Schattenstürmer - Alexey Pehov - E-Book

Schattenstürmer E-Book

Alexey Pehov

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Beschreibung

Endlich der zweite Band der »Chroniken von Siala«, einer der erfolgreichsten Fantasysagas Russlands, die weltweit die Fans begeistert: Garrett und seine Gefährten müssen das Horn des Regenbogens finden, bevor sich der Unaussprechliche erneut erhebt. Doch das Horn liegt in Hrad Spine, gewaltigen unterirdischen Palästen, aus denen bisher niemand lebend zurückgekehrt ist. Unterwegs wird Garrett der magische Schlüssel für die Beinernen Paläste gestohlen, aber Garrett wäre kein Meisterdieb, wenn er sich den Schlüssel nicht wieder beschaffen könnte. Nach einer abenteuerlichen Reise breiten sich schließlich die schrecklichen immergrünen Wälder Sagrabas vor den Gefährten aus. Scheitern sie kurz vor dem Ziel an den Rätseln des Waldes?

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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Übersetzung aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann

In diesem Roman werden Gedichte von Pjotr Owtschinnikow und Michail Fjodorow zitiert.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

4. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95123-4

© Alexey Pehov 2002 Die russische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Džanga s tenjami. Chroniki Sialy« bei AL'FA-KNIGA. Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2010 Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagabbildung: Oliver Wetter

Kapitel 1

Ranneng

Wer im südlichen Vagliostrien lebt, den Norden des Landes nie gesehen hat und Awendum nicht kennt, glaubt meist, Ranneng sei eine schier überwältigende Stadt. Gewiss, klein ist sie nicht. Aber mit Awendum kann sie nun einmal nicht mithalten.

Und für alle, die es nicht wissen: Ranneng war einst die Hauptstadt des Königreichs, verlor diesen ehrenvollen Rang dann jedoch im Krieg des Frühlings, als die Orks aus den Wäldern Sagrabas bei uns einfielen. Es ist die älteste Stadt Vagliostriens. Selbst die kundigsten Geschichtsschreiber des Königreichs wissen nicht mehr, wann der Grundstein zu ihrem ersten Bauwerk gelegt wurde, derart lange ist das her.

In den letzten eintausendfünfhundert Jahren sah Ranneng rund hundert Herrscher kommen und gehen, bot Dutzenden von Generationen ein Zuhause, fand nach sechs großen Bränden, die die Stadt beinah vom Antlitz der Erde getilgt hätten, immer wieder zu seiner Größe zurück und überstand mehrere Aufstände und Epidemien.

Nachdem es von den Orks im Krieg des Frühlings mehr oder weniger dem Erdboden gleichgemacht und anschließend wieder aufgebaut worden war, galt Ranneng als die schönste Stadt im Königreich. Die Architektur, die den Göttern geweihten Tempel, das Grün überall, die breiten Straßen und die Springbrunnen alle hundert Yard zogen zahlreiche Reisende, Neugierige und Händler an.

Gleich zu Beginn seiner Herrschaft gab der damalige König Stalkon den Befehl, in Ranneng eine Universität zu gründen. Studenten aus nahezu sämtlichen Königreichen des Nordens strömten herbei. Der Universität gegenüber lag ein großer Park – das war ein kleiner Wald inmitten der Stadt, wenn man so will. Durch ihn erreichte man die Oberstadt. Der Weg führte auch an dem gewaltigen Bronzetor der Schule der Magier vorbei. Diese Schule stand am Beginn des Weges eines jeden Magiers im Königreich, hier brachte man den künftigen Zauberern das Einmaleins ihres Faches bei. Erst nach einer fünfjährigen Ausbildung in Ranneng durften sie zur Schule in Awendum überwechseln, um ihre Kenntnisse dort zu vervollkommnen. Der Schule der Magier und der Universität verdankte Ranneng auch die Bezeichnung als Stadt des Wissens.

Ranneng war auf fünf Hügeln erbaut, die am Schnittpunkt der großen südlichen Handelswege des Königreichs lagen. Einen geeigneteren Ort zur Gründung einer Stadt hätte man sich also kaum denken können. Ranneng war schön, ja, prachtvoll sogar – nicht ohne Grund besangen Poeten die Stadt, aber es hatte auch einen entscheidenden Nachteil: Es lag wesentlich dichter an den Wäldern Sagrabas und damit viel näher bei den Orks als Awendum. Sollten die Orks abermals von Kampfeslust gepackt werden, so wäre es ihnen ein Leichtes, über Ranneng herzufallen, während sie eine ganze Weile bräuchten, um ans Kalte Meer zu ziehen. Eben dies war auch der Grund, warum Ranneng seit fünfhundert Jahren nicht mehr die Hauptstadt war. Die Orks hatten die Menschen Vorsicht gelehrt. Den Fehler, den sie noch im Krieg des Frühlings gemacht hatten, wiederholten sie nicht: Sie setzten das Herz des Königreichs nicht solcher Gefahr aus. Denn was auch immer man dem Geschlecht der Stalkonen vorwerfen mochte, dumm waren sie nicht. Der König hatte seinen Hof nach Norden verlegt, nach Awendum, also weit weg von den Wäldern Sagrabas und damit einer möglichen Gefahr.

Und dort, wo der König ist, dort ist – eben! – auch die Hauptstadt.

Doch lassen wir es bei diesem kurzen geografischen und historischen Exkurs bewenden, denn nun kam endlich das Stadttor in Sicht.

Unsere Gemeinschaft erreichte Ranneng am späten Vormittag, zusammen mit unzähligen Menschen aus Dörfern, Städten und anderen Ländern, die zu den Stadttoren strömten, um zu kaufen, zu verkaufen, zu stehlen, um Arbeit zu suchen, zu studieren, Verwandte zu besuchen, Gerüchte zu hören oder um sich schlicht und einfach an der Schönheit der Stadt zu weiden. Bei diesem Andrang rechnete ich nicht damit, vor dem frühen Abend Einzug in die Stadt halten zu können.

Die Menge lärmte in geradezu unbeschreiblicher Weise. Alle redeten durcheinander, schrien, brüllten und stritten oder verteidigten mit Schaum vor dem Mund ihr Recht, vor den anderen durchs Tor zu gehen. In der Nähe eines Karrens voller Rüben kam es zu einer Schlägerei um einen Platz in der Schlange. Die Stadtwache trachtete zwar danach, Ordnung zu schaffen, verschlimmerte das Ganze allerdings nur, da die aufgebrachten Dörfler ihre Aufmerksamkeit nun auf die Soldaten lenkten. Die Schlägerei drohte um sich zu greifen, die Soldaten bedauerten bereits, sich überhaupt eingemischt zu haben.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Schandmaul, unser Wildes Herz mit der Sauerbiermiene. »Hier am Nordtor hat es doch noch nie eine Schlange gegeben! Weil immer alle das Triumphtor nehmen! Haben die Leute jetzt völlig den Verstand verloren, oder was?«

»Warum nehmen wir dann dieses Tor?«, zischte Hallas, der eine Hand gegen die Wange presste.

Was ist wohl noch schlimmer als ein missgestimmter, streitsüchtiger und der ganzen Welt grollender Gnom? Nur ein missgestimmter, streitsüchtiger und der ganzen Welt grollender Gnom mit Zahnschmerzen!

»Weil es viel zu lange dauert, zum anderen Tor zu kommen!«, antwortete Schandmaul.

»Schön und gut!«, knurrte Hallas, der die Zöpfchen in seinem Bart zerzauste. »Aber dass ich derweil am Zahnweh krepiere, das geht nicht in deinen Hohlschädel rein, was?!«

»Schluss jetzt, Hallas!«, stellte sich Deler auf Schandmauls Seite. »Du hast die Schmerzen bereits einen ganzen Tag lang ausgehalten, da wirst du es auch noch die paar Stündchen schaffen!«

»Die Frage ist doch nicht, ob er es noch aushält, die Frage ist eher, ob wir es noch mit ihm aushalten«, widersprach Marmotte dem Zwerg, und seine dünnen Lippen zitterten in einem kaum wahrnehmbaren Grinsen.

Ich konnte Marmotte nicht widersprechen. Seit den Gnom die Zahnschmerzen plagten, war er einfach unerträglich und brachte nicht nur Deler zur Weißglut, sondern auch den sonst so unerschütterlichen Lämpler. Vermutlich hielten die Götter ihre Hand schützend über den Gnom, anders ließ sich nämlich nicht erklären, warum bisher noch niemand Hallas gepackt und ihn kurzerhand mit einem gezielten Schlag von dem vermaledeiten Zahn befreit hatte.

»Ach, halt den Mund, Marmotte!« Der Schmerz nahm Hallas sogar die Streitlust. »Wenn du mal Zahnschmerzen hast …«

»Die wird er nicht kriegen, denn im Gegensatz zu einem gewissen Gnom, auf dessen Schultern nur ein hohler Kürbis sitzt, den er stur Oberstübchen nennt, hüllt sich Marmotte bei Regen in einen Umhang!«, grummelte Deler. »Na, komm, ich zieh dir den Zahn raus! Das dauert nur ein paar Minuten!«

Der Gnom warf dem breitschultrigen, bartlosen Zwerg einen unschönen Blick zu, in dem die offene Drohung lag, ihm gleich eins überzuziehen. Bevor es jedoch zu einer Keilerei kam, brachte Schandmaul sein Pferd zwischen die beiden.

»Warum geht das nicht vorwärts?«, stöhnte Hallas, der beobachtete, wie die Soldaten einen Wagen durchs Tor winkten, der über und über mit Holzkäfigen voller Hühner beladen war.

»Sie müssen jeden überprüfen, die Gebühren eintreiben und in Erfahrung bringen, warum jemand in die Stadt will«, erklärte Kli-Kli.

»Was ist denn in die gefahren?«, fragte ich. »Woher dieser Eifer?«

»Wer wird schon aus der Stadtwache schlau?«, entgegnete der grüne Kobold schulterzuckend, ehe er sich dem Gnom zuwandte: »Keine Sorge, Hallas, bis zum Mittag sind wir in der Stadt.«

»Vielleicht sollten wir es doch lieber an einem anderen Tor versuchen, Mylord Alistan?«, schlug Met vor.

Alistan ließ sich den Vorschlag, den das größte und stärkste Wilde Herz gemacht hatte, kurz durch den Kopf gehen und fragte dann schnaubend: »Wie lange bräuchten wir bis zum nächsten Tor?«

»Ein Stündchen«, sagte Schandmaul ungerührt und blinzelte in der Sonne.

Hallas’ Gesicht lief dermaßen puterrot an, dass ich schon fürchtete, ihn werde gleich der Schlag treffen. »Ein Stündchen?!«, schrie er. »Bis zum Mittag?! Das halte ich nicht aus!« Der Gnom lenkte sein Pferd wild entschlossen zum Tor.

»Was hat er jetzt vor?«, fragte Schandmaul, doch Alistan rammte seinem Pferd schon die Hacken in die Seite, weshalb uns nichts anderes übrig blieb, als ihm und dem Gnom zu folgen.

Die Menschen vor dem Tor hatten uns neugierig beäugt. Kaum schwante ihnen jedoch, dass wir uns vorzudrängeln gedachten, da ging das Geschrei los.

»Die werden noch handgreiflich! Bei Sagoth«, brummte Marmotte, der neben mir ritt, »die prügeln bestimmt gleich los!«

Der Gnom lenkte sein Pferd ohne viel Federlesens durch die empörte Menge und brüllte lauthals, man möge ihm den Weg freigeben.

»Halt, Gnom!« Ein Soldat mit Hellebarde stellte sich Hallas in den Weg. »Was soll das? Was glaubst du wohl, wozu die Schlange da ist?!«

Hallas wollte dem Soldaten gerade darlegen, was er von ihm und all seinen Verwandten bis zurück ins siebente Glied hielt, als sich Miralissa wie durch ein Wunder neben ihm einfand und den Gnom zur Seite schob.

Recht tat sie. In seiner gegenwärtigen Gemütsverfassung war der Gnom imstande, uns in große Schwierigkeiten zu bringen, aus denen wir nur unter Einsatz einer hübschen Goldmünze wieder herauskämen. Wenn wir aber wegen jeder Gnomenlaune mit Gold um uns würfen, dann wäre es bald aus damit (mit dem Gold, meine ich, nicht mit dem Gnom).

»Guten Morgen, verehrter Herr!«, wandte sich die Elfin lächelnd an den Mann der Stadtwache. »Warum gibt es heute Morgen eine derart lange Schlange? Ist denn etwas geschehen?«

Der Soldat wechselte prompt die Tonlage und strich sogar seine Uniform glatt. Wie uns unsere lieben Mütter seit frühester Kindheit beigebracht hatten, musste man alle Elfen, lichte wie dunkle, mit ausgesuchter Höflichkeit behandeln, andernfalls konnten sich die Waldbewohner rasch beleidigt fühlen – und ihrer Verstimmung Ausdruck verleihen, indem sie dir einen Dolch zwischen die Rippen rammten.

»Was soll gut an diesem Morgen sein, Mylady?! Jeden müssen wir in diesen Tagen überprüfen! Und zwar penibel! In was für Zeiten leben wir bloß! Weiß das Dunkel, was hier vor sich geht! Wenn Ihr mich fragt, haben wir das alles dem Unaussprechlichen zu verdanken!«

»Aber was ist denn nun vorgefallen, verehrter Herr?«

»Wisst Ihr das nicht?« Der Soldat sah Miralissa erstaunt an. »Die Leute reden doch von nichts anderem!«

»Wir haben noch keine Gelegenheit gehabt, mit jemandem zu sprechen«, antwortete Miralissa mit einem unverbindlichen Lächeln, das ihre Fänge entblößte.

»Vor ein paar Wochen hat der Unaussprechliche den Palast des Königs angegriffen!«

»Ach, der Unaussprechliche?«, fragte Ohm und grinste sich in den dichten grauen Bart.

»Richtig, der Unaussprechliche! Mit fünftausend Handlangern! Wenn die Garde und Alistan Markhouse nicht gewesen wären, hätten die den König ermordet!«

»Fünftausend?«, hakte Ohm erneut in ungläubigem Ton nach und kratzte sich den kahlen Kopf.

»So sagen es die Leute. Fünftausend.« Der Soldat geriet leicht in Verlegenheit. Offenbar war ihm gerade der Gedanke gekommen, dass fünftausend Mann reichlich viel sind.

»Na, wenn die Leute es sagen!«, lachte Ohm, der wie wir alle jene denkwürdige Nacht im Palast miterlebt hatte, als die Adepten des Unaussprechlichen die Leibgarde herausforderten.

»Aber warum gibt es dann vor diesem Tor eine solche Schlange?!«, polterte Hallas. »Der Überfall hat in Awendum stattgefunden – und das Tor hier ist in Ranneng!«

»Der König, möge er noch hundert Jahre auf dem Thron sitzen, hat den Befehl erteilt, größere Wachsamkeit walten zu lassen! Das tun wir hiermit!«

»Die bemerken doch nicht mal eine Armee von Orks, wenn sie direkt unter ihrer Nase vorbeitrampelt!«, flüsterte mir Kli-Kli ins Ohr.

Der Kobold hatte recht, ein gewöhnlicher Wachtsoldat dürfte die Handlanger des Unaussprechlichen nur schwerlich in der Menge ausmachen, sie unterschieden sich nämlich durch nichts von unseren friedliebenden Mitbürgern.

»Es ist nur zu begrüßen, dass Ihr Euren Dienst so gewissenhaft verseht!«, bemerkte Miralissa. »Das Königreich kann ruhiger schlafen, wenn die Städte über solche Wachen verfügen.«

Hallas setzte schon an, seine Meinung über die gewissenhaften Soldaten kundzutun, bekam jedoch von Deler einen Fausthieb in die Seite und verschluckte sich, wobei ihm beinahe die Pfeife aus dem Mund gefallen wäre.

Die Menge hinter uns wurde immer lauter. »Was ist denn da los?! Warum geht es nicht weiter?«

Vom Tor her trat ein mürrischer Soldat mit den Schulterstücken eines Korporals an uns heran. Ganz offenkundig stand ihm der Sinn nicht nach einer freundlichen Plauderei.

»Immer mit der Ruhe, Mies«, wies unser Wachtposten den Korporal ungeachtet seines Ranges zurecht. »Die Lady Elfin interessiert sich für Neuigkeiten.«

Erst jetzt gewahrte der Korporal unsere bunte Gemeinschaft: ein grüner Kobold mit blauen Augen, drei dunkle Elfen mit aschgrauem Haar, ein finsterer Ritter und neun Soldaten, von denen einer offenbar ein Gnom von böswilligstem Äußeren und ein anderer ein Zwerg mit einem topfförmigen Hut war; dazu kam noch ein magerer Kerl mit einem Diebesgesicht. Eine solch illustre Gesellschaft besuchte selbst Ranneng nicht jeden Tag.

»Äh …«, stammelte der Korporal. »Also …«

»Doch jetzt wollen wir Euch nicht länger aufhalten.« Ein weiteres Lächeln von Miralissa. »Können wir weiter?«

Das Lächeln der Elfen vermag einen unvorbereiteten Menschen nachhaltig zu verwirren, vor allem, wenn er nie zuvor die Elfenfänge gesehen hatte, diese beiden strahlend weißen Fangzähne im Unterkiefer.

»Selbstverständlich.« Der Korporal winkte in Richtung Tor, damit die Soldaten uns durchließen. »Aber vergesst nicht, dass innerhalb der Stadt nur die Wache und die Elfen das Recht haben, Waffen zu tragen!«

»Und was ist mit Adligen und Wilden Herzen?«, fragte Aal, der bisher geschwiegen hatte.

»Nur Dolche und Messer!«

»Aber wir stehen doch im Dienst des Königs! Wir sind keine Söldnertruppe!«

»Tut mir leid, aber vor dem Gesetz sind alle gleich«, wies ihn der Korporal erbarmungslos ab.

Von diesem Gesetz hatte ich schon gehört, es war vor gut dreihundert Jahren erlassen worden, als die Schlägereien in Ranneng überhandgenommen hatten. Es waren unruhige Zeiten gewesen, in denen die drei hiesigen Adelshäuser um die Macht rangen. Als sich der König dann endlich von seinen unaufschiebbaren Staatsgeschäften losriss und sich der Sache annahm, gab es in Ranneng bereits mehr Leichen als auf dem Sornfeld nach der Schlacht zwischen Gnomen und Zwergen. Die Hälfte der Grafen, Barone, Marquis und so weiter pflasterte die Straßen der Stadt, die andere Hälfte – und das war das Bedauerliche an dem Ganzen – war noch am Leben. Bis zum heutigen Tag machten sich das Haus der Eber, der Oburen und der Nachtigallen gegenseitig das Leben schwer. Deshalb lief jeder, der ein Schwert oder gar eine Armbrust bei sich führte, Gefahr, eine hohe Strafe aufgebrummt zu bekommen. Dafür durfte er sich allerdings auch ein paar Tage in einer unbequemen, dunklen Zelle erholen. Letzteres hatte sich im Übrigen als probates Mittel erwiesen, die adligen Herren zur Vernunft zu bringen. Nach dem Aufenthalt in jenen feuchten und tristen Gemäuern wurden sie nämlich meist lammfromm.

»Aber das ist doch …«, setzte Lämpler an, seinem Herzen Luft zu machen. Er trennte sich nie von seinem Birgrisen. Und nun sollte der Meister des Langschwerts seine Furcht einflößende Klinge zu Hause lassen und sich mit einem kurzen Messer begnügen.

»Ich will gar nicht wissen, weshalb Ihr in unsere Stadt kommt und welchem der drei Adelshäuser Ihr Euch anschließt.« Der Korporal bedachte uns mit einem vielsagenden Blick.

»Wir haben nicht die Absicht, einem der Adelshäuser zu dienen«, erklärte Mylord Alistan kategorisch.

»Wie gesagt, das ist mir völlig einerlei, Mylord Ritter«, versicherte der Korporal. »Wenn Ihr niemandem dient, umso besser. Wenn man Euch allerdings so sieht, glaubt man, eines der Häuser habe Verstärkung angeheuert.«

»Ist es denn in der Stadt zu neuen Unruhen gekommen?«, wollte Miralissa wissen, die sich den dicken Zopf über die Schulter warf.

»Ja, verschiedentlich schon«, bestätigte der Korporal. »Zwischen Nachtigallen und Ebern ist es kürzlich in der Oberstadt zu einer Schlägerei gekommen. Zwei Barone wurden vom Hals bis zum Arsch aufgeschlitzt … äh, verzeiht die Ausdrucksweise, Lady Elfin.«

»So empfindlich bin ich nicht. Vielen Dank für die Auskunft, verehrter Herr. Wir können also durchreiten?«

»Ja, Mylady. Hier ist ein Schreiben, es wird Euch helfen, sollten Euch Patrouillen behelligen.« Der Korporal entnahm einer hölzernen Schatulle, die an seinem Oberschenkel hing, ein zusammengerolltes Papier und hielt es der Elfin hin. »Es bestätigt, dass Ihr gerade erst in unserer ruhmreichen Stadt eingetroffen seid und noch keine Gelegenheit hattet, Euch Eurer Waffen zu entledigen. Seid willkommen in Ranneng!«

»Und Ihr nehmt dies. Für Eure Mühen.« Egrassa saß ab und drückte dem Korporal eine Münze in die Hand.

»Euer Erlau…« Als der Mann sah, was für eine Münze ihm der Elf in die Hand gedrückt hatte, brach er mitten im Wort ab und erstarrte wie eine Statue im Schlosspark.

Verständlich. Wann hält ein Korporal schon mal eine Goldmünze in Händen? Meiner Ansicht nach würde dann wahrscheinlich heute in der Wache gefeiert werden, und gegen Mitternacht dürfte sich wohl kein Soldat mehr auf den Beinen halten.

Wir ließen den fassungslosen und durch Egrassas Großzügigkeit überglücklichen Korporal stehen und hielten durch das Tor Einzug in Ranneng.

Kaum in der Stadt, stürmte Hallas los. Ein wütender Schrei von Markhouse hielt ihn jedoch auf. »Wo willst du hin?!«

»Mein Zahn muss raus, Mylord Alistan!«, stöhnte der Gnom. »Ich halte das nicht länger aus!«

»Erst gehst du in die Schenke, um deine Waffe abzulegen. Dann kannst du zum Bader!«, befahl Ohm.

Hallas verzog das Gesicht, als fragte er sich, warum er seine geliebte Streithacke nicht mit zum Bader nehmen sollte? Den in dieser Stadt geltenden Gesetzen schien er jedenfalls nicht die geringste Bedeutung beizumessen.

»Was glaubst du denn, wer die Strafe für dich zahlt?«, mischte sich Deler ein. »Ich etwa?«

Wohl niemand sonst hätte dem Gnom begreiflich machen können, dass ihn ein solches Verhalten teuer zu stehen käme.

»Wie hoch ist die Strafe?«, fragte Hallas mit gequälter Miene.

»Sechs Goldmünzen«, antwortete Schandmaul für Deler.

»Hmm«, brummte der Gnom und blickte neidvoll auf eine Einheit der Stadtwache, die an uns vorbeimarschierte.

»Du kannst natürlich auch gleich zum Bader gehen und mir deine Waffe geben«, schlug Deler mit Unschuldsmiene vor, blinzelte Kli-Kli dabei allerdings zu.

Damit war die Sache entschieden.

»Ein Gnom soll einem Zwerg seine Waffe anvertrauen?! Kommt gar nicht infrage! Wo zum Dunkel ist denn diese verdammte Schenke?« Der Gnom rammte seinem Pferd die Hacken in die Flanken und trieb uns alle an.

Inzwischen waren wir auf eine breite Straße eingebogen, die geradewegs ins Herz der Stadt führte. Die Schenke, zu der Miralissa uns brachte, lag auf einem der fünf Hügel, auf denen Ranneng erbaut war. Ich achtete darauf, mir die Straßen gut einzuprägen.

In einer Gasse hinter dem Denkmal für die Verteidiger Rannengs, die im Krieg des Frühlings gefallen waren, hielt uns die Stadtwache an, ließ uns jedoch enttäuscht weiterziehen, sobald sie das Schreiben des Korporals sah.

»Und?«, wandte sich Marmotte an Hallas, »was meinst du, wo du mit deiner Streithacke gelandet wärst, wenn wir denen ohne diesen Wisch in die Arme gelaufen wären?«

»Denen hätte ich mit der Streithacke eins übergezogen!«, hielt der Gnom hitzig dagegen.

»Dann hätten die sich aber deinen Bart vorgenommen!«, warf Deler ein.

Hallas sah seinen Kumpel grimmig an und nahm einen kräftigen Zug aus einer Pfeife. O nein, er würde diesen Angriff auf den größten Stolz eines jeden Gnoms, seinen Bart nämlich, gewiss nicht vergessen.

»Ich besuch dann mal einen Verwandten«, rief Schandmaul. »Wir treffen uns in der Schenke!«

»Dein Verwandter hat nicht zufällig eine Freundin?«, fragte Arnch grinsend.

Schandmaul bedachte den glatzköpfigen Soldaten mit einem entrüsteten Blick.

»Schlagt euch die Weiber aus dem Kopf«, verlangte Marmotte. »Bei dem, was noch auf uns wartet, haben wir dafür keine Zeit!«

»Fütter du lieber deinen Ling!«, antworteten Schandmaul und Arnch einstimmig.

»Keine Sorge, das werd ich tun!«, kanzelte Marmotte die beiden ab und setzte sich Triumphator von einer Schulter auf die andere.

»Du weißt, wo die Schenke ist, Schandmaul?« Arnch wurde wieder ernst.

»Hör mal! Ich bin in Ranneng aufgewachsen, ich kenn hier jedes noch so winzige Gässchen. Da werd ich ja wohl die Gelehrte Eule finden!«

»Schon gut«, beschwichtigte ihn der Grenzreicher. »Aber sag Ohm Bescheid, sonst wäscht er dir nachher noch den Kopf!«

»Längst erledigt! Bis später!«

»Grüß dein Mädchen von mir!«, rief ihm Arnch hinterher, aber Schandmaul hatte sein Pferd bereits zu Lämplers Missfallen in dessen Obhut gegeben und war in der Menge untergetaucht.

Wir ritten eine der großen Straßen hinunter (keine Ahnung, wie sie hieß), auf der es so viel Volk gab wie Gholen auf einem verlassenen Friedhof.

»Haben die heute was zu feiern?«, brummte Lämpler, der für die Menge nur einen recht mürrischen Blick übrig hatte.

»Dumme Frage!«, antwortete unser allwissender Kli-Kli. »Es ist die Woche der Examina. Da ist die ganze Stadt auf den Beinen.«

»Das hat uns gerade noch gefehlt!«, stöhnte ich. »Ich kann solche Menschenmengen einfach nicht ertragen!«

»Und ich habe gedacht, du bist ein Dieb«, foppte mich der Kobold.

»Bin ich auch«, antwortete ich, ohne zu verstehen, worauf der Hofnarr abzielte.

»Ich habe gedacht, Diebe lieben die Menge.«

»Warum sollte mir so ein Gedränge gefallen?«

»Ich habe gedacht, in so einem Gedränge ließen sich die Beutelchen leichter abfingern«, sagte Kli-Kli.

»In dieser Klasse spiele ich schon lange nicht mehr«, erklärte ich. »An Beutelchen, hochverehrtes Stumpfhirn, verschwende ich nicht einen einzigen Gedanken!«

»O nein, du verschwendest deine Gedanken ja nur an Kontrakte«, parierte der kleine Nichtsnutz. »Aber weißt du, Garrett-Barett, meiner Ansicht nach hättest du besser daran getan, irgendeinem Hohlschädel sein Beutelchen aus der Tasche zu ziehen, als dir deinen jetzigen Kontrakt aufzuhalsen.«

»Mach, dass du wegkommst!«, schrie ich ihn an.

Kli-Kli hatte meinen wunden Punkt getroffen. Gut, jetzt war es zu spät, heiße Tränen zu vergießen. Ich hatte den Kontrakt angenommen – mein Verstand musste damals brachgelegen haben –. jetzt gab es kein Zurück. Denn mit einem Kontrakt band sich ein Meisterdieb nicht nur an seinen Auftraggeber, sondern auch an Sagoth. Deshalb handelte er sich enorme Schwierigkeiten ein, wenn er ohne gewichtigen Grund einen Kontrakt aufkündigte und seinen Auftraggeber prellte. Der Gott der Diebe machte in einem solchen Fall nämlich kurzen Prozess mit ihm.

Dieser Kontrakt hatte mich auch nach Ranneng gebracht, das auf halbem Weg zu den Wäldern Sagrabas und Hrad Spines lag.

»Garrett!«, riss mich Lämpler aus meinen Überlegungen. »Warum so schweigsam?«

»Das ist seine übliche Gemütsverfassung«, mischte sich Kli-Kli ein. »Unser Schattentänzer ist in letzter Zeit sehr düster und einsilbig.«

»Dafür ist manch anderer ausgesprochen heiter und geschwätzig«, knurrte ich. »Wenn du bloß aufhören würdest, die ganze Zeit zu nörgeln.«

»Fürs Nörgeln ist Schandmaul zuständig«, erwiderte Kli-Kli. »Ich halte nur Tatsachen fest.«

»Nein, du zitierst auch noch die Prophezeiungen eines Koboldschamanen, der zu viele Fliegenpilze gegessen hat«, hielt ich dagegen. »Und diese Prophezeiungen über den Schattentänzer sind völlig aus der Luft gegriffen!«

»Dein Protest kommt zu spät! Du hast den Namen Schattentänzer angenommen, genau wie es in der Prophezeiung gesagt wird!«, brauste Kli-Kli auf. »Das Buch Bruk-Gruk hat noch nie gelogen!«

Kli-Kli kannte das Buch der Prophezeiungen in- und auswendig und ließ nichts auf dieses Werk der Kobolde kommen. Irgendwann hatte ich meinen Widerstand aufgegeben und mich damit abgefunden, dass mich der Kobold Schattentänzer nannte. Damit war ich nun leider nicht mehr Garrett der Dieb, sondern eine wandelnde Prophezeiung, die gefälligst das Königreich und die ganze Welt zu retten hatte. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich diese Welt allerdings viel lieber beraubt.

»Sag mal, Kli-Kli«, wandte sich Arnch an den Kobold, »gibt es in deinem Buch von dem Schamanen Tru-Tru …«

»Tre-Tre, nicht Tru-Tru, du Banause!«, fiel der Kobold dem glatzköpfigen Soldaten empört ins Wort.

»… von dem Schamanen Tre-Tre«, fuhr Arnch fort, als sei nichts gewesen, worauf ihn der Kobold jedoch abermals unterbrach: »Vom großen Schamanen Tre-Tre!«

»… vom großen Schamanen Tre-Tre eigentlich noch etwas anderes als deine heißgeliebten Prophezeiungen?«

»Und was zum Beispiel?«

»Na, zum Beispiel ein Rezept, wie man einen Gnom vom Zahnschmerz befreit?«

Hallas, der jetzt wieder mit uns auf einer Höhe ritt, spitzte prompt die Ohren, versuchte jedoch, sich sein Interesse nicht anmerken zu lassen.

Kli-Kli entging natürlich nicht, dass Hallas lauschte, und er setzte sein Gleich-könnt-ihr-was-erleben-Lächeln auf. Dieses Lächeln verriet stets seine Absicht, jemandem einen Dorn in den Stiefel zu stecken oder eine andere Gemeinheit auszuhecken.

Der Narr legte eine derart theatralische Pause ein, dass Hallas vor Ungeduld im Sattel hin und her rutschte. Erst als der Gnom fast vor Wut platzte, verkündete Kli-Kli: »Das gibt es schon.«

»Und was muss man da tun?«, fragte ich, während ich verzweifelt versuchte, Bienchen von Kli-Kli und Hallas wegzulenken. Ich hatte nämlich nicht die Absicht, mich in der Flugbahn eines schweren Gegenstandes zu befinden, wenn der Gnom dem Hofnarren klarmachte, was er von dem Heilverfahren hielt.

»Also!«, setzte der Kobold in geheimnisvollem Ton und mit zufriedenem Grinsen an, »es handelt sich dabei um eine äußerst wirksame Methode. Hätte Hallas sie sofort angewandt, hätte er sich viel Schmerzen erspart! Ich schwöre beim Hut des großen Schamanen Tre-Tre, dass es so ist!«

»Warum hast du mir dann nichts davon gesagt, du Nichtsnutz!« Mit seinem Gebrüll versetzte der Gnom die halbe Straße in Aufruhr.

Ohm drehte sich zu uns um, schwang drohend die Faust und wies schließlich mit dem Finger auf Alistan, um sich sodann mit der Handkante über die Kehle zu fahren.

»Lass die Albernheiten, Kli-Kli«, verlangte Marmotte. »Die Leute sehen sich schon nach uns um.«

»Schön«, gelobte der Kobold feierlich und tat so, als versperre er sich den Mund mit einem Schloss, »von mir hört ihr kein Sterbenswörtchen mehr.«

»Was soll das heißen?«, polterte Hallas. »Deler, unterrichte den Grünling davon, dass ich nicht mehr für mich garantieren kann, wenn er mir nicht sagt, wie ich diese Zahnschmerzen loswerde!«

»Er übertreibt nicht, Kli-Kli!«, versicherte der Zwerg. »Gnome sind ein derart gnatziges Volk, sie würden ihre eigene Mutter in Stücke reißen, wenn sie den Zahnschmerz haben, von irgendeinem Hofnarren ganz zu schweigen!«

»Ich bin nicht irgendein Hofnarr! Ich bin der Hofnarr!«, stellte der Kobold voller Stolz klar. Als könnte ihn dieses Amt vor der Rache des Gnoms retten!

»Gnome sollen ein gnatziges Volk sein?« Hallas vergaß den Kobold vorübergehend und lenkte seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf Deler. »Und das muss ich mir von einem Zwerg anhören? Dabei tut ihr doch nichts anderes, als in den Bergen Fett anzusetzen! In Bergen, die noch dazu von Rechts wegen uns gehören!«

»Hör jetzt endlich auf, Deler!«, ermahnte ihn Marmotte.

»Warum ich?«, fragte Deler unerschüttert. »Was mach ich denn?! Ich sag ja keinen Ton! Wenn einer rumpoltert, dann Hallas!«

»Schweig! Mit dir rede ich sowieso nie wieder, du Maul mit Hut!«, herrschte ihn der Gnom an. »Also, Kli-Kli, was muss ich tun?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob dir das Heilverfahren der Kobolde bei Zahnschmerz gefällt, Hallas«, antwortete Kli-Kli mit einer Miene, in der sich äußerste Zweifel spiegelten.

»Kannst du mir nicht einfach sagen, worum es geht?! Ohne lange Einleitung?«

»Du würdest dich ohnehin nicht darauf einlassen«, fuhr Kli-Kli unbeirrt fort. »Und dann hätte ich das Koboldgeheimnis zur Heilung von Zahnschmerz umsonst enthüllt.«

»Ich verspreche, deine Methode auf der Stelle anzuwenden!« Es fehlte nicht mehr viel, und der Gnom würde Kli-Kli den Hals umdrehen.

Kli-Kli grinste über beide grüne Backen, was ihn wie einen hochzufriedenen Frosch aussehen ließ.

Ich zog noch verzweifelter an den Zügeln, damit Bienchen zurückfiel, bis wir mit Lämpler auf einer Höhe ritten. Mein geniales Manöver blieb nicht unbemerkt. Marmotte, Deler und Arnch ahmten es bis in die kleinste Einzelheit nach. Hallas und Kli-Kli ritten nun allein voran.

»Gut! Aber vergiss nicht, dass du versprochen hast, unsere Koboldmethode anzuwenden!«, erinnerte Kli-Kli den Gnom. »Um Zahnweh zu kurieren, muss man ein Glas mit Eselpisse eine Stunde lang im Mund behalten, sie dann über die linke Schulter ausspucken, möglichst ins rechte Auge seines besten Freundes. Danach sind die Zahnschmerzen wie weggeblasen!«

Die Explosion, mit der wir alle gerechnet hatten, blieb aus. Hallas sah den Kobold nur böse an, spuckte aus und preschte davon. Kli-Kli schien ein wenig enttäuscht, denn er hatte auf Zeter und Mordio gehofft, wie er es von jedem Streit zwischen Hallas und Deler gewohnt war.

»Sag mal, Freund Kli-Kli«, wandte ich mich an den unverbesserlichen Kobold, »hast du diese Methode selbst schon mal ausprobiert?«

Der Kobold sah mich an, als gelte es einem Schwachsinnigen zu antworten: »Sehe ich etwa so dämlich aus, Garrett?«

Ich hatte gewusst, dass ich etwas in der Art zu hören bekäme.

»Da staunst du, was, Garrett?«, sagte Met.

»Ja, wirklich«, gab ich zu, gebannt auf den Königlichen Springbrunnen blickend.

Was für ein Schauspiel! Ich hatte schon viel von dem Brunnen gehört, sah dieses Wunder nun aber zum ersten Mal. Der Springbrunnen nahm den ganzen Platz vor uns ein. Eine riesige Wassersäule erhob sich fünfzig Yard in die Höhe, um dann in einzelnen Strahlen wieder herabzurieseln und über den ganzen Platz einen feinen Schleier aus winzigen Tröpfchen zu werfen. Der Tropfenschleier und die Sonnenstrahlen lagen in heißer Umarmung und schufen einen Regenbogen, der den Himmel in zwei Teile spaltete.

Leute, die es wissen müssen, behaupten, selbst die Zwerge seien auf die Hilfe des Ordens angewiesen gewesen, um den Springbrunnen anzulegen, denn nur Magie vermag eine Wassersäule von solch atemberaubender Schönheit zu schaffen und einen Regenbogen, der jeden Tag und bei jedem Wetter aus den Wasserspritzern entstand und bei dem man glaubte, man bräuchte bloß die Hand auszustrecken – und schon könnte man die zarte Luftigkeit dieses siebenfarbigen Wunders greifen.

»Was für ein Segen«, stieß Arnch angesichts der Frische, die von dem Brunnen heranwehte, aus.

»Hmm«, brummte ich.

Ende Juni und in der ersten Hälfte des Juli war es sehr heiß gewesen, so heiß, dass sogar Arnch des Öfteren sein Kettenhemd abgelegt hatte. Für einen Mann aus dem Grenzkönigreich, der quasi in Rüstung auf die Welt gekommen war, bedeutete dies ein unglaubliches Zugeständnis.

Die ungewöhnliche Hitze hatte sich in den letzten Tagen zwar etwas gelegt, dennoch gab es nach wie vor reichlich Anlass zu befürchten, das Hirn schmurgle einem im Schädel zusammen. Deshalb genossen wir alle die frische und saubere Luft am Springbrunnen.

Bei dem Gedanken, schon bald wieder unter der sengenden Sonne durch die Lande zu reiten, sank meine Laune sofort. Bei H’san’kor! Dieses Jahr spielte das Wetter einfach verrückt!

»Weiter!« Alistan würdigte den Springbrunnen nicht einmal eines Blickes.

Unser Graf dachte an dringendere Angelegenheiten, beispielsweise an die Einheit, über die er den Befehl hatte. Meiner Ansicht nach hatte der König gut daran getan, den Hauptmann seiner Garde mit der Aufgabe zu betrauen, uns nach Sagraba zu führen, auch wenn Markhouse selbst mit dieser Entscheidung recht unglücklich war. Mylord Ratte wollte seinen König auf keinen Fall in einer Zeit allein lassen, da der Unaussprechliche drohte, hinter den Nadeln des Frosts hervorzukommen und in Vagliostrien einzufallen. Nach Markhouse’ Dafürhalten war es reichlich dumm, der Garde ihren Hauptmann zu nehmen, der doch besser als jeder andere den Schutz des Königs zu gewährleisten vermochte. Man nehme doch nur den Überfall auf den Palast der Stalkonen, den die Anhänger des Unaussprechlichen in jener denkwürdigen Nacht vor unserem Aufbruch verübt hatten und auf den der Posten am Stadttor vorhin zu sprechen gekommen war. Der König seinerseits scherte sich jedoch nicht im Mindesten um die Meinung des Grafen. Für Stalkon bestand nämlich kein Zweifel daran, dass jeder kleine Leutnant Seine Majestät schützen könne, während einzig Alistan Markhouse die Aufgabe meistern würde, uns durch die Wälder Sagrabas zu den Gräbern Hrad Spines zu bringen.

»Was ist heute nur mit dir los?«, erklang die empörte Stimme Kli-Klis neben mir. »Ich reiß mir ein Bein aus – und du hörst nicht mal zu!«

»Sag bloß, du hast was Hörenswertes vom Stapel gelassen?«, erwiderte ich.

»Vom Stapel gelassen!«, höhnte der Kobold. »Ich habe nichts vom Stapel gelassen, ich habe die Schönheit dieser ruhmreichen Stadt besungen!«

»Ich kann da nichts Schönes entdecken«, maulte ich, während ich die Straße betrachtete, durch die wir gerade ritten.

Eine ganz gewöhnliche Straße. Alte, einstöckige Häuser mit Wänden, von denen der Putz abblätterte. Gut, der Gerechtigkeit halber musste man zugeben, dass dies nicht für alle Häuser zutraf. Aber von Schönheit konnte dennoch keine Rede sein. Wüsste ich nicht, dass ich mich in Ranneng befand, hätte ich vermutet, mich in der Äußeren Stadt von Awendum aufzuhalten.

»Über deinen Grübeleien ist dir eben die ganze Schönheit entgangen!«, empörte sich Kli-Kli. »Aber gleich kommen wir in den Park, da wachsen Bäume, die genauso schön sind wie die in den Wäldern von Sagraba.«

»Bist du denn schon einmal hier gewesen, Kli-Kli?«, wollte Lämpler wissen, der auf seinem Schimmel und mit Schandmauls Pferd im Schlepptau an uns herangeritten kam.

»Das bin ich«, antwortete Kli-Kli und schmatzte versonnen. »Im Auftrag des Königs.«

Hallas verschluckte sich, derart überrascht war er, ja, er vergaß sogar seinen schmerzenden Zahn. »Erzähl uns doch keine Märchen, Kli-Kli!«, ranzte er den Kobold an. »Ich glaube im Leben nicht, dass dir der König jemals einen Auftrag erteilt hat!«

»Bäh!« Der Kobold streckte ihm die Zunge raus.

»Erzähl uns dein Märchen trotzdem, Kli-Kli!«, bat Marmotte. »Um uns die Zeit zu vertreiben, bis wir die Schenke erreicht haben.«

»Och, wir sind doch fast da! Gleich hinterm Park kommt ja schon die Universität. Es liegt also gar kein langer Weg mehr vor uns.«

Selbstredend hatte es der Schmierenkomödiant ausschließlich auf eindringliches Bitten angelegt.

»Nun komm schon, stell dich nicht so an!«, quengelte Lämpler.

»Dann lass mich überlegen, womit ich anfange«, erwiderte Kli-Kli gnädig und setzte eine Miene auf, als versuche er sich krampfhaft daran zu erinnern, welchen Anfang die Geschichte genommen hatte.

»Garrett, nimm mal kurz Triumphator, ich will mir die Jacke ausziehen«, bat mich Marmotte unterdessen.

»Gern«, sagte ich, worauf mir Marmotte den Ling auf die Schulter setzte.

Das zerzauste Rattentier namens Triumphator beschnupperte mich erst, grunzte und machte es sich dann auf meiner Schulter bequem. Von Marmotte abgesehen war ich der Einzige in unserer Gruppe, den der Ling nicht biss und von dem er sich, wenn er besonders großherzig gestimmt war, sogar streicheln ließ. Keine Ahnung, woher diese Liebe für mich rührte. Als ich nun beobachtete, wie der Ling versuchte, Kli-Kli in den Finger zu beißen, kaum dass dieser die Hand nach ihm ausstreckte, grinste ich breit, was den Kobold wiederum sehr erboste. »Geh etwas sanfter mit dem Tier um, Garrett«, blaffte er. »Sonst knabbert es dir noch das Ohr an.«

»Du hast uns eine Geschichte versprochen, Kli-Kli«, rief ich ihm in Erinnerung.

»Ach ja, stimmt! Also, vor einem Jahr haben die Oburen und die Eber ein Bündnis geschlossen, um den Nachtigallen eine Blutnacht zu bereiten. In Ranneng hätte der Aufstand losbrechen sollen, was Stalkon natürlich beunruhigte. Denn dann wäre es mit den Nachtigallen losgegangen und hätte mit dem König geendet. Daher hat er mich hierher geschickt.«

»Unser unerschrockener Freund eignet sich ja auch wie kein Zweiter als Friedensstifter!«, sagte Deler lachend.

»Ihr Zwerge habt nicht für einen Kupferling Fantasie!«, höhnte Kli-Kli. »Ich wurde hierher geschickt, um die Eber und die Oburen gegeneinander aufzuhetzen. Und zwar derart gründlich, dass keine Seite mehr im Traum daran denken mochte, mit der anderen ein Bündnis einzugehen. Was mir auch vortrefflich gelungen ist!« Die letzten Worte sprach der Kobold nicht ohne Stolz.

»Und wie hast du das angestellt?«, fragte ich, während ich Marmotte den Ling zurückgab.

»Dumme Frage! Genau wie du in der Geschichte mit dem Pferd der Schatten!«

»Wovon redet er da?«, wollte Lämpler von uns wissen.

»Das ist nicht weiter von Belang, Mumr«, winkte ich ab, denn ich wollte mich nicht über die Geschichte mit dem Pferd auslassen, bei der ich jeden gegen jeden aufgehetzt hatte. »Und? Wie hat den Oburen und Ebern das Ganze denn gefallen, Kli-Kli?«

»Weißt du, was seltsam ist, Garrett? Es hat ihnen überhaupt nicht gefallen!«, antwortete der Narr lachend. »Vor allem den Oburen nicht. Als sie nämlich hörten, dass einer der Grafen der Eber sein Töchterchen einer Nachtigall zur Frau geben will, waren sie außer sich und verpassten den Ebern kurzerhand eine Abreibung! Die blieben den Oburen aber auch nichts schuldig und köpften ein paar von ihnen. Daraufhin brach in der Stadt das reinste Chaos los! Von einem Bündnis konnte keine Rede mehr sein! Die Adligen des Südens kochten alte Streitereien wieder auf, und mein König brauchte sich um seinen Thron keine Sorgen mehr zu machen. Aufstand und Bürgerkrieg waren auf unbestimmte Zeit vertagt, das Königreich hatte einem Narren für Frieden und Ruhe in Vagliostrien zu danken!«

»Unser Narr ist schon ein toller Bursche!«, schnaubte Arnch und klimperte mit dem Kettenhemd.

Die Adligen aus dem Süden steckten unserem König wie eine Gräte in der Kehle. Sie zu schlucken würde wehtun, sie auszuspucken könnte noch schlimmer enden, denn dann ließen sich die Mylords womöglich mit den westlichen Provinzen ein – was das Ende für unseren König bedeutet hätte!

Unter dem Vater unseres jetzigen Stalkonen war der Thron schon einmal in Gefahr gewesen. Damals hatten die Adligen in den westlichen Provinzen die Dynastie stürzen wollen. Die Weigerung des Königs, Miranuäch die Strittigen Lande zu überlassen, hatte ihr Missfallen erregt. Glücklicherweise scheiterte der Aufstand. Die Königsgarde bereitete den Rebellen nämlich eine hübsche kleine Überraschung, indem sie völlig unerwartet auftauchte. Die Adligen des Südens hatten den Aufruhr ihrer westlichen Nachbarn allerdings nicht unterstützt, denn Eber, Nachtigallen und Oburen waren viel zu sehr mit ihren eigenen Intrigen beschäftigt, um an einer Verschwörung gegen die Krone teilzunehmen.

Solange sich die Adligen also untereinander beharkten und nicht an Bündnisse dachten, hatte Stalkon nichts zu befürchten.

Inzwischen ritten wir bereits durch den Park, der mit riesigen Eichen bestanden war. Kaum zu glauben, dass solche Bäume mitten in der Stadt wuchsen. In Awendum gab es selbst im Schlossgarten keine derart hohen Bäume, von anderen Stadtvierteln ganz zu schweigen. Wenn uns die Winde vom Kalten Meer und aus den Öden Landen Frost bringen, werden im Winter alle Bäume kurzerhand zu Brennholz verwandelt, das Volk aus dem Hafenviertel und der Vorstadt lässt von ihnen dann nur noch Stümpfe stehen.

Die Straße zog sich einen Hügel hoch, und als wir aus dem Park herausritten, fanden wir uns in dem Viertel wieder, in dem auch die Universität lag. Die Häuser waren nun neuer und schöner als die, an denen wir bisher vorbeigekommen waren. Doch auch hier gab es so viele Menschen auf der Straße wie Flöhe auf dem Bauch eines dreckigen Köters.

Bevor wir die Schenke erreichten, die Miralissa während ihrer letzten Reise durch Vagliostrien schätzen gelernt hatte, schimpfte der Gnom einige Passanten aus, die zwischen unseren Pferden hindurchhuschten. Einmal wurde auch die Wache seinetwegen auf uns aufmerksam, was Ohm – als Anführer der Wilden Herzen – einen Rüffel von Markhouse eintrug. Ohm wollte natürlich nicht den Sündenbock für Hallas spielen und blies dem Gnom tüchtig den Marsch. Der schnappte ein, reckte den Bart in die Höhe und verstummte, nur seine schwarzen Augen funkelten bedrohlich unter den zusammengezogenen Brauen hervor. Immerhin zeigte die Schelte Wirkung, denn den restlichen Weg brachten wir ohne weitere Zwischenfälle hinter uns. Schon bald erreichten wir unser Ziel.

Die einstöckige Schenke war sehr groß, äußerst solide und von der Straße durch einen Zaun abgeschirmt.

»Ich werd nicht mehr!« Deler stieß einen Pfiff aus, als er sich die Herberge besah. »Das deutet auf eine riesige Küche hin! Und eine große Küche ist immer ein sicherer Hinweis auf gutes Essen! Nicht wahr, Hallas?«

Der Gnom warf seinem Freund einen mitleidheischenden Blick zu. Der Zahnschmerz peinigte den Unglücksraben dermaßen, dass er auf jeden Streit verzichtete.

»Du hast recht, Deler«, dröhnte der Riese Met. »Wir haben lange genug das Zeug von Ohm und Hallas gefuttert! Jetzt ein schönes Spanferkel mit Meerrettich!« Met fuhr sich mit der Hand über das honiggelbe Haar, das ihm seinen Namen eingebracht hatte.

»Das sollt Ihr haben, mein guter Herr! Mein Wort drauf! Sogar zwei! Ein starker Mann, wie Ihr es seid, wird von einem doch nicht satt!«, antwortete dem Soldaten ein rundlicher, rotgesichtiger Mann, der förmlich aus dem Nichts aufgetaucht war. »Guten Tag, Lady Miralissa! Ich bin glücklich, Euch abermals in meiner bescheidenen Hütte begrüßen zu dürfen!«

»Und ich freue mich, dich bei bester Gesundheit und Laune zu sehen, Meister Pito«, erwiderte die Elfin mit einem höflichen Lächeln. »Wie laufen die Geschäfte?«

Da gab uns Hallas freilich mit einem gottserbärmlichen Seufzer zu verstehen, sämtliche Fragen sollten doch bitte auf einen Zeitpunkt verschoben werden, da er nicht mehr unter seinem Zahn litte. Meister Pito schielte zu dem mürrischen Gnom hinüber, überging dessen Stoßseufzer aber. »Mehr schlecht als recht.«

»Am Hungertuch wirst du schon nicht nagen!«, bemerkte Ell und saß ab. »In dem halben Jahr, in dem wir dich nicht gesehen haben, bist du noch dicker geworden!«

»Was will man machen?!«, zerstreute der Schankwirt den Einwand des Elfen, der für Miralissas Schutz sorgen sollte. »Das ist Kummerspeck! Ah! Trash Miralissa bringt neue Gäste mit! Wo sind denn die, die Euch letztes Jahr begleitet haben? Ich sehe nur die Herren Egrassa und Ell.«

»Sie weilen nicht mehr unter uns«, gab Miralissa widerwillig Auskunft.

Diesen Teil der Geschichte kannte ich nicht. Aus jenen Andeutungen, die die dunkle Elfin in früheren Gesprächen gemacht hatte, reimte ich mir allerdings zusammen, dass bis auf Egrassa und Ell alle, mit denen sie aus den Wäldern Sagrabas aufgebrochen war, in den schneeigen Weiten bei den Nadeln des Frosts geblieben sein mussten. Lebend waren aus den Öden Landen nur die drei Elfen und Ohm mit seinen Wilden Herzen zurückgekehrt, die Miralissa dann auch nach Awendum gebracht hatten und uns jetzt begleiteten.

»Das tut mir leid«, sagte der Wirt. »Wie konnte dies nur geschehen?«

»Zeigt uns lieber unsere Zimmer, Meister Pito«, wechselte Egrassa das Thema.

»Äh … ja natürlich.« Der Schankwirt begriff, dass er einen wunden Punkt berührt hatte. »Ich bitte untertänigst, meine Neugier zu entschuldigen! Folgt mir, gute Herren! Einem Eurer Gefährten habe ich bereits ein Zimmer gegeben. Und Bier dazu!«

»Wer soll das sein, Meister?« Markhouse kniff die Augen misstrauisch zusammen, seine Hand fuhr zum Schwert.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte der Schankwirt erschrocken zurück und blieb wie vom Donner gerührt stehen. »Er hat gesagt, er gehöre zu Euch …«

»Wer hat das gesagt, Meister Pito?«, fiel ihm Graf Alistan ins Wort.

»Ich, Mylord Markhouse!« Schandmaul trat mit einem Krug Bier aus der Tür.

»Du bist ja schnell wie der Blitz!«, staunte Arnch. »Ich habe erst am Abend mit dir gerechnet.«

»Wie geht’s deiner Freundin?« Lämpler ging an Schandmaul vorbei und verschwand in der Schenke, ohne die Antwort abzuwarten.

»Ich bin nicht bei meiner Freundin gewesen!«, verteidigte sich Schandmaul halbherzig.

»Natürlich nicht!«, sagte Marmotte, der Mumr ins Haus folgte. »Du warst in den Pilzen!«

»Tretet ein, meine Herren! Bitte sehr!« Pito zeigte sich jetzt wieder als Herr der Lage. »Die Zimmer sind bereits vorbereitet!«

Kli-Kli bedachte unsere Gruppe mit einem Blick aus seinen blauen Augen. »Hat jemand etwas dagegen, wenn ich mit Garrett und Lämpler das Zimmer teile?«, wollte er wissen.

Natürlich hatte niemand etwas dagegen, denn alle in unserer Gruppe wussten: Je größer der Abstand zum Kobold, desto angenehmer der Schlaf. War Kli-Kli nicht in der Nähe, brauchte man nämlich nicht damit zu rechnen, einen Eimer kalten Wassers übergegossen zu kriegen.

»Wenn sich Kli-Kli das antun will, bitte sehr«, brummte Hallas und stapfte an uns vorbei.

»Ich habe damals den kurzen Halm gezogen und muss mit Lämpler in einem Zimmer schlafen«, sagte ich. »Aber warum nimmst nun du diese Tortur auf dich? Hat dir das eine Mal nicht gereicht?«

»Vielleicht verschafft mir das Geschnarche ja ein ästhetisches Vergnügen«, antwortete Kli-Kli.

»Klar«, schnaubte ich.

Kurz nach unserem Aufbruch aus Awendum hatten die Wilden Herzen und ich jeder einen Strohhalm gezogen, um zu entscheiden, wer bis zum Ende unserer Expedition mit Lämpler das Zimmer teilen musste. Nach dem Gesetz der universellen Schweinerei hatte natürlich ich diesen Halm gezogen. Was mich da erwartete, erfuhr ich noch in derselben Nacht, als Lämpler anfing zu schnarchen. Und zwar zu schnarchen, wie es im Buche steht. Viele Menschen auf der Welt schnarchen, aber dermaßen zu schnarchen – das schaffen nur wenige. Lämpler gehörte zu ihnen. Allerdings schnarchte er lediglich in geschlossenen Räumen. Unter freiem Himmel, auf Feldern oder im Wald blieb er stumm wie ein Fisch. Sobald er jedoch ein Dach überm Kopf hatte …

In der ersten Nacht hatte ich damals einfach kein Auge zutun können, in der zweiten hatte ich mir dann Pfropfen fürs Ohr besorgt und ruhig durchgeschlafen. Kli-Kli war etwas später zu unserer illustren Gemeinschaft hinzugestoßen. Seine erste Nacht unter einem Dach mit Mumr verlief ähnlich qualvoll wie die meine. Obwohl wir unser Lager später stets unter freiem Himmel aufgeschlagen hatten, erinnerte sich Kli-Kli bis heute an das markerschütternde, ununterbrochene Geschnarche. Deshalb erschien sein Wunsch, das Zimmer mit Lämpler zu teilen, gelinde gesagt merkwürdig. Ich war geneigt anzunehmen, der Kobold sei mal wieder auf eine Gemeinheit verfallen – und diese Nacht würde Mumr kein Auge zutun. Im Gegensatz zu Kli-Kli.

»Du gehst auf unser Zimmer?« Kli-Kli hatte sich am Eingang zur Schenke aufgebaut.

»Hmm«, brummte ich und trat ins Haus.

Der Schankraum war so groß wie ein kleiner Platz. An der Decke hingen Lüster mit Kerzen, es gab durchbrochen gearbeitete, aber solide Stühle, lange Bänke, wuchtige Tische und die Theke. Die eine Wand zierte eine riesige, aus einem ganzen Baumstamm geschnitzte Eule. Eine Treppe führte hoch in den ersten Stock, eine massive Eichentür zur Küche.

»Habt Ihr viele Gäste für die Nacht, Meister Pito?«, fragte Graf Markhouse, während er die Lederhandschuhe auszog und auf den nächsten Tisch warf.

»Niemanden außer Euch«, antwortete der Wirt.

»Ach ja?« Der Hauptmann der Königsgarde zog verwundert eine Augenbraue hoch. »Gehen die Geschäfte wirklich so schlecht?«

»Das nun auch wieder nicht, Mylord!« Der Schankwirt grinste verschlagen. »Trash Miralissa hat den Unterhalt der Schenke für zwei Jahre im Voraus bezahlt.«

»Wir haben beschlossen, aus der Gelehrten Eule unser Stabsquartier zu machen, wie Ihr Menschen das nennt«, erläuterte Egrassa. »Meine Cousine hat Meister Pito bezahlt, damit er niemanden sonst aufnimmt. Auf diese Weise können wir unbefangener ein- und ausgehen.«

»Meister Pito«, sagte daraufhin Mumr, auf seinen Birgrisen gestützt, »uns könnte jetzt ein Bier schmecken.«

»Kommt sofort!«, beeilte sich der Wirt zu versichern. »Nur seid so gut, mein Herr, die Klinge, die Ihr in den Boden gerammt habt, herauszuziehen, sonst verschandelt Ihr mir nämlich die ganze Schenke.«

»Und zum Bier ein Ferkel!«, erinnerte Met den Wirt daran, dass er auch etwas essen wollte.

»In fünf Minuten wird alles serviert!« Der Schankwirt stürzte davon, die Bestellungen an sein Personal weiterzugeben.

Ich schlenderte zu einem Tisch am anderen Ende des Raums, ließ mich erleichtert auf einen Stuhl fallen und holte die Pläne von Hrad Spine aus der Tasche. Die tiefen, unterirdischen Labyrinthe der Friedhöfe verlangten nach einem eingehenden Studium. Hier bot sich endlich wieder ein ruhiges Minütchen, mir die Papiere anzusehen, die ich unter so großen Mühen besorgt hatte.

Einst hatte der Orden den wahnwitzigen Versuch unternommen, mit dem Horn des Regenbogens den Unaussprechlichen auszuschalten. Das Unterfangen war in einer Katastrophe geendet, bei der der Kronk-a-Mor, die schrecklichste Form des ogerischen Schamanismus, freigesetzt wurde. Danach hatten die Magier das Horn in Hrad Spine versteckt. Alle Pläne, Karten und Beschreibungen zu seinem Versteck hatten sie im alten Turm des Ordens gelassen, der inzwischen wie abgeschnitten hinter der magischen Mauer im Geschlossenen Viertel Awendums lag. Ich wollte nicht einmal an jenen kleinen nächtlichen Spaziergang durch dieses Viertel, in dem das Böse und der Fluch des alten Ogerschamanismus herrschten, zurückdenken. Allein der Gnade der Götter hatte ich es zu verdanken, dass ich diesen Ort wieder lebend hatte verlassen können, denn ich war die schmale Scheide zwischen Licht und Dunkel entlangbalanciert und wäre beinahe für alle Zeiten in der Ruine des alten Turms geblieben. Doch Garrett der Schatten hatte vollbracht, was nie zuvor jemand vollbracht hatte, er hatte das Geschlossene Viertel durchquert, hatte sich die Karten aus dem alten Turm besorgt – und damit die Aussichten, den Kontrakt zu erfüllen, geringfügig erhöht. Wollte ich ohne diese Karten nach Hrad Spine vordringen, so könnte ich auch gleich meinen Kopf ins Maul eines H’san’kor stecken.

»Du hast diese Papiere lange genug studiert, Garrett! Den Rest kannst du dir ein andermal ansehen!«, fuhr mich Kli-Kli an. »Kommst du mit?«

»Wohin?«, fragte ich.

»Wir begleiten Hallas zum Bader.«

»Wir schicken ihn doch nicht auf die letzte Reise. Warum bin ich da nötig?«

Kli-Kli trat dicht an mich heran, blickte sich wie ein Verschwörer um und flüsterte: »Deler sagt, dass Hallas panische Angst hat! Kann sein, dass wir ihn festhalten müssen!«

»Dann nehmt Met mit«, erwiderte ich. »Er ist kräftig, der hält fünf Gnome auf einmal fest. Mir sind meine Zähne zu teuer, als dass ich sie mir von Hallas ausschlagen lasse.«

»Met bewegt seinen Hintern heute nicht mehr von der Bank weg«, setzte mich der Kobold ins Bild. »Arnch, Lämpler und Marmotte flanieren bereits durch die Stadt, die Elfen und Alistan kannst du vergessen, sie wollen auch irgendwo hingehen. Schandmaul, Ohm und Met werden Bier in sich reinschütten, bis sie platzen. Wen soll ich denn sonst fragen, wenn nicht dich?«

»Aal.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung des dunkelhäutigen Garrakers.

»Er kommt ohnehin mit.«

»Soll das heißen, er reicht dir nicht?«

Nach der langen Reise brannte ich wahrlich nicht darauf, die Schenke gleich wieder zu verlassen.

»Komm schon, Garrett, stell dich nicht so an! Deler bittet wirklich dringend darum!«

Ich knurrte den Kobold an, raffte aber trotzdem die Papiere zusammen, rollte sie wie gehabt in Drokr, jenen wasserdichten Stoff der Elfen, ein und steckte sie zurück in die Tasche.

»Na endlich«, zischte Hallas, als Kli-Kli und ich uns ihm näherten.

»Wohin wollt Ihr, gute Herren?«, fragte der Wirt verwundert, als er bemerkte, dass wir uns zum Ausgehen bereit machten. »Das Bier kommt gleich!«

»Uns steht der Sinn jetzt nicht nach Bier«, seufzte Deler bedauernd und stülpte sich seinen topfförmigen Hut auf den Kopf. »Hallas hat Zahnschmerzen, wir müssen zum Bader.«

»Oje.« Der Wirt schielte mitfühlend zu dem Gnom hinüber, der vor Schmerz mehr tot als lebendig war. »Aber warum zum Bader? Wir könnten ihm doch einen kräftigen Faden um den Zahn binden, den wir dann an der Tür festmachen. Sobald ich die Tür öffne, fliegt der Zahn raus!«

»Danke, das ist nicht nötig«, beeilte sich Deler zu versichern und schien sich rein zufällig zwischen Gnom und Schankwirt zu stellen.

Der Gnom warf einen wilden Blick auf den armen Meister Pito. Dieser begriff, dass er nur um Haaresbreite einer Abreibung entgangen war, und flüchtete in die Küche.

»Garrett«, sprach mich Miralissa leise an, »vergiss nicht, die Armbrust in der Schenke zu lassen.«

H’san’kor steh mir bei! Da habe ich doch glattweg mein kleines Spielzeug vergessen!

Ich musste das Wunderwerk, das der Zwerg Meister Honhel geschaffen hatte und das mühelos in eine Hand passte und mit zwei Bolzen gleichzeitig geladen werden konnte, herausrücken. Da mir mein Freund jedoch stets wertvolle Dienste leistete, wollte ich mich nicht von ihm trennen. Ohne die Armbrust auf dem Rücken fühlte ich mich nackt und schutzlos.

»Und das Messer lass auch hier!«, verlangte Ell, als ich Ohm die Armbrust aushändigte.

»Besser ist es«, pflichtete Ohm Ell bei.

»Wir geben dir dafür etwas, das nicht so auffällig ist!«, schlug Kli-Kli kichernd vor. »Eine Gabel zum Beispiel«

»Warum soll ich denn das Messer hierlassen?« Ich sah Miralissas K’lissang an, ohne Kli-Klis Spitze auch nur mit einem Wort zu würdigen.

»Die Stadtwache würde sich daran nicht schlechter festbeißen als ein Imperiumshund an einem Stück Fleisch.«

Na gut! Vielleicht hatte der Elf ja recht, vielleicht würde mir mein zweischneidiges Messer mit der Silberkante tatsächlich Unannehmlichkeiten bescheren. Schweren Herzens ließ ich auch die Klinge in Ohms Obhut zurück.

»Met«, wandte sich Marmotte an Ohms Stellvertreter, »gib mir mal meinen Sack, Garrett soll doch nicht völlig unbewaffnet durch die Stadt wandern.«

Marmotte fing den Sack, kramte darin, fand etwas Zwieback, den er Triumphator in die Pfoten drückte, der vor Begeisterung fiepte, wandte sich dann wieder seinem Sack zu und holte einen Dolch in einer schlichten abgegriffenen Scheide heraus. »Hier!«

Ich nahm die Waffe an mich und zog den Dolch halb aus der Scheide. »Rubinrotes Blut?«

»Genau. Ein Werk der Kanienschmiede. Das ist guter Stahl.«

»Untertreib nicht! Die Klinge kann es glatt mit der von Alistan aufnehmen!«, begeisterte sich der Narr, als er den Dolch sah, der ein rötliches Licht ausstrahlte.

»Danke, Marmotte!« Ich gab dem Soldaten die Waffe zurück. »Der Stahl ist wirklich gut, aber zu auffällig. Hast du nichts Einfacheres?«

»Wir haben jede Klinge, die du willst! Nimm meine!« Lämpler reichte mir seinen Dolch.

»Schon besser.« Ich nickte ihm dankbar zu und knüpfte die Klinge an den Gürtel.

Im Notfall barg eine Geheimtasche noch eine Rasierklinge, außerdem fand sich in einer Tasche ein ganzes Arsenal von magischen Utensilien, die ich am Vorabend vor der Abreise aus Awendum gekauft hatte. Was sollte mir da noch passieren?

»Kli-Kli!« Alistan trat an den Narren heran. »Du hast nichts Verbotenes dabei?«

Der Narr schnappte ein, als hätte ihn Graf Ratte des Hochverrats bezichtigt, und lüftete seinen dunklen Umhang, um den breiten Gürtel zu zeigen, an dem vier schwere Wurfmesser hingen. Zwei rechts, zwei links. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er während unserer Reise die Messer auch nur einmal gezogen hätte.

»Ist das alles? Versteckst du auch nichts? Ich habe nämlich nicht die Absicht, dich aus den Pranken des Gesetzes zu befreien, wenn du unter deinem Umhang etwas Verbotenes trägst.«

»Ich bin so leer wie eine Flasche Wein in den Händen eines Trunkenbolds, Mylord«, antwortete Kli-Kli aufrichtig.

»Gut!« Offenbar schenkte Alistan den Worten des Kobolds Glauben. »Und denk daran, dass dich auch eine allzu spitze Zunge in Schwierigkeiten bringen kann!«

»Das werde ich«, versicherte der Narr, wobei er mit seinem ganze Gebaren zum Ausdruck brachte, er wisse auch ohne Alistans Ermahnungen nur zu genau über die Humorlosigkeit jeder Stadtwache Bescheid.

Nach umständlicher Sucherei zog der Kobold aus einer seiner zahlreichen Taschen ein Knäuel verknoteter Schnüre hervor. Mir fielen seine Beteuerungen wieder ein, er könne mit diesem Ding einen schrecklichen Koboldzauber wirken. Als Kli-Kli meinen Blick auffing, sagte er fröhlich: »Notfalls sind wir gewappnet!«

»Warn mich, bevor du das Ding einsetzt«, bat ich. »Damit ich mich noch kurzerhand in eines der benachbarten Königreiche absetzen kann.«

Der Narr bedachte mich mit einem Blick, der mir klar zu verstehen gab, dass er mir diese Worte ewig nachtragen würde, und steckte sein Knotenwerk in die Tasche zurück. »Du wirst dich noch sehr wundern, Garrett, wenn ich meinen Schamanenzauber wirke.«

»Was ist mit dir, Deler, willst du mir nichts dalassen?«, fragte Ohm.

Deler setzte eine Unschuldsmiene auf und spendierte seinem Anführer einen ehrlichen Blick unter seinen struppigen roten Brauen hervor. »Glaubst du etwa, ich bin noch grün hinter den Ohren? Mir reichen ein paar Klingen. Außerdem kann ich immer noch allen eins mit einem Stuhl überziehen!«

»Deler!«

»Ich weiß, dass ich so heiße!«, brauste der Zwerg auf.

»Wo ist deine Streitaxt?«

»Die ist bei mir, sicher und gut verstaut«, schaltete sich Schandmaul ein und bleckte fröhlich die Zähne. »Deler hat sie zufälligerweise neben der Tür vergessen, da habe ich sie lieber reingebracht.«

Ungeachtet seiner Zahnschmerzen lachte Hallas lauthals darüber, dass seinem Freund ein Strich durch die Rechnung gemacht worden war.

Deler sah Schandmaul an, als stünde der Erzfeind des Zwergenvolkes vor ihm, spuckte aus und stapfte zum Ausgang. »Ich warte draußen auf euch!«, knurrte er, als er an uns vorbeistiefelte.

»Und ob der noch grün hinter den Ohren ist!«, seufzte Ohm.

Hätte Deler tatsächlich seine geliebte zweischneidige Axt mitgenommen, wären wir keine zehn Yard weit gekommen, ohne die Aufmerksamkeit der Wache auf uns zu ziehen.

»Marmotte!« Der einsilbige Aal reichte dem Soldaten »Bruder« und »Schwester«. »Pass auf die beiden auf.«

»Natürlich, mein Freund«, versprach Marmotte, als er die beiden Klingen aus den Händen des Garrakers entgegennahm.

»Gehen wir, Garrett, sonst bringen mich diese Zahnschmerzen noch um!«, maulte Hallas und verließ die Schenke.

Kapitel 2

Alte Bekannte

»Wohin gehen wir eigentlich?« Kli-Kli musste hüpfen, denn seine kurzen Beine waren nicht für die Geschwindigkeit geschaffen, die Hallas unserer Gruppe vorgab.

»Zum Bader. Als ob du das nicht selbst wüsstest!«

»Mir ist völlig klar, dass wir nicht zum Schuster gehen, Garrett! Aber wir sind bereits an etlichen Badern vorbeigekommen!«

»Dann bin ich für diese Frage die falsche Adresse! Da musst du Hallas fragen!«

»Vielen Dank, aber ich möchte meine alten Tage noch erleben! Bei der Stinklaune, die er heute hat, werde ich ihm keine Fragen stellen.«

»Wenn du ihn nicht fragen willst, dann halt doch die Klappe, ja?«

»Pah!«, stieß der Kobold beleidigt aus und stürmte vor, um Deler mit seinen Fragen zu löchern, der jedoch auch nicht mehr wusste als ich.

»Allmählich hängt mir dieser Spaziergang zum Hals heraus«, wandte sich Aal an mich. Seit wir die Schenke verlassen hatten, machte er zum ersten Mal den Mund auf.

»Nicht nur dir«, antwortete ich mit einem Stoßseufzer.

Eine geschlagene Stunde liefen wir bereits auf der Suche nach dem richtigen Bader durch Ranneng. Wie der Gnom unter all den Badern den richtigen herauspicken wollte, blieb uns ein Rätsel. Von den Badern, an denen wir schon vorbeigekommen waren, hatte jedenfalls keiner die gestrengen Anforderungen erfüllt, die Hallas an den Mann stellte, der ihm einen Zahn ziehen durfte. Deshalb blieben die Taschen der Bader leer – und der schmerzende Zahn saß weiter im Mund des Gnoms. Jedes Mal hatte Hallas einen Grund vorgebracht, warum er etwas gegen den einen oder anderen Zahnrausreißer hatte. Mal war der Laden zu dreckig, mal zu teuer, der dritte Bader hatte blaue Augen, der vierte war zu alt, der fünfte zu jung, der sechste verschlafen, der siebente seltsam, der achte stotterte, die Visage des neunten schrie förmlich nach seiner Faust, kurzum, die Ausreden des Gnoms waren schier unerschöpflich!

Und noch etwas fiel mir an Hallas auf: Sobald er sich dem Laden eines Baders näherte, verlangsamten sich seine Schritte wie von Zauberhand. Er kroch nur noch so langsam wie eine betrunkene Schnecke vorwärts und zitterte leicht. Selbst einem blinden Doralisser war klar, welch entsetzliche Angst Hallas davor hatte,  mit den Zangen des Baders Bekanntschaft zu schließen.

»Wir fallen allmählich auf«, brummte Aal.

»Wir fallen bereits auf, seit wir die Schenke verlassen haben«, brummte ich zurück. »Das lässt sich nicht ändern!«

Wir boten in der Tat einen erstaunlichen Anblick! Die Leute gafften uns unverhohlen an. Zunächst natürlich den Kobold, denn Vertreter dieser Rasse traf man nicht allzu häufig in den Städten des Königreichs an. Doch kaum gewahrten die Leute Hallas und Deler, vergaßen sie Kli-Kli völlig, denn einen Gnom und einen Zwerg, eigentlich doch eingeschworene Feinde, in trauter Eintracht – dergleichen hatte man nun wirklich noch nie zu Gesicht bekommen.

»Garrett!« Kli-Kli zupfte mich am Ärmel. »Sieh mal!«

»Was denn?« Ich konnte nichts Interessantes entdecken.

»Genau vor deiner Nase!« Kli-Kli wies mit dem Finger auf einen Laden, der Gemüse feilbot. »Wart mal, ich bin gleich wieder da!«

Noch ehe ich ein Wort gesagt hatte, war der Kobold auch schon weg.

»Was hat er denn vor?«, fragte Deler.

»Jeder hat seine Schwäche«, antwortete ich. »Der eine will sich den Zahn nicht ziehen lassen, der andere vergöttert Mohrrüben.«

Hallas überhörte die Sache mit dem Zahn und stöhnte steinerweichend.

»Hör auf damit!«, schrie Deler den Gnom an. »Wer zwingt dich denn, durch die halbe Stadt zu pilgern? Das hast du jetzt davon!«

»Hier gibt es nur miserable Bader!«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es eben!«

»Ich hab die Nase voll von dir, du Schlauberger!«, polterte Deler und spuckte aus. »Gib wenigstens zu, dass du panische Angst hast!«

»Wer hat Angst?«, explodierte Hallas. »Gnome fürchten sich vor gar nichts! Euer bartloses Volk – ja, das besteht aus lauter Schisshasen! Beim kleinsten Anlass zittert ihr wie Espenlaub im Herbstwind!«

»Warum lässt du dir deinen Zahn dann nicht ziehen?«

»Das habe ich bereits gesagt, du Hohlschädel! Weil es hier nur miserable Bader gibt!«

»Wer’s glaubt, wird im Licht weilen!«

Der Gnom schnaubte nur und machte dem Zwerg damit klar, dass für ihn das Gespräch beendet sei.

»Und was schleppst du deinen Sack mit durch die Gegend?« Deler ließ nicht von Hallas ab. »Kannst du dich nicht mal eine Minute von ihm trennen?! Was hast du da überhaupt drin? Das Zauberbuch der Gnome?«

»Du bist schlimmer als ein Phlini!«, herrschte Hallas ihn an. »Das ist mein Sack! Den kann ich mitnehmen, wohin ich will!«

Der Gnom und der Sack waren einfach untrennbar. Wohin Hallas auch ging, immer schleppte er ihn mit. Was er enthielt, wusste nicht einmal Kli-Kli – und der steckte seine Nase überall rein. Deler verging geradezu vor Neugier. Auch ich hatte keine Ahnung, was für Schätze der Sack barg. Der Gnom hatte ihn von seinen Verwandten in Awendum bekommen und machte von ihm ein Aufhebens wie ein Huhn vom ersten Ei seines Lebens.

»Was ist jetzt?« Deler ließ nicht locker. »Willst du dir den Zahn ziehen lassen, oder muss ich dich als Feigling brandmarken?«

»Wenn ich meine Hacke dabei hätte, würdest du nicht so mit mir sprechen«, knurrte der Gnom. »Natürlich will ich ihn mir ziehen lassen, was dachtest du denn?«

»Wann?«, packte Deler den Stier bei den Hörnern.

»Sobald ich den ersten anständigen Bader finde!«

»Abgemacht!«

»Da bin ich wieder!« Kli-Kli kam auf uns zugeschlendert, genüsslich eine Rübe mümmelnd. »Was ist? Wollen wir den Zahn ziehen oder warten, bis er von selbst rausfällt?«

»Mein Zahn geht euch alle gar nichts an!«, giftete der Gnom. Mit diesen Worten hielt Hallas entschiedenen Schrittes auf ein Haus zu, an dem das Schild eines Baders prangte. Uns blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, inständig hoffend, der Gnom möge sich endlich dazu durchringen, sich den Zahn ziehen zu lassen.

Natürlich spielte das Schicksal mal wieder Würfel und erwischte uns kalt: Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte der Bader geschlossen.

»Beim D’san-dor!«, rief Deler. »Gleich hau ich diese Straße kurz und klein! Oder ich reiß dir den Zahn selbst raus, Hallas! Ich habe die Schnauze gestrichen voll von dieser Rumsucherei!«

»Gleich um die Ecke ist der Große Markt! Dort muss es einen Bader geben!«, schlug Kli-Kli rasch vor, da er befürchtete, der Zwerg könne sich tatsächlich am Zahn des Gnoms vergreifen. Die damit einhergehende Schlägerei würde uns noch die gesamte Stadtwache auf den Hals hetzen.

Jemand stöhnte leise. Ich hoffte sehr, es nicht selbst gewesen zu sein.

Der Große Markt trug seinen Namen zu Recht. Mehr noch – er war einfach riesig! Sowohl was die Ausmaße als auch was das Angebot der Waren betraf. Und die Menschen, die sich zwischen den Ständen hindurchquetschten, waren gar nicht mehr zu zählen.

»Pferde! Echte Doralissaner! Seht nur die Grazie!«

»Äpfel! Frische Äpfel!«

»Der beste Stahl des Nordens! Die besten Klingen des Südens!«

»Ein Affe gefällig, der Herr?«

»Willst du mich für dumm verkaufen? So was nennst du Rübe, du Luder?!«

»Dieb! Haltet den Dieb!«

»Teppiche aus dem Sultanat! Feinste Qualität! Da ist nicht mit Motten zu rechnen!«

»He! Etwas vorsichtiger, wenn ich bitten darf! Das ist Porzellan der tiefländischen Meister, nicht der Tontopf deiner Großmutter!«

»Latsch mir nicht ständig über die Füße! Sonst kriegst du eine!«

»Wenn du das Echo verträgst!«

»Sonnenblumenkerne!«

»Mylord, in unserem Etablissement findet Ihr die schönsten Mädchen weit und breit! Tretet ein! Für einen Silberling bekommt Ihr gleich drei! Und für zwei machen sie mit Euch, was Ihr wollt!«

»Mama! Ich will eine Brezel! Bitte!«

»Zügel, Trensen, Sattel! Zügel, Trensen, Sattel!«

»Welpen vom Imperiumshund! Bereits bissig!«

»Vom Imperiumshund? Das sind doch Ratten, aber keine Hunde!«

Der Tumult übertraf sogar noch den am Stadttor. Aal sagte mir etwas, das jedoch im Gebrüll einer dicken Alten unterging, die mir einen stinkenden Fisch unter die Nase hielt, der das Wasser bestimmt schon vor einem Monat verlassen hatte. Ich stieß die Händlerin weg und jagte Aal hinterher.

Hallas, der vor Schmerz demnächst gewiss auch noch sein letztes bisschen Verstand verlieren würde, führte uns durch die Menge, die dem Schauspiel der Artisten zusah. Er hatte sich ja noch nie durch besondere Höflichkeit seiner Umwelt gegenüber ausgezeichnet, aber jetzt setzte er die Ellenbogen ein, trat auf Füße und schimpfte wie ein waschechter Bewohner des Hafenviertels, um sich seinen Weg zu bahnen. Die Popularität des Gnomenvolks in Ranneng sank damit prompt unter den Preis von Dünger.

Wir hatten uns schon halbwegs durchs Gewühl gekämpft, da konnte sich Kli-Kli mal wieder nicht beherrschen und kletterte auf die Bühne, schlug ein Rad, machte einen Handstand, riss dem Jongleur die Fackel aus dem Mund, ließ sich mit dem Hintern auf sie fallen, sprang sofort wieder auf, kletterte eine Säule hoch, balancierte über ein Seil zu einer zweiten, spuckte einem Muskelmann auf die Glatze, der gerade ein Gewicht stemmte, und verabschiedete sich unter tosendem Beifall.

»Du hast dich gut amüsiert?«, fragte ich ihn, als er mich erreichte. »Mit allem Bom-tirlim und tralala?«

»Und du hast gut Trübsal geblasen und nur das Schlimmste befürchtet?«, blieb mir Kli-Kli nichts schuldig. »Du hast eine wirklich dämliche Einstellung zum Leben, Garrett!«

»Da bin ich aber anderer Meinung! Ich habe sogar eine ganz hervorragende Einstellung zum Leben!«