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Der krönende Abschluss der Abenteuer des Seelenfängers Ludwig van Normayenn: Seit geraumer Zeit verfolgen Ludwig und seine Gefährtin Gertrude die Spuren des geheimnisvollen dunklen Schmieds, der für die Tode mehrerer Seelenfänger verantwortlich ist. Endlich erhält Ludwig einen entscheidenden Hinweis auf dessen Identität: In einem uralten Buch soll sich eine Abbildung des Schmieds befinden, der die tödlichen Seraphimdolche erschafft. Ludwig geht einen verhängnisvollen Handel mit der Kirche ein, um das Buch zu bekommen. Doch wird er es schaffen, den Schmied ausfindig zu machen, bevor dieser mit seinen Dolchen das Tor zur Hölle öffnen kann?
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Übersetzung aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann
© Alexey Pehov 2014
Die russische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Prokljatyj gorn« bei AL'FA KNIGA, Moskau.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Stephanie Gauger, Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von Thinkstock und Shutterstock
Karte: Vladimir Bondar nach einer Vorlage von Alexey Pehov
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Cover & Impressum
1 Grabeszeit
2 Schatten über Ardenau
3 Ein Festmahl
4 Die vermaledeite Esse
5 Am Kreuzweg der Zeiten
6 Engelsstimmen
Ende der Geschichte
Glossar
Karte
»Dass aber auch ständig Gräber unseren Weg pflastern müssen!«, maulte Apostel mit finsterer Miene.
Meine ruhelose Seele starrte in den Straßengraben, aus dem die verkohlte Hand eines Toten herausstak. Der Rest des Körpers lag unter dem in der Märzsonne allmählich schmelzenden Schnee verborgen.
»Dabei hasse ich nichts so sehr wie sie!«, lamentierte Apostel weiter und wischte sich wütend das nie versiegende Blut von seiner eingeschlagenen Schläfe. »Das sind doch die reinsten Pockennarben im Antlitz der Erde! Warum, Ludwig, müssen wir bloß sterben?«
Ich blies auf die Klinge meines Dolchs, bis der von ihr aufsteigende graublaue Rauch abzog und vom nasskalten Frühlingswind davongetragen wurde. Die dunkle Seele dieses Toten hatte sich als überraschend stark herausgestellt, vor allem wenn man bedachte, dass der Mann lediglich vom Winter dahingerafft worden war.
»Und das willst du ausgerechnet von mir wissen?«, fragte ich zurück. »Was sagen denn die Heiligen Schriften dazu, aus denen du so gern zitierst?«
»Denn leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Wir leben nun oder wir sterben, so sind wir des Herrn«, antwortete Apostel widerwillig, den Blick nach wie vor auf die verschmurgelten Finger des Toten gerichtet. »Aber was hat sich der Herr bloß beim Tod eines Menschen gedacht? Er liebt uns doch, oder, Ludwig? Wieso stolpere ich dann an jeder Ecke über Leichen?«
»Die Beantwortung dieser Frage geht über meinen Verstand. Früher oder später sterben wir halt.«
Diese Worte entlockten Scheuch, der sich durch pikende Sträucher am Wegesrand schlug, ein eifriges Nicken. Er hatte gegen den Tod grundsätzlich nichts einzuwenden. Sollte er dann noch besonders grausam sein, umso besser.
»Wenn ich noch Tränen vergießen könnte«, fuhr Apostel fort, »hätte ich mir bei all den Toten längst die Augen ausgeweint.«
Mit einem Mal wirkte er müde und erschöpft, fast als wäre er keine lichte Seele, die weder Kälte noch Schmerzen oder Hunger verspürte, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut.
»So mutlos kenne ich dich ja gar nicht«, brachte ich sanft heraus. »Gibt es einen Grund dafür, dass du den Kopf so hängen lässt?«
»Wahrscheinlich bin ich heute einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden. Das kommt selbst bei Geschöpfen wie mir gelegentlich vor. Aber du willst mir ja wohl nicht weismachen, dass dich all die Toten kaltlassen, oder?! All diese Menschen … ganz egal, ob einer nun ein mieses Dreckschwein oder ein feiner Kerl war … heulen könnte ich, wenn ich nur an sie denke! Doch irgendeiner muss ja auch mal ein Herz zeigen …«
Ich steckte den Dolch in die Scheide und trat vom Graben zurück. Seit ein paar Minuten befand sich die Seele des Toten endlich in der Hölle.
»Allmählich habe ich das Gefühl, hinter deiner miesepetrigen Laune steckt etwas ganz anderes. Der Schmied für die Seraphimdolche lässt dir keine Ruhe, stimmt’s? Du hast ja erst gestern wieder von ihm angefangen.«
Apostel funkelte mich mit einen Blick an, der jeder wütenden Elster zur Ehre gereicht hätte.
»Wundert dich das etwa?! Der Kerl ist gefährlicher als ein Rudel tollwütiger Wölfe – aber du willst ihm unbedingt auf die Pelle rücken. Du weißt überhaupt nicht mehr, was Vorsicht bedeutet! Offenbar hast du vergessen, was für ein Blutbad er in Cruso angerichtet hat! Und dass er Cristina getötet hat!«
»Schluss jetzt!«, fuhr ich Apostel an.
Sobald ich die Augen schloss, sah ich jenes Gehöft vor mir. Überall waren damals riesige Lagerfeuer wie goldene Blumen erblüht, überall hatten verkohlte Leichen auf dem Boden gelegen. Als ich Cristina endlich entdeckt hatte, da hatte sie kaum noch geatmet. Verzweifelt hatte sie ihre letzten Worte herausgebracht. Irgendwann war ihr flacher Atem für immer versiegt. Trotzdem war ich neben ihrer Leiche sitzen geblieben, bis ich bis auf die Knochen durchgefroren war.
In der Morgendämmerung waren die Inquisitoren aus Cruso angeritten gekommen, unter ihnen auch Roman. Wortlos hatte er mir eine Flasche mit Weinbrand aus Narara hingehalten. Der scharfe Schnaps hatte mir die Lippen und die Zunge verbrannt. Überall um mich herum hatte es nun von Kirchenleuten gewimmelt, und Lanzenträger der Stadtwache hatten die gesamte Gegend abgesperrt.
Obwohl die goldenen Feuer fast erloschen gewesen waren, hatte sich ihnen niemand genähert, hatten sie doch nach wie vor eine unerträgliche Hitze ausgestrahlt. Die Leichen des Chagzhiden Adil und des Söldners Cesare aus Walters Bande waren auf einen Karren geladen worden. Als ein paar Mönche auch Cristina hatten wegschaffen wollen, hatte ich sie derart wütend angebrüllt, dass sämtliche Glaubensbrüder vor mir zurückgewichen waren und erst Romans Entscheidung hatten einholen wollen, vertrat er hier doch Kardinal Urban.
Roman hatte die Mönche kurzerhand fortgeschickt, mir eine Hacke gereicht und selbst zum Spaten gegriffen. Am Rand eines kleinen Birkenhains hatten wir Cristinas Grab ausgehoben.
Da die Erde steinhart gewesen war, hatte jeder Hieb in meinen Gelenken widergehallt. Trotzdem hatte ich die Arbeit unverdrossen fortgesetzt. Als wir unser Werk beendet hatten, hatte ich blutige Hände und entsetzliche Rückenschmerzen gehabt, Cristina aber dennoch allein zu der Grube getragen. Sie war erstaunlich leicht und klein. Roman hatte aus zwei jungen Birkenstämmen ein Kreuz angefertigt. Nachdem wir das Grab aufgeschüttet hatten, hatte Apostel das Totengebet gesprochen. Anschließend hatte ich Roman Cristinas Dolch übergeben.
»Wohnst du seiner Vernichtung bei?«, hatte ich gebeten. »Das darfst du doch, oder?«
Nickend hatte er die Klinge an sich genommen.
»Was hast du jetzt vor?«, hatte er wissen wollen.
»Ich kehre auf der Stelle nach Ardenau zurück.«
»Tut mir leid, Ludwig, aber daraus wird nichts«, hatte mir Roman eröffnet. »Dazu haben wir zu viele Fragen an dich. Und du wirst nicht darum herumkommen, sie zu beantworten.« Als er gesehen hatte, dass ich hatte widersprechen wollen, hatte er in nachdrücklichem Ton fortgefahren: »Glaub mir, es wäre besser für dich, das in meinem Beisein zu erledigen.«
Er hatte ja recht gehabt. Außerdem hätte ich eh weder Walter noch den Schmied der Seraphimdolche so schnell gefunden, denn es hatte nicht die geringste Spur von ihnen gegeben.
Ich hatte den Männern der Kirche also das Märchen von einem mächtigen Zauberer aufgetischt, der seine Kumpane verraten hatte und daraufhin geflohen war. Dass Walter noch lebte, stand für mich außer Frage, hatten wir seine Leiche doch nirgends entdeckt. Ein Schreiber hatte jedes meiner Worte auf Papier festgehalten, zwei Inquisitoren in grauen Kutten hatten mir nach meinem Bericht zum Abschied kurz zugenickt.
»Ich habe es dir schon einmal gesagt, doch ich wiederhole es gern: Bei Zauberern und dunklen Kräften bindet mir so schnell niemand einen Bären auf«, hatte Roman bemerkt, sobald wir wieder allein gewesen waren. »Wir beide wissen, dass Walter nicht hinter den goldenen Feuern steckt. Diese Flammen haben Kardinal Urban nur deshalb nicht getötet, weil wir heilige Reliquien dabeihatten. Doch selbst sie hätten beinahe versagt. Wer also ist der Mann, der das goldene Feuer entfacht hat? Was will er? Warum greift er erst die Menge auf dem Platz an, vernichtet danach aber diese Verschwörer?«
Unverdrossen hatte er darauf gehofft, dass ich mit der Wahrheit herausrücken würde.
»Sprich mit di Travinno«, hatte ich ihm jedoch bloß geraten.
»Der Mann, der aller Wahrscheinlichkeit nach der nächste Heilige Vater wird, dürfte sich mir gegenüber kaum sehr gesprächig zeigen«, hatte Roman grinsend zurückgegeben.
»Kardinal Urban hat nicht weniger Aussichten, der nächste Heilige Vater zu werden, sofern er bis zum Tod des gegenwärtigen am Leben bleibt. Sprich mit di Travinno«, war ich noch einmal in ihn gedrungen. »Er weiß mehr als ich.«
»Kardinal Urban wird mich ohnehin nach Riapano schicken, damit ich dort Bericht erstatte, denn er legt Wert darauf, dass der Heilige Vater über die jüngsten Ereignisse aus erster Hand in Kenntnis gesetzt wird und nicht auf Gerüchte angewiesen ist, von denen eines aberwitziger ist als das andere.«
»Lass mich dir noch einen Rat geben: Überzeuge Urban, das Seraphimauge an einem sicheren Ort zu verstecken!«
»Soll etwa dieser Steinbrocken an dem ganzen Tohuwabohu schuld sein?«, hatte Roman sofort nachgehakt. »Hat dieser verdammte Kerl all die Menschen auf dem Platz und hier auf dem Gehöft etwa bloß ermordet, weil er hinter diesem albernen Kettenanhänger her war?!«
»Ganz genau. Walter sieht das übrigens ebenso. Nimm dem Kardinal also diese Kette ab und bringe den Stein nach Riapano! Versteck ihn im sichersten Geheimfach, das es in der Heiligen Stadt gibt.«
»Urban ist stur wie ein Maultier. Ich fürchte, selbst mir wird es nicht gelingen, ihn davon zu überzeugen, sich von der Kette zu trennen.«
»Dann setze wenigstens das Gerücht in die Welt, dass er das Seraphimauge nicht mehr trägt. Behaupte einfach, seinem Gelübde sei Genüge getan worden. Sonst wird derjenige, der in Cruso das Feuer gelegt hat, wiederkommen. Und beim nächsten Mal erreicht er sein Ziel.«
»Das worin besteht?«
»Frag di Travinno danach!«, war ich erneut einer klaren Antwort ausgewichen. »Er weiß mehr als ich.«
Das hatte Roman nicht geschmeckt, der am liebsten hier und jetzt aus mir herausgepresst hätte, was ich wusste. Andererseits hatte ich ihn nicht an irgendjemanden verwiesen, sondern an einen engen Vertrauten des Heiligen Vaters. Wohl oder übel hatte Roman also einmal tief durchgeatmet und sich mit meinen Worten zufriedengegeben.
»Möge Gott mit dir sein, van Normayenn«, hatte er nur noch gemeint, während er sich fest in seinen Pilgerumhang gehüllt hatte.
Daraufhin hatten wir uns getrennt und waren in unterschiedliche Richtungen davongezogen, Roman weiter nach Süden, ich nach Norden. Und Mitte März hatte ich endlich das Herzogtum Udallen erreicht …
Phlagenhurt, die drittgrößte Stadt des Landes, lag glücklicherweise auf dem Weg nach Ardenau, bis auf den kleinen Zwischenfall mit der dunklen Seele war ich bisher recht gut vorwärtsgekommen.
»Willst du den Mann denn nicht begraben?«, fragte Apostel, als ich nach getaner Arbeit meinen Weg endlich fortsetzen wollte.
»Ohne Spaten?!«
»Hast ja recht«, maulte Apostel. »Immerhin ist dir damit der Dank der Füchse und anderer Gottesgeschöpfe sicher …«
Ich nahm meinen schweren Säbel mit dem S-förmigen Handkorb auf – eine Klinge, wie sie eigentlich von der Reiterei geführt wurde – und schulterte den Rucksack, dessen Boden vom Liegen im Schnee völlig durchnässt war. Apostel setzte derweil Scheuch des Langen und Breiten etwas auseinander, wobei dieser allerdings so tat, als wäre er urplötzlich taub geworden, was den alten Schwadroneur natürlich fuchsteufelswild machte.
»Was versuchst du denn unserem guten Scheuch begreiflich zu machen?«, fragte ich Apostel.
Rechter Hand erstreckten sich nun graue, noch nicht bestellte Felder, linker Hand lagen hinter einem Lattenzaun Weiden, auf denen in dieser Jahreszeit aber natürlich kein einziges Tier graste. In der Ferne machte ich ein Dorf aus.
»Ich versuche, diesen begriffsstutzigen, maulfaulen Herrn dazu zu bringen, dass er dir klarmacht, wie gefährlich es für dein leibliches Wohlbefinden ist, mit diesem unbekannten Schmied Haschen zu spielen.«
»Wie soll ich bitte mit jemandem Haschen spielen, der mir, wie du ganz richtig festgestellt hast, völlig unbekannt ist? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie dieser Schmied aussieht, ganz zu schweigen davon, dass es mir nach wie vor ein Rätsel ist, wohin er sich verdünnisiert hat, nachdem er in Cruso herumgezündelt hat. Übrigens möchte ich dich noch darauf hinweisen, dass ich nicht seinetwegen nach Phlagenhurt reise.«
»Diesen Bären willst du ja wohl nicht mir aufbinden?! Mir – dem einzigen Freund, der stets und ständig um dich besorgt ist?!« Nach diesen Worten wirbelte er zu Scheuch herum. »Da brauchst du gar nicht so blöd zu grinsen! Was glaubst du denn, wo Ludwig ohne mich heute wäre?!«
»Gönn Scheuch den kleinen Spaß doch«, tadelte ich Apostel. »Schließlich läuft er seit über einer Woche mit einer Miene wie drei Tage Regenwetter herum.«
»Sollen wir angesichts unserer gegenwärtigen Lage etwa auch noch frohen Mutes durch die Gegend ziehen?! Wenn Cristina recht hat, dann will dieser Schmied ein Tor zur Hölle öffnen. Wir täten also gut daran, sofort in die nächste Kirche zu rennen und unsere Sünden zu beichten, schließlich ist unser aller Ende nahe! Aber nein, du musst ja unbedingt erst noch nach Phlagenhurt! Bloß weil da die Tochter dieses Walters lebt.«
»Ich habe Cristina nun einmal versprochen, das Mädchen nach Ardenau zu bringen.«
Apostel setzte schon zu einer Erwiderung an, schloss dann aber den Mund und nestelte am Kragen seiner Soutane herum.
»Tu dir bloß keinen Zwang an«, forderte ich ihn auf, »sondern sprich ruhig frei von der Leber weg.«
»Der Herrgott würde mir diese Worte verübeln.«
»Seit wann hindern dich derartige Lappalien daran, ordentlich vom Leder zu ziehen?«
»Nun gut, Ludwig, du hast es so gewollt. Lass dir aber eins gesagt sein! Du tätest gut daran, einen riesigen Bogen um das Balg von dem Zauberer zu machen«, polterte er los. »Da, wo ich herkomme, werden solche Kinder gleich nach der Geburt wie Katzen ertränkt. Das ist grausam, ich weiß, aber dafür bleiben dir später etliche Probleme erspart.«
»Rätst du mir da etwa gerade«, setzte ich an, während ich über eine Pfütze sprang, »ein unschuldiges Mädchen zu ermorden?«
»Noch mag dieses Mädchen unschuldig sein! Doch wart’s nur ab, bis es gelernt hat, dunkle Zauber zu wirken und einen Krötenregen heraufzubeschwören! Wir alle wissen, was Walter für ein Dreckskerl ist! Weshalb sollte seine Tochter da besser sein? Bekanntlich fällt der Apfel ja nicht weit vom Stamm …«
»Und deshalb soll ich sie sicherheitshalber gleich ersäufen?«
»Nein, natürlich nicht«, stammelte er, nun doch verlegen. »Es widerspräche dem Gesetz des Allmächtigen, ein Geschöpf zu bestrafen, das sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Und für das Verhalten ihres Vaters kann die Kleine ja schließlich nicht zur Verantwortung gezogen werden.«
»Dem gibt es nicht das Geringste hinzuzufügen.«
Am Dorfeingang lag unmittelbar an der Straße eine Poststation. Inmitten all des Schlamms, der Pfützen und des geschmolzenen Schnees wirkte das kleine Haus mit seinen roten Dachziegeln geradezu anheimelnd.
Die vierspännige Kutsche, die sich in dieser ärmlichen Gegend höchst prachtvoll ausnahm, stand schon zur Abfahrt bereit.
»Da haben wir aber Glück«, stieß ich aus und begann wie wild zu winken, um mir die Aufmerksamkeit des Kutschers zu sichern, der gerade auf den Bock kletterte.
»Tut mir leid, aber wir nehmen nur Herrschaften von Stand mit!«, rief er mir zu. »In zwei Stunden kommt aber die Kutsche für das gemeine Volk.«
»Ich gehöre der Bruderschaft an«, erwiderte ich rasch, denn ich wollte auf gar keinen Fall länger in diesem trostlosen Nest festhängen.
Der Kutscher warf mir unter seinem breitkrempigen Hut einen finsteren Blick zu und beäugte den Sternsaphir am Knauf meines Dolchs. Wir Seelenfänger hatten das Recht, mit jeder Kutsche zu fahren, der Mann kam also nicht umhin, mich mitzunehmen, selbst wenn er irgendeinen Grafen durch die Gegend kutschierte. Die Bruderschaft hatte dafür gesorgt, dass man uns überall einen Platz in der Kutsche anbieten oder uns – sollte sich einmal keiner finden – beim Kauf eines Pferdes helfen musste.
»Dann rein mit dir! Kostet dich allerdings das hübsche Sümmchen von einem halben Silberflorin.«
»Das ist Raub, Ludwig!«, ätzte Apostel. »Die Bruderschaft hätte längst durchsetzen müssen, dass ihr Seelenfänger überhaupt nichts für eine Fahrt zahlt! Bis zur Stadt braucht der Kerl nicht mal vier Stunden! Wofür will er uns also diese Unsumme abknöpfen?! Oder ist seine Kutsche vielleicht ein Freudenhaus auf Rädern?!«
Mir war völlig schleierhaft, weshalb Apostel sich auf einmal derart um mein Geld sorgte. Warum nahm er sich nicht einfach ein Beispiel an Scheuch? Der kletterte bereits behände und angenehm schweigsam auf den Kutschbock und von dort weiter aufs Wagendach.
Ich zahlte dem Kutscher klaglos den halben Silberflorin, drückte den schweren Türgriff hinunter und stieg ein. Mich erwarteten gut gepolsterte Lederbänke, samtverkleidete Wände, vergoldete Nieten, kristallene Wandleuchter in Form kleiner Skulpturen sowie zwei Mitreisende.
»Guten Tag«, begrüßte ich sie.
Der Mann war fortgeschrittenen Alters und hatte eine breite Brust, schütteres Haar und einen dichtem Backenbart. Er trug teure Kleidung, und um seinen Hals baumelte eine Kette, die ihn als irgendeinen Würdenträger auswies. Die blutjunge Frau wirkte mit ihrer von dem kastanienbraunen Haar noch unterstrichenen Blässe beinah zerbrechlich. So ähnlich, wie die beiden sich sahen, mussten sie miteinander verwandt sein. Möglicherweise waren es ja Vater und Tochter, vielleicht aber auch Onkel und Nichte.
Der Mann maß mich mit einem abschätzigen Blick. An meiner Aufmachung gab es zwar nichts zu beanstanden, doch als Adliger ging ich selbstverständlich nicht durch. Nach Dafürhalten des werten Herrn verdiente ich also keinen Platz im Inneren dieser Kutsche. Doch bevor er auf den Schlag weisen konnte, ergriff die junge Frau das Wort.
»Das ist die Expresskutsche nach Phlagenhurt, die ausschließlich Adligen aus Waugth und Dorgelbeu vorbehalten ist.«
»Habt Dank für den Hinweis«, erwiderte ich – und blieb gelassen sitzen.
»Klaus von Demp, Landrat aus Dorgelbeu«, stellte sich der Mann nun, wenn auch ungern, vor. »Und das ist meine Tochter Ulrike. Wer bitte seid Ihr, wenn ich fragen darf?«
»Ludwig van Normayenn, Angehöriger der Bruderschaft«, antwortete ich und wandte mich dann wieder an Ulrike. »Glaubt mir, Herrin, unter anderen Umständen hätte ich es nie gewagt, diese Kutsche zu nehmen.«
»Seelenfänger dürfen jede Kutsche benutzen«, erklärte der Landrat seiner Tochter.
»In diesem Fall verzeiht mir bitte meine Unhöflichkeit, Herr van Normayenn«, erwiderte diese lächelnd. »Bei unserer letzten Fahrt wollte nämlich ein Student in buntem Umhang zusteigen, den hat mein Vater kurz entschlossen in den Straßengraben geworfen.«
Klaus von Demp knurrte wie ein alter Hund. Anscheinend wurde er an diesen Vorfall nicht gern erinnert.
»Fahrt Ihr auch nach Phlagenhurt?«, erkundigte sich Ulrike nun.
»So ist es, Herrin.«
»Wart Ihr schon einmal in der Stadt?«
»Ulrike«, tadelte ihr Vater sie, »diese Neugier ziemt sich nicht.«
»Verzeiht«, bat mich die junge Frau mit gesenktem Blick, »ich wollte nicht aufdringlich erscheinen.«
»Was für ein reizendes Geschöpf!«, begeisterte sich Apostel, der neben mir Platz genommen hatte.
»Keine Sorge, das seid Ihr nicht«, beruhigte ich Ulrike. Inzwischen hatte sich die Kutsche in Bewegung gesetzt. Sie glitt angenehm sanft dahin. »Und um Eure Frage zu beantworten: Ich bin noch nie in Phlagenhurt gewesen.«
»Die Stadt wird Euch bestimmt gefallen, vor allem der alte Kern und die herzoglichen Gärten beim Sommerpalast. Zu bedauerlich, dass es noch nicht April ist und noch nichts blüht. Ihr seid aus Albaland, nicht wahr, dem Land der Tulpen …«
Ich nickte. Die albaländischen Seeleute hatten in der Tat aus Chagzhid die ersten Tulpen mitgebracht.
»Solltet Ihr noch keine Unterkunft haben, würde ich Euch das Zwei Herzen und ein Degen empfehlen. Es ist die beste Herberge in der ganzen Stadt.«
»Du, Ludwig, was, wenn diese Kleine gar nicht so harmlos ist?«, platzte es da aus Apostel heraus. »Was, wenn ihr allein der Gedanke, Tür an Tür mit einem echten Seelenfänger zu schlafen, den Verstand raubt und sie dann nachts in dein Bett kraucht? Wofür ihr Herr Papa dir am Ende natürlich tüchtig das Fell gerbt.«
Auf diesen Unsinn antwortete ich gar nicht erst, was in dieser Runde natürlich auch ratsam war.
»Ich werde Euren Rat im Hinterkopf behalten«, versicherte ich. »Habt Dank dafür.«
Damit war das Gespräch für Ulrike beendet. Sie schob sich ein Atlaskissen unter den hübschen Kopf, lehnte sich zurück und schlummerte ein.
»Ihr wisst«, wandte ihr Vater sich an mich, sobald Ulrike fest schlief, »dass Phlagenhurt möglicherweise unruhigen Zeiten entgegensieht?«
»Nein, davon ist mir nichts bekannt«, gab ich zu. »Warum begebt Ihr Euch dann ausgerechnet jetzt in die Stadt? Noch dazu in Begleitung Eurer Tochter?«
»Der Stadtrat muss eine wichtige Entscheidung treffen. Dafür müssen zunächst wir Landräte zusammenkommen. Ulrike werde ich jedoch von Phlagenhurt aus zu ihrer Tante nach Burgon schicken. Sie bleibt nur eine Nacht in der Stadt und reist gleich morgen früh mit der ersten Kutsche weiter. Deshalb sehe ich für sie keine Gefahr.«
»Was genau braut sich denn in Phlagenhurt zusammen?«
»Wie Ihr sicher wisst, hat die Stadt ihren Reichtum den Handwerkern zu verdanken«, holte er mit einem schweren Seufzer aus. »Seit dreihundert Jahren wächst und gedeiht Phlagenhurt dank seiner Meister, Gilden und Händler. Bisher gab es unter ihnen jedoch meist Streit, da jeder die billigsten Zulieferer und die zahlungskräftigsten Kunden für sich beanspruchte. Nun aber haben sie sich erstmals in ihrer Geschichte zusammengeschlossen und proben den Aufstand, weil ihnen einige Entscheidungen des Herzogs nicht passen. Ihr werdet vielleicht gehört haben, dass er von allen Städten im Norden höhere Abgaben verlangt, um den Unterhalt der Armee zu bestreiten?«
»Auch das ist mir neu, ich bin nämlich nur selten in Udallen. Droht denn ein Krieg?«
»An der Grenze zu Leserberg kam es im Januar wegen der Kohlenschächte zu einigen kleineren Scharmützeln.« Er befingerte abwesend die goldene Kette um seinen Hals. »Wir alle hoffen zwar, dass es damit sein Bewenden hat, doch der Herzog will die Armee trotzdem aufstocken. Das Land hat seit rund dreißig Jahren keinen Krieg mehr geführt, nun aber hat der Herzog in der Pholotischen Republik Arkebusen und Kanonen angekauft und sechs berittene Regimenter ausgehoben, welche die Grenze verstärken sollen. Ihr wisst selbst, welche Unsummen Maßnahmen dieser Art verschlingen.«
In der Tat. Pferde, Klingen, Harnische, Pulver und Kugeln, Futter für die Tiere, Sold für die regulären Kräfte, Ausgaben für Söldner und so weiter und so fort – da kam ein nettes Sümmchen zusammen.
Obendrein machte es mich stutzig, dass es zu diesen Grenzstreitigkeiten gekommen war, kurz nachdem sich der Herzog von Udallen in dem Streit, der zwischen Orden und Bruderschaft um den jungen Eric entbrannt war, auf die Seite von uns Seelenfängern gestellt hatte. Der Orden sann danach natürlich auf Rache. Und er hatte in Leserberg einen nicht unbeachtlichen Einfluss …
Ging es also wirklich um Kohlenschächte? Oder hatten wir es hier mit einer handfesten Verschwörung zu tun?
Doch selbst wenn, schien mir ein Krieg unwahrscheinlich. Der Fürst von Leserberg mochte mit dem Orden auf noch so gutem Fuße stehen, er würde sich auf kein Spiel einlassen, bei dem er seine Untertanen in den sicheren Tod schickte und seine Staatskassen leeren müsste.
»Und die Handwerker haben vermutlich nicht die geringste Lust, diese Unsummen aufzubringen«, erwiderte ich. »Selbst dann nicht, wenn nur mit einem kurzen Krieg zu rechnen wäre.«
»Völlig richtig. Obendrein fiel die Ernte im letzten Jahr ausgesprochen schlecht aus, sodass die Preise für Brot, Gemüse und Obst geradezu in die Höhe geschnellt sind. Schon im letzten Frühjahr wurden indes die Abgaben für die Armee angehoben, nun will der Herzog die Steuern ein zweites Mal erhöhen, zudem in deutlich stärkerem Maße. Die Gilden unterstützen nun jedoch die Handwerker, denn alle, die mit Seide, Fell und Gewürzen aus Chagzhid handeln, sollen ebenfalls kräftig belangt werden. Doch wer hätte je einen Kaufmann erlebt, der gern dreißig Prozent seiner jährlichen Einkünfte an einen Herzog abgibt?«
»Weshalb die Gilden den Unmut schüren …«
»Ganz genau«, antwortete er und linste zu seiner schlafenden Tochter hinüber. »Die Handwerker glühen bereits vor Wut, da reicht ein einziger Funke, um einen gewaltigen Brand zu entfachen.«
»Und was genau könnte dieser Funke sein?«
»Wenn wir Landräte der Steuererhöhung zustimmen.«
»Kann der Herzog diese Maßnahme nicht allein beschließen?«
»Nein, nicht in Phlagenhurt. Hier wird es seit Jahrhunderten so gehandhabt, dass zunächst die Landräte eine Anhebung der Steuern billigen müssen. Sprechen sie sich dafür aus, setzt der Stadtrat, der aus acht gewählten Männern besteht, einen entsprechenden Beschluss auf und legt diesen dem Bürgermeister vor. Und erst wenn auch der sein Siegel unter die Verfügung gesetzt hat, erlangt der Befehl des Herzogs Gültigkeit.«
Grinsend wanderten meine Gedanken zu Herzog Richard von Zaberg, diesem Mann mit höchst eigenem Kopf …
»Stellen sich die Landräte denn häufig quer?«
»Nein, niemals.«
»Wieso vergeuden achtbare Männer bloß ihre Zeit mit diesem albernen Prozedere?!«, spie Apostel aus.
»Was bedeutet«, fuhr ich fort, »dass Ihr auch dieser Anhebung der Steuern zustimmen werdet.«
»Was bleibt uns denn anderes übrig?«, jammerte von Demp. »Wir brauchen eine starke Armee – und dafür sind entsprechende Mittel nötig. Nein, lieber weisen wir dieses unzufriedene Pack ein für alle Mal in seine Schranken, als dass wir wegen Hochverrats angeklagt werden. Die Meute kocht, das ja, aber meiner Ansicht nach hat sie nicht den Mumm in den Knochen, zu den Waffen zu greifen und gegen den Herzog zu ziehen. Der Bürgermeister zahlt der Stadtwache nämlich gutes Geld.«
»Aber ob sie gegen die wütende Menge ankäme?«, hielt ich dagegen.
»Ein berechtigter Einwand. Genau deshalb haben wir Landräte bereits im September zugestimmt, Söldner anzuheuern. Und ich spreche hier von fünfhundert gut ausgebildeten Soldaten!«
Mit anderen Worten: fünfhundert gut ausgebildete Meuchelmörder. Allerdings hatten diese Schlächter gewöhnlich nur wenig für die Herren im Norden übrig, weshalb ich meine Hand lieber nicht dafür ins Feuer legen würde, dass sie bei einem Aufruhr treu zum Bürgermeister hielten und der Verlockung widerstehen könnten, sich dem Pöbel anzuschließen und mit ihm zu rauben und zu schänden.
»Was ist mit regulären Truppen?«, wollte ich daher wissen. »Sind welche in der Stadt stationiert?«
»Das sind sie. Der Herzog hat ein Regiment Fußsoldaten und eine Brigade der leichten Reiterei nach Phlagenhurt beordert. Man wird also jeden Aufruhr in den Griff bekommen.«
»Das hat man in Liesetzk auch gedacht – und dann hat das Volk die Soldaten im nächstbesten Fluss ertränkt«, rief ich ihm in Erinnerung. »Bei einem Aufruhr verwandeln sich normale Menschen leider in der Regel in blutdürstige Untiere.«
»Mir jagt dieser Pöbel bestimmt keine Angst ein.«
Sollte er aber.
»Wann treten die Landräte denn zusammen?«, erkundigte ich mich.
»Übermorgen Mittag. Bis dahin ist Ulrike längst auf dem Weg zu meiner Schwester.«
»Gestattet Ihr mir eine Frage?«
»Nur zu!«
»Warum erzählt Ihr mir das alles? Warum habt Ihr keinen Einwand erhoben, als Eure Tochter mir die Herberge empfohlen hat, in der auch Ihr Unterkunft nehmen werdet?«
Einen ausgedehnten Moment lang sah er mich unverwandt an, dann senkte er den Blick.
»Mein Vater hat euch Seelenfänger stets einen Haufen elternloser Straßenkinder geschimpft«, gab er schließlich zu. »Er hat in euch einen frischen Wurf gesehen, aus dem es die besten Hunde auszuwählen und für die Jagd abzurichten gilt. Allein bei dem Gedanken, dass wir Adligen euch wie unseresgleichen behandeln und euch allerlei Freiheiten durchgehen lassen müssen, schäumte er vor Wut.«
Herren wie seinen Vater kannte ich zur Genüge. Sie verwanden einfach nicht, dass Menschen wie ich über Fähigkeiten verfügten, die nicht einmal Könige besaßen. Dass wir – rein theoretisch – steinalt werden konnten. Alle Sonderrechte, die man uns eingeräumt hatte, fuchsten sie. Beispielsweise das Recht – oder, in ihren Augen, vielmehr die himmelschreiende Ungerechtigkeit –, in ihrer Kutsche mitfahren zu dürfen.
»Ich weiß genau, was Ihr meint«, erwiderte ich von Demp. »Doch selbst die höchsten Adligen werfen solche Ansichten über Bord, sobald sich in ihrem Haus unerklärliche Vorfälle ereignen. Dann können wir gar nicht schnell genug eintreffen, ja, dann schicken sie uns ihre Kutsche sogar entgegen.«
»Dem kann ich nicht widersprechen«, bemerkte er. Ob meine Worte ihn beleidigt hatten, war mir nicht ganz klar. »Gleichwohl hüten wir Adligen unsere Privilegien und Rechte eifersüchtig. Man schätzt Seelenfänger nicht, es sei denn, auch sie sind von Stand, wie es beispielsweise bei den Kindern unseres Herzogs der Fall ist.«
Apostels Miene verfinsterte sich immer stärker. Da er es als sein alleiniges Vorrecht betrachtete, mich gehörig abzukanzeln, ertrug er es kaum, dass mich dieser Landrat als Menschen zweiter Klasse hinstellte.
»Und trotzdem sitze ich nun mit Euch in dieser Kutsche.«
»Was will man machen? Die Gesetze sehen es eben so vor«, entgegnete er mit einem Lächeln, das mir klar zu verstehen gab: Ohne diese Gesetze wärst du jetzt noch nicht auf dem Weg nach Phlagenhurt. »Im Übrigen urteile ich nicht ganz so streng über euch Seelenfänger wie mein Vater und bilde mir etwas weniger auf meinen Stammbaum ein. Die Zeiten ändern sich nun einmal.«
Er ließ sich gegen die weiche Rückenlehne sacken und blickte zum Fenster hinaus.
»Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet«, erinnerte ich ihn, nachdem ich mit einem Hüsteln seine Aufmerksamkeit auf mich gelenkt hatte. »Warum habt Ihr mir keine andere Herberge ans Herz gelegt, wenn Euch die Gesellschaft eines Seelenfängers unangenehm ist?«
»Ihretwegen«, gab von Demp zu und nickte zu seiner Tochter hinüber. »Ulrike wollte schon immer einmal einen Seelenfänger kennenlernen.«
Nach dieser Auskunft widmete er sich wieder hingebungsvoll der Betrachtung der Landschaft.
»Der lügt doch das Blaue vom Himmel herunter!«, zischte Apostel. »Dem steht doch auf der Stirn geschrieben, worauf er aus ist!«
Mit einer knappen Kopfbewegung forderte ich meine gute alte ruhelose Seele auf, mich in seine Vermutungen einzuweihen.
»Er will in deiner Nähe sein, falls Unruhen in der Stadt ausbrechen, denn ihr Seelenfänger werdet in der Regel ja in Ruhe gelassen.«
Meine Gedanken wanderten erneut zum Aufstand in Liesetzk zurück. Damals waren Hans und ich der entfesselten Menge nur mit knapper Not entkommen. Dass man Seelenfänger in Frieden ließ, hatten unsere Verfolger im Eifer des Gefechts glatt vergessen.
Im Zweifelsfall würde ich von Demp also keine große Hilfe sein.
Scheuch war beim besten Willen nicht vom Fenster wegzulocken. Er glich einem Fuchs, der ein paar Küken gewittert hat und dem in Vorfreude auf den Bissen schon das Wasser im Munde zusammenläuft. In seinem Fall bedeutete dieser Bissen im Übrigen ein Schauspiel, das für die meisten Beteiligten mit einem blutigen Tod endete.
Die Lage in der Stadt war tatsächlich äußerst angespannt. Eine unruhige Stimmung wälzte sich durch die Straßen, und Angst kroch in sämtliche Häuser. Diesen beiden unzertrennlichen Weggefährten schlich indes bereits ein dritter Gesell hinterdrein, ein alter Gevatter, der sich aber noch im Schatten hielt, sodass seine Sense nur selten im Mondlicht aufblitzte.
Die Menschen flüsterten nur noch miteinander, beäugten immer wieder die verstärkten Patrouillen und linsten besorgt zu den Söldnern hinüber, während sie zur Nacht die Türen verriegelten und die Fenster mit Läden verrammelten. Sie verschanzten sich förmlich in ihren vier Wänden.
Sobald es dämmerte, zündete ich ein paar Kerzen an. Apostel stellte sich nun neben Scheuch und beobachtete ein Dutzend Soldaten mit Brustharnischen, Hellebarden und Fackeln.
»Ludwig!«, jaulte er. »Verlass diesen Ort, ehe es zu spät ist! Warte nicht erst, bis ein Unglück geschieht, sondern spring in die nächste Kutsche, sattle ein Pferd oder eile auf Schusters Rappen von dannen – aber verschwinde von hier! Schnellstens! Diese Schafsköpfe von Landräten stimmen doch ohne Frage der Steuererhöhung zu. Wenn die Handwerker aber erst einmal ihren Unmut darüber kundtun, bleibt hier kein Stein mehr auf dem anderen.«
»Hast du eigentlich vergessen, weshalb wir hier sind?«, erwiderte ich, während ich mir die Stiefel auszog. »Ohne Walters Tochter breche ich ganz gewiss nicht auf.«
»Beim Heiligen Lukas! Du bist doch ein gescheiter Mann, dem ich eigentlich nicht alles vorkauen muss! Schnapp dir das Mädchen halt und hau mit ihm ab!«
»Daraus wird leider nichts, denn Walters Haus liegt hinter dem sogenannten Mühlrad, also im Bereich der inneren Stadtmauer. Wie mir die Wirtin vorhin berichtet hat, ist das Tor aufgrund der angespannten Lage bereits geschlossen worden. Ich komme also erst morgen früh dorthin. Bis dahin gedenke ich übrigens, mir eine Mütze Schlaf zu gönnen. Obendrein muss ich morgen erst noch die nötigen Papiere besorgen, damit ich die Kleine mit nach Ardenau nehmen kann.«
»Aber natürlich, es muss ja alles hübsch seine Ordnung haben! Nicht, dass der Orden dir am Ende noch Schwierigkeiten bereitet, weil du … wie heißt das noch mal?«
»Die Einverständniserklärung eines Angehörigen zur Aufnahme in der Bruderschaft. Sie muss von den Eltern oder einem Vormund unterschrieben sein, falls es sich um eine Waise handelt. Dieser Vormund kann jeder Priester sein. Außerdem brauche ich noch Siegel von den zuständigen Stellen der Stadt und eine Beglaubigung.«
»Komm doch endlich weg von hier!«, fuhr Apostel nun Scheuch an. »So finster, wie es da draußen ist, sehen wir sowieso nichts!«
Scheuch rührte sich natürlich keinen Fußbreit.
»Wieso ist Walter eigentlich so sicher, dass sein Kind über die Gabe verfügt?«, nahm Apostel mich weiter ins Verhör. »Denn wenn das wirklich stimmt, hätten die dunklen Seelen die Kleine doch längst entdecken und ausschalten müssen, oder etwa nicht?«
»Vielleicht ist ihre Gabe ja erst vor ein paar Monaten zutage getreten oder nur sehr schwach, sodass die dunklen Seelen die Kleine nicht wittern. Bei Kindern unter neun ist das meistens der Fall.«
»Warum nimmt die Bruderschaft dann sogar schon Fünfjährige auf?«
»Weil sie genau wie der Orden natürlich möglichst junge Kinder unter ihre Fittiche nehmen möchte, um sie aufs Beste auszubilden.«
»Aber dir ist nicht ganz wohl dabei, dieses Mädchen der Bruderschaft zu übergeben, stimmt’s?«
Manchmal traf Apostel den Nagel erstaunlich gut auf den Kopf. Ich hüllte mich jedoch bloß in Schweigen.
»Hast du Angst«, fuhr er deshalb fort, »dass die Kleine in Ardenau als eine Art Geisel genommen wird?«
»Sie wird in Ardenau die Schulbank drücken und sich darin in nichts von anderen Kindern unterscheiden. Sollte der Rat jedoch eine Möglichkeit sehen, über sie Druck auf Walter auszuüben, dann wird er nicht zögern, sie zu nutzen, da bin ich mir in der Tat sicher.«
Während Apostel sich meine Worte durch den Kopf gehen ließ, streckte ich mich auf dem Bett aus.
»Du hast jetzt noch genau eine Frage«, teilte ich ihm mit. »Denn im Unterschied zu dir muss ich auch mal schlafen.«
»Was glaubst du, warum dieser Zauberer Cristina gebeten hat, seine Tochter nach Ardenau zu bringen? Warum wollte er sie nicht dem Orden geben, wo er sich mit dem doch so gut versteht?«
»Das sind schon zwei Fragen«, entgegnete ich und schob eine Hand hinter den Kopf. »Aber wenn die Geschichte stimmt, dass der Seraphimschmied mit dem Orden unter einer Decke steckt, dann dürfte Walter kaum darauf erpicht sein, dass seine Tochter in dieses Vipernnest gerät.«
»Mir kommt das eher wie der halbherzige Versuch vor, Buße zu tun. Oder, wenn du es so ausdrücken willst, Ablass zu leisten. Schließlich sind seinetwegen etliche Seelenfänger gestorben.«
»Wirklich, Apostel, mitunter denkst du einfach zu gut von den Menschen. Und nun lass mich schlafen!«
»Ludwig! Wach auf!«, schrie mir Apostel so laut ins Ohr, als wollte er ein steinernes Standbild zum Leben erwecken.
Benommen setzte ich mich im Bett auf.
»Was zum Teufel ist los?!«, wollte ich wissen.
Durch das Fenster fiel purpurrotes Licht ins Zimmer. Scheuch klebte förmlich an der Scheibe. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, was dieser rote Widerschein zu bedeuten hatte.
»Verflucht!«, stieß ich aus und zog mich rasch an. »Warten sie die Entscheidung der Landräte also gar nicht erst ab!«
»Was hat das Feuer mit den Landräten zu tun?!«
»Apostel, das sind die Handwerker! Die proben den Aufstand!«
»Jesus Christus, steh mir bei!«, fiepte Apostel. »Bist du dir da ganz sicher?!«
»O ja!«, stieß ich aus. »Warum musste das bloß ausgerechnet jetzt geschehen?!«
Von der Straße drang Geschrei herauf. Als ich zum Fenster hinausspähte, erblickte ich Menschen mit Fackeln in der Hand. Fast zwei Dutzend Gestalten versuchten mit einer Sitzbank aus Eichenholz, die Tür im Nachbarhaus einzurammen, weitere Finsterlinge nahmen sich unsere Herberge vor.
»Wunderbar!«, ätzte ich und nahm mein ganzes Geld aus dem Rucksack.
»Was wollen die von uns?«
Daraufhin fuhr sich Scheuch in höchst beredter Weise mit dem Finger über die Kehle.
»Apostel, ich bitte dich! Was wollen Menschen bei einem Aufstand? Töten, rauben, alles kurz und klein schlagen, Feuer legen und Frauen schänden. Für die Reihenfolge würde ich mich nicht verbürgen«, antwortete ich, während ich den Säbel vom Tisch nahm und an meinen Gürtel knöpfte. Für ein paar Pistolen hätte ich jetzt einiges gegeben … »Diese hirnlosen Burschen dürsten nach Blut. Sie werden hier auf eine Art und Weise wüten, die jede Söldnerhorde wie eine Herde unschuldiger Schäfchen wirken lässt.«
»Aber Phlagenhurt ist doch ihre Stadt! Sie müssen morgen auch noch hier leben!«
»Wann hätten solch kleinliche Überlegungen die Menschen je in Zaum gehalten? Um sich von friedliebenden Bürgern in blutrünstige Bestien zu verwandeln, bedarf es nur weniger Minuten. Denk an Liesetzk!«
Inzwischen hörten wir bereits schwere Schritte die Treppe hochkommen.
»Ist es das Zimmer?«, brüllte jemand vor meiner Tür.
»Nein!«, antwortete die Wirtin. »Das am Ende des Gangs.«
Verängstigt klang sie nicht gerade.
Abermals vernahm ich das Stapfen von Schritten. Die Horde zog weiter …
Apostel und ich blickten uns an. Wir wussten beide, wer dort untergebracht war.
»He, du räudige Landratsratte!«, schrie jemand, während er wie wild an eine Tür hämmerte. »Mach sofort auf!«
»Herr im Himmel!«, stieß Apostel aus. »Sind das wirklich noch Gottes Geschöpfe?«
Scheuch war längst hinausgeschlüpft, um sich ja nicht die geringste Einzelheit des Spektakels entgehen zu lassen.
»Hilf diesem von Demp!«, verlangte Apostel da von mir.
»Woher der plötzliche Sinneswandel?«, fragte ich, obwohl ich die Tür bereits entriegelte, denn diesmal waren wir einer Meinung. »Normalerweise flehst du mich doch an, erst mal meine eigene Haut zu retten.«
Als ich in den schummrigen Gang trat, brachen die Handwerker an dessen Ende gerade mit wildem Gebrüll die Tür auf. Ulrike stieß einen gellenden Schrei aus.
Vor mir sah ich die Wirtin der »besten Herberge in der ganzen Stadt«. Nicht nur, dass sie diese blutgierige Meute über die Anwesenheit des Landrats in Kenntnis gesetzt und hierher geführt hatte, nein, sie besaß auch noch die Frechheit, sich mir in den Weg zu stellen. Ohne viel Federlesens stieß ich sie beiseite.
Situationen wie diese hatte ich oft genug erlebt, weshalb mir klar war, dass ich mit Worten nichts ausrichtete.
Im Raum befanden sich sechs Männer. Einer hielt die schreiende Ulrike fest, die sich seinem Griff verzweifelt zu entwinden suchte. Zwei Kerle hatten sich den Landrat geschnappt, ein Dritter bearbeitete von Demps Brust und Magen mit einem Schustermesser.
Die beiden anderen guckten tatenlos zu.
Mein Säbel fuhr zischend durch die Luft und ging auf dem Schädel des Burschen nieder, der mir am nächsten stand. Mit einem widerlichen Geräusch spaltete ich seinen Glatzkopf. Hirn und Blut spritzten nach allen Seiten.
»Was zum Teu…?«, setzte der andere Gaffer an, doch da trieb ich ihm bereits die Klinge in den Kehlkopf, sodass sein Fluch in einem Krächzen unterging und er nur noch versuchte, die Wunde zusammenzupressen.
Nun stürzte sich der Kerl mit dem Messer auf mich. Ihm folgten auf dem Fuße seine Kumpane. Von Demp war ohnehin längst tot. Alle drei griffen nach ihren Zimmermannsäxten.
Der vierte Bursche hielt allerdings nach wie vor Ulrike gepackt.
Die Zeichen auf ihren Jacken wiesen die Kerle als Schuster und Sattler aus. Sie kamen sich zwar nicht gegenseitig in die Quere, stellten zudem auch einzeln durchaus eine Gefahr dar, hatten es bisher aber offenbar noch nie mit einem bewaffneten Mann zu tun bekommen. Ich wich in den Gang zurück, damit ich mir diese Narren einzeln an der Tür vornehmen konnte.
Kurz darauf lag der erste Bursche mit gebrochenem Schlüsselbein am Boden. Seine Kumpane wagten sich prompt nicht mehr aus dem Zimmer.
Noch bevor sie sich den nächsten Zug überlegen konnten, ging ich auf einen der beiden los. Dieser parierte meinen Angriff mit seiner Axt, musste sich dann aber vor meiner schweren Klinge immer weiter in den Raum zurückziehen. Sogleich verringerte ich den Abstand zwischen uns und erwischte mit dem Säbel seinen Arm. Nach diesem Treffer drehte ich mich auf dem linken Fuß herum und zertrümmerte ihm mit den Knauf der Klinge den Kiefer samt sämtlichen Zähnen.
Anschließend duckte ich mich und riss den Säbel hoch, um mich gegen den Angriff seines Kumpans zu schützen. Als ich ihm mit einem Tritt die Kniescheibe brechen wollte, verfehlte ich mein Ziel leider. Sofort nahm ich die Klinge in die andere Hand und trieb sie ihm zwischen die Rippen. Blut spritzte mir ins Gesicht …
Mein Säbel steckte so fest in dem Toten, dass ich den Burschen nur missmutig zu Boden stieß. Während ich mir noch das Blut mit dem Ärmel aus den Augen wischte, ging der letzte verbliebene Dreckskerl zum Angriff über.
Er schleuderte Ulrike auf mich. Um ihren Sturz wenigstens etwas abzumildern, umschloss ich sie wie einen Quilcoball. Ob diese Maßnahme etwas genutzt hatte, sollte ich freilich nicht mehr in Erfahrung bringen.
Ich bin wahrlich kein kleiner Mann, aber mein Gegenüber glich einem Berg. Und dieser Kerl war außerordentlich erbost über das, was ich hier angerichtet hatte. Jeder seiner Fausthiebe kam einem Schlag mit dem Hammer gleich. Zu meinem Unglück hatte er obendrein noch ziemlich lange Arme, sodass er mich auf Abstand zu halten vermochte.
Binnen kürzester Zeit hatte er mich in eine Ecke getrieben. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich in einem fort zu ducken. In verzweifelter Hoffnung zog ich meinen Dolch. Ein weiteres Mal fuhr seine Faust zischend an meinem Kinn vorbei. So schnell, wie der Bursche war, schaffte ich es nicht einmal, seine Hand mit meiner Klinge aufzuspießen.
Als die Treibjagd weiterging, stolperte ich fast über eine der Leichen. Sofort stand er neben mir, packte mich und schleuderte mich durch den halben Raum. Ich flog über den Tisch und krachte zu Boden. Letztlich konnte ich immer noch von Glück sagen, dass der Mann lediglich ein Muskelpaket, aber kein Meuchelmörder war. So einer hätte mich nämlich keinen kleinen Flug antreten lassen, sondern mir das Genick gebrochen.
Nun sprang Ulrike den Riesen mit einem wilden Schrei von hinten an. In ihren Händen hielt sie eine der Zimmermannsäxte. Mit dem ersten Schlag trennte sie dem Kerl das rechte Ohr ab, mit dem zweiten traf sie seine Visage. Blutige, aber keineswegs tödliche Wunden.
Der Bursche packte sie mit seiner Pranke und fegte sie zu Boden. Während er nach seinem Ohr tastete, pirschte ich mich an ihn heran, riss sein Kinn hoch und schlitzte ihm mit einem einzigen Streich die Kehle auf.
»Das geschieht dir recht, du Untier!«, stieß Ulrike aus und spuckte ihm ins Gesicht.
Inzwischen fingen die ersten Kirchenglocken an zu läuten. Rasch stimmten weitere ein.
»Schlagen sie Alarm?«, fragte Apostel, der im Unterschied zu dem munter durch die Blutlachen flanierenden Scheuch an der Schwelle stehen geblieben war.
»Nein«, zischte ich. »Sie rufen Verstärkung.«
Ich steckte den Dolch zurück in die Scheide und zog mit einiger Mühe den Säbel aus dem Toten. Der Kerl mit dem zertrümmerten Kiefer lebte noch. Ich kümmerte mich jedoch nicht weiter um ihn, sondern trat an Ulrike heran, die neben ihrem Vater kniete.
»Wir müssen sofort von hier verschwinden, Herrin von Demp«, sagte ich leise, aber bestimmt. »Jede Sekunde zählt.«
Sie drehte mir das Gesicht zu. Tränen rannen über ihre Wangen.
»Und mein Vater?«, hauchte sie.
»Ich denke, er würde nicht wollen, dass diese Männer Euch in ihre Gewalt bringen.«
Obwohl ich fürchtete, sie würde sich stur stellen und mich zwingen, sie gegen ihren Willen von hier fortzuzerren, nickte sie mir zu.
»Ja«, brachte sie heraus, »da habt Ihr recht. Natürlich.«
Kaum dass wir das Zimmer verlassen hatten, klang von unten ein wütender Befehl zu uns herauf: »Schneller, ihr Nichtsnutze!«
Ich fasste Ulrike bei der Hand und zog sie hinter mir her ans andere Ende des Gangs. Hier fand sich in einer Kammer eine Stiege hoch zum Dachboden.
Die Luke in der Decke war mit einem geradezu lächerlichen Vorhängeschloss gesichert, das ich mit meinem Säbel auf Anhieb knackte. Nachdem ich die Luke aufgestoßen hatte und nach oben geklettert war, half ich Ulrike hinauf. Durch ein kleines Fenster spitzte auch hier der rote Widerschein des Feuers herein und warf schmale Streifen auf den Bretterboden. In diesem flackernden Licht erspähte ich einige Pfeiler und Kisten, einen Spaten und einen ramponierten Rechen. Die Kisten waren zu unserem Glück schwer genug, um damit die Luke schnell so sichern zu können, dass etwaige Verfolger eine Weile aufgehalten würden.
»Und nun?«, fragte Ulrike.
»Leidet Ihr unter Höhenangst?«
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Wollt Ihr über die Dächer fliehen?«
»Etwas anderes bleibt uns wohl nicht übrig.«
»Aber in der Stadt ist es doch überall gefährlich, oder?«
»Anderswo weiß man aber wenigstens nicht, dass Ihr die Tochter eines Landrats seid. Euer Kleid …« Ich deutete auf das zerrissene Kleidungsstück. »Achtet darauf, nicht irgendwo hängen zu bleiben.«
»Keine Sorge, das werde ich nicht«, versicherte sie mir rasch. »Hauptsache, Ihr lasst mich nicht im Stich …«
Ich öffnete das Fenster und kletterte hinaus. Ulrike folgte mir, bekam aber sofort einen Schwindelanfall.
»Haltet Euch an mir fest!«, befahl ich, während ich nach ihrem Arm griff. »Und seht auf keinen Fall nach unten!«
Als sie mir etwas antworten wollte, erfasste uns eine Brise des frischen Märzwindes, und sie erschauderte in ihrem leichten Kleid, das gegen die Kälte nicht den geringsten Schutz bot.
Irgendwo wurde Alarm geschlagen, in der Ferne ertönten Schreie und Arkebusenschüsse. Rasch verschaffte ich mir einen Überblick über die Lage.
Am Stadtrand, an der äußeren Mauer und dahinter war alles ruhig. Die Menschen in diesen Vierteln dürften nicht einmal argwöhnen, was sich im Kern Phlagenhurts abspielte. Das nächste Feuer loderte in der Nachbarstraße. Die Flammenzungen schlugen zuweilen sogar über die Dächer auf. Wahrscheinlich hatten die Aufständischen dort ein Lagerhaus in Brand gesteckt.
Insgesamt machte ich zwölf Feuerherde in den alten Vierteln aus. Wahrscheinlich bedeuteten sie aber erst den Anfang …
»Wie kommen wir hier runter?«, fragte Ulrike.
»Irgendwo sollte es eine Leiter geben. Folgt mir!«
Am Rand des Daches drehte ich mich noch einmal zurück, um mich zu vergewissern, dass uns niemand nachsetzte. Doch offenbar waren die Aufständischen noch nicht hinter unseren Fluchtweg gekommen, vielleicht mühten sie sich aber auch noch immer an der Luke ab.
In einigem Abstand machte ich eine Bewegung aus. Eine kleinere dunkle Gestalt erklomm einen Sims und sog gierig die Luft ein. Sämtliche Teufelsbiester hatten natürlich den Tod in dieser Stadt gewittert und waren aus allen Ritzen gekrochen, um an dem blutigen Festmahl teilzunehmen. Schon bald dürften auch dunkle Seelen in Phlagenhurt auftauchen. Alteingesessene, aber auch ganz frische, die erst in dieser Nacht entstanden waren. Zum Glück bemerkte uns das Biest auf dem Dach nicht, galt seine ungeteilte Aufmerksamkeit doch der Nachbarstraße.
»Ludwig!«, rief Apostel. »Hier könnt ihr runter!«
Er stand im Innenhof. Tatsächlich machte ich einen Balkon aus, auf den wir mühelos hinunterspringen konnten, um von dort aus aufs Dach eines Schuppens zu gelangen.
»Das schaffe ich nicht«, hauchte Ulrike, sobald sie sich über den Abstand klar wurde.
»O doch!«, widersprach ich. »Einen anderen Weg gibt es nämlich nicht. Ich springe als Erster und helfe Euch. Einverstanden?«
Ihr Nicken war nicht ganz frei von Zweifeln.
Ich knöpfte den Säbel ab und warf ihn nach unten. Als die Klinge laut klirrend aufschlug, fuhr Ulrike zusammen. Ich lächelte ihr noch einmal aufmunternd zu, ging dann in die Hocke, fasste mit beiden Händen nach dem Sims und ließ die Füße hinunter. Nachdem ich kurz in der Luft gebaumelt hatte, löste ich meine Finger. Auf dem Balkon gelandet, winkte ich Ulrike zu. Nach wie vor schreckte sie die Höhe, sodass sie unentschlossen in die Tiefe lugte. Schließlich folgte sie meinem Beispiel aber. Während sie an der Dachkante hing, bewunderte ich ihre drei Spitzenunterröcke.
»Ich fange Euch auf!«, versicherte ich ihr.
Sie ließ los und landete in meinen Armen. Danach lief alles wie geschmiert. Ich sprang auf das Dach des Schuppens, das erstaunlich solide war und mein Gewicht mühelos aushielt, und half Ulrike erneut. Im Nu hatten wir beide wieder sicheren Boden unter den Füßen.
In dem Moment schlug allerdings ein Hund an. Zum Glück war er jedoch angekettet. Ich zog Ulrike zum Zaun, trat kurz entschlossen die Pforte ein und schlüpfte hinaus in eine dunkle, schmale Gasse.
»Wir sollten schleunigst einen sicheren Ort für Euch finden, denn für die Tochter eines Landrats ist es in den Straßen Phlagenhurts heute Nacht zu gefährlich.«
»Diese Nichtsnutze wussten, wo wir Quartier genommen haben, und wollen alle Landräte umbringen, um die Steuererhebung zu verhindern.«
»Da habt Ihr leider recht. Und danach wird diese Meute vermutlich noch wahllos morden und brandschatzen.«
»Was ist mit dem Bürgermeister oder seinem Stellvertreter? Und dem Kanoniker?«
»An sie mag ich gar nicht denken«, gab ich offen zu. »Sie bedürfen wohl einer gehörigen Portion Glück, damit sie den morgigen Tag erleben.«
Gerade als wir um die nächste Ecke biegen wollten, hörten wir durch das Dunkel Hufgetrappel herannahen. Sofort wichen wir zurück. An uns stürmten sechs Reiter vorbei, die verzweifelt ihre Pferde antrieben. Allem Anschein nach hetzten sie zum Tor in der Außenmauer.
»Das waren Soldaten der Stadtwache«, flüsterte ich Ulrike zu.
»Damit dürfte dieser Wahnsinn bald ein Ende haben.«
Diese Ansicht teilte ich nicht unbedingt. Die Burschen leitete nach meinem Dafürhalten nämlich nicht ihr Pflichtbewusstsein, sondern der Wunsch, die brennende Stadt möglichst schnell möglichst weit hinter sich zu lassen. Hätten sie wirklich für Ordnung sorgen wollen, hätten sie in Richtung Rathaus preschen müssen, dort dürfte das Blut nämlich gerade in Strömen fließen.
Da Ulrike bereits vor Kälte zitterte, reichte ich ihr meine Jacke. Wie nicht anders zu erwarten, erhob sie Einspruch.
»Ich habe doch noch den warmen Pullover«, hielt ich dagegen. »Außerdem ist mir nicht kalt. Wenn ich nicht befürchtet hätte, dass meine Jacke Euch beim Abstieg stört, weil Ihr ja schier in ihr versinkt, hätte ich sie Euch längst gegeben.«
Tatsächlich wirkte sie in dem für sie viel zu großen Stück gleich noch verlorener und bemitleidenswerter.
»Ich bringe Euch jetzt an einen sicheren Ort. Vertraut mir bitte und habt keine Angst.«
Sie ergriff meine Hand, und wir eilten die inzwischen wieder leere Straße hinunter.
Kurze Zeit später stießen wir auf die ersten Leichen. Bei ihrem Anblick gab Ulrike keinen Laut von sich, wich aber einen Schritt zurück.
»Das sind doch Handwerker«, murmelte sie, als wir weitergingen. »Warum bringen sie ihre eigenen Leute um?«
»Weil es nicht genug Landräte gibt, an denen sie ihr Mütchen kühlen könnten. Deshalb schlagen sie auf alle ein, zunächst auf Fremde und Reiche, danach trifft es vermutlich diejenigen, die nicht den Gilden angehören. Und schließlich alle, mit denen sie noch eine Rechnung offen haben. Dies wird eine Nacht des Grauens, Herrin von Demp.«
Wenn die Stadtwache und die in Phlagenhurt zusammengezogenen Truppen nicht bald durchgriffen, würden morgen früh sämtliche Straßen mit Leichen gepflastert sein.
Die Erfahrung hatte aber bereits mehr als einmal gezeigt, dass mindestens ein Viertel der Soldaten im Laufe einer solchen Nacht selbst zu Raub und Totschlag überging.
Schon bald entdeckten wir die nächsten Toten. Ich beugte mich über die Leiche einer Frau, der man den Schädel eingeschlagen hatte, und begann sie zu entkleiden.
»Was tut Ihr da?«, fuhr mich Ulrike entsetzt und wesentlich lauter, als es geraten gewesen wäre, an.
»Genau das würde ich auch gern wissen«, stieß Apostel ins selbe Horn. »Leichenschändung sieht dir irgendwie gar nicht ähnlich.«
»Diese Frau ist tot«, antwortete ich Ulrike. »Sie braucht weder das Kleid noch ihren Umhang. Ganz im Gegensatz zu Euch. Obendrein lässt Eure Kleidung bereits auf den ersten Blick die Dame von Stand erkennen, Ihr solltet sie daher so schnell wie möglich wechseln.«
»Muss das wirklich sein?«
»Ja«, beteuerte ich und sah ihr fest in die Augen. »Wenn Ihr diese Nacht überleben wollt, muss das sein.«
Nach kurzem Zögern begann sie daraufhin, mir beim Entkleiden der Toten zu helfen.
»Apostel!«, rief ich. »Halt Augen und Ohren offen und gib uns Bescheid, wenn Gefahr droht!«
»Was glaubst du, was ich hier die ganze Zeit treibe?«
»Mit wem sprecht Ihr da?«, wollte Ulrike wissen.
»Mit einer lichten Seele, aber keine Sorge, sie tut Euch nichts.«
»Heute Nacht habe ich ohnehin nur vor Menschen Angst.«
Schon erklangen abermals Schreie aus einer Nachbarstraße. Ich sprang auf und zog den Säbel.
»Macht schneller!«, zischte ich Ulrike zu.
Doch wer immer da gefuhrwerkt hatte, kam nicht näher.
»Wo kann ich mich denn umziehen?«, fragte Ulrike.
»Herr im Himmel!«, stöhnte Apostel. »Das ist nun wirklich nicht der rechte Augenblick für falsche Scham!«
»Hier!«, beantwortete ich Ulrikes Frage und deutete auf einen dunklen Durchgang, der halb von einer Regentonne versperrt wurde. »Und beeilt Euch bitte!«
»Beim Heiligen Franziskus von Neuhort und all seinen unglücklichen Kindern!«, ätzte Apostel weiter. »Kennst du denn diese edlen Damen nicht besser?! Ohne Zofen dauert das bei denen eine Ewigkeit!«
Doch in diesem Fall sollte er sich irren. Binnen drei Minuten stand Ulrike umgezogen vor mir. Das Kleid passte ihr wie angegossen, und der dunkelbraune warme Umhang eignete sich für unseren kleinen nächtlichen Ausflug weitaus besser als das leuchtend blaue Kleidchen, das sie bis eben getragen hatte.
Die Straße lag nach wie vor ruhig da.
»Wollen wir zur äußeren Mauer?«
»Nein, denn ich bin überzeugt, dass das Tor entweder verschlossen ist oder in der Hand der Aufständischen, dazu ist es …«
Ich verstummte. Aus einem der Fenster gegenüber flog gerade ein Mann. Er schrie sich dabei fast die Seele aus dem Leib. Als er dumpf auf dem Pflaster aufschlug, blieb er reglos liegen. Zwei finstere Burschen stürmten aus der Tür des Hauses und eilten auf die Leiche zu. Dann entdeckten sie uns.
»Geht ganz ruhig weg«, beschwor ich Ulrike, deren Fingernägel sich in meine Hand krallten, während wir uns umdrehten.
Ich spürte zwar die finsteren Blicke dieser Mörder in meinem Rücken, aber immerhin ließen sie uns in Frieden.
»Ich bringe Euch zu einer Zweigstelle von Fabien Clement & Söhne. Es ist nicht weit.«
»Dafür müssen wir fast bis zum Rathausplatz«, widersprach Ulrike. »Wäre es nicht besser, wir würden uns in irgendeinem Haus verstecken?«
Ich blieb stehen und machte Ulrike auf die zerstörten Fensterläden am nächsten Gebäude und die nur in ihrer Unterkleidung steckenden Toten aufmerksam.
»Wollt Ihr etwa auch so enden?«
»Nein«, flüsterte Ulrike, die jeden Blick auf die Leichen vermied.
»Ich auch nicht«, sagte ich und zog sie weiter. »Deshalb glaubt mir: Man würde uns nirgends einlassen. Nicht in dieser Nacht. Und falls doch, dürften wir kaum lebend wieder herauskommen.«
»Aber Fabien Clement … Mitten in der Nacht werden wir da niemanden antreffen. Oder man öffnet uns nicht …«
»Es waren die drei Zweigstellen von Fabien Clement & Söhne, die damals in Liesetzk fast einhundert Menschen vor dem sicheren Tod bewahrt haben. Es gibt nur eine Bedingung, damit man uns Einlass gewährt: Wir müssen Geld bei Ihnen hinterlegt haben. Trifft das auf Euch zu?«
»Mein Vater hat dort vor einem Jahr ein Konto für mich eröffnet«, antwortete sie. »Über wie viele Dukaten ich verfüge, weiß ich Euch nicht zu sagen. Ich bin überhaupt nur einmal in einer ihrer Zweigstellen gewesen. Als der Vertrag geschlossen wurde …«
»Die Summe spielt keine Rolle. Glaubt mir, man wird uns einlassen.«
»Die Meute wird sich aber mit Sicherheit auch für ihre Zweigstellen interessieren«, gab sie zu bedenken.
»Da habt Ihr vermutlich recht. Aber bei Fabien Clement & Söhne wird das Geld ja nicht offen feilgeboten. Und bisher ist es noch niemandem gelungen, sie zu berauben.«
»Da vorn wird’s brenzlig!«, rief Apostel, der wie ein Spürhund durch die Gassen gestreift war und uns nun auf der anderen Straßenseite entgegenkam. Vor dem Gitterzaun einer kleinen Kapelle blieb er stehen.
»Wartet hier!«, bat ich Ulrike, während ich zur Ecke pirschte und in die Querstraße spähte.
Rund zwanzig bewaffnete Männer versuchten die Tür eines Hauses aufzubrechen. Da sich diese jedoch als höchst solide erwies, wurde der Ruf nach Äxten laut.
»Tod allen Landräten!«, schrie ein fülliger Mann, dessen Kleidung ihn als Schneider auswies. »Tod dem widerwärtigen Geschmeiß, das vor ihnen zu Kreuze kriecht!«
»Verrecken sollen sie!«, keifte die Menge, und die Fackeln warfen auf ihre von Hass verzerrten Gesichter einen blutroten Widerschein.
Aus bereits aufgebrochenen Häusern schleifte dieses Pack immer mehr Tische, Bänke und Stühle heran, um auf offener Straße ein riesiges Feuer zu entzünden. Irgendein junger Bursche schleuderte, schier berauscht vom Allmachtsgefühl in dieser Nacht, seine Fackel auf ein Hausdach. Sie rutschte jedoch die Ziegel hinunter und landete hinter dem Zaun auf dem Boden. Der Gedanke dieses Grünschnabels wurde dennoch aufgegriffen. Der Pöbel nahm beherzt die Fenster unter Beschuss. Einer traf sogar, und die Gardine ging unter dem begeisterten Gejohle der Menge in Flammen auf. Nun tat sich auch im Haus etwas: Von unterschiedlichen Stockwerken aus eröffneten die Belagerten das Feuer auf dieses Pack.
Obwohl die Schüsse blindlings abgegeben wurden, fand sich bei der enormen Zahl von Angreifern für jede Kugel ein Ziel. Wütende Schreie zerrissen die Luft. Graublauer Rauch hüllte das Haus mehr und mehr ein. Die Meute nahm sich nun mit aller Kraft den Eingang vor, denn sie dürstete nach Rache an den Verteidigern des Hauses.
In dieser Sekunde ließ ein Donner die Erde erbeben – und Scheuch herbeieilen. Unser Animatus stürzte wortlos an uns vorbei auf die Menge zu. Die wackeren Verteidiger hatten einen Schuss mit einer leichten Kanone abgegeben, die sie allerdings mangels würdigerer Geschosse mit Pistolenkugeln bestückt hatten. Dennoch hatten sie die Angreifer damit auseinandergetrieben, nur Verletzte und Tote waren, umwabert von beißendem Rauch, am Boden liegend zurückgeblieben.
»Was geht da vor?«, erkundigte sich Ulrike, als ich wieder bei ihr war.
»Nichts, was wir begrüßen können«, sagte ich und eilte mit ihr in Richtung Norden davon.
Wir kamen an vier Gebäuden mit eingeschlagenen Haustüren vorbei. Vor einem saß eine Frau auf den Stufen und weinte. Als sie uns sah, zog sie sich sofort ins Dunkel zurück.
Da Apostel seine Rolle als Spürhund nicht länger wahrnahm, liefen wir sechs Aufständischen in die Arme. Einer von ihnen hielt eine Lanze in beiden Händen, seine fünf Kumpane luden das Diebesgut gerade auf einen Handwagen. Sobald sie begriffen, dass wir ihnen ihre Beute nicht streitig machen würden, würdigten sie uns keines Blickes mehr.
Ich fragte Ulrike, wo wir uns eigentlich befänden.
»In der Apothekerstraße«, teilte sie mir mit. »Bis zum Rathausplatz sind es nur noch fünf Minuten. Von dort brauchen wir noch einmal zwei Minuten, um zur Zweigstelle von Fabien Clement & Söhne zu gelangen. Wir müssen in diese Straße hier!«
»Einen Moment!«, bremste ich sie. »Die bringt uns doch zum Rathaus, oder?«
»Ja.«
»Das sollten wir besser vermeiden, denn dort geht es jetzt mit Sicherheit heiß her. Gibt es noch einen anderen Weg?«
»Durch den öffentlichen Garten, vorbei am Teich«, sagte sie nach kurzer Überlegung und eilte weiter. »Dafür müssen wir die Gasse da rechts nehmen. Nein! Wartet! Da drüben lang!«
Während die Glocken immer heftiger Alarm schlugen, rannten wir, uns dicht im Schatten der Häuser haltend, durch eine schmale Straße und ließen die Schüsse immer weiter hinter uns zurück. Einmal schreckten wir wohl jemanden auf. Es raschelte kurz in der Dunkelheit, dann hörte ich nur noch Schritte, die sich entfernten.
Der Garten wurde durch eine niedrige Steinmauer von der Straße abgetrennt. Wir suchten gar nicht erst nach dem Eingang, sondern setzten kurzerhand über die Umfriedung und eilten dann im Schutze düsterer Kastanien durch die Anlage. Im Teich spiegelten sich die brennenden Häuser der angrenzenden Viertel, selbst um das noch unfertige Dach einer Kirche wanden sich gleich Kränzen purpurne Flammenzungen.
Scheuch musste natürlich sofort zum Ufer des Teichs stapfen. Von dort winkte er uns wild zu, damit wir das feurige Schauspiel an seiner Seite bewunderten.
»Nicht einmal das Haus des Herrn schonen sie!«, spie Apostel aus. »Diese Barbaren!«
»Heute wird niemand geschont!«, antwortete ich ihm.
Diesmal reimte sich Ulrike schon bestens zusammen, mit wem ich mich unterhielt, und stellte mir keine Fragen. Bevor wir die Grünanlage verließen, spähte ich hinüber zur Straße, die vor uns lag. In ihr war alles ruhig, allerdings lagen dort etliche Leichen. Auf einer von ihnen thronte bereits ein struppiges schwarzes Wesen und zerrte krampfhaft an den Rippen des Toten.
»Was ist das?«, flüsterte Ulrike, die meinem Blick gefolgt war, voller Entsetzen. »Eine dunkle Seele?«
»Nein, denn dann könntet Ihr sie nicht sehen. Irgendein Teufelsbraten.«
Diese Worte musste sogar Scheuch gehört haben, denn er kam grinsend auf uns zu.
»Da drüben mampft irgendein Mistbiest die Eingeweide eines Toten«, teilte Apostel ihm mit. »Diesen Anblick willst du dir ja wohl nicht entgehen lassen, oder?«
Sofort stiefelte Scheuch weiter. Ich warf Apostel einen tadelnden Blick zu.
»Ja was denn?«, empörte er sich. »In der Stinklaune, in der ich heute bin, ertrage ich diesen Strohkopf nun mal nicht! Da werd ich ihn ja wohl noch von mir ablenken können! Und du brauchst mich deswegen gar nicht so anzugucken! Dieser Vogelschreck ist uns doch noch nie eine Hilfe gewesen!«
An den Garten schloss sich ein Viertel an, in dem der Pöbel noch kaum gewütet hatte. Doch gerade als ich erleichtert durchatmen wollte, kamen aus einer Tordurchfahrt ein paar schwer bewaffnete Männer herausgestiefelt.
»Tod den Landräten!«, schrie einer von ihnen und deutete in unzweideutiger Absicht auf uns. »Verrecken sollen sie alle! Und alle Speichellecker dazu!«
Ich packte nur noch Ulrikes Hand und raste mit ihr davon.
Jammernd sah sich Apostel immer wieder nach unseren Verfolgern um.