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Alexey Pehov

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Beschreibung

Die Abenteuer von Garrett haben Millionen Fantasy-Fans weltweit begeistert – nun erscheinen »Die Chroniken von Siala« auf einen Schlag im Taschenbuch! Nach Jahrhunderten des Friedens bedroht eine Armee des Todes die Stadt Awendum. Nur der Schattenwanderer Garrett kann sie noch aufhalten. An der Seite einer Elbenprinzessin und der unerbittlichsten Krieger des Königreichs zieht er in einen Kampf auf Leben und Tod …

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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Übersetzung aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann

In diesem Roman werden Gedichte von Pjotr Owtschinnikow und Michail Fjodorow zitiert.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

3. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95276-7

© Alexey Pehov 2002 Die russische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »V'juga tenej. Chroniki Sialy« bei AL'FA-KNIGA. Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2011 Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagabbildung: Oliver Wetter

Kapitel 1

Der Goldene Wald

»Was hast du denn erwartet, Garrett? Fanfaren?« Kli-Kli vermochte seiner Empörung einfach nicht Herr zu werden, und seine fiepsigen Schreie dürften weit in der Umgegend zu hören gewesen sein.

Sobald ich auch nur ein falsches Wort über die Wälder Sagrabas verlor, ging der kleine grüne Kobold in die Luft. Mokierte ich mich über eine verwelkte Blume, ließ der königliche Hofnarr prompt eine Tirade zur Verteidigung seiner Heimat vom Stapel.

»Natürlich nicht«, erwiderte ich beschwichtigend. Ich bedauerte bereits, mich überhaupt auf das Gespräch eingelassen zu haben. »Aber ich habe mir Sagraba halt anders vorgestellt.«

»Und wie, wenn ich fragen darf?«

»Ich weiß auch nicht«, gestand ich. Wenn mich diese Nervensäge von Kobold doch endlich mal in Ruhe ließe!

»Wenn du es nicht weißt, warum jammerst du mir dann die Ohren voll?« Verärgert trat Kli-Kli gegen einen kleinen Erdhaufen. »Dieses passt ihm nicht! Jenes passt ihm nicht! Was stellst du eigentlich für Ansprüche?! Bei dir müssen Bäume wohl immer neunhundert Yard groß sein, was?! Verlangst du Bäche voller Blut und unter jedem Strauch einen Oburen? Tut mir leid, aber dann bist du hier falsch! Sagraba ist ein Wald, kein Kindermärchen, das Gestalt angenommen hat!«

»Das habe ich inzwischen auch begriffen«, blaffte ich.

»Das hat er auch begriffen! Ja, hat man denn Töne!«

»Kli-Kli, sei ein bisschen leiser«, bat Aal vor uns, ohne sich zu dem Kobold umzudrehen.

Kli-Kli warf einen beleidigten Blick auf den hochgewachsenen, dunkelhäutigen Garraker und schnappte ein. In den nächsten zwei Stunden war kein Sterbenswörtchen mehr aus ihm herauszubekommen.

Wir streiften bereits seit fünf Tagen durch Sagraba. Genau! Neun Verrückte, darunter zwei dunkle Elfen, ein Kobold, ein breitschultriger Zwerg, ein bärbeißiger Gnom mit Rauschebart, ein mürrischer Ritter, zwei Soldaten und ein Kerl mit einem unzweifelhaft diebischen Habitus zogen gemeinsam durch diesen Nadelwald und wehklagten aus vollem Hals. Warum wehklagten sie? Eben weil sie verrückt waren. Und warum waren sie verrückt? Weil kein normaler Mensch in dieses Land der Wälder vordringen würde, und sei es für alles Geld der Welt, geschweige denn einen Fuß in das Gebiet der Orks setzen würde, deren Gastfreundschaft in ganz Siala legendär war.

Dabei waren wir eigentlich gar nicht übermäßig verrückt (zumindest ich für meinen Teil nicht). Niemand hätte sich nach Sagraba begeben, wenn es nicht gälte, etwas zu beschaffen, das man das Horn des Regenbogens nannte. Damit drängt sich natürlich die Frage auf, was zum Dunkel wir mit dieser verdammten Tröte aus den Tiefen Hrad Spines überhaupt wollten? Dazu möchte ich festhalten, dass ich persönlich getrost hätte darauf verzichten können, runter zu den Friedhöfen zu krauchen. Ich wäre gewiss auch niemals hergekommen, gäbe es da nicht diesen Kontrakt, der verlangte, dass ich das Horn noch vor dem Frühling dem Orden der Magier in der ruhmreichen Stadt Awendum zu überbringen hätte. Wenn ich das nämlich nicht schaffte, dann hieße es: Gute Nacht, Vagliostrien.

Das Horn des Regenbogens bannte einen Kerl namens der Unaussprechliche, der seit nunmehr fünfhundert Jahren an unserem Königreich Rache nehmen wollte. Die Magier waren einst dumm genug gewesen, es tief in den Beinernen Palästen zu verstecken. Allmählich schwand die Kraft des Horns jedoch, sodass wir damit rechnen mussten, dass sich der Unaussprechliche Verstärkung aus den Öden Landen holte und Vagliostrien nach dem Winter einen Besuch abstattete. Natürlich beabsichtigte niemand, ihn mit offenen Armen zu empfangen. Eben deshalb brauchte der Orden der Magier ja auch das Horn – um den Feind in seine Eiswüste zurückzutreiben.

Dies sei also für alle diejenigen vorausgeschickt, die sich den Kopf darüber zerbrechen, was wir eigentlich in Sagraba treiben: Wir besorgen das Horn, retten die Welt und befassen uns mit ähnlich unsinnigem Kram. Das ist dumm von uns? Einverstanden. Das wiederhole ich mir selbst jeden Morgen beim Aufwachen. Nur hört niemand auf mich. Miralissa nicht und Alistan Markhouse schon gar nicht.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich selbst schuld an der Misere bin. Ich hatte mich auf einen Kontrakt eingelassen – und einen Kontrakt bricht niemand. Allein deshalb keuchte und hetzte ich durch diese Wälder und musste ständig gewaltigen Schwierigkeiten entrinnen. Immerhin hatte der Kontrakt auch ein Gutes. Erfüllte ich ihn, sollte ich vom König fünfzigtausend Goldmünzen erhalten. Allerdings war mir bislang nicht zu Ohren gekommen, dass Tote Gold benötigten, in der Regel reicht ihnen ja eine tiefe Grube und ein Grabstein.

Doch warum erzähle ich das alles? Nur um klarzumachen, dass sämtliche Widrigkeiten, die uns bisher auf unserem Weg von Awendum nach Sagraba widerfahren waren, vergessenswert waren. Die wirklichen Prüfungen kamen erst noch, zunächst in Sagraba, anschließend in Hrad Spine. Und wie die ausgingen, stand für mich außer Frage (oder fast außer Frage)!

»Über welchem Unsinn brütest du jetzt schon wieder, Garrett?« Kli-Klis Stimme riss mich aus meinen düsteren Gedanken.

»Unsinn auszubrüten ist deine Aufgabe«, erwiderte ich dem kleinen Nichtsnutz. »Ich bin ein Dieb, kein Hofnarr.«

»Und eben das ist dein Unglück«, parierte dieser. »Als Narr wärst du nämlich nie im Leben in diese Sache reingerasselt und hättest vom König auch nicht diesen Kontrakt aufgedrückt bekommen. Stattdessen würdest du zu Hause sitzen, ein Bierchen trinken …«

Mich packte der heiße Wunsch, den grünen Mistkerl zu treten. Kli-Kli musste jedoch meine Gedanken gelesen haben, denn er brachte sich rasch hinter Aal in Deckung. Also durfte ich seine Abstrafung mal wieder auf später verschieben.

Seit wir nach Sagraba vorgedrungen waren, verlangte uns Miralissa ein wahnwitziges Tempo ab. Am Abend des ersten Tages hatte ich mich kaum noch auf den Beinen zu halten vermocht. Als wir dann auf einer Waldlichtung unser erstes Lager aufgeschlagen hatten, war ich mir sicher gewesen, mich am nächsten Morgen nicht erheben zu können. Wenn die anderen weiterziehen wollten, bitte sehr. Ich aber würde im Gras liegen bleiben und ausruhen. Im äußersten Notfall würde ich mich vielleicht von jemandem Huckepack tragen lassen.

Doch am Morgen des folgenden Tages hieß es natürlich: die Zähne zusammenbeißen und weiter. Gegen Mittag hatte ich mich immerhin an die gleichbleibend hohe Geschwindigkeit gewöhnt, am nächsten Tag ermüdete sie mich nicht einmal mehr. Freilich hatte ich Miralissa im Verdacht, etwas von ihren magischen Kräutern in den Topf mit der Suppe gegeben zu haben, damit wir unseren Tagesmarsch leichter bewältigten.

In Sagraba entfachte stets Egrassa das Feuer. So erstaunlich es auch klingen mag, doch von dem Feuer, das Miralissas Cousin entzündete, stieg kaum Rauch auf. In der ersten Nacht fürchtete ich noch, die Flammen könnten unnötige Aufmerksamkeit auf uns lenken. Da sich jedoch nicht einmal der allzeit wachsame Elf sorgte, beruhigte auch ich mich wieder.

Im Übrigen musste selbst ich die unzähligen Wunder dieser Wälder anerkennen. Wir durchquerten dichte Haine aus schwarzer Sagraba-Eiche, kamen an Kiefern, Lichtungen und Wiesen vorbei, die in Sonnenlicht getaucht und von Blumen übersät waren, und sprangen über rauschende Bäche mit kristallklarem Wasser. So ging es endlos weiter, League um League.

Und nirgendwo eine Spur von Orks. Nur Eichhörnchen, die uns mit wütendem Geschrei begrüßten und unsere Expedition begleiteten, indem sie von Ast zu Ast, von Baum zu Baum huschten. Einmal gelangten wir auf eine herrliche Lichtung voller Blumen, deren grelle Farben uns in die Augen schlugen. Kaum betrat Egrassa an der Spitze unseres Zuges die Wiese, da bildete sich ein Regenbogen über ihr, da schossen die Blumen gen Himmel auf und verwandelten sich in Tausende von kunterbunten Schmetterlingen. Als Kli-Kli wenigstens einen von ihnen fangen wollte, landete er natürlich prompt in einem Erdloch. Es kostete uns wertvolle Zeit, ihn wieder herauszuziehen. Anschließend lasen ihm sowohl Miralissa als auch Markhouse die Leviten. Daraufhin vermied Kli-Kli es, ihnen unter die Augen zu kommen, und schloss sich lieber meiner bescheidenen Person an.

An einem Eichenhain mit einem rauschenden Bach, auf dem die Schiffchen herabgefallener Blätter dahinschossen, stießen wir auf einen Eber, ein ausgewachsenes Tier, auf dessen Rücken mühelos zwei Mann hätten Platz finden können. Ein solches Schweinchen würde glattweg zwei Horden halb verhungerter Soldaten sättigen.

Deler brachte sich denn auch im Nu in einer Baumkrone in Sicherheit. Der Keiler blitzte uns mit seinen schwarzen Augen wütend an und trabte grunzend auf uns zu. Doch Miralissa brauchte bloß mit den gelben Augen zu funkeln und die Hand auszustrecken, da blieb das Wildschwein auch schon wie angewurzelt stehen, grunzte noch einmal schuldbewusst und zog ab. Deler warf der Elfin von der Höhe seines Schlupfwinkels aus einen anerkennenden Blick zu und kam wieder heruntergekraxelt. Hallas ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen, allen zu verkünden, Zwerge seien Feiglinge. Deler konterte mit der Behauptung, Gnome seien lediglich zu behäbig, um auf Bäume zu klettern. Wären Aal und Lämpler nicht dazwischengegangen, hätten die beiden wohl ihren nächsten Streit angefangen.

Wir wanderten Egrassa im Gänsemarsch hinterher, immer weiter durch den Wald. Alistan Markhouse bildete den Abschluss unseres kleinen Zuges. Den dreieckigen Eichenschild hatte er sich auf den Rücken geschoben, und seine Hand verließ nicht für eine Sekunde den Griff seines geliebten Langschwerts.

Der Gänsemarsch hatte uns schon dreimal das Leben gerettet. Hallas regte sich mit echter Gnomensturköpfigkeit darüber auf und erklärte, das alles sei doch Kokolores und es bedeute wahrlich kein Vergnügen für ihn, ständig den Hintern eines Zwergs vor der Nase zu haben. Egrassa hatte dafür nur ein Grinsen übrig. »Bei der nächsten Gelegenheit werde ich dem verehrten Meister Gnom mit Vergnügen die Überraschungen Sagrabas vorführen.«

Hallas zupfte sich den Bart und antwortete, er werde sich noch die dämlichsten Überraschungen bereitwillig ansehen.

Die Gelegenheit dazu bot sich dann auch schon bald, nämlich als Egrassa mit einem Stock in der Erde herumstocherte. Prompt krachte der Boden weg. Wir starrten in eine tiefe Wolfsgrube, deren Grund so viele Pfähle aufwies, wie ein Igel Stacheln hat.

»Was wäre wohl geschehen, wenn du nicht hinter mir gegangen wärst?«, fragte der Elf Hallas und entblößte triumphierend seine Fänge.

Hallas hüstelte verlegen, nahm den Hut vom Kopf und kratzte sich den Hinterkopf. Doch ehe der Gnom die Vorteile des Gänsemarschs einräumte, musste ihn der Elf erst noch auf ein in den Büschen verborgenes Fangeisen und einen riesigen Balken im Blattwerk einer Eiche aufmerksam machen, der jeden unter ihm zu zermalmen drohte.

»Wer stellt denn diese Fallen auf, Egrassa?«, fragte Lämpler, der sich gerade den Birgrisen von der rechten auf die linke Schulter legte.

»Ich weiß es nicht.« Lächelnd sah der Elf Mumr an. »Es gibt zu viele Pfade, als dass wir alle im Auge behalten könnten.«

»Aber du weißt doch immer genau, wo sich eine Falle befindet!«, beharrte Lämpler.

»Ein bisschen Magie, mehr steckt nicht dahinter.«

Natürlich hegte der dunkle Elf keineswegs die Absicht, die Geheimnisse seines Volks mit uns Fremdlingen zu teilen.

Irgendwann musste Kli-Kli sein Wasser abschlagen und versank dabei bis zur Brust in einem Sumpf. Kaum hatten wir ihn herausgezogen, stand ein Elch vor uns. Angesichts seines mehr als drei Yard umspannenden Geweihs musste es sich bei dem Tier um den König der Elche handeln. Er schnupperte, sah uns mit seinen großen Samtaugen gelangweilt an und sprang auf langen, starken Beinen in den angrenzenden Tannenwald zurück. Kleine Tiere kannte Sagraba offenbar nicht. Hallas krächzte und bedauerte, den Elch nicht erlegt zu haben. »Dann hätten wir mal ordentlich Fleisch im Kessel gehabt!«

Daraufhin bemerkte Deler nur fröhlich, der Verstand der Gnome müsse in ihrem Bart gelandet sein, sonst wüsste Hallas ja wohl, dass man sich mit einem derart kräftigen Ungeheuer besser nicht anlegt.

Den ganzen Tag über zwitscherten und sangen die Vögel in den Zweigen. Die Eichen wiegten uns mit einem Lied des Waldes in den Schlaf, die Eulen schrien traulich in der Stille. Am vierten Tag unserer Wanderung sagte Miralissa, wir müssten von nun an auch nachts wandern, damit wir schneller vorwärtskämen. Jemand stöhnte leise (vermutlich ich), doch dem schenkte natürlich niemand Beachtung.

Ein voller Mond am Himmel spendete ausreichend Licht, obendrein sahen die Elfen im Dunkeln offenbar genauso gut wie Katzen. Wir wanderten einen großen Teil der Nacht hindurch und rasteten erst in den Dämmerstunden, um nach dem Mittag weiter auf Hrad Spine zuzuhalten.

Überhaupt lernte ich in den Nächten den eigentlichen Zauber von Sagraba kennen, wenn sich der Wald in eine wilde, fremde, geheimnisvolle, aber wunderschöne Welt verwandelte. Eichen und Ahornbäume griffen mit ihren dunklen Zweigen nach uns, ein mysteriöses Flüstern ging durch ihre Kronen, als raunten sich die Blätter, durch den Wind geweckt, etwas zu. Oder als unterhielten sich unbekannte Wesen miteinander. Zuweilen verfolgte uns auch das Funkeln winziger grüner, gelber oder roter Augen. Die nächtlichen Bewohner des Waldes spähten uns aus und verständigten sich, blieben jedoch in ihren Höhlen.

»Wer ist das?«, fragte ich Kli-Kli im Flüsterton.

»Du meinst diese Plappermäuler? Mein Volk nennt sie Waldgeister. Jeder Baum und Strauch, jede Lichtung und jeder Bach hat seinen eigenen Waldgeist. Achte nicht auf sie, die tun keinem was zuleide.«

»Stimmt, die hier sind völlig harmlos.« Deler fuhr mit dem Finger über die Schneide seiner Streitaxt. »Aber du solltest mal die Geister im Schlummernden Wald erleben!«

»Er hat recht, die hier glotzen nur«, bestätigte Hallas.

»Eben«, sagte Deler.

Aber Geister – das war längst nicht alles, womit eine Nacht in Sagraba aufwarten konnte. Einmal brannte die Luft im Wald, weil Abertausende von Glühwürmchen zwischen den Bäumen flatterten, die smaragden, türkis und purpurn loderten. Kli-Kli fing ein Dutzend dieser Tierchen ein, um sie sich auf die Schulter zu setzen. Ein paar Minuten strahlte der Kobold wie ein Heiliger aus den Geschichten der Priester, dann waren die Glühwürmchen des Geschaukels auf der Schulter des königlichen Narrens müde und stürzten zu ihren Artgenossen zurück, wobei sie an ein schillerndes Kaleidoskop gemahnten.

Und natürlich war die Nacht auch die Zeit der Eulen, die lautlos im Mondlicht über den Waldlichtungen dahinglitten. Sie suchten Futter und lauschten auf jedes Geräusch, das sich aus dem Gras erhob. Ebenso wie die Nacht die Zeit der Wölfe war, deren Schreie wir wiederholt aus der Ferne vernahmen. Oder die all jener Wesen, von denen ich nicht einmal den Namen kannte. Ihre Schreie erinnerten an das Gelächter eines Verrückten. Sie heulten, zwitscherten und brüllten. Und sie standen ungebetenen Gästen nicht immer freundlich gegenüber.

Des Öfteren führten uns Egrassa und Miralissa auch vom Pfad weg, auf dass wir uns verbargen und abwarteten, bis die Gefahr gebannt war. Was da gelauert hatte und wovor wir uns in den Büschen am Wegesrand versteckten, teilten uns die Elfen nie mit. Doch in solchen Augenblicken gab selbst Kli-Kli Ruhe, befolgte sogar Hallas alle Befehle der Elfen.

Nachts stellte sich Sagraba bunt dar. In satten Farben. Leuchtend smaragden, zart türkis, eisig blau, lieblich rot und giftig grün. Funken eines kalten Feuers erweckten den Wald zu märchenhaftem Leben. Die Glühwürmchen schillerten in allen Farben des Regenbogens, ein gigantisches Spinnennetz funkelte blau, der kürbisgroße Körper seiner Herrin purpur, die morschen Baumstümpfe lohten grün. Die Adern in den smaragdfarbenen Hüten der Pilze, unter denen ein Mann bei Regen mühelos Zuflucht fände, pulsierten blau und orange. Ein rosafarbenes Feuer, das sich im Wasser spiegelte, tanzte in den Zweigen der Weiden. Was auch immer ich Kli-Kli tagsüber gesagt haben mochte, die wilde Schönheit der Wälder Sagrabas bei Nacht brachte tief in meinem Innern Saiten zum Klingen.

Am Abend des fünften Tages erreichten wir schließlich über einen schmalen Pfad, der sich zwischen bemoosten Lärchen hindurchschlängelte, den Goldenen Wald.

»Den Göttern sei Dank!« Erleichtert warf Lämpler seinen Sack auf den Boden. »Das Schlimmste liegt hinter uns!«

»Ja, es bleiben nur noch anderthalb Tagesmärsche bis nach Hrad Spine«, wandte sich Miralissa an ihn.

Bei diesen Worten zog sich mir der Magen zusammen. Eben! Wir waren fast da! Das, was mir noch vor zwei Stunden fern und unerreichbar erschien, war nun zum Greifen nahe herangerückt. Nur noch knappe zwei Tage bis zum Ziel.

»Wenn ihr mich fragt, ist das ein Wald wie jeder andere auch«, knurrte Hallas. »Dass die Ersten sich immer gleich für die Auserwählten halten müssen! Als sei sogar ihre Scheiße golden!«

»Dann wollen wir hoffen, dass du nie die Möglichkeit bekommst, sie mal nach der Farbe ihrer Scheiße zu fragen«, sagte Aal mit unschönem Lächeln. »Die Orks haben nämlich ihre eigene Art, solche Fragen zu beantworten.«

»Weiter!«, befahl Mylord Alistan, während er einen Stiefel auszog, die Steine herausschüttelte und ihn wieder anzog. »Dann schaffen wir noch ein gutes Stück.«

Der Goldene Wald verdankte seinen Namen der Goldbirke, die hier wuchs. Das waren majestätische Giganten mit dunkelorangefarbenem Stamm und breiten Blättern, die aussahen wie aus Münzgold geprägt. Da die Goldbirke nur hier gedieh, wurde ihr Holz in allen Nordlanden, von den Imperien diesseits und jenseits des Sees sowie dem Sultanat hoch geschätzt. Wenn die Orks einen Holzfäller erwischten, der eine Goldbirke fällte, hauten sie ihm zunächst beide Hände mit seinem eigenen Beil ab – bevor sie zu den richtigen Schrecklichkeiten übergingen.

»Du solltest erst mal sehen, wie schön der Goldene Wald im Herbst ist, Garrett!«, rief Kli-Kli.

»Hast du das denn schon einmal erlebt?«, fragte Deler.

Kli-Kli sah den Zwerg mit gespielter Verachtung an. »Für diejenigen, die es noch nicht wissen: Der Goldene Wald, der das ganze östliche Sagraba einnimmt, ist meine Heimat. Daher sollte es bitte niemanden verwundern, dass ich weiß, wie er im Herbst aussieht.«

»Übrigens haben wir längst Herbst«, stichelte ich.

»Wir haben Anfang September.« Kli-Kli schnaubte verächtlich. »Ich spreche aber vom Oktober! Dann solltest du den Wald mal sehen!«

»Nur dass ich im Oktober gern schon wieder weit weg von Sagraba wäre.«

»Du Banause!« Kli-Kli schnappte ein.

»Ist es eigentlich weit bis zu deiner Heimat?«, fragte Lämpler, der ohne sich dessen bewusst zu sein über die frische Narbe auf seiner Stirn fuhr (eine Erinnerung an die Yatagane der Orks).

»Willst du mich besuchen?« Kli-Kli kicherte fröhlich. »Also, das wären noch drei Wochen, bis du ins Herz der Orklande kommst, von da aus dann noch mal zwei Wochen bis in den tiefsten Wald. Alles Weitere entscheidet das Schicksal. Vielleicht sind ein paar Kobolde geneigt, sich von dir treffen zu lassen. Die Orks haben uns Vorsicht gelehrt und auch ihr Menschen, die ihr uns in der Vergangenheit mit euren legendären Hunden gejagt habt.«

Kli-Kli wusste, wovon er sprach. In der Vergangenheit hatten die Menschen den Kobolden arg zugesetzt, da sie die kleinen grünen Geschöpfe für gefährliche Monster hielten. Als wir endlich begriffen hatten, dass dem nicht so war, zählte das einst vielköpfige Volk nur noch wenige Stämme.

»Sag mal, Kli-Kli, stimmt es eigentlich, dass Elfen und Orks zuerst in diesem Wald aufgetaucht sind?«

»Ja«, antwortete der Narr. »Und sie sind sich auch gleich gegenseitig an die Gurgel gegangen. Die Elfen haben sogar ein Lied darüber gemacht, es heißt Das Märchen vom Gold.«

»Es heißt Ballade vom weichen Gold«, verbesserte ihn Egrassa.

»Was spielt das schon für eine Rolle!«, gab Kli-Kli unbekümmert zurück. »Ein Märchen, eine Legende … So oder so wird es in Sagraba keinen Frieden geben, solange auch nur ein Ork am Leben ist.«

»Kannst du uns diese Ballade nicht vortragen?«, bat Mumr den Elfen.

»Die wird nicht vorgetragen, sondern gesungen«, erwiderte Egrassa. »Aber das werde ich bei der nächsten Rast gern tun.«

»Es ist eines der verbotenen Lieder, Cousin«, rief ihm Miralissa, die vom nächsten Baum ein gold-rotes Blatt abriss und es zerdrückte, in Erinnerung.

»Warum ist es denn verboten?«, wandte sich Kli-Kli an sie.

»Es ist nicht strikt verboten, es gilt nur als grobe Unhöflichkeit, es in der Gesellschaft von Elfen zu singen. Trotzdem erfreut es sich bei der Jugend großer Beliebtheit, auch wenn sie das Lied heimlich singen, um ihre Vorfahren nicht zu kränken.«

»Und warum schätzt man dieses Lied nicht?«, fragte Aal.

»Weil es kein gutes Licht auf die Elfen wirft«, antwortete Alistan Markhouse, der bisher geschwiegen hatte. »Während die Orks recht gut wegkommen. Ich würde die Hälfte meiner Ländereien verwetten, dass sich Menschen dieses Lied ausgedacht haben.«

»Da irrt Ihr«, widersprach Egrassa. »Das Lied stammt tatsächlich von einem Elfen, er hat es vor sehr langer Zeit geschaffen. Habt Ihr es schon einmal gehört, Mylord?«

»Ja, in meiner Jugend, von einem Eurer lichten Brüder.«

»Sie dürfen das Lied singen.« Der dunkle Elf rückte sich den silbernen Reif auf dem Kopf zurecht. »Unsere Artgenossen haben sich von der Magie unserer Vorfahren abgewandt, daher wundert es mich gar nicht, dass sie solche Lieder vor Fremden singen.«

»Aber du hast doch auch versprochen, uns das Lied vorzutragen!«, stichelte Kli-Kli.

»Das ist etwas ganz anderes!«, kanzelte ihn der Elf ab.

Was auch immer die dunklen Elfen behaupteten, letztlich erwiesen sich die Beziehungen zwischen ihnen und den lichten Elfen eben doch nicht als ungetrübt.

Wir liefen noch drei Stunden, bevor wir zu einer Lichtung gelangten, auf der Kamille wuchs. Das Weiß der Blumen ließ die Fläche verschneit aussehen. Am Rand der Lichtung sprudelte ein Bach über die Wurzeln einer Hainbuche, sodass wir keinen Wassermangel leiden würden.

»Heute Nacht bleiben wir hier«, entschied Miralissa.

Alistan nickte. Im Wald hatte er das Kommando vorbehaltlos an Miralissa und Egrassa abgetreten. Man mochte von Mylord Ratte halten, was man wollte, aber Verstand besaß er. Und die Elfen kannten den Wald nun einmal wesentlich besser als er.

»Egrassa, du hast uns ein Lied versprochen«, quengelte Kli-Kli nach dem Essen.

»Lasst uns lieber schlafen«, gähnte Hallas. »Ist ja schon stockdunkel.«

Der Gnom mochte nur die Lieder seines eigenen Volkes. Etwas wie den Hammerschlag gegen das Beil oder das Lied der wahnsinnigen Bergleute. Jedes andere Liedgut konnte ihm gestohlen bleiben.

»Kommt nicht infrage!«, protestierte der Kobold.

»Hallas, du musst heute Nacht noch Wache stehen«, erinnerte ihn Aal. »Du brauchst dich also gar nicht erst hinzulegen, du kriegst ohnehin keine Mütze Schlaf mehr.«

»Und ob ich die bekomm! Die erste Wache hast du, zusammen mit Lämpler! Deler und ich sind erst in der zweiten Hälfte der Nacht dran! Da bleibt noch genug Zeit!«

Hallas haute sich aufs Ohr und schnarchte unverzüglich los.

»Hören wir jetzt das Lied?«, wollte Mumr wissen, dem Miralissa gerade die Fäden seiner Stirnwunde gezogen hatte.

Dank dem Schamanismus der Elfin lief keine tiefe und hässliche Narbe über Lämplers Stirn, sondern lediglich ein kaum zu erkennender rosafarbener Strich.

»Ich habe es doch versprochen«, antwortete Ell. »Aber für dieses Lied brauchen wir Musik.«

»Das lässt sich machen! Wozu habe ich denn meine Flöte?« Lämpler kramte in seinem Sack nach der Tröte.

»Ich fürchte, für dieses Lied ist etwas zartere Musik vonnöten«, lehnte der Elf Mumrs Angebot ab. »Besser, ich kümmere mich darum.«

Egrassa erhob sich behände aus dem Gras, ging zu seinem Sack und entnahm ihm ein handtellergroßes Brett. Darauf waren hauchdünne, in der Dunkelheit kaum auszumachende silbrige Saiten gespannt.

»Was ist das?«, erkundigte sich Deler.

»Ein G’dal«, antwortete Miralissa. »Egrassa spielt auf ihm, wann immer er Gelegenheit findet.«

Das war mir neu. Bisher hatte ich diese Vorliebe noch nicht an ihm bemerkt.

Die kräftigen Finger des dunklen Elfen strichen überraschend geschmeidig über die Saiten. Das seltsame Instrument gab einen leisen Ton von sich. Nach einer Weile wogte eine Melodie über die Lichtung.

»Eigentlich muss man dieses Lied auf Orkisch singen«, sagte Egrassa. »In eurer Sprache klingt es nicht ganz so schön.«

Elfen aus Gold ihre Pfeile schmieden,

Derweil die Orks auf Bronze schwören,

Sobald im Goldnen, im Schwarzen Wald,

Der Zweige eiskaltes Lied zu hören.

An der Spitze der Elfen der König ritt,

Den Orks Argad als Hand vorstand.

Bis Aug in Aug sie sich blickten,

Die beiden Mannen, König und Hand.

»Der Wald ist unser«, so sprach der König.

»Drum, Freunde, zieht euch zurück!

Denn spicken euch erst unsre Pfeile,

Rettet die Orks kein Glück.«

»Leere Worte sprichst du, o König!«,

Hand nicht lange auf Antwort sann.

»Zweitausend Orks sind aufgeboten,

Du aber stehst hier mit zweihundert Mann.

Wo Härte das Schicksal entscheidet,

Was käme der Bronze gleich?

Drum werden wir euch vernichten!

Das Gold eurer Pfeile ist viel zu weich!«

Eldoniessa, der Elfen König,

Schwieg lange und sagte nichts mehr,

Bis schließlich er lächelnd sich wandte zum Ork

Und wies auf den Köcher, der leer.

»Wo sind deine Pfeile?«, so fragte Argad.

»Bist gekommen gar, um dich zu ergeben?«

Der König lachte. »Träum weiter, Hand!

Doch wirst du ein schlimm Erwachen erleben!

Hörst du nicht der Hörner Klang?

Und siehst nicht den Staub von der Stiefel Tritt?

Die Menschen sind’s, die da kommen

Und bringen euer Verderben mit!

Ihr vertraut auf der Bronze Härte,

Die wahrlich euch manchen Sieg beschert.

Doch ich hab das Gold unsrer Pfeile gegeben

Und mein Heer um die Zahl der Menschen vermehrt.«

Hoch hoben die Orks ihre Schilde

Und schlossen die Reihen dicht.

Der König frohlockte, doch Hand

Maß ihn mit finstrem Gesicht.

»Deine Dummheit, o Elf!«, so sprach Argad,

»Deine Dummheit ist ohnegleichen.

Glaubst du denn, sobald wir besiegt,

Werden friedlich die Menschen weichen?«

So entbrannte voll Wut der Kampf,

Die Klingen klirrten, ein Lärmen stieg auf.

Zwölf Wunden trug Argad der Ork davon,

Dann sank er nieder und stand nicht mehr auf.

Der König der Elfen nahte sich dem besiegten Feind.

»Liegt etwas dir noch auf dem Herzen?«

»Gold, Elf, ist ein weiches Metall,

Drum liege ich gut hier und ohne Schmerzen.

Ein Wort noch im Anblick des Todes,

Das umso mehr doch zählt.

Auch wenn der Feind übermächtig,

Ist’s besser, du bist nur auf dich gestellt!«

Sodann ihm die Augen brachen,

Reglos lag er nach blutiger Schlacht.

»Lebe wohl denn, Hand«, sprach der König.

»Wie aber sind deine Worte gedacht?«

»Schwer war der Kampf«, so klagte der Mensch.

»Unsre Reihen sind stark gelichtet.

Erbittert muss werden jedes Gefecht,

Wenn Bronze der Feind auf dich richtet.«

»Euch gilt unser Dank«, hob an der König.

»Dieser Dienst wird euch nie vergessen.«

»Ihr seht uns als Diener?«, so der Mensch.

»Das scheint mir doch arg vermessen!

Ist nur der Söldner von Wert,

Der sein Glück in der Ferne wagt?

Den man aber, rückt er zu nah,

Gleich einem Hund von dannen jagt?«

»Ihr habt euern Sold erhalten!«

»Und uns wacker im Feld geschlagen!«

»Verlangt ihr noch mehr? Dann sprich!

Wir werden’s euch nicht versagen!«

Da lächelte frech der Mensch.

»O Elf, was wollt ihr noch zollen?

Gold ist ein weiches Metall.

Wir nehmen uns, was wir wollen!«

Egrassa verstand es vorzutragen. Die Worte überschlugen sich förmlich, als die Schlacht tobte, die Saiten weinten, als Argad der Ork starb und seinem Erzfeind, dem Elfen, noch einen letzten Rat gab.

Der Elf entlockte dem G’dal einen traurigen Schlussakkord, dann hing schwermütige Stille über der Lichtung.

»Eine schöne Legende«, brachte Deler irgendwann heraus.

»Kein Wunder, dass die Elfen das Lied nicht mögen«, bemerkte Mumr. »Mylord Alistan hat recht: Eure Rasse kommt darin nicht sonderlich gut weg.«

»Wohingegen die Orks im hellsten Licht erstrahlen«, spie Miralissa aus.

»Das ist doch nur ein dummes Lied«, polterte Kli-Kli. »Das Ganze hat sich in Wahrheit doch nie zugetragen!«

»Woher willst du das wissen?« Deler streckte sich auf seiner Decke aus und gähnte herzhaft.

»Weil das eben nur eine Legende ist, ein Märchen, in dem nicht ein Fünkchen Wahrheit steckt. Als die Elfen in den Goldenen Wald kamen, blieb für Gespräche nämlich gar keine Zeit. Die Orks haben sich sofort auf sie gestürzt. Und ganz gewiss haben die beiden Rassen einander nicht mit Freund angesprochen.«

»Aber Eldoniessa hat es gegeben. Er war der erste und der letzte Großkönig unseres Volkes«, dämpfte Miralissa den Kobold. »Seine Kinder haben die Elfenhäuser gegründet.«

»Aber Argad hat erst achthundert Jahre später gelebt und wäre, soweit ich weiß, beinahe in Grüntann eingefallen. Ihr musstet seine Armee am Schwarzen Wald zurückschlagen!«, ereiferte sich Kli-Kli. »Und die Menschen sind überhaupt erst eintausendsiebenhundert Jahre nach den hier besungenen Ereignissen in Siala aufgetaucht, sodass sich Eldoniessa, Argad und ein Mensch gar nicht treffen konnten. Und welcher Elf wäre so dumm, Pfeilspitzen aus Gold anzufertigen? Oder welcher Ork würde seinen Yatagan aus Bronze schmieden? Das ist eine Legende, Trash Miralissa, mehr nicht.«

»Aber du musst zugeben, dass sie schön ist«, wandte ich mich an Kli-Kli.

»Das ja«, räumte der kleine Narr großmütig ein. »Und obendrein höchst lehrreich.«

»Lehrreich?« Alistan Markhouse stocherte mit einem Zweig im Lagerfeuer herum. »Was lehrt sie denn, Kobold?«

»Dass es sich nicht verlohnt, sich auf ein Bündnis mit den Menschen einzulassen, weil man sein Haus dann nämlich für immer verliert«, antwortete der Kobold.

Niemand widersprach ihm. In dieser Frage hatte der königliche Narr völlig recht: Ließ man uns die Zügel schießen, mordeten wir erst alle Feinde, dann alle Freunde und schließlich einander.

In der Nacht suchten mich erneut Albträume heim. Als mir das Gemenge von Träumen allmählich den Kopf zu sprengen drohte, wachte ich glücklicherweise auf. Obwohl es bereits tagte, schliefen außer Lämpler noch alle anderen. Hallas und Deler ratzten, nachdem sie Mumr auch die zweite Wache aufgebrummt hatten. Als er meinen Blick auffing, nickte er mir wortlos zu. Ich blieb noch eine Weile liegen und grübelte darüber nach, warum Miralissa die anderen nicht längst geweckt hatte. Ob uns die Elfin eine Schonfrist gönnte, bevor wir in einem letzten Kraftakt nach Hrad Spine zogen? Möglich wäre es.

Vom Rand der Lichtung drang das leise Murmeln Kli-Klis heran. Der Kobold strich am Wald herum und trällerte ein Liedchen. Also litt nicht allein ich unter Schlaflosigkeit.

»Was soll das?«, fragte ich, nachdem ich ihn erreicht hatte. »Mit dem Gezwitschere weckst du noch alle auf!«

»Ich sing doch ganz leise. Möchtest du ein paar Erdbeeren?« Kli-Kli hielt mir Delers Hut hin, der von Beeren überquoll.

»Weiß Deler, was du mit seinem geliebten Hut anstellst?«, nahm ich den Kobold ins Verhör, sagte zu den Erdbeeren aber trotzdem nicht Nein. Bei dem Duft, den sie verströmten, konnte ich einfach nicht widerstehen.

»Du meinst, es würde ihm nicht passen?« Kli-Kli kaute nachdenklich auf der Lippe und warf einen raschen Blick auf den schlafenden Deler.

»Wie geschwind du heute begreifst, Kli-Kli«, stichelte ich und nahm mir eine weitere Handvoll Beeren aus dem Hut.

»Du hast heute Nacht wieder im Schlaf gestöhnt, Schattentänzer. Hast du schlecht geträumt?«

»Wahrscheinlich.« Ich zuckte bloß die Schultern. »Aber zum Glück erinnere ich mich inzwischen beim Aufwachen kaum noch an meine Träume.«

»Das gefällt mir nicht«, bemerkte Kli-Kli. »Da will jemand nicht, dass du dich an deine Träume erinnerst.«

»Und wer soll dieser Jemand bitte schön sein?«

»Der Herr zum Beispiel. Oder seine Dienerin, diese Lathressa.«

»Du verstehst es wirklich, deine Freunde aufzumuntern«, brummte ich. »Komm, lass uns das Feuer entfachen, solange die anderen noch schlafen.«

»Tu dir keinen Zwang an! Aber ich esse erst noch die Erdbeeren, damit ich Deler seinen Hut zurückgeben kann.«

»Sag mal, Kli-Kli, ist dir eigentlich entgangen, dass der Hut ganz und gar mit Saft beschmiert ist? Was allerdings kein Wunder ist – so wie du die Beeren zermatscht hast!«

»Also daran habe ich wirklich nicht gedacht!« Gedankenversunken betrachtete der Kobold sein Werk. »Weißt du, ich finde, Erdbeermus schmeckt noch mal so gut wie die ganzen Früchte. Ob ich den Hut im Bach wasche?«

»Damit würdest du alles nur noch schlimmer machen«, hielt ich ihn ab und ging zurück.

Kli-Kli war wie ein kleines Kind. Als ob er nicht genau wüsste, dass Deler jetzt den ganzen Tag über den hoffnungslos ruinierten Hut schimpfen würde! Außerdem wäre es mir lieber gewesen, er hätte nicht vom Herrn angefangen. Denn obwohl er uns vom Beginn unserer Expedition an manchen Stein in den Weg gelegt hatte, wussten wir immer noch nicht, wer er eigentlich war. Sicher, er war ein unglaublicher Dreckskerl und nachtragend, das stand außer Frage! Und vermutlich war er auch so stark wie ein Gott. Dennoch wollte er uns nicht kurzerhand das Licht ausblasen, sondern legte auf eine gewisse Raffinesse Wert. Wann immer wir einen seiner sinistren Pläne durchkreuzten, zauberte er einen nur noch perfideren aus dem Hut. Genau wie der Unaussprechliche wollte uns der Herr um jeden Preis daran hindern, nach Hrad Spine zu gelangen und das Horn des Regenbogens an uns zu bringen. Doch wenn es für den Unaussprechlichen dabei um Leben und Tod ging, dann schien es für den Herrn (nach meinem Dafürhalten) reiner Zeitvertreib zu sein.

Und dann war da noch seine Dienerin Lathressa. Die trat als Frau von zwanzig Jahren auf, war jedoch eigentlich mehrere Hundert Jahre alt. Zumindest war sie das in meinem Traum gewesen. Obendrein war sie die stärkste Schamanin (oder hieß es Schamanenfrau?), die ich kannte. Viel stärker noch als Miralissa, denn sie beherrschte auch die verbotene Magie der Oger, den Kronk-a-Mor. Mit seiner Hilfe hatte sie bereits zwei unserer Gefährten umgebracht, nachdem wir ihr den Schlüssel geklaut hatten.

»Pass auf, wo du hinlatschst, du lange Latte!«, erklang da eine Bassstimme vom Boden zu mir herauf.

Ich erschrak so, dass mir die Angst beinahe Flügel verliehen hätte. Jedenfalls machte ich einen gewaltigen Satz in die Höhe.

»Ich habe in meinem Leben ja bereits einiges gesehen, aber dass eine Langlatte dergestalt in die Höhe schießt, das noch nie! Wo hast du eigentlich deine Augen, du Dämlack? Sieh gefälligst nach unten!«

Von der Stimme selbst drohte mir bestimmt keine Gefahr. Also blickte ich nach unten.

Dort bemerkte ich ein etwa faustgroßes Wesen, das am ehesten an eine Mischung aus Heuschrecke, Libelle und Ziege erinnerte. Die Beine waren die einer Heuschrecke, Kopf und Rumpf stammten von einer Zicke, die durchscheinenden, gegitterten Flügel mussten das Erbe einer großen Libelle sein. Der ganze Körper war gelb und schwarz gestreift. Mit anderen Worten: Vor meinen Füßen saß ein leibhaftiger Libzick.

»Willst du mich noch lange anglotzen?«

Erst da gewahrte ich, dass auf dem Hals des Libzicks ein Menschlein von der Größe meines kleinen Fingers hockte. Es hatte goldene Locken, trug einen fliederfarbenen Samtanzug und hielt einen kleinen Bogen in der Hand. Das Männlein bedachte mich mit einem außerordentlich verärgerten Blick.

»Ein Phlini!«, rief ich.

»Da sollen die Waldgeister doch mein Blut trinken, was für ein Verstand! Zeichnet dich diese Klugheit den ganzen Tag aus? Oder nur morgens? Bring mich auf der Stelle zur Elfin!«

»Zu welcher Elfin?«, fragte ich begriffsstutzig.

Der Libzick erhob sich in die Luft, um frech vor meiner Nase herumzuschwirren. Der Phlini auf seinem Hals sah mich voller Herablassung an. »Sind alle Langlatten so dämlich, oder bist du der Einzige, auf den ich in meinem Unglück treffen musste? Trash Miralissa aus dem Haus des Schwarzen Mondes selbstverständlich. Sagt dir der Name was?«

»Ja.«

»Dann halt hier keine Maulaffen feil, sondern bring mich zu ihr, du Stumpfhirn!«, ranzte mich der Phlini an.

»Was ist das für ein Lärm?« Unbemerkt hatte sich uns Kli-Kli genähert. »Ah, der Phlini ist eingetrudelt!«

»Eingetrudelt!«, empörte sich der Phlini. »Dir werd ich was, Grünling!«

»Grünling?« Kli-Kli verengte die Augen bedrohlich zu Schlitzen. »Überleg dir besser, was du sagst, du goldlockiger Winzling, sonst kannst du was erleben!«

»Schon gut«, gab sich der Phlini sogleich friedfertig. »Gestattet, dass ich mich zunächst vorstelle.«

»Spar dir die Mühe!«, erwiderte Kli-Kli schroff. »Also, weshalb bist du eingetrudelt?«

»Mitteilungen. Unterrichtung. Neuigkeiten«, überging der Phlini die grobe Unhöflichkeit.

»Dann geh und übermittle alles! Die Elfen sind bereits wach!«

»Ihnen muss ich aber erst vorgestellt werden. Als würdest du unsere Bräuche nicht kennen!« Der Phlini verzog das Gesicht, als habe er auf eine saure Stachelbeere gebissen.

»Ja! Ja!«, seufzte Kli-Kli. »Ihr habt zu viel Libzickmilch abbekommen, so verpäppelt wie ihr seid! Na los!«

Der Libzick surrte mit den Flügeln und flog auf Schulterhöhe des Kobolds neben ihm her. Ich schritt als Ehrengarde hinterdrein.

»Lady Miralissa, gestattet, Euch den Phlini … wie heißt du, Winzling?«

»Aarroo g’naa Spock aus dem Zweig des Kristalltaus, du Hohlhirn«, fauchte der Phlini und verzog die Lippen zu einem breiten Lächeln, das für Miralissa bestimmt war.

»… Euch den Phlini Aarroo g’naa Spock aus dem Zweig des Kristalltropfens …«

»Taus, du Banause!«, zischte der Phlini wütend.

»Ach? Da gibt es einen Unterschied, ja?« Mit einer Handbewegung scheuchte Kli-Kli den Libzick von seinem Ohr weg. »… aus dem Zweig des Kristalltaus vorzustellen!«

»Ich freue mich, einen Bruder aus dem kleinen Volk an meinem Feuer begrüßen zu dürfen. Was führt dich zu uns, Aarroo g’naa Spock aus dem Zweig des Kristalltaus?«, erwiderte Miralissa freundlich.

»Mitteilungen. Unterrichtung. Neuigkeiten«, antwortete Aarroo mit der zeremoniellen Floskel und landete den Libzick.

»Sind deine Neuigkeiten für mich bestimmt?«

»Ja. Das Haupt aus dem Hause des Schwarzen Mondes hat einige meiner Brüder ausgeschickt, um Euch zu suchen, Trash Miralissa, doch mir allein war es vergönnt, Euch zu finden. Freilich nimmt das kein Wunder, schließlich weiß ich meinen Kopf zu gebrauchen!«

»Das Glück ist nur dem Klugen hold«, bestätigte die Elfin in äußerst ernstem Ton. »Möchtest du nicht unser Essen und unseren Wein mit uns teilen?«

»Gern«, sagte Aarroo und rieb sich in Vorfreude auf das Gelage die kleinen Hände.

Egrassa kümmerte sich bereits um das Essen, sodass vor dem zufriedenen Phlini schon bald ein kleiner goldener Teller mit Grütze, die Hallas gekocht hatte, sowie ein winziger Becher mit aromatischem Wein erschienen. Dieses Geschirr im Miniaturformat führten die Elfen stets für die kleinen Schwatzschnäbel bei sich, die auf ihren Libzicks durch die Lande zogen.

Ich berührte Kli-Kli am Ellbogen und führte ihn zur Seite, damit der Phlini – da sei Sagoth vor! – nicht hörte, worüber wir sprachen.

»Warum gehen die Elfen dem Winzling so um den Bart?«, fragte ich. »Warum hören sie sich nicht erst einmal an, was er zu sagen hat? Danach können sie ihn ja immer noch bewirten.«

»Och, Garrett!«, seufzte Kli-Kli theatralisch. »Das ist ein Phlini! Denen gegenüber darfst du nicht unhöflich sein, sonst wirst du diese neugierigen Flugreisenden nie wieder los. Außerdem sollte man doch die alten Bräuche pflegen. Wenn es um etwas Dringendes ginge oder Gefahr drohte, hätte er uns das sicher unverzüglich mitgeteilt. Aber wenn die Angelegenheit warten kann, dann muss man sich eben an diese dämlichen Regeln halten. Jetzt mümmelt er seine Grütze und wird uns gleich alles erzählen. Im Übrigen kannst du froh sein, dass man ihn zu uns geschickt hat, andernfalls wäre es mit einem Essen nämlich nicht getan gewesen. Freie Phlini verlangen in der Regel für eine Mitteilung mehr als nur einen vollen Bauch. Lass uns zu ihnen zurückkehren, ich will hören, was uns dieser Plapperfink zu sagen hat.«

Der Phlini hatte sein Mahl fast beendet. Der kleine Kerl aß mit der Schnelligkeit eines ausgehungerten Riesen. Der Libzick lugte über die Schulter des Phlinis auf den Teller und sirrte bittend. Das feine Geräusch erinnerte stark an das Fiepen einer ertrinkenden Maus. Aarroo soundso schob einmal mehr das Maul des Libzicks verärgert zur Seite.

»Ihr hättet wohl nicht noch etwas in diesem gar riesigen Kessel? Flolydal wird euch nicht in Ruhe lassen, ehe er nicht etwas zu futtern bekommen hat«, säuselte der Phlini und nippte am Wein.

Egrassa ergriff einen Holzlöffel und schöpfte etwas aus dem Kessel. Der Libzick stürzte sich darauf wie ein hungriger Geier auf ein Huhn.

Unterdessen war auch Hallas mit lautem Gähnen aufgewacht. Als er den Phlini sah, klappte ihm der Unterkiefer herunter. Er rieb sich verzweifelt die Augen. Nach dieser Prozedur sah Hallas erneut zu Aarroo hinüber, der sich jedoch nicht in Luft aufgelöst hatte. Der Phlini warf einen mürrischen Blick auf den erstaunten Hallas und vertilgte den Rest seines Essens.

»Seltsam«, brummte der Gnom und rammte dem schlafenden Deler den Ellbogen in die Seite. »He, Hutträger! Wir haben doch gestern Abend nichts getrunken, oder? Warum verdammt noch eins sehe ich dann kleine Männchen?«

Deler wachte auf, schielte auf Aarroo und knurrte: »Das ist ein Phlini, du bärtiger Specht!«

»Was beim Unaussprechlichen heißt hier Phlini?! Phlini gibt es nur in Märchen, außerdem essen die keine Grütze, die ich eigenhändig gekocht habe.«

»Wenn jemand noch unleidlicher ist als ein Mensch, dann ist es ein Gnom«, blaffte Aarroo. »Und was diese Grütze angeht, mein Liebwerter, so hält mich einzig der Respekt gegenüber der verehrten Trash Miralissa davon ab, sie dir in den Bart zu schmieren. Mein Lebtag habe ich keinen derart miserablen Fraß zu kosten gekriegt!«

Diese Dreistigkeit verschlug Hallas glattweg die Sprache.

»Na gut.« Endlich schob der Phlini den Teller zur Seite. »Immerhin wurden alle Gesetze eingehalten.«

Aarroo pfiff den Libzick herbei, setzte sich auf seinen Hals, beschrieb einen Kreis, schwebte dann über uns und leierte los: »Mitteilung. Trash Eddanrassa, das Oberhaupt aus dem Haus des Schwarzen Mondes, entbietet seiner Tochter Miralissa einen Gruß und schickt ihr folgende schmerzliche Mitteilung. Trash Edontassa ist bei einem Zusammenstoß mit dem Klan der Blutigen Beile gestorben. In diesem Kampf fiel auch Trash Epeulassa. Damit ist Trash Miralissa jetzt die dritte Anwärterin auf die Grüntannkrone, nach Trash Melenassa und Trash Epilorssa. Trash Eddanrassa bittet seine Tochter, unverzüglich nach Hause zu kommen. Ende der Mitteilung. Wollt Ihr eine Antwort geben?«

»Wie ist das geschehen?«, fragte Miralissa.

»Ende der Mitteilung. Wollt Ihr eine Antwort geben?«, wiederholte der Phlini nur.

»Hört meine Antwort! Bevor die Aufgaben, mit denen mich der vereinte Rat der Häuser im letzten Jahr beauftragt hat, nicht erledigt sind, werde ich nicht nach Hause zurückkehren.«

»Ich habe die Antwort vernommen«, bestätigte der Phlini blasiert. Der Libzick zog neuerlich einen Kreis über uns.

»Die reinste Libelle!« Mumr stieß einen neidvollen Pfiff aus.

»Unterrichtung. Kostenlos«, fuhr der Phlini fort. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen unterrichtete er niemanden gern kostenlos. »Aus dem Roten Grenzflecken, der hinter der Stadt Chu liegt, sind alle Vögel, aber auch Wildschweine, Elche, Bären, Wölfe und alle Waldgeister abgezogen.«

»Warum das?«, fragte Egrassa.

»Wenn ich das wüsste, wäre die Nachricht nicht kostenlos«, erwiderte Aarroo mürrisch. »Der Geist eines großen Baumstamms, der drei League vom Grenzflecken entfernt lebt, hat mich darüber unterrichtet. Genaueres wusste er jedoch selbst nicht, denn in der letzten Zeit meiden die kleinen Bewohner diesen Ort. Und sie schweigen sich aus, als hätten sie den Mund voll Wasser.«

»Das ist eine dumme Nachricht«, knurrte Hallas.

»Wie die Grütze, so die Nachricht!«, giftete der Phlini, während der Libzick zornig brummte. »Wenn mich der Gnom weiter veräppelt, könnt ihr euch eure Neuigkeiten woanders holen! Am besten von dem Bartwicht selbst!«

»Halt den Mund, Hallas«, verlangte Aal.

»Ich bitte, meinem Diener seine Worte nachzusehen, ehrwürdiger Aarroo g’naa Spock aus dem Zweig des Kristalltaus«, bat Miralissa.

»Diener?«, fragte der Gnom tonlos.

Deler drohte Hallas mit der Faust. Der Gnom wurde zwar so rot wie ein Blatt Metall, das der Schmied in der Esse zum Glühen brachte, verkniff sich jedoch jedes Wort.

»Schon besser«, murmelte der Phlini zufrieden, und der Libzick zog seinen dritten Kreis über unseren Köpfen.

»Führt unser Weg durch diesen Grenzflecken, Lady Miralissa?«, wollte Alistan Markhouse wissen.

»Leider ja. Alle anderen Wege würden zu lang dauern.«

»Aber es gäbe noch andere?«, hakte der Graf nach.

»Ja. Aber wenn wir durch den Roten Grenzflecken ziehen, dann erreichen wir die Beinernen Paläste bereits morgen Abend. Auf jeder anderen Route verlören wir fünf, sechs Tage. Obendrein würden sie uns dicht an die Grenze zu den Orkgebieten heranführen. Das wäre viel zu gefährlich.«

»Er wäre sicher nicht gefährlicher als ein Ort, den alle Waldgeister verlassen haben«, widersprach ihr Egrassa.

»Trotzdem müssen wir es wagen, Egrassa.«

»Du stehst über mir, also triffst auch du die Entscheidung.« Egrassa bedeutete ihr mit angehobenen Armen, er werde nicht mit ihr streiten.

»Neuigkeiten.« Der Phlini hatte das Ende des kleinen Streits abgewartet, um nun fortzufahren: »Insgesamt drei. Der Preis der ersten ist ein Tanz dieses hartschädligen Gnoms.«

»Was?«, platzte es aus Hallas heraus. »Gnome tanzen für niemanden!«

»Dann habe ich also doppeltes Glück!«, konterte der Phlini hämisch. »Wenn ihr die erste Neuigkeit hören wollt, soll dieser Gnom tanzen. Wenn ihr sie nicht hören wollt, fliege ich weiter. Meinen Auftrag habe ich erfüllt, diese Unterhaltung ist einzig der Höflichkeit geschuldet.«

»Du kleines Mist…!« Der Gnom sprang auf und ballte die Fäuste. »Ich werde dich zusammen mit deinem stinkenden Schwirrbock zertreten!«

»Er wird tanzen«, verkündete Alistan Markhouse unumstößlich.

»Was?! Ja, soll Euch doch …«

»Das ist ein Befehl, Soldat!« Die Stimme des Hauptmanns der Garde klang hart wie Stahl. »Tanze!«

»Tanze, mein Freund.« Deler legte dem Gnom besänftigend die Hand auf den Oberarm. »Vergiss einfach, dass du für den Phlini tanzt! Stell dir vor, du tanzt für mich!«

Damit war die Angelegenheit entschieden. »Ein Gnom soll für einen Zwerg tanzen?!«, schnaubte Hallas. »Dann schon eher für einen Phlini!«

Daraufhin legte er los. Das war vermutlich eine Art Kriegstanz der Gnome. Zumindest behielt Hallas die Streithacke in der Hand, und seine Bewegungen erinnerten eher an einen Kampf als an einen Reigen. Ein solches Schauspiel hatte der Goldene Wald bestimmt noch nie erlebt. Lämpler spielte auf seiner Tröte, Kli-Kli klatschte fröhlich in die Hände, und Deler gab sich Mühe, nicht vor Lachen zu platzen.

»Genug!«, verkündete der schnaufende Gnom.

»Ihr Gnome tanzt noch schlechter, als ihr kocht«, urteilte der Phlini erbarmungslos.

Deler schaffte es gerade noch, Hallas zu packen und ihn von dem Phlini wegzuziehen.

»Und? Was bringst du für Neuigkeiten?«, fragte Miralissa mit ausgesuchter Höflichkeit.

»Die erste Neuigkeit. Im Goldenen Wald wurden Menschen gesichtet. Sie haben zwei Tage Vorsprung vor euch. Es sind mehr als zwei Dutzend, alle bewaffnet. Eine Frau ist auch unter ihnen. Ein Wappen habe ich nicht entdeckt.«

»Welche Richtung haben sie eingeschlagen?«

»Die zum Roten Grenzflecken.«

»Ich würde meine Seele verwetten, dass es Balistan Pargaide mit seinen Leuten ist«, knurrte Mylord Alistan.

»Samt Lathressa«, sagte Kli-Kli. »Und sie werden Hrad Spine vor uns erreichen.«

»Ob sie uns da auflauern wollen?«, fragte ich.

»Möglich wäre es.« In den Augen der Elfin spiegelte sich Sorge. »Vielleicht wollen sie sich aber auch unverzüglich das größte Stück der Torte schnappen.«

»Das Horn des Regenbogens?«

»Ja.« Dann wandte sich Miralissa dem Phlini zu. »Wenn du jemandem von diesem Gespräch erzählst, finde ich dich.«

»Es ist klüger, die Nase nicht in die Geheimnisse der Elfen zu stecken, das weiß ich«, murmelte der Phlini. »Ich werde also schweigen wie ein Grab.«

»War einer der Menschen verletzt?«, wollte ich wissen.

»Dem einen fehlte die linke Hand.«

»Das sind sie«, sagte ich.

Es konnte nur Bleichling sein. Sein letzter Versuch, mich auf eine Reise ins Licht zu schicken, hatte ihn die linke Hand gekostet. Bleichling arbeitete für den Spieler, irgendein hohes Tier in Awendum aufseiten des Herrn, und bereitete uns zusammen mit Balistan Pargaide allerlei Schwierigkeiten.

Graf Balistan Pargaide diente ebenfalls dem Herrn. Aus seinem Palast in Ranneng hatte ich den Schlüssel stibitzt, mit dem wir ins Herz von Hrad Spine vorzudringen hofften. Diesen Schlüssel hatte Lathressa persönlich dem Herrn bringen sollen – wenn ihr nicht ein gewisser Garrett einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Seitdem waren uns Lathressa, Balistan Pargaide und seine Leute auf den Fersen.

Bisher hatten wir ihnen stets ein Schnippchen schlagen können. Nicht einmal beim Gericht der Sagra, einem Duell auf Leben und Tod, war ihnen Glück beschieden gewesen, denn Mumr hatte Pargaides Recken erledigt. Danach waren Balistan Pargaide und sein Gesindel wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Dieses Rätsel klärte nun der Phlini auf. Pargaide musste Lathressa nachgeeilt sein, die sich bereits auf dem Weg nach Hrad Spine befunden hatte. Lathressa fürchtete sich selbstverständlich nicht, allein durch Sagraba zu ziehen (mit Sicherheit vertraute sie auf ihre Schamanenkünste). Obendrein blieb ihr keine andere Wahl. Das Artefakt war verloren, und der Sendbote, der ihr den Auftrag gegeben hatte, den Schlüssel zum Herrn zu bringen, tobte vor Wut. Vom Herrn selbst ganz zu schweigen.

»Was ist die zweite Neuigkeit?«, fragte Egrassa.

»Der Preis für die zweite Neuigkeit ist eine Prise Zucker.«

»Wir haben keinen Zucker«, fuhr ihn Hallas an. »Wir sind schließlich keine Zuckerbäcker. Aber vielleicht soll ich ja noch mal tanzen?«

»Nicht nötig! Ein zweites Mal verkraftet mein Herz diesen Anblick nicht!«, lehnte der Phlini ab. »Was könnt ihr zum Tausch anbieten?«

Wir sahen uns an. Weiß das Dunkel, was diesen Künder von Neuigkeiten reizen mochte!

»Ich habe einen Bonbon!«, sagte da Kli-Kli zu unser aller Überraschung.

»Zeig mal!«, verlangte Aarroo.

Kli-Kli kramte in seinen zahllosen Taschen, bis er einen durchgeweichten, aber in funkelndes Goldpapier eingewickelten Bonbon herauszog. Den schleppte er offenbar schon seit Awendum mit. Der Phlini betrachtete ihn eingehend. »Das ist natürlich eine Beleidigung des Gaumens«, urteilte er, »aber gut. Wirf ihn auf den Boden!«

Meiner Ansicht nach spielte er uns etwas vor und war im Grunde seines Herzens höchst erpicht auf die Süßigkeit. Der Phlini ließ den Libzick auf dem Bonbon landen und befestigte diesen am Bauch seines Flugtieres.

»Die zweite Neuigkeit. Im Goldenen Wald wurde ein Mann gesehen. Er trägt einen grauen Umhang, der sein Gesicht verbirgt. Er ist mit einer Lanze bewaffnet, kommt rasch voran und rastet kaum. Zurzeit befindet er sich vier Flugstunden von euch entfernt. Er bewegt sich geradewegs auf euch zu. Der Goldene Wald scheint in dieser Woche mit Honig eingeschmiert! So viele Fremde hab ich lange nicht gesehen. Ach ja! Ich würde euch nicht empfehlen, Streit mit ihm anzufangen. Die Waldgeister versichern, er sei ein Krieger.«

»Wir sind auch keine Schuster«, entfuhr es Deler.

»Wenn die Waldgeister sagen, jemand sei ein Krieger, schlagen wir gemeinhin einen Bogen um ihn. Aber das bleibt euch natürlich anheimgestellt. Der Preis für die dritte Neuigkeit ist der Ring von diesem Lulatsch mit dem Bart.« Der Phlini nickte in Alistan Markhouse’ Richtung.

»Welcher?«, fragte der Graf.

»Den silbernen mit deinem Wappen würde ich nie fordern, denn ihr Menschen rückt Familienerbstücke ohnehin nicht raus«, giftete der kleine Erpresser. »Aber der mit dem Rubin würde mir gefallen.«

Ohne Umschweife streifte Alistan den Ring vom Finger und legte ihn auf den Boden. Der Phlini lächelte zufrieden, und der Ring wurde genau wie der Bonbon am Bauch des Libzicks befestigt.

»Ist deine Neuigkeit diesen Ring überhaupt wert?«, knurrte ich.

»Das müsst ihr entscheiden, nicht ich. Die dritte Neuigkeit: Die Orks sind in der Nähe.«

»Wo?« Egrassa griff nach seinem Bogen.

»In den Ruinen der Stadt Chu. Sechs Späher. Sie bleiben noch fünf Tage dort hocken.«

»Woher weißt du das?«

»Das habe ich gehört«, erwiderte der Phlini grinsend. »Einer von ihnen ist in eine Falle geraten und hat sich das Bein gebrochen, jetzt fiebert er, sodass nur noch fünf kampffähig sind. Ihr könnt sie töten, ihr könnt aber auch einen Bogen um sie machen.«

»Wir haben zur Kenntnis genommen, was du uns gesagt hast. Ist das alles?«

»Ja, das ist alles. Lebt wohl.«

Der Libzick erhob sich surrend in die Lüfte und flog dicht über den Kamillen dahin. Höher vermochte das schwer bepackte Tier nicht mehr aufzusteigen. Mir war ohnehin schleierhaft, wie es sich mit dem Gewicht in der Luft halten konnte.

»Phlini lieben jede Art von Ringen«, klärte mich Kli-Kli auf.

»Ich werd’s mir merken.«

»Dieser mistige Winzling!« Hallas schickte dem abziehenden Phlini einen bösen Blick hinterher.

»Was hast du erwartet?«, fragte Kli-Kli grinsend. »Phlini leben davon, dass sie Neuigkeiten verbreiten.«

»Können wir denn sicher sein, dass er uns nicht an die Orks verkauft? Die Ersten besitzen bestimmt auch etwas, womit sie einen Hinweis auf unseren Aufenthaltsort bezahlen können. Ich traue dieser halben Portion nicht.«

»Würden die Orks mit ihm sprechen, sähe die Sache anders aus. Aber die beachten die Phlini überhaupt nicht – die ihrerseits viel zu stolz sind, eine solche Beleidigung zu schlucken.«

»Sputen wir uns!« Egrassa stand vom Boden auf. »Sehen wir zu, heute möglichst weit zu kommen.«

»Und die Orks?«

Mumr hatte recht, wir durften das nicht auf die leichte Schulter nehmen, selbst wenn uns die Ersten nicht auflauerten.

»Umbringen, es sind ja bloß sechs.« Egrassa sah Miralissa an, diese nickte. »Gewiss, wir könnten einen Bogen um sie schlagen, aber Orks in der Nähe sind und bleiben eine Gefahr.«

»Und was machen wir mit dem Kerl, der uns verfolgt?«, fragte Hallas. »Lasst Deler und mich auf ihn warten, damit wir ihm ein paar Fragen stellen!«

»Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?!«, polterte Deler. »Mit deiner Hacke fuchteln, ja, das kannst du! Hast du nicht gehört, was der Phlini gesagt hat?! Der Kerl ist gefährlich, dem sollten wir besser nicht über den Weg laufen! Und selbst wenn wir ihn besiegen, wie könnten wir danach noch die anderen wiederfinden? Oder haben Gnome über Nacht gelernt, durch einen Wald zu streifen, ohne sich zu verirren?«

»Das ist auch nicht schwieriger, als durch Stollen zu wandern«, grummelte Hallas.

»Ich meinerseits habe jedenfalls nicht die Absicht, unvermutet auf eine Orksiedlung zu stoßen«, fuhr ihn Deler an.

»Niemand wird zurückbleiben«, beendete Mylord Alistan den Streit der beiden. »Wenn dieser Mann uns verfolgt – bitte. Sollte er uns angreifen, werden wir ihm schon Paroli bieten. Balistan Pargaide und seine Handlanger, die bei Hrad Spine auf uns warten, bereiten mir da weit größere Sorge. Und auch dieser Grenzflecken.«

»Über Balistan können wir uns den Kopf zerbrechen, wenn er vor uns steht, Mylord.« Aal schnappte sich seinen Sack.

»Wegen des Grenzfleckens brauchen wir uns ebenfalls nicht zu beunruhigen.« Miralissa schulterte den S’kasch. »Die Waldgeister können ihn aus hunderterlei Gründen verlassen haben. Hoffen wir also das Beste.«

»Und rechnen mit dem Schlimmsten«, brummte ich leise. Aber die Elfin hatte die Bemerkung trotzdem gehört.

»Kli-Kli.« Deler hatte seine Stimme nicht erhoben, doch sein Blick verhieß nichts Gutes. »Was hast du mit meinem Hut angestellt?«

Kurzerhand brachte sich Kli-Kli hinter meinem Rücken in Sicherheit. Es war doch immer das Gleiche: Er trieb seinen Schabernack – und Garrett durfte die Suppe auslöffeln.

Kapitel 2

Der Rote Grenzflecken

»Was war hier früher, Kli-Kli?«

»Siehst du die Ruinen nicht? Eine Stadt natürlich!«

Der Kobold und ich kauerten hinter grauen, stark bemoosten Steinen. Neben uns erhob sich eine gerippte Säule aus dem gleichen Stein, aus dem die ganze Stadt Chu erbaut worden war. Auch sie war mit dunklem, dichtem Moos bewachsen. Inmitten von Goldbirken und Lärchen lagen die Ruinen einer alten Stadt. Hier eine Säule, dort eine Mauer, etwas weiter entfernt, bei den Büschen der Wolfsbeere, ein Torbogen mit alten Runen und dahinter ein gewaltiger Bau mit eingestürzter Kuppel. Die Ruinen versanken in dem weichen Moosteppich, erstickten im Farn und in Stechhülsen, starben unter den Wurzeln mächtiger Goldbirken. Die Stadt musste einst sehr prachtvoll gewesen sein, doch von ihrer Majestät war nur noch toter, vom Zahn der Zeit benagter Stein übrig geblieben.

»Ist mir klar, dass das eine Stadt ist. Aber was für eine?«

»Woher soll ich das wissen?« Der Narr zuckte die Achseln. »Diese Ruinen erinnern sich noch an den Abzug der Oger in die Öden Lande und die Ankunft der Orks und Elfen in Siala. Woher soll ich wissen, wer damals in ihr gelebt hat? Aber glaub mir, Chu ist sehr schön. Oder war es zumindest.«

»Was du nicht alles weißt!«

»Hör mal, Chu ist nicht die einzige Stadt in Sagraba, die untergegangen ist. In der Gegend, in der mein Volk lebt, gibt es noch eine. Wir nennen sie die Stadt Bu. Sie ist weit besser erhalten als Chu.«

Die Sonne verschwand bereits hinterm Horizont, die ersten Strahlen schafften ihren Weg durch die Bäume schon nicht mehr. Im Wald wurde es schummrig. Zum hundertsten Mal überprüfte ich, ob meine Miniaturarmbrust auch geladen war. Zu meiner großen Freude und zu Kli-Klis außerordentlichem Missvergnügen hatte uns Alistan Markhouse hier zurückgelassen, während sich die anderen die Orks vorknöpften. Recht hatte er! Ein Dieb und ein Narr taugten nicht für den Kampf! Der Kobold vertrat in dieser Frage zwar eine vollständig andere Auffassung, hatte sich am Ende jedoch dazu herabgelassen, bei mir zu bleiben.

Kraaa! Kraaa! Kurara!

Der Schrei des Vogels flog wie ein trauriges Gespenst über die Ruinen dahin, hallte von den Mauern wider und störte die Ruhe des verlassenen Ortes auf. Mit einem Mal flackerte an der Spitze einer schief stehenden Säule und an den Baumstämmen der bläuliche Widerschein eines Zaubers auf, der zweihundert Yard von hier entfernt gewirkt wurde, nur um alles sogleich wieder der Stille einer toten Stadt zu überantworten.

»Das ist Miralissas Werk«, sagte Kli-Kli und erhob sich ein wenig.

»Ich höre gar nichts.«

»Ein gutes Zeichen, denn dann hören die anderen auch nichts. Warten wir ab.«

Und wir warteten. Die Minuten dehnten sich ins Unendliche.

Da der dicke Moosteppich alle Geräusche schluckte, hörten wir die Schritte erst, als uns kaum noch zehn Yard von dem Mann trennten. Kli-Kli packte meinen Arm und drückte ihn so fest, dass es schmerzte. Er nickte in die Richtung einer Säule. Zunächst hielt ich den Läufer für Egrassa. Aber warum trug der Elf statt des S’kaschs einen Yatagan?

Es war also kein Elf, sondern ein Ork. Die beiden Rassen sehen einander zu ähnlich, als dass man sie auf Anhieb unterscheiden könnte. Der Erste rannte aus der Stadt und sah sich dabei ständig um. Uns entdeckte er Sagoth sei Dank aber nicht.

»Worauf wartest du noch?«, zischte Kli-Kli und nahm das erste Paar Wurfmesser vom Gürtel. »Der entkommt sonst.«

Das stimmte. Und in dem Fall würde er die anderen Orks warnen. Außerdem war er so nah, dass wir uns schon Mühe geben mussten, ihn zu verfehlen.

Die Armbrust klackte!

Mühelos durchschlug der Bolzen das leichte Kettenhemd und bohrte sich in den Rücken des Orks. Der stolperte und fiel mit dem Gesicht auf den Boden. Ich empfand keinerlei Gewissensbisse, einem Fliehenden in den Rücken geschossen zu haben. Hätte der Erste die Gelegenheit gehabt, hätte er Kli-Kli und mich ebenso kaltblütig abgemurkst.

»Ist er tot?«, fragte Kli-Kli.

»Sieht so aus«, antwortete ich unsicher, behielt die Armbrust aber noch in der Hand.

»Es sieht so aus!«, höhnte Kli-Kli. »Der bringt es fertig und spielt uns was vor!«

»In seinem Rücken steckt ein Bolzen! Wie soll er da noch leben?«

»Also ich werde nicht derjenige sein, der nachsieht«, verkündete Kli-Kli.

Angst und Zweifel sind stets ansteckend, sodass nun auch ich ängstliche Blicke zu dem reglosen Ork hinüberschickte. Was, wenn Kli-Kli recht hatte und der Erste nur vorgab, tot zu sein? Den Yatagan hielt er zumindest immer noch in der Hand.

»Gut«, seufzte ich. »Aber merk dir eins: Ich tu das nur zu deiner Beruhigung!«

Ich näherte mich dem Körper bis auf wenige Schritte und versenkte einen zweiten Bolzen in seinem Rücken – doch der Mistkerl zuckte nicht einmal.

»Bist du jetzt überzeugt, dass er toter als tot ist?«

»Beinahe.« Der Narr trat vorsichtig an die Leiche heran und stieß mit der Schuhspitze gegen sie. »Die Götter seien gepriesen, den hast du erledigt.«

»So schrecklich sind sie gar nicht! Du erledigst sie genauso einfach wie Menschen.«

»Wenn du sie von hinten erwischst.« Egrassas Stimme ließ mich jäh herumfahren und die Armbrust hochreißen.

»Das würde dir jetzt auch nicht helfen, Garrett. Ein Ork hätte dich längst getötet. Außerdem ist deine Armbrust nicht geladen. Was ist das für einer?«

»Einer von den Orks, die ihr hättet töten müssen. Garrett hat ihn erschossen, aber ich habe den Ersten entdeckt«, ratterte Kli-Kli herunter.

»Nein, Kli-Kli, das ist keiner von denen.« Der Elf wendete den Körper und beugte sich über den Ork, um sein Gesicht zu mustern. »Miralissa hat das Netz der Reglosigkeit über ihnen ausgeworfen, und wir haben alle erledigt. Vier am Lagerfeuer, einen neben dem Verwundeten, das war der Fünfte, und eben den Verwundeten selbst. Wir haben alle getötet.«

»Aber woher kommt dann der hier?«, fragte Kli-Kli. »Oder willst du behaupten, er sei lediglich eine Ausgeburt meiner kranken Phantasie?«

»Dieser durchtriebene Phlini hat es einfach nicht für nötig erachtet, uns von diesem siebten Herrn hier zu berichten.« Hinter der Mauer trat Hallas hervor. »Aber ich habe ja von Anfang an gesagt, dass wir diesem fliegenden Schweinehund nicht trauen dürfen!«

»Wo ein Siebter war, kann aber auch ein Achter stecken«, bemerkte Egrassa nachdenklich.

»Und auch ein Neunter oder Zehnter«, streute der Kobold Salz in die Wunde.

»Lasst uns zu den anderen gehen und beratschlagen!«

Egrassa brachte uns sicher durch das Labyrinth der zugewachsenen Ruinen zu unseren Gefährten. Obgleich überall Zerstörung und Verfall herrschten, bezauberte dieser Ort in gewisser Weise mit seiner geheimnisvollen Schönheit. Die Säulen erhoben sich neben Goldbirken oder lagen zerschlagen und moosüberzogen am Boden. An den Mauern der vormals prachtvollen Bauten rankte Efeu empor. Eine Statue auf einem Sockel war so alt, dass man nicht mehr erkennen konnte, wen sie darstellte, einen Menschen, einen Ork oder ein anderes Lebewesen, das noch vor Anbruch des Silbernen Zeitalters in Siala gelebt haben mochte.

Die vier Orks neben dem heruntergebrannten Feuer waren mit Pfeilen gespickt. Etwas abseits lagen unter einer alten Lärche die beiden anderen Toten.

Egrassa erstattete Mylord Alistan in knappen Worten Bericht.

»Vielleicht hat er sich versteckt und ist dem Phlini deshalb entgangen.« Miralissa nestelte nachdenklich am Ärmel ihrer dunkelgrünen Jacke.

»Oder er wollte ihn nicht sehen, Mylady.« Hallas konnte dem kleinen Nachrichtenverbreiter den Tanz nicht verzeihen.

»Hallas, Deler, Mumr und Aal! Bildet Paare und sucht das Versteck dieses Siebten!«

Aal nickte stellvertretend für alle, und die Wilden Herzen machten sich daran, die Ruinen zu durchkämmen.

»In einer Stunde bricht die Nacht herein.« Mylord Alistan blickte zum Himmel hoch. »Bleiben wir hier, oder ziehen wir weiter?«