöhnte auf, als ihr Bauch sich unter einer erneuten Wehe zusammenzog. „Pressen“, befahl Annie in leisem Ton, während sie schon die weiche Rundung des winzigen Pos aufblitzen sah. „Pressen!“

Ein kehliger Schrei entfuhr Eda, als sie mit aller Kraft in den Bauch hereinpresste, während ihre Schultern sich von der Pritsche hoben. Annie legte ihre Hände auf den stark gewölbten Bauch, um Eda ihre eigene Kraft mitzugeben.

Jetzt oder nie! Sollte Eda das Kind nicht schnell zur Welt bringen, würden Mutter und Baby sterben. Auch wenn sie weiterhin Wehen haben würde, würde Eda immer schwächer werden.

Die winzigen Pobacken lugten nun heraus. Rasch versuchte Annie, sie zu fassen, aber sie waren zu glitschig. Also schob sie die Finger in die gedehnte Öffnung und fasste nach den Beinchen des Babys. „Pressen!“, sagte sie erneut.

Doch Eda sank zurück, beinahe gelähmt vor Schmerz. Annie wartete auf die nächste Wehe, die innerhalb weniger Sekunden folgte. Dann nutzte sie die natürliche Kraft von Edas inneren Muskeln, die ihr halfen, den Unterkörper des Kindes herauszuziehen. Es war ein Junge. Wieder führte sie ihre Finger ein, damit Edas Muskeln nicht erschlafften, während sie mit der anderen Hand den ganzen Körper des Babys herauszog. Kraftlos lag es zwischen Edas Beinen, Mutter und Kind beide still und reglos.

Annie nahm den kleinen Wurm hoch, legte ihn mit dem Gesicht nach unten auf ihren Arm und gab ihm einen Klaps auf den Po. Die winzige Brust hob sich, und das Baby stieß ein schrilles Kreischen aus, während seine Lungen sich zum ersten Mal mit Luft füllten. „Na also“, meinte Annie besänftigend und drehte das Baby um, damit sie nachsehen konnte, ob seine Atemwege frei waren. Normalerweise hätte sie das zuerst getan, aber das Baby zum Atmen zu bringen, war wichtiger gewesen. Der kleine Kerl strampelte mit Armen und Beinen, während er vor sich hin jammerte, und ein müdes Lächeln breitete sich auf Annies Gesicht aus. Mit jedem Schluchzer klang er stärker.

Schließlich schnitt sie die Nabelschnur nah am Bauch ab, klammerte sie und hüllte den Kleinen schnell in eine Decke, um ihn vor der Kälte zu schützen. Nachdem sie das Baby an Edas warmen Körper gelegt hatte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Mädchen zu, das nur noch halb bei Bewusstsein war.

„Hier ist dein Baby, Eda“, sagte Annie. „Es ist ein Junge, und er sieht gesund aus. Hör nur, wie er schreit! Ihr beide habt es gut überstanden.“

Edas blasse Lippen bewegten sich in stummer Dankbarkeit. Annie war erleichtert, dass keine ungewöhnlich hohe Blutung folgte. Die würde das Mädchen umbringen, weil es keinerlei Kraftreserven mehr hatte. Sie wusch Eda und räumte in dem kleinen Zimmer auf, dann nahm sie das quengelnde Kind hoch und redete sanft auf den Kleinen ein, während sie ihn in den Armen wiegte. Er wurde ruhiger und drehte ihr seinen kleinen Kopf mit dem weichen Flaum zu.

Schließlich half sie Eda, sich aufzusetzen und ihr Kind in den Arm zu legen, während sie ihr das Nachthemd aufknöpfte und den kleinen rosigen Mund des Babys an die Brust der Mutter legte. Für einen Moment schien er nicht zu wissen, was er mit der Brustwarze tun sollte, die über seine Lippen strich, ehe sein Instinkt die Führung übernahm und er gierig daran zu saugen begann. Eda zuckte zusammen und stieß ein atemloses „Oh“ aus.

Annie trat ein kleines Stück zurück und beobachtete diese ersten magischen Momente, als die junge Mutter, wenn auch erschöpft, voller Staunen ihr Neugeborenes ansah.

Müde zog Annie schließlich ihren Mantel an und nahm ihre Tasche. „Ich komme morgen wieder vorbei, um nach dir zu sehen.“

Eda sah hoch. Ihr blasses Gesicht, das noch deutlich die Spuren der Erschöpfung zeigte, wurde von einem strahlenden Lächeln erhellt. „Danke, Doc! Ich und das Baby hätten es ohne Sie nicht geschafft.“

Annie erwiderte das Lächeln. Sie konnte es kaum erwarten, nach draußen in die frische Luft zu kommen, auch wenn es kalt war. Es war schon später Nachmittag und würde in weniger als einer Stunde dunkel werden. Sie war den ganzen Tag bei Eda gewesen, ohne einen Bissen zu essen. Ihr Rücken und die Beine taten weh, und sie war müde. Trotzdem schenkte ihr die erfolgreich verlaufene Geburt ein ungeheures Gefühl der Zufriedenheit.

Das Haus der Coueys lag am anderen Ende von Silver Mesa, genau entgegengesetzt von ihrem kleinen Zweizimmerhäuschen, für Annie sowohl Praxis als auch Wohnung. Im vorderen Raum behandelte sie die Patienten, im hinteren lebte sie. Erschöpft ging sie die einzige schlammige Straße von Silver Mesa entlang. Minenarbeiter riefen ihr ungehobelte Grüße zu; um diese Zeit rotteten sie sich immer in Silver Mesa zusammen, um sich mit Whiskey vollzuschütten und ihr schwer verdientes Geld beim Spiel und willigen Frauen wieder zu verlieren. Silver Mesa war eine aufstrebende Stadt, ohne jedes Gesetz oder soziale Einrichtungen, außer man zählte die fünf Saloons dazu, die in Zelten untergebracht waren. Ein paar risikofreudige Kaufleute hatten Gebäude aus grob gezimmerten Holzplanken errichtet, um ihre Waren darin zu lagern, aber hölzerne Bauwerke gab es nur wenige. Annie war froh, dass ihr eines für ihre Praxis zur Verfügung stand. Und die Einwohner von Silver Mesa waren genauso froh, überhaupt einen Arzt am Ort zu haben, selbst wenn ihr Doc eine Frau war.

Sie war jetzt seit sechs, nein, schon seit acht Monaten hier. In ihrer Heimat Philadelphia oder Denver als Ärztin Fuß zu fassen, war ihr nicht gelungen. Niemand wollte sie konsultieren, wenn es im Umkreis von hundert Meilen einen männlichen Arzt gab – ganz egal, wie gut sie war. Das hatte sie schmerzlich lernen müssen. In Silver Mesa allerdings gab es keinen Arzt. Und trotzdem hatte es eine Weile gedauert, bis die Leute zu ihr gekommen waren. Dabei war Silver Mesa ein gefährlicher Platz zum Leben, so wie viele andere Städte auch, die zu schnell aus dem Boden gestampft worden waren. Oft genug wurden Männer angeschossen, mit einem Messer verletzt oder verprügelt. Und die unterschiedlichsten Knochenbrüche waren fast an der Tagesordnung. Das anfänglich dünne Rinnsal von Patienten hatte sich schnell in einen stetig fließenden Strom verwandelt. Inzwischen hatte Annie manchmal kaum noch Zeit, zwischendurch einmal Luft zu schnappen, weil sie von Anbruch des Tages bis zum Abend beschäftigt war. So wie heute.

Genau das hatte sie immer gewollt, darauf hatte sie jahrelang hingearbeitet. Doch jedes Mal, wenn jemand sie „Doc“ rief oder sie jemanden „Doc Parker“ sagen hörte, wollte sie sich voller Traurigkeit nach ihrem Vater umdrehen. Aber er würde nicht da sein, nie mehr. Frederick Parker war ein wundervoller Mensch gewesen und ein wunderbarer Arzt. Schon als Kind hatte Annie ihm in kleinen Dingen helfen dürfen. Er förderte ihr Interesse an der Medizin, brachte ihr all das bei, was er konnte. Und als er mit seinem Latein am Ende war, schickte er sie auf die Schule. Während all der schweren Jahre, in denen sie sich um ihren medizinischen Titel bemüht hatte, unterstützte er sie. Damals schien niemand außer ihnen beiden überhaupt eine Frau als Ärztin zu wollen. Nicht nur, dass die männlichen Medizinstudenten sie schnitten – sie legten ihr sogar bewusst Steine in den Weg. Doch Annies Vater hatte sie gelehrt, ihren Sinn für Humor und ihre Leistungsbereitschaft nicht aufzugeben. Und er war genauso aufgeregt gewesen wie sie, als sie ihren Abschluss geschafft und einen Ort gefunden hatte, wo ein Arzt gebraucht wurde. Auch wenn sie eine Frau war.

Annie war nicht mal einen Monat in Denver gewesen, als sie einen Brief von einem Pastor bekam, in dem er ihr voller Bedauern mitteilte, dass ihr Vater verstorben sei. Auch wenn er noch recht gesund wirkte, hatte er darüber geklagt, kein junger Mann mehr zu sein und allmählich sein Alter zu spüren. An einem friedlichen Sonntag, er hatte gerade sein Mittagessen verspeist, fasste er sich an die Brust und fiel tot um. Der Pastor glaubte nicht, dass er gelitten habe.

Still und einsam hatte Annie um ihn getrauert, denn es gab niemanden, mit dem sie hätte reden können oder der sie verstanden hätte. Als sie sich mutig hinaus in die Welt gewagt hatte und nach Philadelphia gegangen war, hatte sie immer noch seine Anwesenheit gespürt wie einen Anker, an dem sie sich festhalten könnte. Doch nach seinem Tod war sie allein ihrem Schicksal überlassen. Schriftlich hatte sie den Verkauf des Hauses geregelt und die persönlichen Besitztümer, die sie behalten wollte, im Haus einer Tante eingelagert.

Wie gerne hätte sie ihm von Silver Mesa erzählt, wie unwirtlich, schmutzig und gleichzeitig lebendig dieser Ort war, dass es auf der schlammigen Straße von Menschen nur so wimmelte und jeden Tag ein Vermögen gemacht wurde. Er würde sie um ihre aufregende Arbeit beneiden, angefangen von Schussverletzungen über Erkältungen bis hin zu Geburten.

Dämmerlicht senkte sich über die spätwinterliche Landschaft, als Annie ihre Haustür öffnete und die Lampe anzündete, die auf dem Tisch bei der Tür stand. Müde seufzte sie auf, stellte ihre Tasche auf dem Tisch ab und drehte ihre Schultern hin und her, um die Muskeln zu entspannen. Als sie in Silver Mesa angekommen war, hatte sie sich ein Pferd gekauft, weil sie ab und zu längere Strecken zu Patienten weit außerhalb zurücklegen musste. Sie musste nach dem Tier sehen, ehe es noch dunkler wurde. Es stand in einem kleinen, wackligen Unterstand hinter der Holzhütte, der von drei Seiten Schutz bot. Um keinen Schmutz durch ihre Hütte zu tragen, entschloss sie sich, außen herum zu ihrem Pferd zu gehen.

Gerade als sie sich umdrehte, bewegte sich ein Schatten in der hinteren Ecke des Zimmers. Erschrocken zuckte Annie zusammen und presste die Hand gegen die Brust. Ängstlich spähte sie zu dem Schatten und nahm die Umrisse eines Mannes wahr. „Ja bitte? Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich möchte den Doc sprechen.“

Sie runzelte die Stirn. Wäre er aus Silver Mesa, wüsste er, dass der Arzt schon vor ihm stand. Offensichtlich war er ein Fremder. Sie hob die Lampe hoch, um ihn besser sehen zu können. Seine Stimme klang tief und rau, kaum lauter als ein Flüstern, hatte aber den schleppenden Rhythmus der Leute aus dem Süden.

„Ich bin Dr. Parker“, sagte sie und trat einen Schritt näher. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Sie sind eine Frau“, ließ die tiefe Stimme verlauten.

„Ja, das bin ich.“ Sie war ihm jetzt nahe genug, um seine fiebrig leuchtenden Augen zu erkennen und den typisch stark süßlichen Geruch einer Entzündung. Der Mann lehnte in der Ecke, als hätte er Angst, nicht mehr hochzukommen, hätte er sich auf einen Stuhl gesetzt. Sie stellte die Lampe auf den Tisch und drehte die Flamme höher, damit das gedämpfte Licht auch in die hinteren Winkel des Raums dringen konnte. „Wo sind Sie denn verletzt?“

„Linke Seite.“

Sie trat auf seine rechte Seite, schob ihre Schulter unter seine Achsel und schlang den Arm um seinen Rücken, um ihm Halt zu geben. Seine Haut glühte so sehr, dass sie für einen Moment fast Angst verspürte. „Wir sollten Sie zur Untersuchungsliege bringen.“

Er spannte sich unter ihrer Berührung an. Auch wenn sein dunkler Hut seine Miene in Schatten tauchte, spürte sie den Blick, den er ihr zuwarf. „Ich brauche keine Hilfe“, sagte er und unterstrich seine Worte damit, dass er langsam, aber mit sicherem Schritt zu der Untersuchungsliege ging.

Annie nahm die Lampe und zündete noch eine zweite an. Dann zog sie den Vorhang zu, der die Liege von Blicken abschirmte, sollte noch ein Patient kommen, der medizinische Hilfe benötigte. Als der Mann seinen Hut abnahm, kam dichtes schwarzes Haar zum Vorschein, das nicht nur zerzaust war, sondern dringend einmal wieder geschnitten werden musste. Dann zog er sich behutsam den schweren Mantel von den Schultern.

Annie nahm Hut und Mantel und legte beides zur Seite, während sie den Mann eingehend musterte. Sie konnte weder Blut entdecken noch ein anderes Anzeichen, das auf eine Verletzung hinwies. Und doch war er offensichtlich krank und hatte Schmerzen. „Ziehen Sie das Hemd aus“, sagte sie. „Soll ich Ihnen helfen?“

Unter halb geschlossenen Lidern sah er sie an, schüttelte den Kopf und knöpfte sein Hemd auf, so schnell es ihm möglich war. Dann zog er es aus seiner Hose und über den Kopf.

Ein schmutziges Stück Stoff war fest um seine Hüfte gebunden, das auf der linken Seite gelbliche und rostig braune Flecken aufwies. Annie nahm eine Schere zur Hand, schnitt den Stoff vorsichtig auseinander und ließ ihn zu Boden fallen. Sie entdeckte zwei Wunden oberhalb seiner Hüfte, eine vorne und eine hinten. Rote Striemen umgaben die hintere Wunde und beide eiterten.

Eine Schussverletzung, wenn sie nicht alles täuschte. Hier in Silver Mesa hatte sie schon so viele davon gesehen, dass sie genügend Erfahrung damit hatte.

Erst jetzt merkte sie, dass sie ihren Mantel noch nicht ausgezogen hatte, was sie nun schnell nachholte, in Gedanken immer bei ihrem Patienten. „Legen Sie sich auf die rechte Seite“, wies sie ihn an, während sie sich zu dem Tablett mit den Instrumenten wandte und nahm, was sie benötigte. Als er zögerte, hob sie fragend die Brauen.

Schweigend beugte er sich vor, um den Lederriemen aufzubinden, mit dem sein Pistolenholster am Oberschenkel festgemacht war. Schweiß perlte auf seinem Gesicht bei dieser Anstrengung. Dann schnallte er den Pistolengurt ab und legte ihn oben auf die Untersuchungsliege, wo er ihn leicht erreichen konnte. Schließlich setzte er sich und streckte sich dann aus, so wie sie ihn angewiesen hatte. Auf die rechte Seite, das Gesicht ihr zugewandt. Unwillkürlich schienen seine Muskeln sich zu entspannen, als er die weiche Matratze spürte; Annie hatte sie über die Liege gebreitet, um es ihren Patienten bequemer zu machen. Wenig später zitterte er jedoch schon wieder.

Annie nahm ein sauberes Laken und breitete es über seinem nackten Oberkörper aus. „Das wird Sie warm halten, während ich Wasser heiß mache.“

Ehe sie am frühen Morgen gegangen war, hatte sie das Feuer mit Asche bedeckt, und die Kohlen glühten rot, als sie mit einem Schürhaken hineinfuhr. Sie legte noch Holz nach, dann holte sie Wasser und schüttete es in zwei Eisentöpfe, die an einem Haken über dem Ofen hingen. In dem kleinen Raum wurde es schnell wärmer, als die Flammen hochzüngelten. Schließlich legte sie ihre Instrumente in einen der Töpfe, um sie auszukochen, dann schrubbte sie ihre Hände mit starker Seife. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen, und sie überlegte, wie sie ihren neuen Patienten am besten versorgen könnte.

Als sie merkte, dass ihre Hände ein wenig zitterten, hielt sie inne und atmete tief durch. Normalerweise war sie immer ganz auf ihre jeweilige Aufgabe konzentriert, doch dieser Mann hatte etwas an sich, das sie verunsicherte. Vielleicht waren es seine grauen Augen, so hell wie Frost und so wachsam wie die eines Wolfs. Oder vielleicht die Hitze, die von ihm ausging. Ihr Verstand sagte ihr, dass es Fieber sein musste, und trotzdem schien die Hitze, die dem großen, muskulösen Körper entströmte, sie jedes Mal einzuhüllen, wenn sie ihm nahe kam. Auch wenn sie nicht wusste warum, hatte sich ihr Magen zusammengezogen, als er sich von seinem Hemd befreite und seinen muskulösen Oberkörper enthüllte. Annie war es gewohnt, Männer in unterschiedlichen Stadien der Entkleidung zu sehen. Doch nie zuvor war sie sich eines Männerkörpers derart bewusst gewesen – der Männlichkeit, die ihre Weiblichkeit auf einer primitiven Ebene bedrohte. Das schwarze gekräuselte Haar auf seiner breiten Brust erinnerte sie stark daran, dass ein Mann von Natur aus ein Triebwesen war.

Obwohl er weder etwas gesagt noch getan hatte, was als Bedrohung hätte ausgelegt werden können. All das spielte sich sicherlich nur in ihrem eigenen Kopf ab, vielleicht ein Resultat ihrer Müdigkeit. Der Mann war schließlich verwundet und war gekommen, weil er ihre Hilfe brauchte.

Sie trat wieder hinter den Vorhang. „Ich gebe Ihnen ein wenig Laudanum, um die Schmerzen zu lindern.“

Eindringlich sah er sie mit seinen kalten hellgrauen Augen an. „Nein.“

Sie zögerte. „Aber die Behandlung wird schmerzhaft sein, Mister …“

Er ignorierte ihren erhobenen Tonfall am Ende des Satzes, der ihn dazu einlud, ihr seinen Namen zu verraten. „Ich will kein Laudanum. Haben Sie Whiskey?“

„Ja.“

„Das reicht völlig.“

„Nein, es reicht nicht! Es sei denn, Sie trinken sich bewusstlos, was Sie in diesem Fall mit Laudanum leichter erreichen könnten.“

„Ich will aber bei Bewusstsein bleiben. Geben Sie mir einfach einen Drink.“

Annie holte den Whiskey und schüttete eine gehörige Portion in ein Glas. „Haben Sie etwas gegessen?“, fragte sie, als sie zurückkam.

„Ist schon einige Zeit her.“ Er nahm das Glas, legte den Kopf ein wenig nach hinten und kippte den Whiskey in zwei großen Schlucken hinunter. Er schnappte nach Luft und schüttelte sich, als das scharfe Getränk seine Kehle herunterrann.

Annie holte eine Schüssel mit Wasser und stellte sie neben die Liege, ehe sie ihm das leere Glas abnahm. „Ich werde jetzt die Wunden waschen, während das Wasser auf dem Ofen warm wird.“ Sie schlug das Laken zurück und verschaffte sich einen Überblick. Die Wunden lagen so nahe an seiner Taille, dass seine Hose ein Problem darstellte. „Könnten Sie bitte die Hose aufmachen? Ich brauche mehr Platz um die Wunden herum.“

Einen Moment rührte er sich nicht, dann machte er langsam den Gürtel auf und begann, seine Hose aufzuknöpfen. Als er fertig war, zog Annie den Hosenbund ein Stück herunter und enthüllte so die glatte Haut an seinen Hüften. „Heben Sie den Rücken ein bisschen an.“ Er gehorchte, und sie schob ein Handtuch unter ihn. Dann faltete sie ein weiteres Handtuch zusammen und legte es seitlich über die geöffnete Hose, damit sie nicht nass wurde. Sie versuchte, nicht auf seinen Unterleib zu achten, dessen Behaarung sich nach unten verlor. Und trotzdem war sie sich peinlich berührt bewusst, dass dieser Mann halb nackt vor ihr lag. Sie schalt sich im Stillen. Als Ärztin sollte sie auf keinen Fall so fühlen – und ganz sicher war ihr so etwas noch nie zuvor passiert.

Er beobachtete sie, während sie ein Tuch ins Wasser tauchte und mit Seife einrieb, ehe sie damit behutsam die Wunden abtupfte. Mit einem Zischen sog er die Luft ein.

„Tut mir leid“, murmelte sie, ohne in ihrem Tun innezuhalten. „Ich weiß, es tut weh, aber ich muss die Wunden säubern.“

Rafe McCay gab keine Antwort darauf. Stattdessen fuhr er fort, sie zu beobachten. Es war nicht so sehr der Schmerz, der ihn hatte nach Luft schnappen lassen, sondern vielmehr das Pulsieren von Energie, das bei jeder ihrer Berührung auf ihn überzuspringen schien. Es fühlte sich fast an wie aufgeladene Luft bei einem Gewitter. Selbst durch seine Kleider hatte er es gespürt, als sie den Arm um ihn gelegt hatte, um ihm zur Untersuchungsliege zu helfen. Wenn sie seine nackte Haut berührte, war es umso stärker.

Vielleicht setzte ihm das Fieber zu, oder er hatte zu lange keine Frau mehr gehabt. Warum auch immer – aber wenn diese Ärztin ihn berührte, wurde er hart.

2. KAPITEL

Als Annie die Wunden berührte, begannen sie wieder ein wenig zu bluten. „Wann ist das passiert?“, fragte sie und versuchte, so sanft wie möglich vorzugehen.

„Vor zehn Tagen.“

„Wunden sollten eigentlich nicht so lange offen liegen.“

„Sicher.“ Mit Trahern auf seinen Fersen hatte er nicht die Zeit gehabt, sich lange auszuruhen, um seine Wunden verheilen zu lassen. Jedes Mal, wenn er sich in den Sattel geschwungen hatte, hatten sie sich wieder geöffnet. Trotzdem verspürte er grimmige Befriedigung. Der Kopfgeldjäger hatte seinem angeschossenen Bein sicher auch nicht die nötige Ruhe gönnen können.

Benebelt vom Whiskey, schloss er seine Augen. Auf diese Weise konzentrierte er sich allerdings umso mehr auf jede Berührung ihrer weichen Hände. Dr. Parker. Dr. A. T. Parker, wie auf der schlichten Tafel draußen an der kleinen Hütte stand. Er hatte vorher noch nie von einem weiblichen Arzt gehört.

Auf den ersten Blick hatte er nicht viel an ihr finden können: zu dünn, mit dem abgespannten, müden Blick, den viele Frauen hier hatten. Als sie dann auf ihn zugegangen war, hatte er ihre sanften braunen Augen bemerkt, ihre entzückend zerzausten blonden Haare, die in einem Knoten zusammengefasst waren, während ein paar verirrte Strähnen ihr Gesicht umschmeichelten. Als sie ihn berührte, hatte er die heiße Zauberkraft ihrer Hände gespürt. Diese Hände! Sie bewirkten, dass er sich entspannte – und gleichzeitig das Gegenteil. Verdammt! Er musste betrunken sein. Eine andere Erklärung konnte es dafür nicht geben.

„Als Erstes werde ich Kompressen mit heißem Salzwasser auflegen“, erklärte sie mit ihrer kühlen, hellen Stimme. „Sie müssen sehr heiß sein, also wird es nicht besonders angenehm für Sie werden.“

Er ließ die Augen geschlossen. „Fangen Sie einfach an.“ Er dachte daran, dass Trahern mindestens einen Tag im Rückstand war. Aber jede Minute, die er hier lag, war eine gewonnene für den Kopfgeldjäger.

Annie öffnete ihre Dose mit Seesalz und warf eine Handvoll in einen der Töpfe, dann nahm sie eine Zange, um ein Tuch in das kochend heiße Wasser zu tauchen. Sie ließ es etwa eine Minute über dem Topf austropfen, prüfte dann die Temperatur an der Innenseite ihres Unterarms, ehe sie das dampfende Tuch auf die Wunde an seinem Rücken legte.

Er versteifte sich, biss die Zähne zusammen und atmete scharf ein. Doch kein Laut des Protestes kam über seine Lippen. Annie ertappte sich dabei, wie sie ihm mit der linken Hand mitfühlend auf die Schulter klopfte, während sie in der rechten das heiße Tuch zwischen der Zange hielt.

Als die Kompresse sich abgekühlt hatte, legte sie sie wieder ins heiße Wasser. „Jetzt kommt die andere Seite dran“, erklärte sie. „Das Salz wirkt desinfizierend.“

„Bringen Sie es einfach nur zu Ende!“, brummte er. „Beide Seiten auf einmal.“

Sie biss sich auf die Lippen und entschloss sich, es genauso zu machen. Auch wenn es ihm schlecht ging, war es erstaunlich, wie er den Schmerz ertrug. Sie nahm ein neues Tuch und eine weitere Zange. In der nächsten halben Stunde legte sie immer wieder heiße Salzkompressen auf, bis die Haut um die Wunden herum dunkelrot geworden war und die gezackten Wundränder weiß. Während der ganzen Zeit hatte er völlig still dagelegen, die Augen geschlossen.

Schließlich nahm sie eine Chirurgenschere zur Hand, zog seine Haut zusammen und schnitt schnell das tote weiße Fleisch weg. Frisches Blut trat nun aus den Wunden, allerdings mit gelblichen Schlieren darin. Sie drückte zusätzlich mit den Fingern die Wundränder zusammen und presste so Eiter und altes Blut heraus. Auch winzige Stofffetzen kamen mit heraus und ein ganz kleiner Rest von der Bleikugel. Während der ganzen Prozedur erklärte sie ihm mit ruhiger Stimme, was sie gerade tat, obwohl sie nicht sicher war, ob er überhaupt bei Bewusstsein war.

Dann wusch sie die Wunden mit einer Tinktur aus Studentenblume, um die Blutung zu stoppen, gab dann Öl darauf, das sie aus frischem Thymian gewonnen hatte. Es würde eine weitere Infektion verhindern. „Morgen werde ich mit Wegerich-Verbänden anfangen, aber für heute Nacht lege ich Umschläge aus Vogelmiere auf die Wunden. Das zieht die Stofffasern heraus, die ich nicht erwischt habe.“

„Morgen werde ich nicht mehr hier sein.“ Annie zuckte zusammen. Es waren die ersten Worte, die er während der ganzen Behandlung gesprochen hatte. Sie hatte gehofft, dass er ohnmächtig geworden war, und war sich fast sicher gewesen, dass es so war. Wie sonst hätte er diesen Schmerz ertragen können, ohne einen Laut von sich zu geben oder sich zu bewegen?

„Sie können nicht weggehen“, erklärte sie ruhig. „Offensichtlich haben Sie noch nicht begriffen, wie ernst Ihr Zustand ist. Sie werden an Blutvergiftung sterben, wenn die Entzündung nicht weggeht.“

„Ich bin hier auf meinen eigenen Füßen hereinspaziert, Lady, also kann ich so krank nicht sein!“

Sie schürzte die Lippen. „Ja, Sie sind auf Ihren Beinen gekommen, und vermutlich werden Sie es auch wieder nach draußen schaffen, auch wenn Sie so krank sind, dass viele andere Männer in Ihrem Zustand flach auf dem Rücken liegen würden. Aber in etwa einem Tag werden Sie nicht mal mehr in der Lage sein zu kriechen, geschweige denn zu gehen. Eine weitere Woche und Sie werden wahrscheinlich tot sein. Wenn Sie mir allerdings drei Tage geben, habe ich Sie so weit wiederhergestellt.“

Er hob die Lider und sah den ernsten Ausdruck in ihren sanften, dunklen Augen, fühlte den Schmerz des Fiebers in seinem ganzen Körper. Verdammt, wahrscheinlich hatte sie recht. Auch wenn sie eine Frau war, schien sie ein verflixt guter Arzt zu sein. Aber Trahern war ihm immer noch auf den Fersen und er selbst nicht in der Verfassung, gegen einen Kopfgeldjäger anzukämpfen. Vielleicht war Trahern genauso krank wie er, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls würde Rafe kein Risiko eingehen. Es sei denn, ihm würde nichts anderes übrig bleiben.

Er brauchte wirklich ein paar Tage Ruhe und die Pflege, die die Ärztin ihm anbot, aber er wagte es nicht, diesem verlockenden Angebot nachzugeben. Nicht hier. Wenn er es jedoch höher in die Berge schaffen würde …

„Machen Sie Ihren Umschlag!“, ordnete er an.

Beim Klang seiner tiefen Stimme fuhr Annie ein Schauer über den Rücken. Schweigend machte sie sich an die Arbeit. Sie zupfte frische Vogelmiere aus ihren Kräutertöpfen, die sie so sorgsam hegte und pflegte. Dann drückte sie die Blätter zusammen und legte sie auf die Wunden. Darüber gab sie feuchte Watte und umwickelte sie mit einem festen Verband. Rafe setzte sich auf. Er drückte die Watte auf die Wunde, damit sie den Verband um seinen Bauch schlingen konnte.

Dann griff er nach seinem Hemd und zog es über den Kopf. Besorgt griff Annie nach seinem Arm. „Gehen Sie nicht!“, bat sie. „Ich weiß nicht, warum Sie es unbedingt wollen, aber es ist sehr gefährlich für Sie.“

Er nahm die blutdurchtränkten Handtücher weg, die sie auf seine Hose gelegt hatte, und stand von der Untersuchungsliege auf, ohne auf ihre Hand auf seinem Arm zu achten. Als würde sie ihn gar nicht berühren. Hilflos und wütend ließ Annie den Arm fallen. Wie konnte er sein Leben aufs Spiel setzen, nachdem sie sich derart abgemüht hatte, ihm zu helfen? Und warum war er überhaupt hergekommen und hatte um Hilfe nachgefragt, wenn er dann doch nicht ihren Ratschlägen nachkam?

Rafe steckte sein Hemd in die Hose, ehe er sie schweigend zuknöpfte und den Gürtel festmachte. Ebenso gelassen schnallte er wieder seinen Pistolengürtel um.

Als er dann in seinen Mantel schlüpfte, konnte Annie sich nicht mehr zurückhalten. „Wenn ich Ihnen ein paar Wegerichblätter mitgebe, werden Sie die dann wenigstens auf die Wunden legen? Der Verband muss immer frisch sein …“

„Holen Sie, was Sie brauchen!“, erwiderte er ungerührt.

Verwirrt sah Annie ihn an. „Wie bitte?“

„Holen Sie Ihren Mantel! Sie kommen mit mir.“

„Das kann ich nicht! Ich habe noch andere Patienten, die mich brauchen, und …“

Er zog die große Pistole und richtete die Waffe auf sie. Sie hielt inne, zu verblüfft, um weiterzusprechen. In der angespannten Stille hörte sie, wie er den Abzugshahn zurückzog. „Ich sagte, holen Sie Ihren Mantel“, wiederholte er ruhig.

Sein Blick war nicht zu deuten, die raue Stimme unerbittlich, als er seine Anweisungen gab, den schweren Revolver fest in der Hand, ohne das geringste Zittern. Benommen vor Fassungslosigkeit zog Annie ihren Mantel an, packte ein paar Vorräte in einen Beutel, danach ihre medizinischen Instrumente und verschiedene Kräuter in ihre schwarze Ledertasche. Sein eisiger Blick beobachtete jede ihrer Bewegungen.

„Das reicht.“ Er nahm ihr den Beutel mit den Lebensmitteln ab und deutete mit dem Kopf zur Tür. „Hinten raus. Und nehmen Sie die Lampe mit!“

Ihr wurde bewusst, dass er sich bei ihr umgesehen haben musste, während er auf sie gewartet hatte. Wut kochte in ihr hoch, weil er in ihre Privatsphäre eingedrungen war, auch wenn es nur ein kleiner Raum nach hinten hinaus war. Aber es war ihr Zimmer! Doch mit dem Lauf seines Revolvers, den sie im Rücken spürte, würde sie sich wohl nur lächerlich machen, wenn sie daran Anstoß nehmen würde. Also ging sie zur Hintertür hinaus, während er dicht hinter ihr blieb.

„Satteln Sie Ihr Pferd!“

„Ich habe es aber noch nicht gefüttert“, gab sie zu bedenken. Auch wenn sie wusste, dass ihr Protest sinnlos war, fand sie es nicht richtig, dass ihr Pferd sie tragen sollte, ohne vorher gefressen zu haben.

„Ich will mich nicht ständig wiederholen müssen“, warnte er. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, das seine Worte aber umso bedrohlicher klingen ließ.

Sie hängte die Lampe an einen dicken Nagel. Ein großer Brauner, der noch gesattelt war, stand friedlich neben ihrem Pferd.

„Beeilen Sie sich!“

Sie sattelte ihr Pferd mit den ihr typischen zügigen Bewegungen, dann winkte der Mann sie zurück. „Stellen Sie sich da drüben hin, ins Freie!“

Annie biss sich auf die Lippen, als sie seinem Befehl nachkam. Sie hatte sich eigentlich vorgenommen, sich hinter ihr Pferd zu ducken und aus dem Unterstand zu schlüpfen, während er aufstieg. Aber er hatte offensichtlich vorausgesehen, dass sie diese Möglichkeit in Betracht ziehen würde. Indem er ihr vorschrieb, sich draußen hinzustellen, nahm er ihr jede schützende Deckung.

Den Blick und den Revolver auf sie gerichtet, führte er den Braunen ins Freie und stieg in den Sattel. Hätte Annie ihn nicht so genau beobachtet, hätte sie nicht gemerkt, wie der Schmerz kaum merklich seine Bewegungen verzögerte. Schließlich steckte er den Beutel mit den Lebensmitteln in seine Satteltasche.

„Steigen Sie jetzt aufs Pferd, Schätzchen! Und keine krummen Sachen! Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage, dann wird Ihnen nichts passieren.“

Annie sah sich um. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass er sie so einfach entführen würde. Es war doch ein ganz normaler Tag gewesen, bis er seine Pistole auf sie gerichtet hatte. Würde man sie hier je lebend wiedersehen, wenn sie sich von ihm zwingen ließ, mit ihm davonzureiten? Selbst wenn es ihr gelingen würde, ihm irgendwann zu entkommen, zweifelte sie ernsthaft daran, allein in der Wildnis überleben zu können. Denn sie hatte schon zu viel erlebt, um noch naiv darauf vertrauen zu können, dass sie auf ihrem Pferd ungeschoren nach Silver Mesa zurückkehren könnte. Außerhalb der Stadt mit ihrem zweifelhaften Schutz war das Leben ein einziges Grauen.

„Steigen Sie auf das verdammte Pferd!“ Sein heftiger Tonfall zeigte, dass er mit seiner Geduld am Ende war. Annie stieg in den Sattel, behindert durch ihre Röcke, aber sie wusste, dass jeglicher Protest sinnlos war, genau wie eine Bitte, sich etwas Praktischeres anziehen zu dürfen.

Sie hatte es immer zu schätzen gewusst, dass sie am Rande der Stadt wohnte, wo sie für sich war und trotzdem schnell überall hinkam. So hatte sie Ruhe vor den betrunkenen Minenarbeitern, die sich durch die Vorräte der Saloons tranken und laut krakeelend in den frühen Morgenstunden aus den Freudenhäusern torkelten. Jetzt hätte sie alles darum gegeben, einen betrunkenen Minenarbeiter zu sehen. Denn hier konnte sie sich die Seele aus dem Leib schreien, ohne von jemandem gehört zu werden.

„Blasen Sie die Lampe aus!“, sagte Rafe, und sie beugte sich hinunter aus dem Sattel und kam seinem Befehl nach. Einen Moment war sie orientierungslos, als das Licht verlosch, auch wenn die dünne Sichel des Neumondes am Himmel aufging.

Er ließ seine Zügel los und streckte seine behandschuhte Hand aus, während er in der anderen die Pistole hielt. Der große Braune bewegte sich nicht, ein Ergebnis des guten Trainings und der Kontrolle der starken Schenkel um seinen Rumpf. „Geben Sie mir Ihre Zügel.“

Wieder blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu gehorchen. Nachdem sie ihm die Zügel gereicht hatte, zog er sie über den Kopf ihres Pferdes und schlang sie um sein Sattelhorn, sodass ihrem Pferd nichts anderes übrig blieb, als ihm zu folgen. „Und kommen Sie nicht auf die Idee, aus dem Sattel zu springen!“, warnte er sie. „Sie werden mir nicht entwischen – Sie machen mich damit nur verdammt wütend.“ Seine bedrohlich klingende Stimme sandte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. „Und das wollen Sie doch nicht.“

Er hielt die Pferde in einem gemächlichen Schritt, bis sie Silver Mesa ein gutes Stück hinter sich gelassen hatten. Dann verfiel er mit dem Braunen in einen leichten Galopp. Annie klammerte sich mit den Händen an ihren Sattel. Inzwischen wünschte sie, sie hätte ihre Handschuhe angezogen, denn die Nachtluft war beißend kalt. Ihr Gesicht und die Hände schmerzten schon vor Kälte.

Jetzt, da ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie gut genug, um zu bemerken, dass sie Richtung Westen ritten, tiefer in die Berge hinein. Weiter oben würde es noch kälter sein. Selbst mitten im Juli waren die hohen Bergspitzen noch schneebedeckt.

„Wo reiten wir hin?“, fragte sie, um einen ruhigen Ton bemüht.

„Nach oben“, entgegnete er knapp.

„Warum? Und weshalb zwingen Sie mich mitzukommen?“

„Sie haben doch selbst gesagt, dass ich einen Arzt brauche“, antwortete er gleichmütig. „Sie sind ein Arzt. Und jetzt halten Sie die Klappe.“

Sie gehorchte, musste jedoch ihre ganze Selbstkontrolle aufbringen, um nicht hysterisch zu werden. Auch wenn sie überhaupt nicht der Typ für hysterische Anfälle war, hätte sie wohl in diesem Fall jedes Recht dazu. In Philadelphia war es jedenfalls nicht üblich gewesen, dass die Leute einen Arzt entführten, wenn sie einen brauchten.

Es war jedoch nicht so sehr die Situation, die ihr Angst machte, sondern der Mann selbst. Seit er sie zum ersten Mal aus diesen kalten, hellgrauen Augen angesehen hatte, wusste sie, dass dieser Fremde gefährlich war, gefährlich wie ein Puma. Er könnte sich auf sie stürzen und sie schnell und problemlos töten. Sie hatte ihr Leben der Hilfe anderer verschrieben und wollte Leben retten. Er hingegen stellte das genaue Gegenteil all ihrer Grundsätze dar, aller Dinge, die ihr wichtig und wertvoll waren. Und trotzdem zitterten ihre Hände, wenn sie ihn berührte. Nicht nur aus Angst. Sondern auch, weil sein starker, männlicher Körper sie tief im Innern schwach werden ließ. Allein die Erinnerung daran trieb ihr die Röte in die Wangen. Als Ärztin war sie eigentlich zur Zurückhaltung verpflichtet.

Nachdem eine Stunde vergangen war, fühlten sich ihre Füße immer tauber an. Annie fragte sich, ob ihre Finger wohl brechen würden, wenn sie die Gelenke bewegte. Die Beine und der Rücken taten ihr weh, und sie zitterte unaufhörlich. Finster starrte sie auf den dunklen Umriss des Mannes, der ihr vorausritt, und fragte sich, wie er sich im Sattel halten konnte. Bei seinem Blutverlust, dem Fieber und der Infektion müsste er schon lange zusammengebrochen sein. So viel Durchhaltevermögen und Kraft waren beängstigend! Denn daran musste sie sich messen, wenn sie fliehen wollte.

Er hatte gesagt, dass er ihr nichts tun würde, aber wie konnte sie ihm glauben? Sie war ihm auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert. Und bis jetzt hatte er ihr noch keinerlei Grund geliefert zu glauben, dass ein Wesenszug wie Mitleid zu seinem Charakter gehörte. Er könnte sie vergewaltigen, sie töten, alles mit ihr tun, was er wollte; man würde ihre Leiche vermutlich sowieso nie finden. Jeder Schritt, den die Pferde machten, brachte sie weiter in Gefahr und machte es immer unwahrscheinlicher, dass sie es je nach Silver Mesa zurück schaffen würde.

„K…können wir bitte anhalten und ein F…Feuer machen?“, platzte sie heraus, erschrocken über ihre eigene Stimme. Ihre Zunge schien einem eigenen Willen zu gehorchen.

„Nein.“ Nur dieses eine Wort, nüchtern und unerbittlich.

„B…bitte!“, versuchte sie es erneut. Entsetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihn anflehte. „Mir ist s…so kalt.“

Er drehte den Kopf zu ihr um. Seine Miene konnte sie nicht erkennen, da der breite Hutrand Schatten warf, aber das schwache Leuchten seiner Augen war zu erkennen. „Wir können noch nicht anhalten.“

„Wann d…denn?“

„Wenn ich es sage.“

Doch kein Wort kam von ihm während dieser endlos langen Stunden, in denen es immer kälter wurde. Der Atem der Pferde stieg in gespenstischen Wolken auf. Als der Weg dann immer steiler wurde, fielen sie fast in Schritt. Einige Male musste er ihre Zügel in seine Hand nehmen, um ihr Pferd direkt hinter sich führen zu können, da der Pfad zu schmal wurde. Annie versuchte abzuschätzen, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, doch der körperliche Schmerz raubte ihr jede Wahrnehmung von Zeit. Sie zwang sich zu warten, bis sie glaubte, dass eine Stunde vergangen war. Doch als sie zum Mond blickte, stand er fast noch an der gleichen Stelle wie beim letzten Mal, als sie hochgesehen hatte.

Ihre Füße waren so eisig, dass jede Bewegung der Zehen eine Qual für sie war. Ihre Beine zitterten vor Anstrengung. Da ihre Hände nahezu nutzlos geworden waren, benutzte sie sie, um sich im Sattel zu halten. Ihr Hals und die Lungen fühlten sich rau an vor Kälte, und jeder Atemzug kratzte ihr in der Kehle. Sie schlug den Kragen hoch und zog den Kopf ein, um sich zu wärmen, doch der schützende Stoff flog immer wieder auf. Annie wagte es jedoch nicht, die Hände vom Sattel zu nehmen, um den Mantel zuzuhalten.

In stummer Verzweiflung richtete sie den Blick auf den breiten Rücken vor sich. Wenn er weiterreiten konnte, krank und verwundet, wie er war, dann würde sie es auch schaffen. Aber sie merkte, dass ihr verbissener Stolz nur so lange anhielt, bis er von den schieren körperlichen Qualen überschwemmt wurde. Zum Teufel mit ihm! Warum konnte er nicht endlich anhalten?