Goldenes Feuer - Alexey Pehov - E-Book

Goldenes Feuer E-Book

Alexey Pehov

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Beschreibung

Eisige Winde kündigen einen strengen Winter an. Schneestürme verwehen die Straßen und versetzen die Menschen in Angst und Schrecken, denn in den Naturgewalten verbirgt sich ein grausamer Tod. Mit dem Schnee kommt ein düsterer Schmied, der auf verlassenen Wegen und durch schlafende Wälder über das Land zieht. Niemand weiß, wer er ist, wie er aussieht oder was er will, doch unablässig geht sein Hammer nieder, der aus Flammen Dolche schafft. Wieder einmal müssen die Menschen ihre Hoffnung in Ludwig van Normayenn setzen, denn er verfügt über die seltene Gabe, das Unsichtbare sehen zu können. Nun muss er die Spur des rätselhaften Schmieds aufnehmen, um die Dunkelheit aufzuhalten …

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Veröffentlichungsjahr: 2017

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Übersetzung aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann

ISBN 978-3-492-97626-8

April 2017

© 2012 Alexey Pehov

Die russische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Zolotye kostry« bei AL'FA KNIGA, Moskau.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Stephanie Gauger, Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und Thinkstock

Karte: Vladimir Bondar nach einer Vorlage von Alexey Pehov

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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1

Der Gekreuzigte

Der Junge stolperte vorwärts, als wäre Satan selbst hinter ihm her. Immer wieder blickte er zu mir zurück, offenbar um sich zu vergewissern, dass ich es mir ja nicht anders überlegt hatte.

»Ist diesem Bengel eigentlich noch nie ein anständiger Mensch über den Weg gelaufen?«, brummte Apostel. »Glaub mir, er geht davon aus, dass du am Ende feixend abziehst. Oder ihm sogar eins hinter die Löffel gibst, damit er nicht mehr auf jeden dahergelaufenen Tunichtgut reinfällt.«

Ich verkniff mir jede Antwort. Schon allein deshalb, weil der Junge bestimmt noch unsicherer würde, wenn ich anfinge, Selbstgespräche zu führen. Vermeintliche Selbstgespräche. Er macht sich eh schon fast vor Angst in die Hose, weil er es mit einem Seelenfänger zu tun hatte.

Denn hier, an der Grenze zwischen Broberger und Tschergien, wo es nichts als ein paar Dörfer, die Kristallberge und finstere Wälder gab, sah man uns nicht gerade gern. Hier ging man davon aus, dass jemand, der mit einer unsichtbaren Gestalt zu reden vermochte, vom Atem des Bösen gestreift worden war. Für die Bruderschaft hieß das: Man hatte sie hier ebenso ins Herz geschlossen wie ein Schafhirte ein Rudel Wölfe.

»Oder aber der Bengel hat es selbst faustdick hinter den Ohren«, fuhr Apostel fort und blieb, von diesem Gedanken völlig erschüttert, sogar stehen. »Genau! Bestimmt hat er dich an der Nase herumgeführt. Recht bedacht, kann es gar nicht anders sein!«

»Von wegen«, erwiderte ich, um sogleich den Jungen, dessen Kopf zu mir herumschoss, anzuknurren: »Von wegen, er liegt nicht weit vom Dorf entfernt! Wir sind ja schon ewig unterwegs!«

»Aber jetzt sind wir wirklich gleich da. Da drüben, da liegt er.«

Er zeigte auf einen mit Hainbuchen bestandenen Berg.

Der Junge, Sohn eines Holzfällers, war vielleicht elf Jahre alt und bestand nur aus Haut und Knochen. Er trug zerlumpte Hosen und ein langes Leinenhemd. Die Sonne hatte sein Gesicht braun gebrannt und sein Haar ausgeblichen, an der sommersprossigen Nase schälte sich die Haut. Seine sonst so lebhaften Augen blickten mich nun ängstlich an.

»Na gut, dann weiter!«, verlangte ich. »Aber wenn du mich angeschwindelt hast, kannst du deinen Groschen abschreiben.«

Erleichtert, dass die Belohnung noch in greifbarer Nähe war, stiefelte er mir auf dem von Kühen getrampelten Pfad abermals voran. Wir überquerten eine gemähte Wiese und gelangten an einen rasch dahinströmenden Bach. Der Junge sprang geschickt über die aus dem Wasser herausragenden Steine. Bei mir dauerte das Ganze etwas länger.

»Vorsicht!«, warnte mich der Junge. »Der fleckige Stein da ist verdammt rutschig.«

»Hach, wie der sich um dich sorgt!«, giftete Apostel, während er die Soutane raffte und durch den Bach pflügte, ohne das Wasser aufzurühren. »Aber wenn du mich fragst, hätte dieser Bengel besser gar nicht erst von dieser hanebüchenen Geschichte angefangen. Dann würdest du längst in der Kutsche sitzen, statt von Neugier geplagt durch die Gegend zu stolpern! Zu allem Überfluss darfst du nun auch noch einen geschlagenen Monat auf die nächste Kutsche warten!«

Mit Letzterem hatte er leider recht. In ein Kaff wie das Dorf des Jungen verirrte sich nicht gerade häufig eine Kutsche. Das bereitete mir jedoch kein Kopfzerbrechen. Sobald ich Licht in die Geschichte dieses Jungen gebracht hatte, würde ich einfach zu Fuß weiterziehen. Durchs Vorgebirge führte eine recht gute Straße nach Gäbeling. Dort würde ich mir dann ein Pferd kaufen.

»Ich kann es kaum noch abwarten, endlich wieder durch Kuhkäffer zu ziehen«, säuselte Apostel, der mal wieder meine Gedanken gelesen hatte. »Ludwig, wirklich, wann lernst du endlich mal die Lektion, die dir das Leben erteilt? In derart öden Gegenden erwartet dich nichts Gutes. Wenn ich dich nur an deine jüngsten Erfahrungen erinnern darf? Da hattest du das Vergnügen mit einem Blickzard, ein paar Gespenstermönchen und mit einer ganzen Herde hungriger Stargas. Wer von all denen am schlimmsten war, vermag selbst ich nicht zu sagen.«

Konnte er mich nicht wenigstens einmal mit seinen Predigten verschonen?! Er wusste schließlich genau, dass wir Seelenfänger nur über die Runden kamen, wenn wir unterwegs waren. Mitunter eben auch in der tiefsten Provinz. Diese Lektion hätte er in all den Jahren, die wir schon gemeinsam durchs Leben gingen, ruhig mal lernen können …

Als ich die Riemen des Rucksacks, die sich bereits in meine Schultern gebohrt hatten, zurechtrückte, schoss mir ein stechender Schmerz durch den linken Oberarm. Noch immer machte mir die Stelle zu schaffen, an der mir jener geschickte Zauberer aus dem Zigeunerlager seinen Seraphimdolch ins Fleisch gebohrt hatte. Miriam und ich hatten uns damals nach dem Kampf schnurstracks zu einer Starga begeben. Dieses Anderswesen hatte mit seiner Heilmagie zwar wahre Wunder vollbracht, dennoch plagten mich mitunter Schmerzen im Arm.

»Jetzt verstehe ich, warum die Kirche diese Wesen nicht ausgerottet hat«, hatte Apostel, der diese Blutsaugerinnen nicht ausstehen konnte, nach der Behandlung gemurmelt. »Eine beflissene Vampirin an der Hand zu haben ist gar nicht schlecht. Selbst die Furunkel, die sich jeder anständige Kirchenmann spendiert, heilt sie spielend. Vermutlich würde auch der eine oder andere Fürst sie liebend gern in seinem Gefolge wissen. Er bräuchte ihr bloß einmal im Monat einen Ketzer oder Schurken zum Leertrinken zu überlassen, und schon müsste er sich nie wieder Gedanken über die Progancer Krankheit machen …«

Der Junge kraxelte inzwischen bereits einen unter Laub begrabenen Pfad hoch. Vom Fuß aus hatte der Hang längst nicht so steil ausgesehen, doch anscheinend hielt dieser Berg sich für einen zweiten Monte Rosa – und der war bekanntlich der höchste Gipfel in den Kristallbergen. Obendrein war die fast lotrechte Felswand furchtbar glitschig. Doch obwohl mir das Blut bereits in den Ohren rauschte, blieb mir nichts anderes übrig, als gleichmäßig weiterzuatmen und mich der Herausforderung zu stellen.

Meine gute, alte ruhelose Seele Apostel hätte natürlich fast ein Freudentänzchen aufgeführt, denn dass ich mich derart quälte, geschah mir seiner Ansicht nach nur recht. Hätte ich nämlich seinen unter Tränen vorgebrachten Bitten nachgegeben, säßen wir längst warm und wohlig in einer Kutsche.

Endlich erreichten wir ein Plateau, das auf drei Seiten von Bäumen gesäumt wurde. Von hier aus hatte man eine herrliche Sicht ins Tal, das zweihundert Yard unter uns lag. Der Bach mündete, wie man nun erkennen konnte, in einen großen Teich und endete auf der anderen Seite an einem Damm. Auf diesem standen ein paar Jungen und angelten. Um das Dorf mit seinen grau-gelben Dächern und dem Glockenturm der Kirche herum lagen Wiesen mit Apfelbäumen.

Zu meiner Überraschung erwartete uns hier oben auch Scheuch, der sich seit einer geschlagenen Woche nicht mehr hatte blicken lassen. Mein Animatus blickte mürrisch wie eh und je drein. Auch sonst war alles wie gehabt: der zerschlissene Soldatenrock aus der Zeit Fürst Georgs, der Kopf aus Werg mit dem verschlagenen Grinsen und der schon reichlich zerrupfte Strohhut. Nicht zu vergessen seine Sichel. Wenn ihn jemand sehen könnte, bekäme er vor lauter Angst vermutlich Nierenkoliken. Doch glücklicherweise blieb der Anblick meines Gefährten gewöhnlichen Menschen erspart. Und ich hatte mich längst an ihn gewöhnt.

Scheuch richtete einen durch und durch begehrlichen Blick auf den Jungen und tippte beredt mit dem linken Daumen auf die Spitze seiner Sichel. Sobald er jedoch bemerkte, dass ich ihn beobachtete, tat er so, als würde er sich bloß am Anblick der Natur weiden.

»Ludwig«, rief Apostel, der sich bereits auf der Lichtung umsah, »in einem Punkt hat der Bengel wenigstens nicht gelogen! Da liegt ein Toter!«

»Da drüben, mein Herr«, sagte der Junge und deutete auf einen Punkt neben knotigen, aus der Erde herausragenden Baumwurzeln.

Nun erspähte auch ich das Skelett. Genauer gesagt, einzelne Knochen. So verwittert, wie sie waren, mussten sie schon eine ganze Weile hier liegen. Der Schädel ragte, unter Herbstlaub nahezu begraben, zwischen einzelnen Baumwurzeln hervor, sodass ich nur den gelblichen Rand des Nasenbeins und eine Augenhöhle ausmachte. Die Rippen fehlten zum Teil, zum Teil zeigten sie Nagespuren. Die Waldbewohner dürften ein herrliches Mahl gehabt haben … Das Wadenbein steckte wie ein Stock im Boden, während sich der Oberschenkel acht Schritte vom Schädel entfernt fand. Das Schulterblatt war in der Mitte durchgebrochen und wies ebenfalls Abdrücke von Zähnen auf.

»Da bei den Wurzeln«, sagte der Junge vorsichtshalber noch einmal.

»Tote wie die findet man doch häufig, sowohl in Wäldern als auch auf Feldern oder in Straßengräben. Warum also soll das ein Seelenfänger sein?«, brummte Apostel und verzog das Gesicht, als Scheuch über meine Schulter zu den Gebeinen spähte. »Na, dass dieser Anblick was für unseren Herrn Aasgeier ist, überrascht mich nicht!«

Doch Apostels Spott ging bei unserem Animatus wie stets zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus. Stattdessen fuhr er mit der Hand über die braun-gelbe Laubdecke und bohrte dann den Zeigefinger in sie hinein.

»Bist du sicher, dass der Tote ein Seelenfänger war?«, wandte ich mich an den Jungen.

»Ja, Herr. So sagen es jedenfalls die älteren Jungen. Die haben auch den schwarzen Dolch gesehen.«

»Haben sie ihn mitgenommen?«

»Nein, Herr. Wer klaut denn schon den Dolch eines Seelenfängers?! Der ist doch verflucht und bringt Unglück! Die Stiefel haben sie mitgenommen und … und auch noch anderes. Aber nicht den Dolch!«

»Hab ich’s dir nicht gesagt?! In diesem Dorf hausen durch die Bank Leichenfledderer!«, ätzte Apostel. »Aber wenigstens glauben die Burschen all die Gerüchte von den Dolchen. Andernfalls hätten sie die Klinge mit Sicherheit auch noch stibitzt!«

Ich stapfte zu Scheuch, der inzwischen einige Rückenwirbel aus dem Laub geklaubt hatte. Sobald er das Becken freigelegt hatte, sah ich, was ich gesucht hatte: einen Dolch. Er steckte in einer schlichten, mit zwei Nieten versehenen Scheide, die mit einem breiten Kupferbügel am Gürtel befestigt wurde.

Ich brauchte nicht einmal den Dreck abzuwischen, um das Stück zu erkennen.

Diese Scheide hatte ich selbst gekauft, in Liesetzk, als Miriam noch meine Lehrerin war. Es sollte ein Geschenk sein …

Ich setzte mich neben Scheuch auf eine große Baumwurzel. Der Junge tapste von einem Fuß auf den anderen, sodass ich ihm endlich die versprochene Goldmünze zusteckte. Für diese Gegend bedeutete sie geradezu ein Vermögen, weshalb der Kleine seinem Glück immer noch nicht ganz trauen wollte und sich mit einem beherzten Biss auf die Münze davon überzeugte, dass ich ihn nicht übers Ohr gehauen hatte.

»Du bekommst noch einen Groschen, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest.«

Damit würde er von heute an mit Sicherheit alle Seelenfänger für verrückt halten.

»Mach ich doch gern, lieber Herr.«

»Wann hast du diese Knochen entdeckt?«

»Das war mein großer Bruder, der sie gefunden hat, nicht ich, ich bin doch noch viel zu klein dafür.«

»Ist der Seelenfänger in eurem Dorf gewesen?«

»Nein. Er ist über die Berge hier runter, also von der anderen Seite.« Der Junge deutete mit einer ausholenden Handbewegung in die entsprechende Richtung. »Bestimmt hat er den Gorrgratpass benutzt.«

»Was erzählen die Leute denn, wie er gestorben ist?«

»Der Mann liegt schon so lange hier, da weiß niemand mehr, was eigentlich passiert ist. Manche sagen, dass er an dieser Stelle verletzt war …« Der Junge tippte sich selbst auf die Brust. »… andere, dass es hier war.« Nun pikte er sich in den Bauch. Anschließend blies er auf seine Finger, um die dargestellten Wunden in den Wald zu jagen.

»Und warum liegen die Knochen immer noch hier rum? Warum hat niemand den Mann begraben?«

Diese Frage schmeckte dem Jungen nicht, und am liebsten wäre er nicht mit der Sprache herausgerückt. Doch eine Goldmünze hatte nun mal ihren ganz eigenen Reiz …

»Er ist doch ein Seel…« Er biss sich auf die Zunge. »Also, Vater Grzenek hat es verboten. Er hat gesagt, dass …«

»Sprich ruhig weiter, du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«

»Das glaub ich aber nicht«, schniefte der Kleine. »Bestimmt zieht Ihr mir die Ohren lang.«

»Das werde ich nicht. Versprochen.«

»Er hat gesagt«, fasste sich der Junge daraufhin ein Herz, »dass es für so einen Widerling keinen Platz in der geweihten Erde gibt, schon gar nicht neben uns allen. Deshalb sollte der Mann unter freiem Himmel verfaulen, wo die Krähen ihn am Ende schon fressen würden. Vater Grzenek hat auch allen verboten, herzukommen, weil wir uns hier nur einen schlimmen Fluch einfangen würden.«

»Und haben sich alle an dieses Verbot gehalten?«

»Ein paar sind schon hergekommen. Die, die eben vor nichts Angst haben!«

Zu denen er sich ohne Frage auch zählte. Ich gab ihm die zweite Münze, meine vorletzte. Flink wie ein Wiesel flitzte der Junge den Hang hinunter, dabei vor Glück über beide Backen strahlend.

»Ich schäme mich regelrecht«, murmelte Apostel, »dass es Priester mit einer solchen Auffassung gibt.«

»In diesen Breitengraden mochte man uns Seelenfänger noch nie«, erwiderte ich, während ich nach wie vor die Scheide des Toten betrachtete.

»Du kanntest diesen armen Kerl, nicht wahr?«, bohrte Apostel weiter. »Es steht dir ja geradezu auf die Stirn geschrieben, dass es so ist.«

Ich zuckte nur die Achseln und gab ihm auf diese Weise zu verstehen, dass er den Mund halten solle. Sein Geschwätz vertrug ich im Moment wirklich nicht. Ich schielte auf den Rand des Schädels, der unter den Blättern hervorlugte.

»Tja, Hans«, murmelte ich, »habe ich dich doch noch gefunden.«

Das letzte Mal hatte ich meinen Freund in Ardenau gesehen. Damals hatte er die Stadt Hals über Kopf verlassen.

»Die Welt ist voller dunkler Seelen, mein Freund«, hatte er sich noch empört, sich ansonsten aber in Schweigen gehüllt. »Grüße Gertrude von mir!«

Dann war er über die staubige Straße davongeritten.

Im nächsten Jahr tauchte er nicht zur Versammlung der Seelenfänger in Ardenau auf. Auch im darauffolgenden Jahr hörten wir nichts von ihm. Da keiner von uns ihm begegnet war, begannen Wilhelm und ich, unermüdlich nach ihm zu forschen. Wir fragten an Dutzenden von Orten nach. Am Ende konnten wir seine Spur in Vierwalden aufnehmen, dort aber schien er vom Erdboden verschluckt worden zu sein.

Gertrude und Cristina, Joseph, Shuco und Rosa – sie alle suchten ihn. Ohne jeden Erfolg.

»Die Welt ist groß. Und gefährlich, Ludwig«, hatte Joseph gemurmelt, als er am sandigen Ufer eines Flusses gesessen hatte, das vom Blut einer eben beendeten Schlacht rot schimmerte. »In ihr verschwinden immer wieder Seelenfänger. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Wie auch, bei unserer Arbeit! Deshalb müssen wir uns wohl mit Hans’ Tod abfinden.«

Doch das tat ich nicht. Bis heute hatte ich auf ein Wunder gehofft. Schließlich hörte man mitunter lange nichts von einem Seelenfänger – und dann stand er eines Tages vor dir, im Gepäck Geschichten aus fernen Ländern und von zahllosen Abenteuern.

Nun war diese Hoffnung geplatzt.

Mein Freund Hans, mit dem ich einst in Ardenau die Schulbank gedrückt hatte, war tot und hatte seine letzte Ruhestätte auf einem Bergplateau gefunden, inmitten alter Bäume, von unbarmherzigen Menschen Wind und Wetter ausgesetzt.

Im Dorf des Jungen wussten anscheinend bereits alle, dass ich bei dem toten Seelenfänger gewesen war. Die Frauen machten kehrt, kaum dass sie mich sahen, und verkrochen sich in ihre Häuser, die Männer behielten mich mit geballten Fäusten scharf im Blick. Niemand stellte mir irgendeine Frage, niemand versperrte mir den Weg.

»Na wunderbar!«, knurrte Apostel. »Vor dieser Meute retten dich nicht mal deine beiden Pistolen!«

»Ach was, ehe sie sich ein Herz gefasst haben, bin ich schon wieder weg.«

Das Haus des Ältesten fand ich ohne Mühe, denn es war das größte und prachtvollste. Davor wartete ein rotgesichtiger Mann um die fünfzig mit seinen beiden Söhnen auf mich. Seine Nachkommen schlugen ganz nach ihm, waren ebenso breitschultrig und misstrauisch. Im Blick des jüngeren der beiden spiegelte sich allerdings nackte Angst wider. Trotzdem gab er sich tapfer und würde mir bestimmt an den Kragen gehen, sollte ich seinen Vater irgendwie beleidigen.

»Du bist der Dorfälteste, oder?«

»Mhm. Weshalb?«

»Ich brauche einen Spaten.«

Als Scheuch, der selbstverständlich auf eine handfeste Rauferei gehofft hatte, diese Worte hörte, verpasste er einem vorbeitapsenden Schwein voll wütender Enttäuschung einen Tritt. Mit einem markerschütternden Quieken ergriff das Tier die Flucht.

»Hol ihm das Ding«, verlangte der Dorfälteste von seinem jüngsten Sohn. »Es steht im Schuppen. Und mach hinne!«

Die nächsten Minuten brachte niemand ein Wort heraus. Dann kam endlich der Junge mit der Schaufel zurück. Er drückte sie mir in die Hand, mied dabei aber meinen Blick und ging sofort wieder auf Abstand.

»Sag mal, Mann«, wandte ich mich erneut an seinen Vater, »du willst ja wohl nicht, dass ich noch mal wiederkomme, oder?«

»Wir haben hier keine dunklen Seelen«, erklärte er mir. »Für dich gibt’s bei uns also nichts zu tun.«

»Trotzdem wäre ich sofort wieder da! Dafür bräuchte nur irgendjemand das Grab anzurühren. Und beim nächsten Mal, das darfst du mir glauben, kämt ihr nicht ungeschoren davon!«

Ohne seine Antwort abzuwarten, stapfte ich davon.

In meinem Rücken spürte ich zwar die Blicke aller Männer des Dorfs, aber keiner von ihnen nahm die Verfolgung auf. In Schwierigkeiten geriet ich erst, als ich mich der Kirche näherte. Da stürzte nämlich der Priester, ein Mann mit Zauselbart und weit aufgerissenen Augen, auf mich zu.

»In die Hölle mit dir, du Ausgeburt des Dunkels!«, geiferte er mich an und fuchtelte wild mit dem Kruzifix in seiner Hand herum.

Er wollte mich auf keinen Fall zurück zu Hans lassen. Menschen wie er waren mir ein Gräuel. Ihre Beschränktheit, durch religiösen Eifer noch verstärkt, ließ bei einer Begegnung mit einem Seelenfänger Angst in ihnen aufkeimen. Mit dieser steckten sie auch noch alle um sich herum an, sodass sie letztlich nicht besser waren als all die Flöhe, die die Pest übertrugen.

»Geh mir aus dem Weg!«, zischte ich ihn wütend an.

»Wag es ja nicht, dich an einem Diener Gottes zu vergreifen!«, erwiderte er und holte mit seinem Kreuz aus.

Ich konnte den Angriff gerade noch mit dem Spatenstiel abfangen. Als der Priester mit voller Wucht gegen das Holz schlug, verlor er das Gleichgewicht und ging zu Boden. Ich setzte meinen Weg fort, während der Gottesmann den Dörflern ausmalte, welche Höllenstrafen sie treffen würden, weil sie sich mir nicht entgegengestellt hatten.

Der Rückweg zum Berg kam mir wesentlich länger vor. Als ich dort am Waldesrand bereits eine knietiefe Grube geschaufelt hatte, gesellte sich Apostel wieder zu mir.

»Niemand ist dir nachgekommen«, teilte er mir mit. »Anscheinend wollen sie sich doch nicht mit dir anlegen.«

»Umso besser«, murmelte ich, ohne meine Arbeit zu unterbrechen.

»Aber Scheuch …«

»Was ist mit ihm?«

»Er schleicht um die Kirche herum. Mit seiner Sichel.«

»Als ob er sich je von der trennen würde.«

»Ludwig! Du weißt genau, was ich meine!«

»Stell dir vor, ich weiß sogar, was du von mir erwartest!«

»Soll das etwa heißen, dass du ihn nicht aufhalten willst?!«

Ich maß Apostel mit einem langen Blick.

»Selbst ein Mensch wie dieser Geistliche verdient den Tod nicht!«

»Jeder Mensch verdient den Tod.«

»Aber was, wenn Scheuch ihn tatsächlich umbringt?«

»Von irgendwas muss er schließlich leben.«

»Ludwig! Spiel hier nicht den abgebrühten Draufgänger!«, fuhr Apostel mich an. »Du bist wütend, weil der Priester den Dörflern verboten hat, deinen Freund zu begraben. Aber so sind die Menschen nun einmal. Sie begehen Fehler und handeln nicht immer gottgefällig. Das heißt aber noch lange nicht, dass du dich zu etwas hinreißen lassen solltest, das du später bereust!«

Er hatte ja recht. Fluchend ließ ich den Spaten fallen und machte mich an den Abstieg. Kurz darauf stieß ich jedoch bereits auf Scheuch. Mein Animatus beobachtete hingebungsvoll, wie sich die gelben Blätter von den Zweigen lösten. Seine Sichel funkelte, an ihr glitzerte jedoch nicht ein einziger Tropfen Blut.

»Falscher Alarm«, teilte ich Apostel mit, sobald ich mit Scheuch im Schlepptau wieder zur Lichtung kam.

Scheuch musterte uns beide, als wollte er sagen: Als ob ich auch nur einer Fliege etwas zuleide tun könnte …

»Geschadet hat es ja wohl nicht, dass du dich mit eigenen Augen davon überzeugt hast«, hielt mein alter Sturkopf Apostel dagegen. Aber wenigstens verstummte er, als er meinen wütenden Blick auffing.

Erst gegen Mittag hatte ich das Grab ausgehoben, Baumwurzeln machten mir die Arbeit nämlich ziemlich schwer.

Scheuch half mir dann, das gesamte Skelett einzusammeln. Selbst den kleinsten, tief unter Laub verborgenen Knochen entdeckte er ohne jede Mühe. Als Hans’ Gebeine endlich vollständig in der Grube lagen, schaufelte ich diese zu. Anschließend fällte ich mit meinem Dolch einen sehr jungen Baum und fertigte aus zwei Ästen ein behelfsmäßiges Kreuz.

»Er war ein guter Mensch und ein guter Seelenfänger«, bemerkte Apostel feierlich.

»Woher willst du das denn wissen?«, polterte ich. »Du kanntest ihn doch gar nicht!«

»Über Tote spricht man schließlich nicht schlecht«, hielt er leicht verlegen dagegen. »Aber gut, dann stimme ich halt das Totengebet an.«

Wie oft er das in letzter Zeit hat tun müssen, schoss es mir durch den Kopf.

Nachdem Apostel geendet hatte, blieb ich noch ein Weilchen am Grab sitzen und überließ mich meinen Erinnerungen. Daran, wie Hans und ich während des Liesetzker Aufstands dunkle Seelen gejagt hatten. Oder wie mein Freund sich mit Shuco noch während unserer Ausbildung um Rosa geprügelt hatte. Wie wir auf einem Friedhof unsere letzte Prüfung abgelegt und dann die schwarzen Dolche erhalten hatten.

Ich wickelte Hans’ Klinge in einen Lappen und verstaute sie in den Tiefen meines Rucksacks. Sobald ich zivilisiertere Gegenden erreicht hätte, würde ich den Dolch der Bruderschaft zukommen lassen, damit sie die Waffe ordnungsgemäß zerstörte.

Apostel hüstelte, um mich aus meinen Gedanken zu reißen.

»Wir sollten endlich weiter«, sagte er. »Bis nach Gäbeling haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Und je eher wir aufbrechen, desto schneller sitzen wir wieder in einer Kutsche.«

»Ich gehe nicht nach Gäbeling.«

»Wie bitte?«, stieß Apostel fassungslos aus. »Aber das ist doch die nächste Stadt. O nein! Diesen Blick kenne ich! Was hast du jetzt schon wieder ausgeheckt?!«

»Mein Freund ist ermordet worden, Apostel. Da will ich herausfinden, warum.«

Scheuch legte mal wieder den Zeigefinger an die Schläfe und drehte ihn hin und her, eine Geste, die er sich in den letzten Monaten angewöhnt hatte.

»Zuweilen kann ich unserem Herrn Vogelschreck nur zustimmen«, tönte Apostel. »Hans ist vor vielen Jahren gestorben. Du bringst nichts mehr über seinen Tod in Erfahrung, denn seine Knochen verraten nichts mehr!«

»Wenn ich der Sache nicht auf den Grund gehe, werde ich mir nur ständig den Kopf darüber zerbrechen. Am Ende kehre ich dann doch in diese Gegend zurück. Also kann ich mich auch gleich darum kümmern.«

»Und wohin willst du deswegen gehen?«

»Der Junge hat behauptet, Hans sei über die Berge gekommen.«

»Und mein Vater hat immer gesagt«, entgegnete Apostel und gab ein Geräusch von sich, als ließe er einen Wind fahren, »dass die Engel das Bier geschaffen haben. Aber das heißt nicht, dass ich ihm diese Geschichte abkaufe. Schon gar nicht, wenn er zu viel von diesem Engelsgebräu intus hatte.«

»Bisher hast du eigentlich immer recht respektvoll von deinem Vater gesprochen.«

»Hör mal, Ludwig, dieser Bauernlümmel lügt doch, wenn er den Mund aufmacht! Was, wenn dein Hans in diesem Dorf ermordet wurde?«

»In dem Fall hätte man seine Leiche ganz bestimmt vergraben. Außerdem wüsste dann nicht jedes Kind von diesen Knochen, geschweige denn, dass es sie einem Mann auf der Durchreise gegenüber erwähnen würde.«

Scheuch nickte bedeutungsvoll zur Bestätigung meiner Worte.

»Wenigstens einmal könntest du dich ja auch auf meine Seite stellen!«, knurrte Apostel ihn an. Er wollte halt partout nicht weiter durch die Berge kraxeln, sondern diese Ödnis so schnell wie möglich hinter sich lassen. Deshalb wandte er sich wieder an mich. »Du wirst dir das Genick brechen, mehr nicht. Aber bitte, mach doch, was du willst! Auf mich musst du dann allerdings verzichten! Ich habe die Schnauze gestrichen voll davon, ständig an deinem Rockzipfel zu hängen!«

Mit diesen Worten stapfte er davon.

»Der kommt schon wieder«, sagte ich zu Scheuch, der sich eigens auf Zehenspitzen stellte, um den Abzug Apostels zu verfolgen. »So was hat er schon öfter gemacht. Was ist mit dir? Begleitest du mich rauf in die Berge?«

Daraufhin schlug Scheuch wortlos den Pfad ein, der in den Wald hinaufführte. Ich schnappte mir meinen Rucksack und folgte ihm.

Die Kristallberge bildeten zwar keine so lange Kette wie die Gipfel entlang der Kantonsländer, waren jedoch wesentlich höher. Der Zahn der Kälte und der Monte Rosa bohrten sich geradezu in den Himmel. Man bekam diese beiden legendären Gesteinsmassive allerdings nur zu Gesicht, wenn man sich tief in die Kristallberge hineinbegab. Die meisten Menschen, die von Broberger nach Tschergien wollten, zogen zwei Pässe im Süden vor, die noch unter Kaiser Konstantin angelegt worden waren. Hier oben im Norden gab es jedoch nur einen Weg, der nach Tschergien führte: den Gorrgratpass, westlich des Monte Rosa.

Und wer diesen Pass nahm, musste mit allerlei Wetterkapriolen rechnen, vor allem im Winter. Deshalb wählte kaum jemand diesen Weg, zumal ja auch nur eine Woche vom Pass entfernt eine weitaus sicherere Straße verlief.

Zum Hauptkamm führte nur ein einziger Pfad hinauf. Er endete an einem Kloster der Caliquere. Doch was hätte Hans bei diesem Orden gewollt haben können? Oder hatte er dieses Kloster gar nicht aufgesucht? Oder dort nur eine Nacht zugebracht, weil er umkehren und sein Glück auf der Straße im Süden versuchen wollte?

Viele Fragen, aber keine Antwort.

Vor vier Tagen hatte ich das Dorf verlassen. Je höher ich kam, desto öfter lugten nackte Gipfel aus den mit Tannen bestandenen Bergen heraus. Sie ließen an die Tonsur eines Mönchs denken. Irgendwann hatte ich den Wald hinter mich gebracht, danach umgaben mich nur noch Almen. Grüne Flicken auf wahren Steingiganten.

Die breiten Täler, in die sich noch die Herbstsonne ergoss, wurden immer stärker von den Bergen in die Zange genommen, bis sie schließlich eine einzige enge Schlucht bildeten, durch die ein Fluss toste. Ich gewöhnte mich schnell an dessen Gedonner, sodass ich es schon bald gar nicht mehr hörte. Sobald mich jedoch eiskalte Spritzer trafen, rief mir stechender Schmerz den Fluss wieder in Erinnerung.

Vom Himmel konnte ich inzwischen nur noch einen schmalen, tiefblauen Streifen erkennen. Die Sonne ließ sich nur für wenige Stunden blicken, danach versank die Schlucht schon wieder im Schatten, den irgendwann die Abenddämmerung ablöste. Noch bevor sich die Dunkelheit endgültig herabgesenkt hatte, schlug ich mein Nachtlager auf. Da ich keinen Topf dabeihatte, konnte ich mir nicht einmal Wasser warm machen. Immerhin fand ich aber genug Reisig, um ein Feuer zu entfachen. Frieren würde ich also nicht.

Ich knüpfte die zusammengerollte Decke aus Schaffell vom Rucksack und breitete sie auf dem Boden aus. Im Herbst war das in den Bergen unverzichtbar, denn auf der nackten Erde würde ich keinen Schlaf finden.

Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen war das Pulver, das ich in einem Horn aufbewahrte, durch den starken Regen feucht geworden. Damit durfte ich meine beiden Pistolen vergessen. Sie hatten mich zwar Unsummen gekostet, doch jetzt trennte ich mich leichten Herzens von ihnen. In den Bergen wog alles doppelt, und diese Dinger waren entsetzlich schwer. Deshalb behielt ich nur die Armbrust und acht Bolzen.

Schon am nächsten Tag sollte mir diese Waffe gute Dienste leisten, als ich in einer Buche ein Königshuhn aufschreckte, ein properer Vogel mit buntem Federkleid, der in dieser Gegend zu Hause war. Brachte der Herbst also wenigstens einen Vorteil mit sich: Er vertrieb diese Vögel aus den höher gelegenen Gegenden. Im Sommer hätte ich nämlich gut tausend Yard weiter hinaufkraxeln müssen, um eines dieser Federviecher zu entdecken.

Am Abend spießte ich den Vogel auf ein paar Äste. Verhungern würde ich in den nächsten Tagen also nicht. Gerade als ich damit fertig war, fand sich auch Apostel wieder ein.

Er schälte sich aus dem Dunkel heraus und setzte sich dicht ans Feuer, anhaben konnte es ihm ja nichts.

»Lange nicht gesehen«, begrüßte ich ihn.

»Wir brauchten beide eine kleine Erholung voneinander. Bist du schon auf eine Spur gestoßen?«

»Nur auf einige Stellen, an denen Jäger oder Hirten übernachtet haben, sonst nichts. Kein einziger Hinweis auf Hans.«

»Was für einen alten Sturkopf wie dich natürlich kein Grund ist, die Suche aufzugeben …«

»… oder die Hoffnung zu verlieren.«

»Sieh, deine Hoffnung wäre betrogen; schon bei seinem Anblick würde einer hingestreckt.«

»Spar dir deine Sprüche aus den heiligen Schriften, sie passen hier sowieso nicht.«

»Ganz im Gegenteil. Für deine Suche gibt es nicht die geringste Hoffnung, in diesen Bergen hast du nichts verloren, mag sie auch der Herr selbst geschaffen haben. Kehr also um, Ludwig!«

Als Scheuch diese Worte hörte, zuckten seine Schultern belustigt auf und ab. Apostels Bibelauslegung schien ihm zu gefallen.

»Bis zum Kloster Dorch gan Toynn sind es noch sechs Tage. Vielleicht wissen die Caliquere ja etwas über Hans.«

»Hast du eigentlich nicht das geringste bisschen Hirnschmalz im Kopf?!«, fuhr Apostel mich an. »Dein Hans ist an Verletzungen gestorben! Glaubst du, mit denen ist er vom Kloster bis zum Dorf gewandert?! Nein, wer immer ihn auch angegriffen hat, der hat das an einer Stelle getan, die längst hinter uns liegt!«

»Menschen können selbst verwundet noch erstaunliche Strecken zurücklegen. Und der Junge wusste ja nicht mal genau, was es mit dieser Wunde auf sich hatte. Vielleicht ist Hans auch an Gift oder durch einen Zauber gestorben.«

»Was, wenn er gestolpert ist und sich das Genick gebrochen hat?«

»Denkbar. Oder er hat sich eine Erkältung eingefangen und ist an seinem eigenen Rotz erstickt.«

»Seelenfänger werden nicht krank.«

»Eben! Und genau deshalb will ich herausfinden, was hinter Hans’ Tod steckt.«

»Hier oben in den Bergen?! Wo es nicht eine Menschenseele gibt, die du fragen könntest …«

»Dafür gibt es Wege. Genauer gesagt, einen Weg. Wenn Hans ihn gewählt hat, finde ich das früher oder später heraus. Oder ich frage jemanden danach. Entweder die Mönche vom Dorch-gan-Toynn-Kloster oder irgendein Anderswesen.«

»Dieses Teufelsvolk!«, spie Apostel aus. »Auf dessen Hilfe willst du doch nicht allen Ernstes rechnen! Ich an deiner Stelle würde mich hüten, mit denen auch nur zu reden! Das hier ist nicht der Dunkelwald, wo Guervo seine schützende Hand über dich hält. Oder auch Sophia.«

Apostel ließ nie eine Gelegenheit aus, die silberhaarige Zauberin zu erwähnen, auch wenn er nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen würde, dass sie noch immer durch seine Träume spukte.

»Keine Sorge, ich pass schon auf mich auf«, versprach ich.

»Du bist und bleibst einfach ein Buch mit sieben Siegeln. Erst willst du unbedingt herausfinden, wie dieser zauberkundige Zigeuner nach Schossien gekommen ist, dann heißt es nur noch: Hans hier, Hans da …«

»Falsch!«, widersprach ich. »Ich will immer noch wissen, woher der Zigeuner kam, deswegen gehe ich ja nach Tschergien. Aber wer behauptet, dass nur ein Weg dahin führt?«

Scheuch reckte den Daumen in die Höhe, Apostel schnappte ein.

»Klar«, giftete er. »Vorausgesetzt, du krepierst dabei nicht auf dem Gorrgratpass. Da kann dir im September der Schnee nämlich schon bis zur Nasenspitze reichen. Was dann?«

»Wir hatten einen heißen Sommer mit wenig Regen, deshalb rechne ich nicht mit viel Schnee. Es müsste also noch möglich sein, den Pass zu überwinden. Vor allem wenn mir die Caliquere helfen.«

»Na aber klar! Ist ja allgemein bekannt, dass sich Caliquere förmlich darum reißen, einem Seelenfänger einen kleinen Gefallen zu erweisen!«

Statt zu antworten, aß ich mein Fleisch und trank etwas kaltes Wasser.

»Aber die Zigeuner sind hier mit Sicherheit nicht langgekommen«, brummte Apostel nach einer Weile.

»Stimmt«, gab ich zu. »Doch Miriam und ich haben herausgefunden, dass sie von Tschergien nach Schossien gezogen sind. Deshalb glauben wir, dass der Zauberer den Seraphimdolch dort erhalten hat.«

»Nur glaubt Miriam das mittlerweile gut behütet in Ardenau, während du mitten im Nirgendwo über einen Pfad krauchst, der dich deinem Ziel keinen Schritt näher bringt.«

»Sag das nicht! Wegen des Krieges in Tschergien gibt es auf beiden Straßen Konstantins bei all den flüchtenden Menschen kein Durchkommen. Hier in den Bergen komme ich dagegen ungehindert vorwärts. Weder Fahnenflüchtige noch Söldner oder Räuber bereiten mir irgendwelche Schwierigkeiten. Die Spur der Zigeuner werde ich dann auf der anderen Seite des Kamms schon wieder aufnehmen. So viele, wie es waren, muss sie jemand bemerkt haben.«

Plötzlich erhob sich Scheuch, spähte ins Dunkel und verschwand dann in der Finsternis.

»Eben! Dieser Zauberer war mit über hundert Zigeunern unterwegs«, maulte Apostel weiter. »Er … du kennst ja nicht einmal seinen Namen … Und er kann jeden Tag mit zahllosen Menschen gesprochen haben. Wie willst du da wissen, von wem er den Seraphimdolch hat?«

»Gertrude ist der Ansicht, das Böse ziehe das Böse an und hinterlasse immer eine Spur.«

»Auf das Wort deiner Hexe würde ich nicht viel geben.«

»In der Regel hat das, was sie sagt, Hand und Fuß.«

Apostel holte schon tief Luft, um zu einer unflätigen Erwiderung anzusetzen, brachte dann aber keinen Ton heraus, weil vier Gestalten aus dem Dunkel heraustraten.

Anderswesen. Zauselige Geschöpfe, die mir höchstens bis zum Knie reichten. Ihre Kleidung hatten sie aus Eichhörnchenfell gefertigt. In einem igelartigen Gesicht funkelten grüne Augen mit den vertikalen Pupillen einer Katze. Zwei von ihnen näherten sich uns, die anderen beiden tapsten auf nackten Füßen am Rand des Lichtkreises herum.

Wesen wie sie hatte ich noch nie gesehen. Sie wirkten jedoch recht harmlos.

»Ich habe etwas Fleisch und ein wenig Brot«, lud ich sie deshalb ein.

»Wir brauchen das Essen der Menschen nicht. Wir wollen bloß am Feuer sitzen.«

»Nur zu.«

Die beiden unerschrockeneren nahmen sofort Platz und stierten in die Flammen, ohne auch nur einmal zu blinzeln. Die beiden anderen trauten sich erst nach einer Weile näher.

»Du bist ganz sicher, dass die uns nichts tun?«, wollte Apostel wissen.

Ich nickte bloß.

Nachdem ich in aller Ruhe mein Abendessen beendet hatte, ging ich zum Fluss hinunter und wusch mir die Hände. Als ich zurückkehrte, hatte sich nichts verändert. Die vier Anderswesen beobachteten noch immer, wie die Flammen das Reisig verschlangen. Ich hockte mich wieder zu ihnen. Niemand sagte ein Wort. Als das Feuer auszugehen drohte, gab ich ihm neue Nahrung. Irgendwann streckte ich mich auf meiner Decke aus.

»Das ist nicht dein Ernst, oder?!«, fuhr Apostel mich an. »Du willst dich doch wohl nicht in Anwesenheit dieses Quartetts aufs Ohr hauen!«

»Warum nicht?«, fragte ich.

Für diese vier Wesen war ich doch Luft …

»Weil diese liebreizenden Herren Anderswesen dir dann womöglich die Kehle aufschlitzen!«

»Wegen deiner krausen Ängste werde ich mir nicht die Nacht um die Ohren schlagen. Morgen liegt ein anstrengendes Stück Weg vor mir, da muss ich ausgeruht sein.«

»Heilige Jungfrau Maria! Warum bist du nur so ein furchtbarer Einfaltspinsel?! Reicht dir noch immer nicht, dass gut die Hälfte von euch Seelenfängern draufgeht, weil sie irgendwelchen Anderswesen vertraut hat?!«

»Man kann nicht immer vor allen Kreaturen, die man nicht kennt, Angst haben.« Diese Auseinandersetzung ging mir allmählich auf die Nerven. »Heb dir deine Panikanfälle für passendere Gelegenheiten auf! Und wenn du schon so um mein Wohlergehen besorgt bist, dann mach dich halt nützlich: Weck mich, sobald mir Gefahr droht!«

Apostel setzte schon an, mir ein paar empörte Erwiderungen an den Kopf zu knallen und mich in einen Streit zu verwickeln, bei dem er seine geliebten Bibelzitate auf mich niederprasseln lassen würde, doch ich unterband diesen Angriff, indem ich schlicht und ergreifend die Augen schloss.

Es war dann keineswegs Apostel, der mich weckte, sondern einer meiner nächtlichen Besucher. Es dämmerte gerade, über das Reisig hatte sich ein grauer Ascheschleier gelegt, das Feuer spendete längst keine Wärme mehr, und vom Fluss her wehte ein eisiger Wind heran. Ich war völlig durchgefroren.

Die drei Gefährten meines Aufweckers waren verschwunden, ohne sich von mir verabschiedet zu haben.

»Feuer ist gut«, erklärte das Anderswesen. »Dafür sind wir dir etwas schuldig, Blut aus dem Dunkelwald. Weiter oben, da, wo eine eisige Zunge über den Boden leckt, lauert große Gefahr.«

»Was genau lauert da?«, wollte ich wissen, noch immer ganz benommen von meinen Traum, in dem Gertrude und Cristina gegeneinander gekämpft hatten. »Worauf muss ich gefasst sein?«

»Da wartet ein Kind der Sträucher.« Als er meinen verständnislosen Blick auffing, verzog er belustigt sein Igelgesicht. »Ein Rugaru. Er hat im Sommer schon drei Schafhirten gerissen.«

Nur gut, dass Apostel nicht in meiner Nähe war. Drei Hirten, von einem Anderswesen gemeuchelt. Wenn meine gute, alte ruhelose Seele das wüsste, würde sie mir stundenlang in den Ohren liegen, meinen Weg bloß nicht fortzusetzen.

»Danke, dass du mich gewarnt hast. Aber ich muss weiter in die Berge rauf, denn ich suche einen Freund. Er hat den gleichen Dolch getragen wie ich und ist vor langer Zeit hier gewesen. Du bist ihm nicht zufällig begegnet?«

»Hier kommen nur Hirten her«, teilte mir das Anderswesen mit. »Und die lassen uns nie an ihr Feuer. Dein Freund ist mir also nicht begegnet.«

Nach diesen Worten verschwand auch er. Ich stemmte mich auf einen Ellbogen hoch. Scheuch stand vor mir.

»Hast du schon mal einen Rugaru gesehen?«, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf.

»Diese Tiermenschen triffst du häufig in einsamen Gegenden an. In Städten dagegen kaum. Meist kann man sich mit ihnen friedlich einigen. Vorausgesetzt, sie sind satt, es steht kein Vollmond am Himmel und sie haben keine schlechten Erfahrungen mit Menschen gemacht.«

»Was faselst du da von einem Rugaru?«, mischte sich Apostel ein, der vom Fluss hochkam.

»Sag mal, wolltest du mich nicht heute Nacht bewachen?!«

»Du hattest ja recht, Ludwig. Diese vier Burschen wollten dir wirklich nichts Böses. Die haben ja bloß die ganze Nacht ins Feuer geguckt. Deshalb hab ich mir halt ein wenig die Füße vertreten. Was ist das also für eine Geschichte mit dem Rugaru?«

»Ich habe Scheuch von diesen Wesen erzählt«, antwortete ich, während ich bereits die Decke einrollte.

»Was willst du von den Biestern schon groß erzählen?! Sie sind grausam, rachsüchtig und fressen Menschen. Und sie wissen genau, was sie getan haben, wenn sie sich in einen Menschen zurückverwandeln. Deshalb musst du sie erschießen, sobald du sie siehst.«

»Der alte Apostel hat mitunter etwas rabiate Vorstellungen, wie mit Wesen zu verfahren ist, die nicht ganz seinen Vorstellungen entsprechen«, wandte ich mich an Scheuch, der mir sofort eifrig zunickte.

»Aber natürlich«, spielte Apostel den Beleidigten. »Hast du mir nicht erzählt, wie du mal über ein Lavendelfeld vor so einem Wesen, das nicht ganz meinen Vorstellungen entsprach, Reißaus genommen hast?! Hätten dir nicht ein paar Kirchenmänner deinen lausigen Kopf gerettet, könntest du längst niemandem mehr irgendwelche Lügenmärchen auftischen!«

»Das ist eine alte Geschichte. Aber denk an den Dunkelwald. Dort hat mich nicht ein Rugaru angerührt.«

»Weil du der Gast von Guervo und Sophia warst. Hätten sie dich nicht beschützt, würde längst Herbstlaub auf deine abgenagten Knochen herabsegeln!«

»Kann es sein, dass du heute Morgen noch biestiger bist als sonst?«

»Was erwartest du denn in dieser gottverlassenen Gegend?! Meine Laune wird sich erst heben, wenn wir uns wieder der Gesellschaft zivilisierter Menschen erfreuen.«

»Wenn du darunter Soldaten verstehst, die gerade Krieg führen und plündernd durchs Land ziehen, dürften wir uns schon recht bald wieder der Gesellschaft zivilisierter Menschen erfreuen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, seufzte er und wischte sich das nie versiegende Blut von der Schläfe. »Denn ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, dass es schon so bald sein wird.«

»Dann lass uns nicht länger rumtrödeln«, verlangte ich, schulterte den Rucksack und folgte dem Pfad weiter durch die Schlucht.

Nach ein paar Stunden öffnete der Himmel seine Schleusen. Die ohnehin schon unwirtliche Gegend nahm sich nun noch unwirtlicher aus. Die regenfeuchten Tannen glänzten schwarz, die niedrigen Wolken bohrten sich in den finsteren Wald hinein und nahmen mir beinahe jede Sicht. Der Regen trommelte mit unbarmherziger Gleichmäßigkeit auf Blätter, Bäume und die Kapuze meiner Jacke. Scheuch, der diese Laune der Natur hasste, schielte zum Himmel hoch, vor Wut außer sich, dass er nichts an dem Mistwetter ändern konnte.

Der Fluss krachte weiter durch sein Bett. Sobald der Pfad einen Knick machte, verschwand das tosende Wasser. Sah ich dann die türkisfarbenen Spritzer wieder, fasste ich sofort neuen Mut, denn wenn es weiter oben auch noch regnen würde, wäre das Wasser längst schmutzig braun.

Irgendwann stieg der Pfad aber so steil an, dass ich Wind und Wetter völlig vergaß, weil mir nur noch ein einziger Gedanke durch den Kopf ging: Wenn ich jetzt bloß nicht stürzte und mir das Genick brach! So hangelte ich mich, längst von Kopf bis Fuß mit Schlamm bespritzt, weiter von Stein zu Stein, um den Fels hochzukraxeln. In der hellgrauen Nebelbrühe nahmen wir drei uns wie Gespenster aus, wobei Scheuch mit Strohhut und Uniform natürlich den imposantesten Eindruck machte, während ich in meiner abgerissenen Kleidung als ernsthafter Rivale jedes Bettlers gelten musste.

Apostel – mögen ihn all die Heiligen, deren Namen er ständig im Mund führt, segnen! – brachte es tatsächlich fertig, mir nicht damit in den Ohren zu liegen, dass ich ja wohl besser auf seinen klugen Rat gehört hätte.

Bei besserem Wetter wäre der Anstieg vermutlich gar nicht so schlimm gewesen und hätte auch nicht so lange gedauert, aber unter diesen Umständen erreichte ich das nächste Hochplateau erst gegen Abend. Erschöpft setzte ich mich auf einen Felsbrocken und atmete tief durch.

»Ganz schön hoch hier, was?«, brachte Apostel etwas kleinlaut heraus.

»Nicht so hoch, wie ich gehofft hatte«, antwortete ich. »Es liegt ja noch nicht mal Schnee. Daher nehme ich an, dass wir erst die Hälfte des Weges hinter uns haben. Das schwerste Stück der Etappe steht uns also noch bevor.«

Apostel stieß einen Fluch aus, der sich gewaschen hatte.

»Bei deinem Hans kann ich mir ja noch vorstellen, warum er hier langgekraxelt ist«, meinte er dann. »Ihr Seelenfänger seid ja alle verrückte Hunde. Wo man euch hinschickt, da tappt ihr brav hin. Im Grunde kann euch eine Gegend gar nicht einsam und gefährlich genug sein. Aber die Mönche …? Ich verstehe einfach nicht, wie die Caliquere in diesen Bergen hausen können! Was hat sie bloß veranlasst, ein Kloster an diesem lausigen Pass zu bauen? Heilige Mutter Gottes! Hier gibt es doch nichts und niemanden, nicht mal Pilger!«

»Soweit ich weiß, führt vom Dorch-gan-Toynn-Kloster aus eine Straße am Zahn der Kälte vorbei nach Gäbeling. Wenn man schnell läuft, schafft man die Strecke in einer Woche. Meiner Ansicht nach nehmen die Mönche jene Straße und nicht diesen Weg durch die Berge. Und auf Pilger sind sie gar nicht erpicht, schließlich ist der Caliquerorden eine Art geschlossene Gesellschaft. Da sie im Kloster in Kirchenmagie unterwiesen werden, können sie auf Gaffer und Nichtsnutze getrost verzichten.«

Mir fiel ein, wie die Caliquere die Stargas erledigt hatten.

»In dem Fall bist du noch dümmer, als ich bisher angenommen habe«, giftete Apostel weiter. »Anzunehmen, dass dich diese Herren mit offenen Armen empfangen …«

»Die Bruderschaft und die Caliquere sind eigentlich immer gut miteinander ausgekommen. Deshalb glaube ich schon, dass sie mir Einlass gewähren.«

»Nicht alle Caliquere sind wie Corvus. Wie ja auch nicht alle Inquisitoren wie Vater Mart sind.«

»Das ist mir durchaus klar«, blaffte ich ihn an und erhob mich. »Lass uns unseren wunderbaren Spaziergang noch etwas ausdehnen. Vielleicht finden wir ja sogar ein paar Zweige. Dann entfachen wir ein hübsches Feuerchen, und Scheuch erzählt uns eine packende Geschichte. Geht ja schließlich nicht an, dass immer nur wir beide quasseln.«

Apostel bleckte die Zähne, als hätte er gerade einen hervorragenden Witz gehört. Scheuch bedachte uns beide mit einer unflätigen Geste. Er hatte offenbar nicht die Absicht, seine Gewohnheiten zu ändern und einmal den Mund aufzumachen.

Am nächsten Morgen sah die Welt dann völlig anders aus. Ein klarer Tag war heraufgezogen, der für diese Jahreszeit sogar recht warm war. Die Berggipfel ragten in ihrer majestätischen Größe vor einem wolkenlosen Himmel auf.

Um mich herum herrschte friedliche Stille. Der Pfad schlängelte sich allerdings nach wie vor den Berg hoch. Als ich den Aufstieg hinter mich gebracht hatte, konnte ich endlich den Zahn der Kälte ausmachen.

»Ja, hol mich doch …!« Apostel fuchtelte hilflos mit den Armen herum. »Was für ein Anblick!«

Obwohl der Gipfel in der Form einer vierseitigen Pyramide, deren Wände kaum mit Schnee bedeckt waren, etwas abseits der Kette stand, herrschte der grau-rote Gigant über dieses Tal.

»Weiter geht’s!«

»Nicht so hastig!«, widersprach Apostel. »Lass mich doch erst mal die Aussicht genießen!«

»Dazu hast du noch genug Gelegenheit, sie wird sich nämlich in den nächsten Tagen nicht ändern. Außer dass sie dir vielleicht jedes Mal noch überwältigender vorkommt.«

»Wo ist denn der Monte Rosa?«

»Den kannst du noch nicht sehen, dafür sind wir zu tief, dieser dreizackige Berg da hinten versperrt dir noch die Sicht. Ihn müssen wir übrigens besteigen. Mit etwas Glück kannst du von dort sogar schon das Dorch-gan-Toynn-Kloster erkennen!«

Apostel warf einen Blick auf den Dreizack – und stöhnte nur.

Den Wanderer bemerkten wir, als wir an einem zwar schmaleren, aber ebenso laut tosenden Fluss entlang weiter nach oben kraxelten. Der einsame Mann trug den weiß-braunen Umhang eines Pilgers und legte gerade eine Rast ein. Er saß auf einem Felsbrocken, den Quersack vor sich, den Wanderstock über den Schenkeln. Es war ein guter Stock, ein solider, der ihm hier in den Bergen eine verlässliche Hilfe war. Und notfalls könnte er damit sogar einem Räuber eins über den Schädel ziehen.

Bei näherem Hinsehen machte ich ein dunkles Gesicht aus mit braunen Augen, einem dichten Vollbart und lockigem, bereits von etlichen grauen Strähnen durchzogenem Haar. Ein Zigeuner. An seiner rechten Schläfe prangte eine weiß schimmernde, kreuzförmige Narbe. Diese Brandzeichen kannte ich, damit wurden Zigeuner im Olsker Königreich, wo man sie für Menschen zweiter Klasse hielt, abgestempelt. Im Grunde gab man sie damit offiziell zur Hatz frei. Shuco hatte mir einmal erzählt, dass sein Vater auch eine solche Narbe trug. Dem Tod war er nur entgangen, weil er das Land rechtzeitig verlassen hatte. Kurz darauf war es dort nämlich zu einem Gemetzel gekommen, bei dem zwanzigtausend Angehörige seines Volkes ermordet worden waren.

»Ein Zigeuner!«, murmelte Apostel. »Warum die dir in letzter Zeit bloß ständig über den Weg laufen? Ob der hier schon mal seinen Stock vorwärmt? Sei also bloß auf der Hut!«

Der Mann pellte gerade ein gekochtes Ei. Selbst als er mich bemerkte, stellte er sein Tun nicht ein. Seine knorrigen Finger lösten die Schale vom Eiweiß, während seine braunen Augen mich fest im Blick behielten.

»Guten Tag«, begrüßte ich ihn. »Ich hätte wirklich nicht damit gerechnet, hier oben noch jemanden anzutreffen.«

»Ich auch nicht«, versicherte er leise. »Hast du Hunger? Ich habe ein paar Eier, etwas Speck und Brot.«

»Da sage ich nicht Nein«, erwiderte ich. »Ich bin Ludwig.«

»Und Seelenfänger, wie mir der Saphir an deinem Dolch verrät«, erwiderte er. »Ich heiße Roman.«

»Was hat dich in diese Gegend verschlagen?«

»Ich komme aus Gäbeling und will hoch ins Kloster, bin in der Brühe hier oben aber vom Weg abgekommen. Volle zwei Tage hat es mich gekostet, ehe ich den Pfad wiedergefunden habe.«

Er holte seinen Proviant heraus, breitete ihn neben sich auf dem Stein aus und bedeutete mir mit der rechten Hand, deren Ringfinger ein goldener Reif schmückte, mich zu ihm zu setzen.

»Ich will auch ins Kloster«, teilte ich ihm mit.

»Dann sollten wir den Weg zusammen fortsetzen. Wenn du nichts dagegen hast, versteht sich.«

»Das habe ich nicht«, meinte ich nach einem Blick auf Scheuch. »Zu zweit vergeht die Zeit ja auch viel schneller. Hast du noch andere Leute hier oben getroffen?«

»Gestern habe ich auf dem Nachbarberg einen Hirten mit seiner Herde gesehen. Er war allerdings zu weit weg, sodass ich nicht hörte, was er mir zurief. Was willst du denn bei den Caliqueren?«

»Ich suche einen Freund, der vermisst wird.«

»Ist er auch Seelenfänger?«, fragte Roman, doch in seinen Augen schimmerte kein Funke Neugier.

»Ja«, antwortete ich. »Was willst du denn bei den Mönchen?«

»Nicht ich will etwas von ihnen, sondern sie von mir. Ich beherrsche die alten Sprachen, und in der Bibliothek von Dorch gan Toynn werden einige Werke aufbewahrt, die niemand mehr versteht.«

»Man trifft nicht alle Tage einen Pilger, der aus den alten Sprachen übersetzt.«

»Du meinst, einen Zigeuner, der aus alten Sprachen übersetzt?«, fragte er grinsend zurück. »Ich besaß halt genug Köpfchen, um sie zu lernen. Und den Umhang eines Pilgers habe ich einem Lumpenhändler abgekauft. Der hält nämlich wunderbar warm.«

Er besaß also genug Köpfchen, alte Sprachen zu lernen – stapfte aber zwei Tage lang durch die Gegend, ohne zu merken, dass er sich verirrt hatte. Dann begegnete ihm in dieser Einöde ein Mann – doch seine Augen zeigten nicht die geringste Spur von Verwunderung oder Neugier.

All das gefiel mir nicht. Was, wenn er dieser Rugaru war, von dem das Anderswesen gesprochen hatte? Bei Tage konnte er ja durchaus in seiner Menschengestalt und eben nicht als Wolf herumlaufen …

Roman stellte sich als recht maulfauler Gefährte heraus. Bis zur nächsten Rast ging er vorgebeugt mit großen Schritten voran, ohne ein Wort von sich zu geben.

»Wir kommen jetzt bald zum schwierigsten Teil der Strecke«, teilte er mir dann mit, nachdem er sich gesetzt und seinen Stab wieder über die Schenkel gelegt hatte. »Da müssen wir einen steilen Fels fast hundert Yard rauf. Lass also besser alles hier unten, was du nicht unbedingt brauchst.«

»Was sollte das deiner Ansicht nach sein?«

»Die Armbrust zum Beispiel. Sie ist schwer, nützt dir aber gar nichts, denn du triffst hier oben weder Bären noch Wölfe, Schneeleoparden oder Menschen, musst dich also gegen niemanden verteidigen.«

»Aber ab und an begegnet dir ein Vogel, der ein gutes Abendbrot abgibt. Deshalb werde ich die Waffe wohl lieber behalten.«

»Wenn du meinst.«

»Dieser Zigeuner gefällt mir immer weniger«, erklärte Apostel. »Shuco ist verrückt, aber harmlos. Der hier ist irgendwie merkwürdig, der führt mit Sicherheit irgendwas im Schilde.«

Obwohl ich gleichmäßig durchatmete, laugte mich der Aufstieg derart aus, dass ich bald ins Keuchen geriet. Auf Romans Stirn dagegen glitzerte nicht ein einziger Schweißtropfen. Wie von einem Dämon besessen, schritt er voran und ließ nicht die geringsten Zeichen von Erschöpfung erkennen. Eine Stunde nach der letzten Rast erreichten wir einen Wasserfall. Der Fluss toste über einen breiten Felsvorsprung und ergoss sich krachend in die Tiefe.

»Wir müssen da lang«, bemerkte Roman und deutete nach oben. »Von dort führen Stufen rauf zum nächsten Plateau und zu einer Alm.«

Stufen war gut. Bei diesen Dingern handelte es sich um Unebenheiten im Fels, die in keiner Weise vertrauenerweckend wirkten.

»Der will doch nicht behaupten«, knurrte denn auch Apostel, »dass es keine andere Möglichkeit gibt, da hochzugelangen?«

Auf diese Frage erhielt er nicht einmal eine Antwort von mir. Scheuch verschwand gerade hinter dem Wasserfall, ich zog die Gurte meines Rucksacks fester – und machte mich ans Werk.

Je höher wir kamen, desto beschwerlicher wurde jeder Schritt. Irgendwann vertraute ich meinen Füßen nicht mehr und kroch auf allen vieren weiter, wobei ich meine Finger fest in die nassen, kalten Kiesel grub. Roman übrigens auch. Seinen Stock hatte er sich mit dem Gürtel auf den Rücken neben seinen Quersack geschnallt. Hin und wieder sah er sich nach mir um. Sobald er meinen Blick auffing, nickte er mir aufmunternd zu und kraxelte weiter.

Auf einem Felsvorsprung saßen zwei Trünkler, die sich den Spritzern des Wasserfalls entgegenstreckten. Sobald sie uns bemerkten, warfen sie uns aus ihren leuchtend blauen Augen wütende Blicke zu und sprangen in die Tiefe, wobei ihre silbernen Schuppen nur so funkelten.

Keine Ahnung, ob diese Anderswesen über unser Auftauchen erbost waren und deshalb auf Rache sannen oder ob alles bloß ein ärgerlicher Zufall war – aber zehn Yard vor Ende des Aufstiegs meinte ich, ein unsichtbares Wesen würde mit aller Kraft an meinem Rucksack zerren, sodass ich gefährlich zur linken Seite krängte.

Apostel riss die Augen entsetzt auf: Offenbar sah er bereits vor sich, wie ich mindestens neunzig Yard in die Tiefe stürzte.

Noch bevor ich jedoch in Panik geraten konnte, packten mich braun gebrannte Finger am rechten Handgelenk und zogen mich vom Abgrund weg.

»Danke«, japste ich, was jedoch im Tosen des Wasserfalls unterging.

»Du hättest auf mich hören sollen!«, brüllte Roman mir ins Ohr. »Und die Armbrust besser weggeworfen!«

Danach stiefelte er weiter. Als ich das Hochplateau ebenfalls endlich erreichte, wartete Roman schon auf mich. Neben ihm saß Scheuch und warf gelangweilt kleine Steine in die Tiefe.

»Brauchst du eine Verschnaufpause?«, wollte Roman wissen. »Oder können wir gleich weiter?«

»Ich brauch eine Minute«, antwortete ich. »Noch mal danke für deine Hilfe.«

»Keine Ursache.«

»Ich habe deinen Ring gesehen, als du mich gepackt hast.«

Roman grinste bloß.

»Drei fünfzackige Sterne … Du stehst im Dienst der Kirche.«

»Kaum zu glauben, was?«, entgegnete er. »Ein Zigeuner, der für den Heiligen Stuhl arbeitet …«

»Ich habe einen Freund, der ist auch Seelenfänger. Und ebenfalls Zigeuner. Doch auch er hängt dem gleichen Glauben an wie du und ich. Mich bringt also nichts so schnell aus der Fassung. Was mich aber interessieren würde, sind die alten Sprachen. Verstehst du wirklich etwas von ihnen?«

»Das tu ich, das war nicht gelogen, Ludwig van Normayenn. Alte Sprachen sind mein Steckenpferd, allein ihretwegen braucht man mich oben im Kloster.«

»Wann habe ich dir eigentlich meinen vollen Namen genannt?«

»Gar nicht. Aber ich habe dich schon einmal gesehen. In Vion, zusammen mit Vater Mart, damals als man Kardinal Urban töten wollte. Ich stehe übrigens in Diensten des Kardinals.«

»Von Kardinal Urban …?«

»Die Welt ist ein Dorf, Ludwig. Daher begegnen sich Menschen, die sich mit ähnlichen Dingen befassen, immer wieder … Was ist nun? Können wir weiter?«

Wir marschierten den Kamm entlang. So weit das Auge reichte, gab es nichts als Hänge mit Almen oder Steinlichtungen. Der Pfad zog sich schnurgerade dahin und war wesentlich leichter zu bewältigen als der, den ich in den letzten Tagen hinter mich gebracht hatte.

Inzwischen waren wir in das Herz der Kristallberge vorgedrungen. Der zentrale Kamm bildete eine weiße Wand, die von Nord nach Süd verlief. Rechts von uns bohrte sich der Zahn der Kälte in den Himmel, links erhob sich wie ein riesiger Zuckerberg der Monte Rosa, der abends hinter purpurroten Wolken verschwand.

»Wir sind rund dreitausend Yard über dem Meer«, teilte mir Roman mit. »Der Monte Rosa bringt es auf rund siebentausend Meter. Bisher hat ihn noch kein Mensch bezwungen.«

»Weshalb sollte das auch jemand versuchen?«, entgegnete ich. »Dort gibt es nur Schnee und Eis sowie die liebreizenden Frostgeister, die bekanntlich etwas gegen Menschen haben.«

In dieser Höhe setzten mir Kopfschmerzen zu, außerdem hatte Roman einen Schritt am Leib, bei dem ich schon bald völlig außer Atem war. Trotzdem konnte ich insgesamt nicht klagen. Obendrein machte ich den Gorrgratpass bereits aus, selbst wenn uns noch gut dreieinhalb Leagues von ihm trennten. Er verlief zwischen dem Monte Rosa und einem niedrigen, an eine brütende Ente erinnernden Berg.

Es war noch früh am Morgen. Die aufgehende Sonne ließ den Kamm wie eine halb gefrorene Süßspeise aus Chagzhid aussehen, so zartrosa schimmerte der Schnee. In den Tälern hingen Wolken, ein geradezu aberwitziger Anblick, schienen wir doch förmlich über ihnen zu schweben. Von den Spitzen der Gletscher krochen zudem kaltblaue Massen herunter, die in der Sonne wie Feuer loderten.

Der Wind roch ein wenig nach Levkojen. Mal legte er sich, dann frischte er wieder auf und tollte ungestüm wie ein Welpe über die Hänge. Als ich irgendwann meine Armbrust lud, sah mich Roman völlig entgeistert an.

»Was willst du hier oben denn jagen?«

»Vor ein paar Tagen sind mir ein paar Anderswesen begegnet. Sie haben mich vor einem Rugaru gewarnt, der hier oben lauert.«

»Und du glaubst diesen Biestern?«

»Sie hatten keinen Grund, mich anzulügen.«

»Ein Rugaru?!«, stieß Apostel aus. »Ein gottverdammter Tiermensch – möge mir der Herr meine Worte verzeihen! Und das verschweigst du mir?!«

In Romans Gegenwart konnte ich mich natürlich nicht mit meiner ruhelosen Seele streiten.

»Schon merkwürdig«, murmelte Roman, »dass du mich nicht längst davon in Kenntnis gesetzt hast.«

»Schließlich hättest ja auch du der Rugaru sein können. Erst als ich deinen Ring gesehen habe, war ich mir sicher, dass ich keinen Tiermenschen vor mir habe.«

»Aber mir hättest du das ja wohl verraten können, Ludwig! Scheuch hast du es doch erzählt, das verrät mir sein Grinsen«, geiferte Apostel weiter. »Und du nennst dich meinen Freund! Nein, das verzeihe ich dir nicht so schnell!«

»Stimmt, du musstest vorsichtig sein«, brachte Roman lachend hervor. »Aber was, wenn ich diesen Ring irgendeinem Wanderer vom Finger gezogen habe?«

»Ruchlos ist das!« Wütend seine Fäuste schwingend, zog Apostel ab. »Jedem dahergelaufenen Zigeuner erzählt er von dem Rugaru! Aber mir? Kein Wort!«

Ich blickte ihm kurz nach, ehe ich meine ungeteilte Aufmerksamkeit wieder auf Roman richtete.

»Den Ring und die Kleidung hättest du dir in der Tat besorgen können. Aber wie hättest du von der Geschichte in Vion erfahren sollen? Außerdem haben wir gerade Vollmond, und mir ist nicht aufgefallen, dass du nachts Fell trägst.«

»Trotzdem will ich hoffen, dass man dir einen Bären aufgebunden hat«, erwiderte er lachend. »Ich habe nämlich nicht die Absicht, heute Nacht Besuch von einem Rugaru zu kriegen.«

Gegen Abend erreichten wir eine Lichtung mit bemoosten, pilzförmigen Felsbrocken. Eisiger Wind pfiff uns um die Ohren. Nebel waberte die Hänge entlang, kroch uns in den Mund und hing uns vor den Augen. Diese Brühe roch nach einem bitteren Kraut und lockte uns in Felsspalten, von denen es links und rechts des Pfads mehr als genug gab. Irgendwann gesellte sich Apostel wieder zu uns. Er spielte noch immer die beleidigte Leberwurst und jammerte, dass es schon bald stockfinster sein würde, weshalb wir uns jetzt bitte endlich einen Platz für unser Nachtlager suchen sollten.

»Wir sollten hier rasten«, sagte ich zu Roman, denn ausnahmsweise stimmte ich mit Apostel überein. »Sonst brechen wir uns noch alle Knochen.«

Roman behauchte seine Hände, woraufhin schon in der nächsten Sekunde Glühwürmchen durch die Luft schwirrten, die ein warmes gelbes Licht ausstrahlten.

»Bei der Mutter Gottes, dem heiligen Koloman und all seinen Peinigern!«, stieß Apostel aus und wich entsetzt zurück. »Das ist aber keine Kirchenmagie!«

Scheuch sah sich Roman nun etwas genauer an.

»Ein Zigeuner, der etwas von alten Sprachen versteht, für Kardinal Urban persönlich arbeitet und auch noch über dunkle Magie gebietet. Du steckst voller Überraschungen, Roman.«

»Genau wie du, Ludwig«, erklärte er. »Zumindest, was deine Freunde angeht. Seine Eminenz hat mir nämlich einiges von dir erzählt.«

»Doch nur Gutes, will ich hoffen.«

»Nun, er hat nicht vergessen, dass du ihm das Leben gerettet hast, als er noch Bischof war. Und das …« Er nickte in Richtung der magischen Glühwürmchen. »… das sind nur Kindereien. Ich bin mir sicher, dass die Zauberer, die du kennst, weit mehr zustande bringen.«

»Frag ihn, ob er eine Genehmigung der Kirche für seine Kindereien hat«, verlangte Apostel, bereute seine Worte aber gleich, als ihm aufging, wie dumm sie waren.

Natürlich könnte Roman jederzeit eine solche Genehmigung aus der Tasche ziehen.

»Stimmt, ich kenne einige Zauberer, die bringen mehr zustande«, gab ich zu. »Aber Menschen wie du greifen in der Regel auf Kirchenmagie zurück, nicht auf Formen von Magie, die als dunkel gelten.«

»Nur wer aufrichtig glaubt und sich ganzen Herzens dem Herrn überantwortet, wirkt reine, von keinem Dunkel befleckte Zauber. Mein Geist ist jedoch zu schwach, als dass mir der Herr die Gnade erwiesen hätte, zu solch reiner Zauberei imstande zu sein. Gleichwohl dient das, was ich vermag, Kirche und Gott. Also, was ist: Störst du dich an meinem kleinen Zauber?«

»Ich störe mich nur selten an etwas.«

»Kein Wunder, dass euch Seelenfängern der Ruf vorauseilt, mitunter gern auf die Hilfe von Wesen zurückzugreifen, die andere für unrein halten«, bemerkte er grinsend. »Denn im Kampf gegen dunkle Seelen ist euch jedes Mittel recht. Aber das verstehe ich eigentlich ganz gut.«

Trotz meiner Bitte zu rasten stapfte Roman weiter. Da er mit seinem Zauber wenigstens für etwas Licht sorgte, musste ich ihm dicht auf den Fersen bleiben, damit sich der Nebel, der wie eine Katze auf der Jagd um uns herumstrich, nicht zwischen uns schob.

»Willst du etwa die Nacht durchmarschieren?«, fragte ich, die Armbrust noch immer in Händen.

»Weiter unten gibt es eine Hütte, die im Sommer von den Hirten genutzt wird. Da haben wir ein Dach über dem Kopf.«

»Ist es bis dahin noch weit?«

»Solange wir wie zwei Heilige durch die Wolken wandeln, kann ich es nur schwer einschätzen, aber anderthalb Stunden würde ich schon ansetzen.«

Diese anderthalb Stunden sollten sich erstaunlich lang hinziehen. Als ich die Hütte endlich erblickte, stieß ich einen erleichterten Seufzer aus.

Noch in derselben Sekunde sprang uns von einem dieser pilzförmigen Felsbrocken ein schwarzer Schatten an. Mit einem Aufschrei warnte ich Roman und riss die Armbrust hoch.