Schattenwanderer - Alexey Pehov - E-Book
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Schattenwanderer E-Book

Alexey Pehov

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Beschreibung

Nach Jahrhunderten des Friedens ist der namenlose Schrecken erwacht. Eine riesige Armee formiert sich in den Öden Landen. Tausende Giganten, Oger und Kreaturen des Todes finden sich zusammen – erstmals unter dem gemeinsamen schwarzen Banner; erstmals vereint im Sturm auf die Stadt Awendum … Es sei denn, der Schattenwanderer und Meisterdieb Garrett kann sie aufhalten. Von der verbotenen Zone Awendums, der Heimat der lebenden Toten, führt Garretts Weg bis ans Ende der Welt. An der Seite einer Elfenprinzessin und der unerbittlichsten Krieger des Königreichs zieht der Schattenwanderer in einen Kampf, der ebenso aussichtslos wie unausweichlich ist. Es ist ein Kampf, der die Geschichte der Helden neu schreiben wird …

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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Übersetzung aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann

Im Text werden Gedichte von Pawel Kostin, Anatoli Meller jun., Michail Fjodorow und Wjatscheslaw Doronin verwendet.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

7. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95112-8

© Alexey Pehov 2002 Die russische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Kraduščijsja v teni. Chroniki Sialy« bei AL'FA-KNIGA. Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2010 Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagabbildung: Oliver Wetter

Kapitel 1

Nacht

Für Männer wie mich ist die Nacht die beste Zeit. Erst wenn rechtschaffene Menschen bereits selig in ihren warmen Betten schlummern und die letzten Bewohner Awendums durch die finstere Juninacht nach Hause eilen, verlasse ich das Haus. Die Nacht. Die Stille. Nur die Schritte der Stadtwache hallen mit dumpfem Echo von den Mauern der Häuser wider und werden durch die dunklen, bis zum Morgen ausgestorbenen Straßen getragen.

Die Wache bewegt sich schnell, hastig, beinahe hüpfend, und in den dunkelsten Gassen fällt sie in Trab. Die Soldaten haben Angst. Ich kann unsere kühnen Gesetzesdiener durchaus verstehen. Natürlich sind es nicht die Menschen, die ihnen Angst einjagen. Sollte tatsächlich ein Wahnsinniger die Frechheit besitzen, einen Angriff auf die Stadtwache zu wagen, so bekäme er es mit ihren schweren Hellebarden zu tun. Nein, die Soldaten fürchten sich vor etwas ganz anderem. In unseren unruhigen Zeiten gibt es nämlich weit gefährlichere Wesen, die sich des Nachts auf die Jagd begeben. Und Sagoth stehe ihnen bei, wenn diese Kreaturen hungrig sind.

Der Schatten bietet allen einen Unterschlupf, sowohl den friedlichen Bürgern, die in ihrer Angst vor gefährlichen Mitbürgern Schutz suchen, wie auch den Dieben, die in ihm lauern, das Messer unter dem Umhang verborgen haben und auf solide Bürger warten. Oder er gewährt ebenjenen Kreaturen Schutz, die in ihm leben und in den Nächten die einen wie die anderen jagen.

Glücklicherweise bin ich diesen Dämonen, die in der Stadt aufgetaucht sind, seit sich der Unaussprechliche und seine Helfershelfer nach Jahrhunderten der Ruhe wieder in den Öden Landen regen, bisher kein einziges Mal begegnet. Deshalb lebe ich wohl noch.

Die Schritte der Soldaten verebbten in der Nachbarstraße. Auf Befehl von Baron Frago Lonton, dem die Stadtwache von Awendum unterstand, waren alle Patrouillen verdreifacht worden. Denn das, was den Unaussprechlichen in den Öden Landen noch bannte, verlor an Kraft, und schon bald würde er aus der ewigen Eiswüste in unsere Welt einfallen. Der Krieg rückte näher, wie sehr der Orden der Magier und die unzähligen Priester ihm auch entgegenzuwirken suchten. So war es nur eine Frage der Zeit, ein halbes Jahr noch, vielleicht ein ganzes, bis geschehen würde, womit man uns in unserer Kindheit eingeschüchtert hatte. Der Unaussprechliche würde zu den Waffen rufen, hinter den Nadeln des Frosts auftauchen, der Albtraum beginnen … Selbst in der Hauptstadt traf man inzwischen seine immer frecher auftretenden Anhänger. Und ich war mir keineswegs sicher, dass die Wilden Herzen, diese tapferen Soldaten aus der Festung Einsamer Riese, eine Heerschar von Ogern und Riesen aufzuhalten vermochten.

Alles war still, und zwar so still, dass man hören konnte, wie die Falter mit ihren spröden Flügeln durch die nächtliche Kälte flatterten. Allmählich müsste ich meinen Gang fortsetzen, schließlich war die Wache längst weitergezogen. Aber heute neigte ich zu größerer Vorsicht als sonst … ein unerklärliches Gefühl zwang mich, an der Mauer eines im Schatten liegenden Gebäudes zu verharren.

Der Schatten ist mir wohlgesonnen, liebt mich, hilft mir. Ich verstecke mich in ihm, lebe darin, nur er ist stets bereit, mich aufzunehmen, vor Pfeilen zu retten, vor den Klingen, die in einer Mondnacht gierig aufblitzen, oder den blutdürstigen goldenen Augen der Dämonen. Bruder For, jener gute Priester Sagoths, hat einmal behauptet, der Schatten sei der Bruder des Dunkels. Und vom Dunkel sei es nicht weit bis zum Unaussprechlichen. Unfug! Als wären das nicht völlig verschiedene Dinge! Da könnte man ja gleich einen Oger und einen Riesen miteinander vergleichen! Schatten bedeutet Leben, Freiheit, Geld, Macht und Ehre. Garrett der Schatten wird wissen, wovon er spricht. Schatten entsteht nur, wenn es wenigstens einen Funken Licht gibt, insofern ist der Vergleich mit dem Dunkel dumm, wenn nicht noch mehr als dumm. Das habe ich meinem alten Lehrer natürlich nicht gesagt. Das Ei hat der Henne nichts beizubringen.

In der engen Gasse der Handwerker mit ihren Steinhäusern, die bereits die Stillen Zeiten gesehen hatten, ließ sich kein einziger Laut vernehmen, nur ein Blechschild über einer Bäckerei klapperte im Wind. Der träge dahinwogende, graugelbe Juninebel, für den unsere Hauptstadt berühmt war (angeblich der Trick eines halbgebildeten Magiers aus der Vergangenheit, gegen den selbst die Gesamtheit der Erzmagier nichts auszurichten vermochte), begrub das Pflaster unter sich, das unter dem Gewicht zahlloser Karren abgesunken war.

Alles blieb still.

So still wie in der Gruft eines reichen Mannes, wenn ihr ein Haufen kleiner Diebe einen Besuch abgestattet hatte. Das Schild klapperte, der Wind blies, die Wolken zogen langsam über den Nachthimmel. Aber ich rührte mich immer noch nicht vom Fleck, blieb mit dem Schatten des Gebäudes verschmolzen stehen. Intuition und Lebenserfahrung ließen mich in die Stille hineinlauschen. Nicht einmal eine völlig ausgestorbene Straße kann derart leise sein, niemals. Nachts muss es Geräusche geben. Ratten, die im Müll rascheln, ein Betrunkener, der schnarcht und den Taschendiebe bereits ausgenommen hatten, bevor er in irgendeine Nische sackte. Das Schnarchen aus den Fenstern der steingrauen Häuser, ein dreckiger Köter, der durch die Dunkelheit schleicht. Der schwere Atem eines frischgebackenen Räubers, der in Erwartung seines Opfers das Messer mit schweißfeuchter Hand umklammert. Der Lärm in den Läden und Werkstätten, in denen nachts gearbeitet wird. Doch nichts von alldem war in der dunklen, unter einem Nebelbett liegenden Gasse zu hören. Nichts, nur Stille und Finsternis.

Der Wind strich nun heftiger über die Dächer der alten Gebäude, jagte die schweren grauen Wolken wie eine Herde riesiger Schafe über den Himmel. Ausgelassen zerzauste er mir das Haar, aber ich wagte es nicht einmal, mir die Kapuze überzustreifen.

Bei Sagoth! Was braute sich hier zusammen?

Als habe der ruhmreiche Gott aller Diebe mein Gebet erhört, schien er mir geschärfte Hellhörigkeit zu schenken, denn nun vernahm ich Schritte. Die hastigen Schritte eines Menschen, die nicht einmal der graugelbe Nebel schluckte. In der Nische im Haus gegenüber nahm ich im Dunkel eine flüchtige Bewegung wahr.

Wer versteckte sich da? Ich spähte in die tintenschwarze Nacht. Nein, nichts. Ich hatte mich getäuscht, witterte Gefahr, wo sie gar nicht existierte. Dennoch hielt mich eine energische Hand unverändert zurück und verlangte: Warte! H’san’kor soll mich fressen! Was geht hier vor?

Die Schritte klangen immer lauter. Der Mann näherte sich aus der Straße, in die vor fünf Minuten die Stadtwache eingebogen war. Ich rührte mich nicht und versuchte, mit dem Schatten zu verschmelzen.

Schnellen Schrittes, fast schon rennend, bewegte sich der Mann in meine Richtung. War er ein Dummkopf oder ein Held, sich allein in die Dunkelheit hinauszuwagen? Ersteres vermutlich, denn Helden leben in unserer Welt nicht lange. Allerdings gilt das auch für Idioten – sofern es sich nicht um die Narren unseres ruhmreichen Königs handelt. Welche dringenden Angelegenheiten hatten diesen Mann bewogen, in eine Straße einzubiegen, in der nicht einmal Öllampen brannten – denn welcher Lampenanzünder würde sich schon hierher trauen? Wir leben nicht mehr in den Stillen Zeiten, als jedes Kind in tiefster Nacht noch gefahrlos von einem Ende Awendums zum anderen spazieren konnte, ohne dass ihm etwas geschah.

Der Unbekannte kam immer näher. Ein großer Mann in guter, ja, prachtvoller Kleidung. Eine Hand ruhte auf dem Griff eines soliden Schwerts. Vielleicht ein Höfling …

Die Wolken zogen erneut über den Himmel, schoben sich vor die Sterne, verwandelten die Dunkelheit in undurchdringliche Finsternis. Selbst als der Mann auf meiner Höhe war, konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Er bemerkte den reglos im Schatten lauernden Schatten natürlich nicht. Ich bräuchte bloß die Hand auszustrecken und könnte ihm den prallen Beutel vom Gürtel fingern. Aber ich bin kein kleiner Taschendieb mehr, der sich zu dergleichen herabließe. Die Zeit der Jugend war lang vorbei, inzwischen hatte mich das Leben gelehrt, mich bisweilen nicht zu rühren, ja, nicht einmal tief Luft zu holen.

In der Nische gegenüber geriet das Dunkel ein weiteres Mal in Bewegung, ballte sich zu einer schwarzen Blume des Todes. Ich erstarrte in eiskaltem Entsetzen. Dunkel riss sich aus dem Dunkel, nahm die Form eines geflügelten Wesens an, eines Dämons mit gehörntem Schädel, in dem blutrote schmale Augen funkelten. Wie eine Lawine im Zwergengebirge rollte er über den hastenden Mann hinweg und begrub ihn unter seinem kolossalen Gewicht. Der Mann jammerte gleich einer verletzten Katze auf und versuchte, sein Schwert zu ziehen. Doch vergeblich. Das Wesen hatte sich fest in ihn verkrallt. Dann stieg der Dämon in den nächtlichen Wolkenhimmel auf, das frische Fleisch und vielleicht auch die Seele des Mannes mit sich davontragend. Die kohlschwarze Silhouette zeichnete sich kurz am Himmel ab, bevor sie endgültig verschwand.

Krampfhaft versuchte ich, wieder ruhig zu atmen. Die Kreatur hatte nicht gemerkt, dass ich ihr die ganze Zeit schon gegenübergestanden hatte, aber wenn ich mich gerührt hätte, wenn ich mich nur einmal gerührt hätte, wenn ich nur etwas geräuschvoller geatmet hätte, wäre sie gewiss über mich hergefallen. Ich hatte also Glück gehabt. Ungeheures Glück. Wieder einmal. Doch das Glück eines Diebes ist eine flatterhafte Dame, die sich jederzeit abwenden kann. Solange sie mir freilich die Treue hält, bleibe ich bei meinem Handwerk.

Jetzt fiepte in der dunklen Nische im Haus gegenüber eine Ratte, dann noch eine, eine Fledermaus jagte die späten Junifalter.

Die Gefahr war vorüber, endlich konnte ich meinen Weg fortsetzen. Ich löste mich von der Mauer, hielt mich aber weiterhin in möglichst dunklen Bereichen der Straße. Nichts deutete auf das, was sich eben ereignet hatte. Allein die Straße war zum stummen Zeugen der nächtlichen Jagd dieses Dämons geworden.

Zum Glück war es eine mondlose Nacht, und die Schäfchenwolken schirmten die Stadt gegen die Sterne ab, sodass es nun mehr als genug Schatten gab. Lautlos und mit schnellen Schritten huschte ich von Haus zu Haus, von Schatten zu Schatten. Die Straße der Bäcker lag bereits hinter mir, nun bog ich in die Gasse rechter Hand ein. Hier war der Nebel noch dichter, er fasste mit weichen Tatzen nach mir, erstickte meine Schritte, entzog mich den Blicken von Mensch und Nicht-Mensch.

Plötzlich flüsterte jemand im Schatten. Ich blieb stehen und spähte in die graugelbe Finsternis. Diebe. Junge Diebe. Warteten sie auf einen nächtlichen Passanten oder wollten sie ihre schlafenden Mitbürger um ihr Hab und Gut erleichtern? Diese Grünschnäbel. Was die für einen Lärm machten! Meisterdiebe verständigen sich mit Gesten, geben selbst in einer Nacht wie dieser, in der der klebrige Nebel jedes Geräusch schluckt, keinen Laut von sich. Als ich an ihnen vorbeischlich, bemerkten mich diese Möchtegerndiebe nicht einmal, denn ein ungeschultes Auge erkennt den Schatten im Schatten nicht ohne Weiteres. Am liebsten wäre ich aus dem Nebel herausgesprungen und hätte sie wie ein Kind mit einem »Buh!« erschreckt. Aber womöglich hätten sie mich dann abgestochen. Abgesehen davon: Warum sollte ich diese Milchbärte überhaupt erschrecken?

Die dunkle Gasse endete, die hohen Mauern der Häuser, die in dieser Welt schon mancherlei Freude und Kummer gesehen hatten, wichen zurück. Der Wind hatte die Wolken inzwischen wieder auseinandergetrieben, sodass sich der Himmel in ein Tischtuch verwandelt hatte, auf dem ein reicher Mann seine Münzen ausgeschüttet haben musste. Hunderte, Tausende von Sternen beleuchteten mir die kalte Sommernacht.

Hier brannten zudem einzelne Laternen, schließlich hatte ich einen der großen Plätze erreicht, an denen die Lampenanzünder ungeachtet ihrer Furcht ihre Arbeit verrichten mussten. Die Flammen unter der Glashaube warfen einen flackernden Lichtfleck, bizarre Schatten tanzten stumm an den Hauswänden. Das war schlecht. Ich hoffte, der Wind würde seine grauen Schäfchen noch einmal über den Himmel treiben. So lange hielt ich mich jedoch besser im Schatten, presste ich mich gegen das Gemäuer.

Ich befand mich am Grok-Platz. Grok selbst stand in seiner Mitte und musterte mich wortlos mit Augen, denen nichts entging. Grok war ein Kriegsherr, der in grauer Vorzeit unser Königreich vor einem Einfall der Orks gerettet hatte. Jetzt stand er als Bronzedenkmal mitten auf dem Platz, auf dem es früher selbst nachts von Menschen nur so gewimmelt hatte.

Gleich hinter dem Denkmal lag das Ziel meines nächtlichen Ausflugs.

Ein gewaltiger klotziger Steinbau, umgeben von einer hohen, zinnenbewehrten Mauer aus Steinquadern, die im Zwergengebirge gehauen worden waren, in jenen Zeiten, als diese Rasse unserem Königreich noch freundlich gesonnen war. In diese Mauer waren vier Fenster eingelassen, in denen sich der Himmel und die Sterne spiegelten. Ein völlig geschmackloses Monstrum, obendrein eine ungeheure Geldverschwendung – was man gegenüber Kronherzog Pathy jedoch besser nicht erwähnte. Leisten konnte er sich seine architektonischen Vorlieben jedenfalls nur, weil er als Cousin des Königs für die Staatskasse verantwortlich war. Darüber hinaus frönte er noch der Liebe zu minderjährigen Jungen. Doch auch über diese kleine Schwäche ging man besser hinweg, da man andernfalls eines schönen Tages womöglich ein Messer im Rücken hatte.

Der König duldete die Neigungen seines lieben Anverwandten. Noch. Denn Seine Hoheit war, wie es hieß, Menschen, die mit Staatsgeldern um sich warfen, nicht allzu gewogen.

Die zwanzig Meter lange Fassade des Hauses begrenzte auf beiden Seiten jeweils ein hoher Rundturm mit Flachdach. Im linken Turm gab es ein sieben Yard breites Holztor mit schweren, eisenbeschlagen Flügeln, durch das bequem vier Reiter nebeneinander passten. Dieses Tor brauchte mich nicht zu kümmern. Das war nur für geladene Gäste.

Ich rannte schnell über den beleuchteten Platz, um im Schatten der Kolonnade eines Gebäudes zu erstarren, das links vom Denkmal lag. Die hohen, mit kunstvoller Schnitzerei versehenen Säulen der Bibliothek spendeten undurchdringliches Dunkel. Die Städtische – oder, wem das besser gefiel, die Königliche – Bibliothek. Pilgerstätte der Magier und Geschichtsschreiber. Ab und zu suchten sogar Mitglieder des Hofes sie auf, um ihr Wissen zu mehren. Meist begaben sich Adlige, die studieren wollten, jedoch gleich nach Ranneng, in die Stadt des Wissens.

Der Grok-Platz lag völlig verlassen, wie alle Straßen in Awendum.

Der Unaussprechliche erwachte erst allmählich. Die Nacht war voller Gefahren. Nur Diebe erledigten jetzt ihre Arbeit. Natürlich längst nicht alle Diebe, sondern einzig die geschicktesten und kühnsten. Oder die gierigsten und dümmsten. Nur diejenigen von ihnen, die das Dunkel dieser Juninacht nicht schreckte. Und die Stadtwache war unterwegs, hastete durch die Straßen, sah sich verängstigt um und zog jedes Mal den Kopf ein, sobald im Schatten etwas raschelte. Schauerlich. Es war wirklich schauerlich. Die unsichtbaren Finger der Angst hielten Awendum gepackt. Und obwohl sich die Menschen immer wieder versicherten, der Orden ließe nichts unversucht, um die Dämonen zu töten, konnte ihnen nichts die Angst vor der heraufziehenden Nacht nehmen.

Gut, ich drückte mich besser nicht länger auf dem Platz herum, sondern machte mich endlich ans Werk. Ich betrachtete das Ziel meiner nächtlichen Mission. Der Palast des Kronherzogs schien ausgestorben. Weder am Tor noch auf der Mauer gab es Wachtposten. Wahrscheinlich hockten sie drinnen und klapperten mit den Zähnen. Ich konnte sie verstehen, schließlich würde auch ich jetzt in meinem Unterschlupf sitzen, müsste ich nicht diesen Kontrakt erfüllen.

Der Auftrag war aus heiterem Himmel an mich herangetragen worden. Jemand zeigte Interesse an einer bestimmten Sache aus dem Palast des Kronherzogs. Er zahlte gut, sogar hervorragend. Mit diesem Geld könnte ich zwei Monate lang die Hände in den Schoß legen. Angeblich bräuchte ich bloß in das Haus hineinzuspazieren und das Ding an mich zu nehmen, da der Herzog mit seinem Gefolge zur Jagd in den Wäldern vor der Stadt aufgebrochen war. Die Hirschjagd soll in diesen finsteren Zeiten ja die Stimmung heben.

Auf den ersten Blick also das reinste Kinderspiel. Rein ins Schloss, wieder raus, fertig.

Ich tastete meine Ausrüstung und Kleidung sorgfältig ab, um ein letztes Mal zu kontrollieren, ob nichts fehlte. Der graue Umhang mit Kapuze, die grauen Handschuhe, die schwarzen Hosen und Stiefel. Ein langes zweischneidiges Messer, das ich wie üblich mit zwei Lederriemen am Schenkel festgeschnallt hatte, damit es mich nicht in meinen Bewegungen einschränkte, wenn ich rannte. Ein Kurzschwert, wenn man so will, knapp eine Elle lang. Ich hatte ein hübsches Sümmchen in Gold für die Klinge hingegeben. Sie war mit einem Silberstreifen gesäumt, sodass ich mit ihr sogar einen Kampf gegen einen Zombie oder gegen jeden anderen Wiedergänger wagen konnte. Selbst wenn ich nicht als Sieger aus ihm hervorginge – mit heiler Haut würde ich ihn auf alle Fälle überstehen. Gut, möglicherweise mit einem abgehackten Arm. Mit dem schweren Griff konnte ich zudem übereifrigen Wachtposten eins über den Schädel ziehen. Denn nicht der ist ein Meisterdieb, der einer Wache die Kehle durchschneidet, sondern der, der lautlos daherkommt, eine Sache an sich nimmt, genauso leise wieder verschwindet und möglichst wenig Spuren und demzufolge auch möglichst wenig Leichen hinterlässt.

Über meiner Schulter hing eine kleine leichte Armbrust, die mit kurzen dicken Bolzen mit vierzahniger Stahlspitze geladen wurde. Aber nicht nur mit ihnen. In einem magischen Laden fand man auch noch andere Bolzen. Die sich entzündeten oder mit sonstigen Tricks überraschten. Dafür brauchte man nur Geld. Viel Geld. Wer etwas von seiner Sache verstand, schoss dann mit dieser kleinen Armbrust einem Menschen aus siebzig Schritt Entfernung ein Auge aus.

In dem kalbsledernen Beutel, der an meinem Gürtel hing, steckten ein paar Fläschchen mit magischen Flüssigkeiten. Für den Notfall. Ein Händler, den ich gut kannte, ein Zwerg, hatte mir dafür alles Geld abgeknöpft, das ich bei meinem letzten Raubzug während einer Feierlichkeit im Hause eines stadtbekannten Lebemanns gemacht hatte. Aber diese Sachen waren ihr Geld wert.

Genug, länger durfte ich wirklich nicht zögern. Vorwärts!

Selbst wenn Wachen auf der Palastmauer gewesen wären, hätten sie doch nur graue Steine und den Nebel gesehen, der an manchen Stellen vom Wind zerfetzt wurde und mit den Schatten auf dem Platz Fangen spielte. An den Bibliotheksmauern entlang rannte ich zum Schloss des Herzogs hinüber. Ich umrundete die Vorderfront und bog in eine Seitengasse ein. Die Mauer zog sich auch hier dahin, Sagoth sei Dank aber ohne diese scheußlichen Fenster. Dafür gab es eine schmale, für Passanten kaum wahrzunehmende graue Eisentür in ihr, durch die die Diener ins Allerheiligste des Herzogs gelangten.

Auf die Mauer fiel Licht, Schatten gab es hier keinen. Wie auf Sagoths Handteller stand ich davor. Zum Glück war die Straße leer, die Patrouille würde erst in ein paar Minuten kommen. Damit blieb mir ausreichend Zeit.

Ich zog einen Satz Nachschlüssel unter meinem Gürtel hervor, den die Zwerge eigens für mich angefertigt hatten. Normale Menschen glauben ja gern, es wäre leicht und billig, ein Meisterdieb zu sein. Das stimmt aber nicht. Wenn man etwas stehlen will, ist das Wichtigste zunächst eine gute Ausrüstung, dann sichere Erkundigungen.

Ach ja, und noch eine winzige Kleinigkeit, die ich beinahe vergessen hätte: Talent. Ohne Talent konnte niemand etwas stehlen, selbst wenn ihm eine noch so gute Ausrüstung zur Verfügung stand.

Ich hantierte mit einem Dietrich und versuchte, die Feder im Schloss zu spüren. Es klickte leise. Die erste Hürde war genommen.

Da hörte ich Pferdegetrappel, worauf ich noch schneller arbeitete. Mir blieb höchstens eine halbe Minute, bevor die Reiter um die Ecke biegen mochten. Erneut klickte es. Die zweite Hürde. Verzweifelt versuchte ich, die letzte Feder ausfindig zu machen. Diese verdammten Zwergenschlösser! Von ihrem Handwerk verstanden sie wirklich etwas, diese Winzlinge! Nur noch fünf Sekunden! Ich riss den Dietrich aus dem Schloss und huschte in den Schatten auf der gegenüberliegenden Seite zurück.

Gerade noch rechtzeitig, denn jetzt tauchten die Reiter auf. Zwei, drei, fünf, sieben – dreizehn! Eine Glückszahl! Sie ritten auf hochgewachsenen Pferden, Doralissanern. Dunkle Silhouetten vor dem grauen Hintergrund der Nacht. Das Hufgeklapper hallte dumpf von den schlafenden Häusern wider. Ich blieb reglos im Schatten, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

Zehn Soldaten in grau-blauen Uniformen. Ihnen folgte auf einem edlen gescheckten Hengst eine Frau. So sehr ich mich auch anstrengte, ihr Gesicht vermochte ich nicht zu erkennen, da es von einem dichten Schleier verdeckt wurde. Zwei Soldaten ritten unmittelbar hinter der Frau, behelmt und mit geschlossenem Visier, sodass auch ihre Gesichter meinem Blick entzogen waren.

Aus den Nüstern der Pferde wölkte Dampf. Als sie an mir vorbeikamen, wieherte eines der Tiere, doch der Soldat zog nur die Zügel an, und die Prozession bewegte sich weiter die Straße hinunter. Was hatten die Gardisten des Königs und die unbekannte Frau wohl nachts auf der Straße zu suchen? Aber da steckte ich meine Nase lieber nicht rein. Ich würde länger leben, wenn ich es nicht wusste, andernfalls würde man Garrett den Schatten womöglich noch mit aufgeschlitzter Kehle im Kalten Meer finden. Dem dreizehnten Reiter folgte kurze Zeit später eine weitere Einheit von zehn Mann, fraglos die Rückendeckung. Sie trugen eine gewöhnliche Uniform, nicht die grauen und blauen Farben der Königsgarde. Am Ärmel eines der Reiter erspähte ich jedoch eine purpurrote Stickerei. Die Wilden Herzen! Was taten die nur so weit entfernt vom Einsamen Riesen?

Ich wartete, bis auch der letzte Reiter um die Ecke gebogen war, und pirschte mich dann abermals zur Tür.

Der Innenhof des Schlosses lag ruhig, dunkel und verlassen. Nur in der Küche und im zweiten Stock brannte Licht in den Fenstern.

Das Gras schluckte meine Schritte. Da die Juninacht zu kalt für Grillen war, erfüllte eine tiefe Stille den Innenhof.

Da war auch schon die Küchentür. Die im Wind zuckende Flamme einer Fackel hatte die Mauer neben dem Eingang schon ganz verrußt. Als ich die bronzene Klinke sanft nach unten drückte, öffnete sich die Tür. Hatten die hier vollends den Verstand verloren?! Die Tür über Nacht nicht abzuschließen – warum ließ ihnen der Herzog das durchgehen? Nun, nach der heutigen Nacht dürften sie etwas vorsichtiger sein!

In keinem Herd brannte ein Feuer, nur einige Fackeln an den Wänden tauchten den riesigen Raum in flackernd orangefarbenes Licht. Überall türmte sich dreckiges Geschirr, auf einem Tisch schlief ein kleiner Küchenjunge. Der Arme musste einen schweren Tag hinter sich haben. Mal sehen, was der Herzog zu essen bekam … Ach ja, das würde ich auch nicht verschmähen.

Ich konsultierte den Lageplan, den ich am sichersten aller Orte versteckt hatte: in meinem Kopf. Die Tür da hinten führte in den Bankettsaal und zu der hohen Marmortreppe hinauf in den ersten Stock. Aber die wollte ich lieber nicht nehmen, solange es einen anderen Weg gab. Durch die Eichentür rechts würde ich in den Flügel der Dienstboten und von dort ebenfalls in den ersten Stock gelangen, ohne jedoch an einer Wache vorbei zu müssen. Sicher, die dürften, soweit ich dieses Völkchen kannte, längst schlafen. Trotzdem wollte ich kein Risiko eingehen.

In dem halbdunklen Gang, in den ich kam, brannte jede zweite Fackel. Es gab also Schatten! Im Notfall konnte ich mich an die Wand pressen oder in eines der Zimmer schlüpfen. Vorsichtig, denn die Dielen knarzten, lief ich den Gang hinunter. Hinter einer Tür rechter Hand ließ sich das Schnarchen eines kräftigen und zufriedenen Mannes vernehmen. Das war mit Sicherheit ein Wachtposten – nur sie waren in der Lage, eine solche Vielfalt an Schnarchlauten hervorzubringen, noch dazu in dieser Lautstärke! In mich hineingrinsend, bewegte ich mich weiter, leise und langsam, denn zur Eile bestand kein Grund.

Der Gang knickte im rechten Winkel ab. Ich huschte um die Ecke – und lief buchstäblich einem jungen Diener in die Arme.

Der Junge sprang zurück und starrte entgeistert die dunkle, hochgewachsene Figur an, mit der er gerade zusammengestoßen war, um dann, wie ein halberstickter Welpe jammernd, die Flucht zu ergreifen. »Ein Dieb! Ein Mörder!«

H’san’kor soll mich fressen! Der Bengel würde mir das ganze Haus aufwecken!

Während ich dem Diener nachsetzte, zog ich das Messer. Erst am Ende des Ganges holte ich ihn ein, der Junge hatte einen ordentlichen Schritt am Leibe. Ich nahm kurz mein Ziel in Augenschein und ließ seinen Schädel Bekanntschaft mit dem Messergriff schließen. Ich achtete geflissentlich darauf, Maß zu halten. Andernfalls müsste ich mich nicht mit einem ohnmächtigen, sondern mit einem toten Diener herumschlagen. Der Junge verlor das Bewusstsein, und ich fing ihn auf, bevor der Körper zu Boden sackte. Und jetzt? Schließlich konnte ich ihn nicht hier im Gang lassen, womöglich würde sonst noch ein Schlafwandler über ihn stolpern!

Ich packte den Jungen also unter den Achseln und stieß die nächstbeste Tür auf. Ein leerer Raum. Wunderbar! Ich stopfte den bewusstlosen Diener in einen Schrank und schloss die Zimmertür sorgfältig hinter mir. Morgen früh würde er schon wieder zu sich kommen. Wenn er seinen Verstand dann noch beieinander hatte, würde er über den nächtlichen Vorfall kein Sterbenswörtchen verlieren.

Weiter. Da war die Treppe, die aus dem Dienstbotentrakt hoch zu den Gemächern des Herzogs führte. Das kostete mich keine zwei Minuten. Nun lag bloß noch die schwere Eichentür vor mir, die in den Flügel des Herzogs führte. Natürlich war sie abgeschlossen, aber das war lediglich eine Frage der Technik.

Der Gang dahinter war ebenfalls finster und leer. Reich verzierte Wände, in Nischen Marmorstatuen der zwölf Götter, die einzelnen Zimmertüren, ein tückischer Boden aus schwarzen und weißen Platten singenden issylischen Marmors, auf denen jeder Schritt unnatürlich laut widerhallte.

Verflucht! Jetzt müsste ich fliegen können! Es würde die ganze Meisterschaft, die Sagoth mir geschenkt hatte, verlangen, um kein Geräusch zu machen – und das Schlafzimmer lag am anderen Ende des Ganges.

Plötzlich vernahm ich hinter mir ein Knurren.

Ich fuhr zusammen und erstarrte, einen Fuß in der Luft. Langsam drehte ich den Kopf, darauf gefasst, hinter mir die dreiunddreißigtausend Dämonen des Dunkels zu erblicken. Das war aber zum Glück nicht der Fall. Da stand nur ein einziger Garrinch. Er glotzte mich aus fahlen Augen an.

Wie lautlos diese Kreatur sich angeschlichen hatte! Nicht einmal der singende Marmor hatte ihn verraten!

Alles in mir gefror. Mit keiner Silbe hatte Gosmo, als er mir diesen Auftrag vermittelte, einen Garrinch erwähnt. Schöne Bescherung!

Garrinchs leben weit im Süden, in den Steppen Ungawas, fast an der Grenze zum Sultanat. Sie geben vorzügliche Wachhunde ab, vor allem gegen solche Leute wie mich. An einen jungen Garrinch heranzukommen war fast unmöglich, weshalb sie auch horrende Summen kosteten. Gerüchten zufolge sollten die Schatzkammern des Königs aber gleich von zwei solcher Wesen bewacht werden.

Das Tier knurrte noch einmal, während es aufmerksam und forschend in den Schatten spähte, in dem ich erstarrt war. Eine fast kalbsgroße Ratte mit grüner Schlangenhaut statt eines Fells und einem erlesenen Satz von Zähnen, die selbst einen Ritter in seiner Rüstung zermalmen konnten. Wenn man kein Magier war, machte man einer solchen Kreatur nicht so einfach den Garaus.

Der Garrinch stierte weiter auf die Stelle, an der ich allmählich in Schweiß geriet. Gut eine Minute grübelte das Untier, dann knurrte es noch einmal, witterte etwas, verstand aber noch immer nicht, wohin dieser schleichende Schatten klammheimlich verschwunden sein konnte. Schließlich trottete es langsam und hinkend auf die offene Tür zu, die zum Flügel der Diener führte. Das würde morgen früh ein lustiges Erwachen geben, wenn ein paar von den Dienern fehlten!

Sonst war der Zugang zum Trakt der Dienstboten für solche Wesen versperrt, eben damit sie niemanden fraßen, wenn sie nachts in einem Stockwerk patrouillierten. In meiner Arglosigkeit hatte ich die Tür jedoch offen gelassen und fürchtete nun um das körperliche Wohl der nichts ahnenden Diener.

Noch einmal holte ich tief Luft, dann nahm ich den Finger vom Abzug der Armbrust. Ich war mit dem Leben davongekommen. Aber ich musste vorsichtiger sein, das Untier konnte jederzeit wieder auftauchen, selbst nach ein paar verputzten Dienstboten noch hungrig.

Unter der Tür zum Schlafgemach des Herzogs schimmerte ein schmaler Lichtstreifen. Seltsam.

»Das ist gelogen! Ich bin dem Herrn treu!«, vernahm ich eine hohe, quiekende Stimme.

Was tat denn der Herzog hier? Warum um alles in der Welt war er nicht auf der Jagd?

»Treu?« Diese zweite Stimme jagte mir einen Schauder über den Körper. In ihr lag nicht ein Funken Leben. Eine Grabeskälte ging von ihr aus, vermischt mit bösartigem Spott. »Und warum verfolgt der König dann immer noch seinen Plan mit dem Horn?«

»Wegen seiner verfluchten Garde und Alistan Markhouse! Die bewachen den König rund um die Uhr! Der Hauptmann der Garde ahnt etwas! Er lässt mich einfach nicht unter vier Augen mit dem König sprechen!« Angst schwang in der Stimme des Herzogs mit.

»Mein Herr ist nicht daran gewöhnt, dass seine Befehle nicht befolgt werden.« Wieder diese kalte, tote Stimme.

»Und ich bin nicht daran gewöhnt, dass man mir vorenthält, was man mir schon lange versprach!« Der Mann schrie jetzt fast.

»Gut, dann sollst du deinen Lohn bekommen«, entgegnete die tote Stimme nach kurzem Zögern, als müsse sie erst einem Befehl lauschen, der nur ihr vernehmbar war.

»Halt! Halt! Ich wollte doch nur … aaaahhh!«

Hinter der Tür ließ sich ein widerliches Schmatzen vernehmen.

Ich hatte das Gefühl, jemand stoße mich von hinten. Gewiss, klüger wäre es abzuwarten, bis der Unbekannte fort war – doch das hielt ich nicht aus. Mit der Armbrust im Anschlag stürmte ich ins Schlafgemach.

Das schwache Feuer im Kamin flackerte, die zuckende Flamme reichte nicht aus, den riesigen Raum zu erhellen, sondern warf nur in einzelne Winkel Licht. Auf den Herzog Pathy zum Beispiel, der mit panisch verzerrtem Gesicht und aufgeschlitzter Kehle in dem hohen roten Sessel saß. Aus der Wunde sprudelte Blut.

Im offenen Fenster bemerkte ich die geflügelte dunkle Silhouette des nächtlichen Besuchers. Kurz fing ich den Blick aus den gelben Augen auf, die mich mit kaltem Spott und der Überheblichkeit des Todes selbst ansahen, dann drückte mein Finger den Abzug. Die Sehne flirrte, der Bolzen traf die Kreatur in den Rücken, als sie sich aus dem Fenster stürzte und schon die Flügel spannte. Ein dumpfes Geräusch, als treffe der Stahl der Zwerge nicht auf lebendiges Fleisch, sondern auf einen verfaulten Baumstamm. Die Kreatur verschwand lautlos in der Nacht. Der Bolzen in ihrem Rücken machte ihr nicht das Geringste aus.

Nun aber schnell! Für den Herzog kam jede Hilfe zu spät. Doch wenn man mich neben dem Toten fände, würde man mir ein Verbrechen gegen die Krone anhängen und mich zu endlosen Gesprächen in den Folterkammern der Grauen Steine bitten. Ich schnappte mir die kleine goldene Hundestatue vom Tisch, deretwegen ich überhaupt hergekommen war, und rannte zur Tür zurück.

Am anderen Ende des Gangs tauchte erneut der Garrinch auf. Wir erblickten einander im gleichen Augenblick. Das Untier heulte fröhlich los und eilte mit riesigen Sprüngen auf sein frisch serviertes Abendbrot zu. Ohne zu zögern warf ich mir die Armbrust über die Schulter, kramte in meinem Beutel und zog ein Fläschchen mit einer blau phosphoreszierenden Flüssigkeit heraus. In unserem Metier hängt alles davon ab, einen kühlen Kopf zu bewahren. Als der Garrinch bis auf wenige Schritt heran war, schleuderte ich ihm die Flasche direkt in das aufgerissene Maul.

Das Glas barst, den Körper des Untiers hüllte sogleich eine blaue Wolke ein. Der Garrinch blieb stehen, nieste und begann, mich völlig vergessend, energisch mit den Pfoten in seiner Visage herumzureiben. Ich rannte an ihm vorbei auf den Ausgang zu, wobei ich diesem ekelhaften Monster wünschte, es möge die nächsten zwei-, dreihundert Jahre unter der zaubergewirkten Krätze leiden.

Morgen würde die ganze Stadt in Aufruhr sein. Ich freilich konnte auf jede Art von Aufmerksamkeit verzichten. Am besten wäre es daher, ich striche das Geld für die Statue ein und verschwände für ein paar Monate von der Bildfläche.

Der Kontrakt war erfüllt, ich befand mich auf dem Weg zu meinem Unterschlupf und konnte nur zu Sagoth beten, dass mir unterwegs niemand begegnete.

Kapitel 2

Überraschende Begegnungen

Die Abenddämmerung brach über das belebte Awendum herein und veranlasste die Städter, sich zu sputen. Menschen und Nicht-Menschen hasteten durch die Straßen. In den engen Vierteln und verwinkelten Straßen des Hafenviertels nutzten die Einwohner die letzten Stunden der Freiheit, bevor die Nacht sie in ihre Häuser trieb.

Frauen rannten geschäftig hin und her, die Körbe mit unverkaufter Ware fest an sich gepresst, junge und sturzbesoffene Adlige jagten grölend, pfeifend und Schmutz aufspritzend auf ihren Pferden dahin, dass sich die übrigen Passanten gegen die Mauern drücken mussten und den Reitern wütend mit der Faust hinterherdrohten. Ein dicker Händler verpasste seinem Lehrling eine Schelle, auf dass er die Läden schloss und nicht die Stadtwache angaffte, die über das unebene Steinpflaster marschierte.

Einer der Männer aus der Stadtwache warf mir unter seinem Helm einen finsteren Blick zu. Ich spendierte ihm ein freundliches Lächeln, mit dem ich ausdrückte: Sieh nur, was für ein ausgesprochen höflicher und friedlicher Mensch ich bin! Der Soldat brummelte etwas Unverschämtes in meine Richtung, fasste die Hellebarde fester und ging weiter. Ich grinste. Die für das Hafenviertel verantwortliche Wache gab sich gern blind, selbst bei einem Mann, unter dessen Umhang sich die Umrisse einer Armbrust abzeichneten, die innerhalb der Stadtmauern zu tragen einem gewöhnlichen Bürger genau genommen strikt verboten war. Wäre ich der Wache der Inneren Stadt in die Arme gelaufen, ich wäre mit einem Grinsen nicht davongekommen. Mindestens zwei Goldmünzen hätte es mich gekostet, damit die Hüter von Gesetz und Ordnung mein Gesicht bis zur nächsten Begegnung vergaßen.

Ich spreche die ganze Zeit von Innerer Stadt und Hafenviertel, obwohl doch nur die Bewohner Awendums mit all diesen Bezeichnungen etwas anzufangen wissen. Unsere Hauptstadt breitet ihre Straßen gleich Fangarmen über mehrere Leagues hinweg aus. Ein Fremder muss sich zwangsläufig darin verirren. Entstanden ist Awendum am Ufer des Kalten Meeres, im Norden Sialas. Für einen fliegenden Drachen stellt sich die Stadt als ein gewaltiges Dreieck dar. Die Grundfläche liegt an besagtem bleigrauen Kalten Meer, die beiden anderen Seiten werden von hohen finsteren Mauern gebildet, in die in regelmäßigem Abstand gewaltige Wachttürme eingelassen sind. Acht Tore führen in die Stadt, jeweils vier auf beiden Seiten. Die dritte Seite ist durch das Meer und eine beeindruckende Burg gegen den Feind geschützt, in der die ewigen Feinde der Zwerge, die Gnome, Kanonen aufgestellt haben. Die Gnome mögen das Meer zwar nicht sonderlich, doch die Liebe zum Gold überwiegt selbst die Abneigung gegen das Salzwasser. Seitdem uns die Burg gegen Feinde vom Meer schützt, haben sich die Miranuächer nicht mehr getraut, ihre Nussschalen in das Feuer von zehn Kanonen zu schicken.

Bei den drei Sturmangriffen, die man in den letzten dreihundert Jahren auf die Hauptstadt unternommen hat, ist angeblich nicht ein Tor gefallen. Niemand vermag jedoch zu sagen, was geschieht, wenn sich in den Öden Landen die Armee des Unaussprechlichen erhebt und mit ihren Ogern und Riesen gegen unsere Hauptstadt zieht. Das Herzogtum des Krebses dürfte unseren Feinden in diesem Fall wohl zu Hilfe kommen. Doch was soll ich mir darüber den Kopf zerbrechen? Wir werden früh genug sehen, was passiert. Ein paar besonders hitzköpfige und verdrehte Burschen wetten allerdings schon heute, wie viele Tore die Schneeoger und Riesen aus der Tundra überrennen werden.

Auf der äußeren Seite schmiegt sich die Vorstadt an die Mauern. Hunderte winziger Häuser aus Holz und Stein, in die sich all diejenigen zwängen, für die in der Stadt kein Platz war oder die einfach nicht das Geld haben, dort zu leben. Auf der anderen Seite liegen unmittelbar hinter den Mauern die Häuser der Bürger mit mittlerem Geldbeutel, sie bilden die sogenannte Äußere Stadt. An diese schließt die Innere Stadt an, die von einer zusätzlichen Mauer umschlossen wird. Ein paar Mal musste ich schon darüberklettern, wenn eine übereifrige Patrouille es sich in den Kopf gesetzt hatte, die Schnelligkeit des alten Garrett auf die Probe zu stellen. In der Inneren Stadt leben ausschließlich Aristokraten, hohe Tiere und Magier. Ein beutereiches, wenn auch nicht ganz ungefährliches Pflaster für einen Dieb. In der Inneren Stadt liegt auch der Palast des Königs. Von der Meeresseite her bohren sich das Viertel der Handwerker und jenes der Magier in die Innere Stadt. Schmieden, Gerbereien, Bäckereien, magische Läden, Bibliotheken, Tempel verschiedener Götter und dergleichen mehr. Unmittelbar am Ufer liegt das Hafenviertel mit dem Hafen, den Schiffe aus aller Herren Länder anlaufen. In diesem Teil Awendums gibt es Straßen, die man ohne Kettenhemd und zuverlässigen Schutz besser nicht durchquert. Schon gar nicht nachts.

Das ist natürlich nur ein Ausschnitt, ein Tropfen Wein in einem Meer aus Schmutz, denn in unserer Hauptstadt gibt es noch hundert weitere Viertel und Orte. An manchen leben nur Magier, an anderen ausschließlich Zwerge, die sich nicht mit den Menschen überworfen haben, nachdem wir mit den Gnomen paktierten. Und dann ist da noch das Geschlossene Viertel, das von einer hohen magischen Mauer umgeben ist. Niemand weiß, was in ihm vor sich geht.

Das Geschlossene Viertel grenzt ans Hafenviertel an. Es ist die Folge eines Fluchs, der vor rund dreihundert Jahren verhangen wurde und gegen den kein einziger der Erzmagier des Königreichs etwas auszurichten vermochte. Nachdem die Magier eingesehen hatten, dass weder ihre vielgerühmten Feuerkugeln noch sonstiges Blendwerk gegen den schwarzen Schamanenzauber wirkten, rangen sie sich dazu durch, diesen verfluchten Teil mit einer magischen Mauer gegen den Rest der Stadt abzuschirmen. Immer wieder hört man Gerüchte, im Geschlossenen Viertel trieben sich Untote und andere schreckliche Kreaturen herum, doch niemals fand sich jemand, der Manns genug gewesen wäre, diesen Geschichten auf den Grund zu gehen. Zumindest hatte ich nie von jemandem gehört.

Doch genug damit! Wenn ich erst einmal anfing, die Sehenswürdigkeiten meiner geliebten Stadt aufzuzählen, würde ich bis zum Einbruch der Nacht nicht damit fertig werden.

Aus einer schmalen Seitenstraße tauchten zwei Schatten auf und kamen auf mich zu. In der Hand des einen funkelte Metall. Das kleine Diebsgesindel wurde immer frecher, jetzt ging es schon in der Dämmerung auf Beutezug. Ich blieb stehen und drehte mich ihnen zu. Die Schatten stockten, der ohne Waffe trat schließlich ins Licht und breitete schuldbewusst die Arme aus. »Tut uns leid, Garrett«, sagte mir dieser Strich in der Landschaft, den ich flüchtig aus dem Messer und Beil kannte. »Wir haben dich nicht erkannt.«

»Sehe ich vielleicht wie ein reicher Kerl aus?!«, erwiderte ich möglichst finster und lüftete meinen Umhang. Natürlich mit theatralischer Geste, damit er meine Armbrust auch sah. Der verhinderte Räuber schluckte nervös, entschuldigte sich abermals und verschwand mit seinem Kompagnon in einem Tordurchgang, um dort nach leichterer Beute zu suchen.

Mir mühsam ein Grinsen verkneifend, setzte ich meinen Weg durchs Hafenviertel fort. Ein guter Ruf ist doch eine schöne Sache. Wer auch immer in Awendum mit dem Gesetz nicht gerade auf gutem Fuß stand, kannte Garrett den Schatten oder hatte zumindest schon von ihm gehört. Nachdem ich einigen allzu hitzigen Liebhabern fremder Geldsäckel in die Beine geschossen hatte, traute man sich nicht mehr, mich zu überfallen. Trotzdem konnte ich natürlich nie ausschließen, dass sich eines Tages ein unerschrockener Held finden würde, der sich einen Namen machen wollte, indem er mich ausraubte. Deshalb war ich stets auf der Hut.

Vor einem alten, absolut unauffälligen Haus blieb ich stehen. Von solchen Gebäuden gab es im Hafenviertel mehr als genug. Das Einzige, wodurch es sich von anderen unterschied, war sein Schild. Messer und Beil. Obendrein schmückten noch ein Messer und ein Beil, beides aus Blech und von enormer Größe, die Fassade. Selbst ein kreuzdämlicher Doralisser musste verstehen, was für eine Klientel in dieser Schenke verkehrte. Ich stieß die hölzerne Tür auf und tauchte in das Gelärm der Menschen ein.

Die Schenke, in der die Gauner und Diebe der Hauptstadt Obdach fanden, hatte im Gegensatz zu anderen Wirtschaften die ganze Nacht geöffnet. Der Schankwirt, der alte Gosmo, wusste genau, wie man sich ein hübsches Sümmchen verdiente.

Ich nickte den beiden Rausschmeißern zu, die mit Knüppeln im Arm neben dem Ausgang standen, und ging, mich unauffällig zwischen den Tischen hindurchschlängelnd, zur Theke. Einige Gestalten blickten mich finster an. Hinter mir setzte ein Geraune ein. Diese Burschen kannten mich bereits von Angesicht zu Angesicht. Eine Gefahr stellten sie nicht dar. Entweder neideten sie mir meinen Glücksstern oder sie trugen mir jene Fälle nach, in denen ich ihnen hatte in die Quere kommen müssen. Sollten sie doch ruhig grummeln! Mehr als ein bisschen Geflüster hinterm Rücken war von ihnen nicht zu befürchten.

Nachdem ich mich endlich zum Tresen vorgekämpft hatte, nickte ich Gosmo zu. Er bediente höchstpersönlich. Ein buckliger alter Dieb, der früher gern des Nachts durch die Häuser der reichen Einwohner Awendums gezogen war, dann aber, nachdem er sich ausgetobt hatte, diese Schenke aufgemacht hatte, in der alle, die nicht gerade ein rechtschaffenes Leben führten, sich sorglos zusammenfinden konnten. Auch die Jungs aus meinem Gewerbe spannten hier aus, suchten neue Arbeit, Käufer und Auftraggeber. Dabei trat der pfiffige Gosmo oft genug als Vermittler zwischen Dieb und Auftraggeber in Erscheinung, was ihm ein ordentliches Zubrot einbrachte.

»Ah, Garrett«, begrüßte er mich herzlich. »Dich habe ich aber lange nicht gesehen! Mindestens hundert Jahre hast du mich alten Mann nicht besucht!«

»Ich hatte zu tun«, erwiderte ich, während ich ihm das Bündel mit der Statuette in die Hand drückte.

Gosmo war ein hervorragender Vermittler, dem ich meinen letzten Kontrakt, den Ausflug in den Palast des inzwischen toten Kronherzogs Pathy, verdankte. Der Schankwirt ließ das Bündel verschwinden und drückte mir ebenso unauffällig ein Säckchen mit den versprochenen zwanzig Goldmünzen in die Hand. Die Ware wanderte an einen der Boten der Schenke weiter, der sie in einem schmutzigen Leinenbeutel verstaute, um damit das Messer und Beil in Richtung seines Auftraggebers zu verlassen.

Ich zählte von den zwanzig Münzen fünf ab.

»Dafür bist du mir ans Herz gewachsen, mein Junge, dass du immer pünktlich deine Schulden bezahlst«, bemerkte der Alte fröhlich. Ich verzog das Gesicht.

Sicher, ich stahl fremdes Gut – aber den Vermittler musste ich mit meinem eigenen Geld bezahlen, das ich aus dem Verkauf ebenjener Sachen erhielt. Nicht, dass ich ein Geizhals gewesen wäre … Gut, es war nicht schön, statt mit zwanzig Goldmünzen nur mit fünfzehn dazustehen. Aber ich schuldete dem alten Gauner noch etwas, sodass er die Summe völlig zu Recht einstrich.

»Hast du schon gehört, dass Mylord Pathy vor zwei Tagen aus heiterem Himmel gestorben ist?«, fragte Gosmo beiläufig, während er die Bierkrüge polierte. Mein missmutiges Gesicht schien er nicht bemerkt zu haben.

»Ach ja?« Ich drückte aufrichtige Verblüffung angesichts des so plötzlich gestorbenen Herzogs aus, um dessen unverwüstliche Gesundheit ihn sämtliche Bauern Vagliostriens und des Hinterlandes beneideten.

Gosmo täuschte ich damit natürlich nicht. Dennoch polierte er die Bierkrüge weiter, als sei nichts geschehen.

»Wirklich wahr. Am Morgen wurde er mit aufgeschlitzter Kehle gefunden. Und der Garrinch, der seinen Reichtum bewachen sollte, war ganz mit seiner Räude beschäftigt und hat auf keinen Menschen geachtet.«

»Tatsächlich?«, staunte ich erneut. »Wer hätte je einen Garrinch im Palast des Kronherzogs vermutet? Ich für meinen Teil habe davon noch nie gehört.«

Der Schankwirt überging einfach meinen Tadel. Das musste der Neid ihm lassen: Manchmal konnte er sich absolut taub stellen.

»Für dich das Übliche?«, wollte er wissen.

»Hmm. Ist mein Tisch frei?«

Gosmo nickte, und ich zog mich – an lauthals streitenden betrunkenen Hochstaplern und einer auf der Bühne singenden halbnackten Dirne vorbeigehend – in den schummrigen hinteren Teil des Raums zurück, an einen einsamen Tisch. Ich setzte mich mit dem Rücken zur Wand und dem Gesicht zum Eingang, eine alte Gewohnheit, über Jahre hinweg angeeignet. Wie von Zauberhand erschienen unverzüglich ein Krug Porter und ein Teller mit in Käse gebackenem Fleisch vor mir. Man konnte von Gosmo sagen, was man wollte, aber seinem Koch kam zuweilen eine Erleuchtung, und dann kochte er nicht schlechter als die Jungs beim Baron oder beim Herzog. Die ganze Herrlichkeit servierte eine Augenweide von Kellnerin, die mir fröhlich zuzwinkerte, dann aber, sobald sie meine ewig finstere Miene sah, schnaubte und hüftschwingend in die Küche abzog, während sie begeisterte Blicke von den Nachbartischen einheimste.

Ihre unbestreitbare Pracht ließ mich kalt, da ich ja abtauchen musste. In der Stadt würde bald die Hölle los sein.

Ein Bauer konnte von fünfzehn Goldmünzen fast ein ganzes Jahr lang unbekümmert leben, für mich stellte diese Summe jedoch keinen großen Reichtum dar. Und von meiner Arbeit ließ ich in den nächsten zwei Monaten besser die Finger. Nach dem Tod des Herzogs dürfte in ganz Awendum eine Hetzjagd auf jeden einzelnen Dieb losbrechen, bei der es möglich war, dass man mich gleich mit einkassierte – selbst wenn ich das den Untergebenen Frago Lontons nicht unbedingt zutraute. Überhaupt hegte ich nicht gerade die beste Meinung von der Stadtwache.

Ich hatte noch nicht an meinem Bier genippt, als sich eine hagere bleiche Gestalt vor mir aufbaute. Ohne viel Federlesens nahm der Kerl auf dem freien Stuhl mir gegenüber Platz. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen.

»Kann mich nicht erinnern, jemanden eingeladen zu haben«, bemerkte ich so gleichgültig wie möglich.

Diese Erscheinung missfiel mir auf Anhieb. Die bleiche Hautfarbe und der magere Körperbau legten den Gedanken nahe, mir säße ein Vampir gegenüber, aber das war natürlich Unsinn. Vampire gibt es nicht. Dieser ungebetene Gast war ein Mensch. Ein gefährlicher Mensch. Klar bemessene Gesten, keine einzige überflüssige Bewegung, Augen, die mich kalt, durchdringend und abschätzend musterten. Nein, mein Gegenüber war nicht nur gefährlich – er war hochgefährlich. Ich wollte schon nach meiner Armbrust greifen, überlegte es mir dann aber. Man kann es auch übertreiben. Vielleicht wollte er ja nur über das Wetter reden. Dem ungebetenen Gast war meine vorübergehende Anspannung nicht entgangen. Er setzte ein schiefes Grinsen auf. »Bist du Garrett?«, fragte er.

»Kann sein.« Ich zuckte die Achseln und trank von meinem Bier.

»Man hat mich gebeten, dir etwas …«

»Zu geben? Geld?«, tat ich ehrlich verwundert.

»Natürlich nicht.« Der Bleichling ließ sich nicht beirren. »Ich soll dir etwas von Markun ausrichten. Er ist unzufrieden.«

»Seit wann überbringt ein gedungener Mörder Botschaften vom Kopf der Diebesgilde?«, fragte ich scharf. »Oder macht die Mördergilde mittlerweile gemeinsame Sache mit der Diebesgilde?«

»Das braucht dich nicht zu interessieren, Garrett.« Es brachte Bleichling in keiner Weise aus der Ruhe, dass ich wusste, womit er sein Geld verdiente. »Markun fordert dich zum letzten Mal auf, der Gilde beizutreten und deine Beiträge zu entrichten.«

Ach ja, die Gilden! Der König war auf dem linken Auge blind, wenn es um die der Diebe ging, auf dem rechten, wenn es um die der Mörder ging. Zumindest noch. Die Machthaber belangten diese zweifelhaften Organisationen nicht, solange sie nicht allzu frech wurden und ihre Steuern zahlten. Und das musste man ihnen lassen: In die Staatskasse flossen von beiden Gilden horrende Summen. Unvorstellbare Summen. Fast die Hälfte der Einnahmen der Diebe und Mörder. Ebendeshalb gehörte ich auch keiner Gilde an. Warum sollte ich jemandem mein mit fast ehrlicher Arbeit erworbenes Geld in den Rachen werfen? Im benachbarten Issylien hatte man die Gilden übrigens verboten. Dort floss auch so schon genug Gold in die Staatskasse: von den Gnomen aus den Stählernen Schächten.

»So leid es mir tut, aber ich muss ihn enttäuschen.« Ich setzte ein ausgesprochen verschlagenes Grinsen auf.

Garrett der Schatten, der Meisterdieb, von dem in Awendum die Legenden berichteten, er sei der Stadtwache nicht ein einziges Mal in die Hände gefallen, wollte nicht in eine Gilde eintreten.

»Ich bin ein freier Jäger und schulde Markun nichts. Er hat ohnehin längst genug Diebe unter seiner Kontrolle. Und ich habe nicht die Absicht, nach der Pfeife eines kleinen Taschendiebs zu tanzen.«

»Gut.« Bleichling brachte meine Ablehnung nicht im Geringsten aus der Fassung. Nach wie vor maß er mich mit kaltem Blick. »Ist das dein letztes Wort?«

Mit einem Nicken bedeutete ich ihm, dass dem so sei. Daraufhin erhaschte mein Ohr trotz des Lärms in der Schenke ein leises Knacken. Erneut betrachtete ich den Mörder. Seine Hände waren unterm Tisch verschwunden – ohne dass ich es bemerkt hätte. Ein neuerlicher Beweis für die hohe Professionalität Bleichlings.

Schön. Der alte Geizkragen Markun war nicht länger zu Scherzen aufgelegt und hatte einen der besten Mörder gedungen. Und Bleichling musste schon allein deshalb der beste sein, weil ich ihn nie zuvor gesehen oder von ihm gehört hatte.

Ich entspannte mich und versuchte, jede abrupte Bewegung zu vermeiden. Ich ging lieber kein Risiko ein, vor allem weil ich nicht wusste, was genau Bleichling unter dem Tisch verbarg. Eine Armbrust, wie auch ich sie besaß? Oder etwas noch Perfideres?

»Verzeih mir, Garrett«, sagte Bleichling, obwohl ich kaum annahm, dass dieser Kerl tatsächlich unter einem Gewissen litt. »Nimm es nicht persönlich, das ist meine Arbeit, das musst du verstehen.«

»Du wärst dumm, wenn du mich aus Gosmos Schenke geradewegs zu Sagoth befördertest.«

»Wie kommst du denn darauf? Du wirst nur mit einem Mal stockbetrunken sein, und ich, dein bester Freund, werde dir helfen, diese Wirtschaft zu verlassen. Wir werden ein wenig an der frischen Luft spazieren gehen.«

Also ein Schlafmittel. Diesmal saß ich wirklich in der Tinte!

Das Schicksal spielte jedoch Würfel – und war dem Dieb hold. Mit einem Mal senkte sich im ganzen Messer und Beil Grabesstille herab. Die Sängerin verstummte, das betrunkene Gelächter verebbte, die lauten Streitereien erstarben. Ich linste zur Tür, und meine Augen dürften vor Verblüffung wohl eine genauso rechteckige Form angenommen haben wie diese, denn Bleichling tat etwas, was ein Berufsmörder nie tun darf. Er linste über die Schulter, um zu sehen, was in seinem Rücken vor sich ging.

Vor dem Eingang drängten sich rund zwanzig Mann der Stadtwache. Sie hielten sich bereit, ihre Hellebarden einzusetzen, sollte einer der Gäste ein Messer zücken. Das waren jetzt nicht die Nichtsnutze aus dem Hafenviertel, das war die Wache der Inneren Stadt. Gut genährte und gepflegte Kerle. Mit denen war nicht gut Kirschen essen. Sogar die Rausschmeißer, deren Frau Mama sich vermutlich einem Troll hingegeben hatte, wichen zur Seite, um die ungebetenen Gäste ins Allerheiligste der Diebeswelt einzulassen. Etwas Außerordentliches musste geschehen sein, wenn die Stadtwache hereinschaute, der Gosmo doch regelmäßig einen Teil der Einnahmen abtrat, damit sie seine Schenke samt der Gäste übersah. Vor diesem Haufen in orangenen und schwarzen Farben hatte sich niemand anders als der Befehlshaber der Stadtwache, Baron Frago Lonton höchstselbst, aufgebaut. Sein kurzsichtiger Blick tastete den schweigenden Saal ab, eilte über die Tische, suchte jemanden, tauchte in das Halbdunkel, in dem Bleichling und ich saßen, huschte dann weiter, erstarrte, kehrte zu unserem Tisch zurück und hakte sich an mir fest. Der Baron nickte vor sich hin und kam auf mich zu.

»Wein!«, verlangte er, als er an dem erblassten Gosmo vorbeistolzierte, der daraufhin endlich von den längst sauberen Krügen abließ.

»Kommt sofort, Euer Gnaden. Und nur vom Feinsten«, säuselte der Schankwirt, der sich ein wenig von seiner Erschütterung, dass ein solcher Mann seine bescheidene Schenke beehrte, erholt hatte und sogleich die Kellnerinnen anfuhr. Schleunigst setzten sich diese in Bewegung. Obwohl der Lärm wieder anhob, lasteten Spannung und Argwohn auf dem Raum. Die Sängerin sang mit zittriger Stimme, immer wieder zum Baron hinüberschielend. Dutzende von Augen folgten dem kleingewachsenen Mann, der auf meinen Tisch zusteuerte und jederzeit alle, die nicht nach dem Gesetz leben wollten, in die Grauen Steine stecken konnte, das kärgste und schrecklichste Gefängnis aller Königreiche im Norden.

»Freu dich bloß nicht zu früh«, zischte Bleichling, der unauffällig etwas unter seinem Umhang verschwinden ließ, »die Zeit, da ich mich ausführlich mit dir unterhalten werde, kommt schon noch.«

»Du bist nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Sadist, wenn du mir mit einem ausführlichen Gespräch drohst. Pass auf, dass du dich nicht piekst«, höhnte ich, doch Bleichling war schon verschwunden, hatte sich im Halbdunkel aufgelöst.

Ich atmete leise aus und wischte mir die schweißnassen Hände ab.

»Garrett?«, fragte der Baron, als er vor mir stand.

Ich sah den kleinen, drahtigen Mann im Orange und Schwarz der Stadtwache von Awendum an. Sicher, sein Wams war weitaus kostbarer als das eines einfachen Soldaten, für das Stück war ordentlich Samt verarbeitet worden. Und für die fein gearbeitete, zweischneidige Klinge aus Filand hätte man gut und gern eine Schenke aufkaufen können, die dem Messer und Beil in nichts nachstand.

Da Leugnen ohnehin nichts geholfen hätte, deutete ich auf den Stuhl, auf dem eben noch Bleichling gesessen hatte. Den Namen des Mörders wusste ich übrigens noch immer nicht. »Wenn Euer Gnaden Platz nehmen wollen.«

Der Baron zog sich den Stuhl hin und setzte sich. Gosmo sprang höchstpersönlich herbei und brachte eine Flasche seines besten Weins, Pokale und etwas zu essen. Mylord wartete schweigend ab, bis alles auf dem Tisch stand, um den Wirt dann anzublaffen: »Und jetzt verzieh dich! Sobald du dich hier blicken lässt, kriegst du es mit mir zu tun!«

Gosmo zog mit Verbeugungen und tiefsten Ehrbezeugungen von dannen, wobei er beinahe gegen einen Stuhl gestoßen wäre.

Frago schenkte sich wortlos vom Rotwein ein, der weit im Süden gekeltert worden war, dort, wo der Kamm der Welt auf die Steppen Ungawas trifft, und stürzte den Rebensaft in einem Zug hinunter. Anschließend räusperte er sich zufrieden und machte sich daran, mein Gesicht zu studieren. Ich blieb ihm nichts schuldig und besah mir meinen überraschend aufgetauchten Retter ebenfalls.

Ein paar Mal hatten der Baron und ich schon das Vergnügen gehabt. Nicht persönlich, Sagoth sei Dank. Es war jedoch zu einem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Interessen gekommen. Ich hatte mir nämlich aus seinem Haus einen Ring »entliehen«. Danach hatte der Baron versucht, mich zu schnappen und in die Grauen Steine zu verfrachten, mich aber nicht zu fassen gekriegt. Er hatte sich sogar veranlasst gesehen, eine Belohnung auf meinen Kopf auszusetzen, weshalb ich, um dieser zweifelhaften Ehre zu entgehen, in einer besonders dunklen Nacht diese Belohnung aus seinem Palast hatte stehlen müssen. Wie heißt es doch so schön: Kein Geld, keine Belohnung – und wesentlich weniger Sorgen.

Trotzdem brachte ich diesem Mann, meinem erklärten Feind, uneingeschränkten Respekt entgegen. Sagoth soll mich strafen, wenn ich lüge.

Der Baron war ehrlich. Ehrlich zumindest im Rahmen seiner Kräfte und Möglichkeiten. Natürlich ließ er sich bestechen – aber wer in unserer käuflichen Welt täte das nicht? Doch wenn man den Baron bezahlte, durfte man gewiss sein, dass nun alles den gewünschten Gang nahm. Man würde weder verraten noch verhaftet werden. Lonton war ein Mann von Ehre. Er schlug nie aus dem Hinterhalt zu und demütigte seine Untergebenen nicht, auch wenn er sie fest an die Kandare nahm. Der Baron war dem König treu ergeben, seinen Posten hatte er sich nicht erkauft oder verwandtschaftlichen Beziehungen zu verdanken, sondern verdient. Ehrlich verdient, von der Pike auf, als Soldat der Stadtwache. Titel und Amt waren ihm bald verliehen worden, für Verdienste gegenüber der Krone. Awendum konnte von Glück sagen, dass dieser Mann zum Hauptmann der Wache bestellt wurde. Obwohl für uns Diebe damit eine Zeit anbrach, die wahrlich kein Zuckerschlecken war. Die Zahl der Verbrechen ging natürlich nicht zurück, aber alle Ganoven hielten nun erst nach der Stadtwache Ausschau, bevor sie ihr Werk verrichteten. Eine Kleinigkeit, gewiss, aber ein Sieg im Kampf gegen das Verbrechen.

»Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mich freue, deine Bekanntschaft zu machen«, teilte mir der Baron mit, die buschigen Augenbrauen beinahe zu einem einzigen Strich zusammengezogen. »Wenn es nach mir ginge, würdest du auf direktem Weg in den Grauen Steinen landen.«

Obwohl mir eine passende Erwiderung auf der Zunge lag, sparte ich mir jeden Kommentar. Zumindest den heutigen Abend wollte ich nicht im Gefängnis verbringen.

»Komm jetzt, Garrett!«

»Und wohin, Euer Gnaden?« Dieser Mann brachte es doch tatsächlich fertig, mich zu erstaunen.

»Ein … Mann wünscht dich zu sprechen.« Er mied meinen Blick. »Ich soll dich zu ihm bringen.«

»Ach ja? Aber das ist nicht zufällig der Henker?«, giftete ich.

»Steh auf! Und spar dir deine Albernheiten!« Mylord Frago blickte noch finsterer drein. »Im Übrigen empfehle ich dir, freiwillig mitzukommen.«

Unwillkürlich huschte mein Blick zu den Soldaten an der Tür. Mit denen würde ich nicht fertig werden. Es waren zu viele. Und am Hinterausgang dürften es auch nicht weniger sein.

»Alle Ausgänge sind gesichert.« Der Baron schien meine Gedanken gelesen zu haben. »Du entkommst mir nicht. Es sei denn, du wärst ein Vampir, der sich in Nebel verwandeln kann, und verflüchtigst dich durch irgendeinen Spalt.«

»Ein Vampir kann sich nicht in Nebel verwandeln, denn Vampire gibt es überhaupt nicht. Das sind Märchen von alten Weibern«, machte ich den Baron mit ein paar schlichten Wahrheiten bekannt.

Um mir gleich darauf auf die Zunge zu beißen.

»Kommst du jetzt endlich?« Frago riss der Geduldsfaden. »Es tagt bald, nachts schlafe ich normalerweise und liefere nicht irgendwelche Diebe bei …«

Baron Lonton verstummte abrupt, als ihm klar wurde, dass er sich beinah verplappert hätte.

Schweigend schob ich den Stuhl nach hinten, stand auf und hüllte mich in meinen Umhang.

»Sehr schön«, sagte der Hauptmann der Stadtwache leise, nahm die Flasche des ihm verehrten teuren Weins in die linke Hand und ging zur Tür. Als ich ihm folgte, spürte ich, wie sich mir die Blicke aller Gäste in den Rücken bohrten.

Kapitel 3

Der Kontrakt

Neben der Schenke wartete im sahnedicken Nebel eine große, teure Kutsche, vor die vier aschgraue Doralissaner gespannt waren. Die Pferde lugten die umstehenden Soldaten aus großen, samtenen Augen an und schnaubten nervös. Nicht nur wir Menschen wollten diese Sommernacht lieber hinter sicheren Mauern geschützt zubringen. Die Fenster der Kutsche waren mit dicken Brettern vernagelt.

»Sollen die verhindern, dass ich fliehe?«, knurrte ich, während ich einstieg und auf der weichen, mit rotem Samt bezogenen Sitzbank Platz nahm.

Eine teure Kutsche. Nicht jeder vermochte sich einen solchen Wagen zu leisten. Und auch die vier Doralissaner dürften eine hübsche Stange Geld gekostet haben.

»Das ist, damit dich in der Dunkelheit nicht jemand aus dem Fenster zieht. Jemand, der sehr hungrig ist«, erklärte Frago, der sich mir gegenüber hingesetzt hatte.

Während die Kutsche durch die nächtlichen Straßen polterte, hüpfte ich bei jeder Unebenheit des Pflasters auf der Bank. Der Baron sagte kein Wort, warf mir nur hin und wieder finstere Blick zu, sodass mir nichts anderes zu tun blieb, als auf das Hufgeklapper der Pferde zu lauschen, auf denen die Soldaten ritten, die uns eskortierten. Wohin bringen die mich?, überlegte ich.

Ob das eine Falle ist? Aber wozu dann diese Umstände? Der Baron hätte mich doch auch einfach festnehmen und in seine geliebten Grauen Steine schicken können. Obendrein war ich selbst an dem Dilemma schuld, denn ich hatte es in den letzten zwei Tagen an Wachsamkeit mangeln lassen. Von der Stadtwache hatte ich nie viel gehalten. Trotzdem hatte sie mich verdammt rasch aufgespürt! Ob ihr jemand in seiner grenzenlosen Güte einen Wink gegeben hatte?

Wer wollte mich denn so unbedingt sehen? Es musste ein Mann mit ungeheurem Einfluss sein, wenn sich Frago Lonton höchstselbst zu meiner bescheidenen Person hinbequemt hatte. Was dieser Unbekannte wohl von mir wollte? Musste ich für etwas zahlen, das ich mir einmal bei ihm »ausgeliehen« hatte? Egal – Hauptsache, es war kein Magier! Ich wollte doch nicht den Rest meines Lebens als Kröte oder Doralisser fristen. Leise kicherte ich vor mich hin, was mir einen weiteren finsteren Blick des Barons eintrug. Was war wohl besser? Der Körper einer Kröte oder der eines Ziegenmenschen? Vermutlich würde ich eher die Kröte wählen, die Doralisser hatten es in Awendum schließlich noch schwerer als Kröten. Lieber ein kleiner grüner Quäker als ein großer dämlicher Bock. Pass nur auf, Garrett, dass dir das Lachen nicht im Halse stecken bleibt. Denn diesmal sitzt du wirklich in der Tinte. Aber warum so schnell aufgeben? Die Armbrust und das Messer hatten sie mir immerhin gelassen. Bedauerlich war nur, dass ich meine magischen Utensilien nicht dabeihatte. Egal! Noch war nicht aller Tage Abend.

Der Kutscher hielt den Wagen jäh an, ein paar übereifrige Soldaten rissen den Schlag auf. Die kalte Juninacht schlug mir ins Gesicht. Selbst im Sommer war es in Awendum recht kühl – die Nähe zu den Öden Landen machte sich bemerkbar –, erst im August breitete sich in der Stadt sengende Hitze aus, die sich jedoch nur wenige Wochen zu halten vermochte, bis der Wind vom Kalten Meer wieder Regen herantrug. Vagliostrien ist das nördlichste Königreich Sialas, entsprechend schlecht ist es ums Wetter bestellt.

Neben dem Türschlag standen zwei Soldaten mit Fackeln in der Hand, der Rest saß nach wie vor auf den Pferden und behielt die verlassene Straße im Auge.

»Raus mit dir, Dieb.« Einer der beiden Soldaten verströmte einen strengen Knoblauchgeruch. Unwillkürlich verzog ich das Gesicht.

»Und jetzt? Machen wir jetzt einen kleinen Spaziergang?«, fragte ich den Baron, wobei ich versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen.

»Tu einfach, was dir gesagt wird, Garrett, und wir werden bestens miteinander auskommen!«

Ich zuckte die Achseln, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass ich auf ein harmonisches Auskommen mit dem Baron ebenso gut verzichten konnte wie Doralisser auf einen Zahnstocher. Ich schnaubte, sprang aus der Kutsche und sah mich um. Die Gasse war menschenleer, die dunklen Häuser dräuten wie der Sam-da-Mort über uns. Auf der anderen Seite der Straße erhob sich eine Mauer. Aha! Wir waren also irgendwo vor der Inneren Stadt.

»Steh still, Dieb!«, verlangte der knoblauchlastige Kerl mit einer versteckten Drohung in der Stimme, bevor er mich sorgsam abtastete.

Nacheinander wanderten meine Armbrust, der Beutel mit den Bolzen und mein Messer in einen Sack, den ein anderer Soldat dem Knoblauchliebhaber hinhielt. Letzterer wollte schon nach dem Beutel mit den Münzen greifen, als der Baron ihn aus der Kutsche heraus anherrschte, worauf der Mann eiligst die Hand zurückzog. »Lass ihm den Beutel, Kerl«, befahl Frago. »Ist er sauber? Hast du ihm alle Waffen abgenommen?«

Der Soldat tastete mich noch einmal rasch ab, entnahm der verborgenen Tasche am Gürtel meine Nachschlüssel und zog aus dem Stiefelschaft ein schmales Rasiermesser. Schließlich nickte er. »Jetzt ist er sauber, Euer Gnaden. Blank wie ein Doralisser nach einem Geschäft mit einem Zwerg.«

Die Reiter wieherten vor Lachen. Der Baron schnauzte sie erneut an, woraufhin sich unversehens wieder Stille in der Straße ausbreitete. Vor einem Haus huschte der Schatten einer einsamen Ratte vorbei, die Nahrung für ihre Brut suchte. Einer der Soldaten warf seine Fackel nach ihr und verfluchte die Diener des Unaussprechlichen dabei im Flüsterton. Natürlich verfehlte die Fackel ihr Ziel, schlug gegen die Mauer und schickte einen Funkenregen in die Nacht. Fiepend verschwand die Ratte in die Dunkelheit.

»Schluss jetzt!«, krächzte der erzürnte Lonton. »Die Binde und dann Abmarsch!«

Der Knoblauchliebhaber holte eine dunkle, feste Stoffbinde aus seiner Tasche und verband mir die Augen. Bei Sagoth, jetzt ging ich wahrlich als Blinder durch! Die Soldaten packten mich bei den Armen und stießen mich in die Kutsche zurück. Die Tür schlug zu, die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung. Ich hob die Hände, um die Binde ein wenig zu lockern.

»Ich an deiner Stelle würde das lassen, Garrett«, riet mir der Baron mit ausgesuchter Höflichkeit.

»Wohin bringen Euer Gnaden mich? Oder ist das ein Geheimnis?«

»Geh davon aus, dass es ein Staatsgeheimnis ist! Und jetzt bring mich mit deinem Geschwätz nicht länger auf die Palme!«

»Ich bitte um Verzeihung, Euer Gnaden, aber was, wenn ich Euch doch erbosen sollte?«

Die Dunkelheit machte mich gemein und geschwätzig.

»Wenn du nicht mit dem Mann einig wirst, zu dem wir dich bringen, dann kommst du zu mir und kannst was erleben …«

In dem Fall hielt ich es für ratsam zu schweigen, auch wenn es kein Problem für mich gewesen wäre, aus der Kutsche zu springen, die über die nächtlichen Straßen dahinjagte, und mich im Schatten zu verstecken. Die Soldaten würden wertvolle Sekunden brauchen, ehe sie überhaupt begriffen, was vor sich ging. Etwas hielt mich jedoch davon ab. Neugier oder Angst vor einem Misserfolg? Vermutlich ein wenig von beidem.

Der Kutscher verlangte den Pferden alles ab, schonte weder die Tiere noch den Wagen oder dessen Insassen. Der Baron verlor indes kein Wort darüber. Folglich hatte alles seine Richtigkeit. Ich biss die Zähne zusammen und gab mir alle Mühe, aufrecht sitzen zu bleiben, wenn die Kutsche um die Ecken schoss. Irgendwann aber konnte ich mir das Vergnügen, mich gegen den Baron fallen zu lassen und ihm unbemerkt den Beutel von seinem Gürtel zu fingern, doch nicht länger verkneifen.

Schließlich erreichten wir unser Ziel. Zwei Soldaten expedierten mich aus der Kutsche und übergaben mich irgendwelchen Männern, die mich fest an den Ellbogen packten, um mich irgendwohin zu geleiten. Ich setzte meine Füße sicher auf, stolperte allerdings jedes Mal, wenn wir an eine Treppe kamen. Der Baron hinter mir schnaubte in einem fort. Gänge und Treppen. Gänge. Geräusche, als wir auf Platten aus issylischem Marmor ein dumpfes und tönendes Echo auslösten und über knarzende Holzdielen stapften. Schon längst wusste ich nicht mehr, wie viele Stufen, wie viele Biegungen hinter uns lagen. Wie ein Kobold im Labyrinth der Orks hatte ich jede Orientierung verloren.

Dann wurde eine Tür geöffnet, und durch die Sohlen meiner Stiefel spürte ich dicken Teppich. Da ich ihn nicht sah, konnte ich natürlich kein abschließendes Urteil abgeben. Aber offenbar handelte es sich um einen Teppich aus dem Sultanat – der eine ordentliche Stange Geld kostete.

»Nehmt ihm die Binde ab!«