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In einem amerikanischen Ghetto aufgewachsen, findet sich Jonny nach einem Job als Drogenkurier, auf der Insel Keinland wieder. Er baut mit an einem Forschungsbunker und sieht seine Freunde sterben. Lethargisches Gehorsam bestimmt Jonnys Alltag, zehn Jahre lang. Bis er eines Tages Kinderschreie in den Tiefen des Bunkers hört ... (3. erweiterte und überarbeitete Auflage des Romans »Mutanta«)
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Seitenzahl: 492
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TINO HEMMANN
Abenteuerroman
Engelsdorfer Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailliert bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Dritte erweiterte und überarbeitete Auflage des Buches »Mutanta«
Copyright (2011) Engelsdorfer Verlag
Coverabbildung © tigger11th – Fotolia.com
eISBN: 978-3-86268-693-3
Der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht!
Jean-Paul Sartre
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Es ist, als sehe ich ihre Gesichter an der Reling. Die graublauen Augen, dieses gleichartige Aussehen. Ich spüre die Stille, denn sie reden nicht. Und ich weiß, sie denken über eine Zukunft nach. Es sind Menschenkinder. Und sie haben das Recht zu denken.
»Hört ihr?« Sie blicken mich an, ihre fragenden Augen. »Wenn wir das Land erreichen, müssen wir zusammenhalten. Dann wird uns nichts geschehen. – Glaubt mir!«
Sie zögern. Sie haben wohl Angst.
Dann plötzlich löst sich ein Junge von der Reling, kommt zu mir, berührt mit den Fingerspitzen meine Wange. Er drückt sich an meinen Körper, seine Arme um meinen Hals gelegt. Er ist klein und wohl einer der letzten.
»Wir glauben dir, Jonny.«
Ich sehe ihn an, meine Lippen zittern. – Er redet!
Ich bin fassungslos, breche in Tränen aus. Ich halte ihn fest umschlungen. Dieser Junge redet!
»Sag noch etwas«, flehe ich ihn an. »Bitte sprich mit mir!«
Er setzt sich im Schneidersitz vor mich auf die Planken, hält meine Hände fest. Er schaut in meine Augen.
Dann beginnt er das Lied zu singen, mit einer hohen, klaren Stimme. Jenes Lied, das ich M-810 nur ein einziges Mal vorgesungen habe:
»Schlafe, mein Prinz schlafe ein.
Im Traum bist du nicht allein.
Der Mond ist bei dir, darum schlaf mein Kind.
Und die Sternlein so golden am Himmel sind.
Im Traum bist du nicht allein,
darum schlafe mein Prinz, schlaf jetzt ein.
Schlafe mein Prinz, schlafe still,
wenn der liebe Gott es so will.
Die Liebe von mir ist bei dir mein Kind.
Und die Sternlein so golden am Himmel sind.
Ich lass dich im Traum nicht allein,
darum schlaf jetzt mein Prinz, schlafe ein.«
Erst weine, dann lache ich. Laut und herzlich! Ich drücke ihn gerührt, beobachte die tanzenden Wellen in seinen Pupillen, halte seinen kahlen Kopf zwischen meinen Händen, küsse seine Stirn, genieße sein herrliches Lachen, sein Jauchzen und seine Freude.
Wir lachen gemeinsam über den Professor, über den General, über die Auftraggeber und über all diejenigen, die Gott spielen wollten!
Jeden Neuankömmling beeindruckten die Wolkenkratzer, die Bürohäuser im Inneren der Stadt, deren Spitzen die Sonne berührten. Die Palmen an deinen Straßen, ordentlich sortiert, die Ölraffinerien und das Leben. Immer wieder das Leben.
Meine Stadt, meine Heimat, wo bist du? Gelingt es dem Wind, meine Stimme zu dir zu tragen? Ich liebe dich, meine Stadt, so hässlich und dreckig du auch warst. Ich liebe dich, wie meine Mutter, das arme, unglückselige Ding, das in deinen Straßen wohnt, das von deinen Menschen lebt, das ein Funken deiner Wärme war.
Wie viele Jahre sind vergangen, seit es geschah? Zwanzig Jahre schon?
Jagen noch immer Polizeifahrzeuge durch die verstopften Straßen? Legen noch immer riesige Schiffe aus aller Herren Länder in deinem Hafen an? Wie viele böse und warnende Blicke fingen sich seither die Kinder deiner Stadt ein, wenn sie vor den kleinen Buden standen und versuchten, den betäubenden Geruch unbezahlbarer Speisen in sich hineinzusaugen? Wie viele Mägen knurren in den Wohnsilos, entlang der ungezählten Straßen?
* * *
Der Regen trommelte auf die Plastiktüte, mit der ich Reklame für einen TV-Sender machte, die ich mir über den Kopf gezogen hatte, als ich in der 14. Straße stand, den Regen, alles andere vergaß und auf ein riesiges, buntes Reklameschild starrte.
Zwei Westernfiguren versuchten eine bestimmte Schokoladensorte anzupreisen. Eine Figur aß eine Tafel allein auf und die andere musste ihr neidig zusehen. Den Regen hatte ich längst vergessen. Durch das Flimmern der Hauswand hinter den Regenschleiern wirkte das farbige Lichtspiel nur noch anziehender. Plötzlich riss eine Figur den Mund unheimlich weit auf und in einer Sprechblase erschienen die Worte »Zu spät!«. Die Figur begann schrecklich zu heulen. Die andere Figur wies sie zurecht: »Geh einkaufen zu deinem Händler! Diese Schokolade ist meine, Jacky!« Heulend zog die eine Figur ab und fast im gleichen Moment zog die andere Figur eine weitere Schokolade unter ihrem Hut hervor und aß sie kichernd auf. Direkt unter den Wolkenschwaden leuchtete am Himmel der Name der Schokoladenfabrik.
Ich weiß nicht mehr genau, warum ich im Regen stand, mich von vorbeirasenden Fahrzeugen bespritzen ließ und immer wieder hinauf schaute, obwohl sich das Schauspiel ständig wiederholte. Ich weiß nur noch, dass ich mir einen schrecklichen Schnupfen wegholte und Mama schimpfte, weil ich durchnässt und dreckig nach Hause kam.
Mama.
Warum kommen mir die Tränen, wenn ich an Mama denke? Oh Mama, du warst niemals eine amerikanische Frau. Sie sind bessere Schauspieler, diese Sternenbannerbürger, die haben es gelernt, ihr Dasein als Schauspieler zu fristen.
Wie heißt das Land, aus dem du kamst, Mama? Damals war sie ein kleines Mädchen. Ihre Mutter hatte ihr die schwarzen, festen Zöpfe nach oben gesteckt, hatte ihr ständig leuchtend weiße Kleider angezogen. Irgendwann hatten sie eine Wohnung in der 43. Straße gefunden. Eine richtige Wohnung! Mama war gemeinsam mit Donald Duck aufgewachsen, jedoch konnte nicht sie die Staaten erobern, wie es ein Walt Disney tat, nein, die Staaten eroberten meine Mama, denn Mama war sehr hübsch, besonders wenn sie lachte. Ihre Arbeitsstelle war die Wohnung in der 43. Straße. Sie versuchte sich als Schauspielerin, wie so viele andere Mädchen, doch ihre Bühne war das Bett. Ihr schlanker Körper verdiente es nicht, verkauft zu werden, aber er brachte uns das Geld, das wir benötigten, um zu leben. Mamas Schauspiel wiederholte sich ständig.
»He, Kleiner!«, rief mir ein weißer Mann zu, den ich nicht kannte.
»Ja, Mister?« Ich lief auf ihn zu, in der Hoffnung, ich könnte ihm die Schuhe putzen oder einen Brief wegbringen und ein paar Cent verdienen.
»Sag deiner Mutter, sie soll heut’ Abend nicht auf mich warten«, raunte er mir zu.
»Yes, Sir. Ich sag’s ihr, Sir!« Nichts war es mit ein paar Cent. Ich lief heim, machte dabei einen großen Bogen um die 37-ste Straße, denn dort herrschten die Italos, vor allem über den großen Autofriedhof, der ein wunderbarer Spielplatz gewesen wäre.
Atemlos stand ich vor ihr. »Mama!«
»Jonny-Baby, was ist los?« Sie lächelte.
»Ich soll dir vom Mister sagen, er wird heute nicht kommen.«
Mama warf den Kamm auf einen Tisch und ließ sich in unseren einzigen Sessel fallen. Schon lächelte sie nicht mehr.
»Mama? Was machst du mit den Mistern?«
Ihre schwarzen Augen funkelten. »Jonny, das erkläre ich dir später!«
Ich verließ etwas traurig die Wohnung.
Einer von den Mistern hatte mich gemacht. Vielleicht hatte er sich besonders angestrengt, vielleicht war es nur Zufall. Mama hatte es nicht gewagt, das kleine Würmchen aus ihrem Bauch wegmachen zu lassen.
Sie erzählte mir, ich hätte wie wahnsinnig geschrien, gleich am Anfang, meine Haut war nicht so dunkelbraun wie die Reklameschokolade. Ich war auch nicht so weiß, wie es sicherlich der Mister war, der die Hälfte der Schuld an meiner Existenz trug.
Mama sagte, ich hätte schon immer sehr viel geträumt. Sie ging mit mir durch die von Menschenmassen verstopften Straßen San Franciscos. Plötzlich war sie allein. Eine Ewigkeit musste sie mich suchen, bis sie mich irgendwo wiederfand. Oft stand ich mitten auf dem Bürgersteig und ließ mich von fremden Menschen anrempeln. Mama war oft unterwegs, doch nur selten nahm sie mich mit. Manchmal kam sie eine ganze Nacht nicht wieder. Dann stand ich große Ängste aus, denn ich wusste nicht, was ich ohne Mama hätte tun sollen. Viele Männer nutzten sie aus. Ich merkte es, als ich etwa dreizehn war und Mama heulend in der Tür zum Schlafzimmer stand. Nackt und zitternd.
»Niggerhure hat er gesagt! Niggerhure!« Sie betrachtete mich nicht, schlug eine Tür hinter sich zu, die ich vorsichtig wieder öffnete, um ihr in die Küche zu folgen. Sie ging zum Kühlschrank, nahm die Whiskeyflasche für besondere Anlässe heraus, dazu die Eiswürfel, warf ein paar Eiswürfel in einen Whiskeybecher, goss einen Schluck vom Whiskey darauf, hielt den Becher unter den Wasserhahn, drehte auf, drehte wieder zu und trank.
»Niggerhure«, wiederholte sie. »Tausendmal hat er’s mit mir getrieben. Ich dachte, er würde mich mögen, immer war ich gut genug für ihn. Und jetzt plötzlich ...« Mama goss Whiskey nach. »Niggerhure.«
Ich stand an der Küchentür und weinte leise. Ich weinte immer, wenn Mama traurig war. Dann erst bemerkte mich Mama und sagte nichts mehr. Sie schämte sich nicht, nackt vor mir zu stehen. Sie schämte sich über das, was sie gesagt hatte.
Einmal versuchte ich mich als Zeitungsjunge. Das ging ein paar Tage gut und ich verdiente auch ein wenig Geld. Dann kamen vier Jungen, die nicht älter waren, als ich. Ganz plötzlich standen sie vor mir.
»Komm mit!«, meinte einer und zog mich aus dem Menschenstrom. Dessen Menschen wollte es nicht interessant genug erscheinen, was mit mir passieren würde.
Die Jungen zogen mich hinter ein Reklameschild, auf dem ein fettes Kind einen Hotdog verspeiste und dabei grinste. Die fremden Jungen umringten mich.
»Hör zu«, meinte einer, der mich an der Jacke festhielt. »Wenn du noch mal kommst, wirst du es bereuen. Wegen dir darf einer von uns keine Zeitungen mehr verkaufen.«
»Aber ...«, wagte ich zu sagen.
»Halt dein Maul! Was bist du eigentlich? Ein Nigger oder ein Weißer?«
Einer hielt ein geöffnetes Taschenmesser zwischen den Fingern. »Kommst du noch mal ...« Er schnitt mir überflüssiger Weise den Knopf ab, der die Hose hielt. Ganz plötzlich waren die Jungen wieder verschwunden. Ich zerrte meine Hose hoch, hielt sie fest und hetzte nach Hause.
Nein, ich teilte keine Zeitungen mehr aus, schließlich wollte ich nicht noch mehr als den Knopf verlieren, dessen Verschwinden mir bei Mama genügend Ärger einbrachte.
Ich begann, mir meinen Kopf über Sachen zu zerbrechen, die mich nicht zu interessieren hatten. In einem Negerviertel kam ich zur Welt und hatte ständig dort gelebt. Dabei hatten wir viel Glück mit der Wohnung von Mamas Mama, nur ein paar Schritte von unserem alten, großen Haus entfernt, standen Blechbuden, die viel schlechter waren, als Mamas Wohnung, in denen auch nur Neger wohnten.
Ich saß auf dem Stuhl, auf dem Mama sonst immer saß, um sich schön zu machen, wenn sie am Abend Besuch erwartete und blickte traurig in den großen Spiegel, der an den Rändern schon etwas blind wurde. Am Spiegel klemmte ein Bild von Mamas Mama. Diese hatte schon graue Haare und sah sonst wie Mama aus. Nur älter. Mamas Ohrringe waren größer. Das Foto war vergilbt. Als Mama achtzehn war und mich bekam, dauerte es nur noch Tage, bis ihre Mama starb.
Zornig blickte ich auf mein Spiegelbild, das genauso zornig zurückschaute.
»Was bist’n eigentlich? ‘n Nigger oder ‘n Weißer?«
Ich schluckte tief. Recht hatten sie, Neger sahen nicht aus wie ich. Neger hatten plattgedrückte Nasen mit riesigen Nasenlöchern, sie waren dunkelhäutig und hatten schwarze, lockige Drahthaare.
Ich sah nie wie ein echter Neger aus. Unmöglich. Denn meine dumme Nase war klein mit winzigen Löchern und meine dumme Haut war hell und meine Haare waren glatt. Verdammte Haut, verdammte Nase, verdammte Haare! Alles wäre viel einfacher gewesen, wenn ich ein echter Neger oder ein richtiger Weißer gewesen wäre. Meine naive Einbildungskraft war damals noch sehr stark.
Ich bemühte mich, meine Nasenlöcher auszuweiten, indem ich ständig darin herumpulte. Ich versuchte mich auch redlich daran, meine Haut zu schwärzen, doch Mama setzte mich am Abend auf den Rand vom Waschbecken und wusch alles wieder herunter. Und als ich es erst versuchte, mir mit Mamas Brennstab Locken einzudrehen, verbrannte ich mir die Haare so derb, dass Mama sie fast völlig wegscheren musste und mir nicht nur die Erinnerung an eine tüchtige Tracht Prügel, sondern auch an Momente schrecklichen Schämens blieben.
Oft saß ich hinter unserem bröckligen Haus und kletterte, wenn Mama es nicht sehen konnte, die Feuerleiter hinauf. Die befand sich in einem so schrecklichen Zustand, dass es eine unfassbare Leistung darstellte, ihre verrosteten Sprossen zu bezwingen. Während alle anderen Leute die Präsidentschaftswahlen verfolgten, schaffte ich es zum ersten Mal, durch das Küchenfenster in unsere Etage in die Wohnung einzusteigen. Achtzehn Meter über dem Boden!
Manchmal saß ich allein auf dem Hof, blätterte in Comics oder träumte einfach. Der Hof hinter unserem Haus gehörte zu meinen Lieblingsaufenthaltsorten, hier roch es unheimlich nach Kot und Urin, wie es in keinem anderen Hinterhof nach Kot und Urin riechen konnte. Die Schwarzen, die im Hausflur standen, Haschisch rauchten und den Ghettoblaster aufdrehten, dass im gesamten Haus die Fensterscheiben klirrten und Mama über Kopfschmerzen klagte und die Fenster wütend zuschlug. Sie schissen auf die graue Erde, pissten auf die harten Steine, selbst auf mich, wenn ich nicht rechtzeitig verschwunden war. Diese Schwarzen bewegten sich nicht in der Sphäre, die ich zu meinem Aufenthaltsort gewählt hatte.
Mit neun Jahren durfte ich zum ersten Mal an einer solchen Zigarette ziehen, mit neun Jahren erlebte ich das einzige Mal dieses abnorme Gefühl. Ich erinnere mich, dass die Zähne der anderen Schwarzen blitzend lachten, als ich im Takt der Musik herumzuspringen begann, ich kletterte am zerbrochenen Geländer der Feuertreppe hoch, bis mich eine Ohnmacht heimsuchte.
Mama saß an meinem Bett und weinte schrecklich, als ich erwachte. Ich hatte mir nur den Arm gebrochen, es hätte auch mein Genick erwischen können. Ich bereitete Mama manchmal große Sorgen.
Ich verschwand für eine Zeit aus dem Hof, der nach Kot und Urin roch.
Dann kamen Polizisten, schleppten zwei der Jungen weg, die ich niemals wieder sehen sollte. Im Hausflur wurde es ruhiger. Die Schwarzen lachten nicht mehr so oft, stattdessen kauerten sie in meiner ehemaligen Hofecke und krackten. Sie konnten nicht wissen, was sie danach taten, das Gift verseuchte ihr schwarzes Blut, drang in ihre Gehirne.
Bis erneut die Polizei und mit ihr mehrere schwarzangezogene Männer auftauchten.
Sie hatten einen japanischen Jungen an einen alten Ford gebunden. Der Junge war nicht älter, als ich es damals war. Nur eine Blutspur blieb von ihm übrig, die der Regen allmählich von der Straße wusch. Ich kam die Treppe runter, sollte was einkaufen, hörte das Knattern des Motors, das die Schreie des Jungen nicht übertönte. Ich konnte das Fleisch nur für einen Augenblick sehen, doch der Augenblick war lang genug, dass ich mich übergeben musste.
Wieder lachten sie über mich, doch ihre Gesichter waren versteinert, die grinsenden Grimassen waren ihnen eingemeißelt. Heroin, erklärte Jack mir später, hatte ihr Blut vergiftet.
»Du hast nichts gesehen! Sonst machen wir dich kalt!«
Den Rest des Jungen warfen sie in den Kofferraum und fuhren davon.
Als sie ohne Auto und ohne den kleinen, japanischen Jungen zurückkehrten, stand ich noch immer zitternd und vollgekotzt vor ihnen. Ich war nicht fähig dazu, Tränen zu weinen. Ihre Messer blitzten.
»Du hast nichts gesehen! Du hast das alles nur geträumt!«
Ich hatte nichts gesehen, ich hatte alles nur geträumt. Ich konnte nichts gesehen haben, denn durch das Funkeln der Messer wurden meine Augen geblendet. Ich war blind und konnte nichts gesehen haben.
Es wurde ruhig in unserem Hausflur, nachdem auch diese Typen verschwunden waren.
Den Reklamebildern war das egal. Sie leuchteten nach wie vor in ihrer farbenfrohen Pracht, doch sie ließen mich das Geschehene nicht vergessen, obwohl ich damals noch ein Kind war. Nur ein Kind.
Dann lernte Mama bei einer Begegnung Jack kennen. Zu Jack durfte ich irgendwann Pa sagen. Der bessere Teil meiner eilig vergänglichen Kindheit nahm seinen Anfang.
Jack war tatsächlich wie ein Vater zu mir. Ich wurde nicht zum Schokoladenkind erzogen, soviel Geld hatte Jack nie und sicherlich hörte ich auch nach dem Gewinn eines Vaters so manches Mal noch das Knurren meines Bauches. Doch Mama kam von ihrer Bühne. Jack versuchte mir etwas von Frisco zu zeigen. An seiner Hand lernte ich die lebende Insel kennen. Ich begann diese Stadt zu lieben und nahm mir vor, zu werden, wie Jack. Jack hatte eine Arbeit und auch Mama bekam einen Platz in seiner Firma. Jack war es auch, der mir sonntags das Lesen und Schreiben und ein bisschen Rechnen beibrachte.
Mitunter glaubte ich, wir wären eine richtige Familie geworden. Am Abend saßen wir vor dem Fernseher, den Jack mitgebracht hatte und sagten der Welt gute Nacht.
Jack war es auch, der mich zu beruhigen versuchte, als ich weinend aus großer Entfernung beobachtete, wie die Leuchtreklamen der Schokoladenwerbung demontiert wurden. Eine neue Werbung wurde montiert. Drei riesige Buchstaben, vor einer gelbleuchtenden Sonne, erstreckten sich fast bis zum Himmel: A B C. Darunter klein und ständig die Farbe wechselnd: AMERICAN WAY OF LIFE.
»Pa, warum haben sie die lustigen Figuren weggemacht?«, fragte ich.
»Das entscheiden die Großen. Schokolade scheint jetzt unwichtig. Momentan spielen andere Dinge eine große Rolle.« Mehr sagte Jack nicht.
Mehr wollte ich auch nicht wissen. Ich hätte so und so nicht verstanden, warum ein Fernsehsender, der nur Reklame verbreitete, für sich selbst Reklame machte. Egal.
Durch Jacks Hilfe fand ich mich allmählich in bestimmten Teilen der Stadt zurecht. Frisco war ungeheuerlich und ich war froh, dass ich in Frisco leben durfte. Ich bildete mir ein, es konnte nirgends in der Welt etwas Vergleichbares geben. Mich faszinierten der Trubel, der Hafen, das Meer. Oftmals zählte ich die Fenster der Wolkenkratzer. Das Haus mit den meisten Fenstern sollte gewinnen. Ich konnte zählen! Ich wurde dreizehn Jahre alt.
Mama versuchte mich in einem Workshop unterzubringen, doch man setzte mich nach wenigen Tagen auf die Straße.
Jack hatte jeden Tag etwas mehr zu tun und er musste sich die Zeit dafür nehmen, ansonsten hätte er seinen Job verloren.
Die Jahreszeiten kamen und gingen. Unbemerkt und unheimlich. Ich spürte die Zeit nicht, die mich reifen ließ, die an mir vorbei rauschte, gleich den Straßenkreuzern auf Friscos Highways, wenn ich träumend auf dem Fußweg stand und ihnen nachschaute.
Mama ließ mich oft allein, Jack hatte neue Aufgaben erhalten, war aufgestiegen, wie er sagte. Gemeinsam mit Mama war er wochenlang in den Staaten unterwegs. Mir blieben nur seine Berichte.
Allein irrte ich in der Hölle von Frisco umher, genoss die Gegenwart der gesamten Welt und hatte keine Ahnung von den Gefahren, die überall lauerten. Immer hatte ich etwas Geld bei mir, denn Jack vergaß niemals, mich zu unterstützen. Obwohl ich an meiner Kindheit hing, durfte ich kein richtiges Kind mehr sein. Mama und Jack verboten es mir.
»Jonny«, sagte Mama zu mir. »Du bist jetzt dreizehn. Hör endlich auf, ständig in der Gegend ‘rumzustehen und zu träumen. Such dir ‘ne Beschäftigung. Du kannst ja hier wohnen, da haben wir nichts dagegen, aber ...« Ihre Augen blickten mich vorwurfsvoll an.
»Ja, Mama. Aber kann ich nicht in eine Schule gehen?«, fragte ich und sie verstand mich nicht.
»Jonny«, unterbrach mich Jack im gleichen Tonfall. »Wir sind oft nicht da, du sollst nicht gammeln, das bringt nichts. Du bist zum Arbeiten geboren. Und Arbeit gibt es überall, du musst sie nur finden. Sie wird dich nicht suchen. Ob du gleich das große Geld damit machst, das glaube ich nicht. Elvis hat auch als Tellerwäscher begonnen. Du musst was tun. Frisco ist riesig, Frisco ist das größte, was es auf dieser elendigen Welt gibt. Such dir ‘nen Job, Jonny. Okay?« Seine Augen blickten nicht anders, als die von Mama.
»Ja, Pa, ich bin aber erst dreizehn«, murmelte ich und verstand ihn ebenso wenig. »Sie nehmen mich nicht.«
Viele Tage mussten nicht vergehen und Mama und Jack verschwanden wieder für lange Zeit.
* * *
Gut, dachte ich mir, mal sehen, was sich machen lässt. Einige Stunden begnügte ich mich damit, die langen Schlangen vor den Arbeitsvermittlern zu betrachten, dann wühlte ich die Zeitungen der vergangenen drei Monate durch, in der Hoffnung, dort würde sich etwas finden. Aber es sollte sich nichts finden, weil ich nichts finden wollte und außerdem noch viel zu jung zum Arbeiten war.
So ging ich wieder in die Stadt und hoffte, die Sonne würde mir etwas Glück in den Schoß fallen lassen. Aber der ewige Smog hatte die Sonne verdunkelt.
Ich beobachtete fremde Menschen, sah, wie sie schufteten, half hier und da ein bisschen, ohne wirklich Geld zu verdienen.
Ich stand am Hafen, betrachtete die gekräuselten Wellen, die stinkend gegen die Kaimauern schlugen. Es roch nach Meer, Fisch und Ö1. Riesige Dampfer schaukelten auf dem Wasser. Warum nur gingen diese Dinger nicht unter? Nebelschwaden versperrten mir die Sicht. Sie krochen aus einem Fabrikgebäude des Hafengeländes auf mich zu.
Ein Hupkonzert ließ mich erwachen.
»Penner!«, schrie ein dicker, weißer Mann von einem Brummer herunter. Ich hatte mitten auf der Straße geträumt.
Es war spät am Nachmittag, als ich das Hafengelände verlassen musste. Langsam bummelte ich durch die Straßen, die zu jeder Zeit mit Menschenmassen gefüllt waren. Die 43. Straße befand sich im Osten der Stadt. Eine Bahn brachte mich in die Nähe der Wohnung.
In der 47. Straße, in der ein zerfallenes Gebilde stand, einst zur Erinnerung an George Washington gebaut, das den Zusammenhalt von Nord und Süd dokumentieren sollte, geschah etwas, das mein Leben radikal verändern sollte.
In Gedanken versunken, lief ich auf dem Fußweg und erinnerte mich an die ABC-Reklame und den AMERICAN WAY OF LIFE. Ich nahm das Washington-Denkmal kaum wahr, als sich mir ein weißes Mädchen näherte, das ich niemals zuvor gesehen hatte.
Es kam direkt auf mich zu.
»He, kannst du mir helfen?«, fragte es, griff mir an den Ärmel und zog mich zum Hausflur. Ich hätte niemals etwas Schlimmes von ihr erwartet. Das Mädchen ließ mich los.
Genau in diesem Moment stürzten drei Kerle aus dem Hausflur, die stärker und älter waren, warfen mich gegen die Hauswand und schlugen und traten nach mir, bis ich keine Luft mehr bekam.
Ich riss meinen Mund jämmerlich weit auf, aus dem etwas Warmes über mein Kinn floss, das ich wegwischen wollte. Doch die Arme versagten den Dienst. Sie ließen mir keine Chance, mich ihrer harten Schläge zu erwehren und ich fand auch keinen Mut dazu. Nachdem sie mir einen Zahn herausgeschlagen hatten, den ich mit letzter Kraft ausspuckte um nicht zu ersticken, lag ich am Boden, auf den kalten Gehwegsteinen, versuchte eine Hand unter meinen Kopf zu schieben, damit sie mir, mit ihren Tritten, die mich überall trafen, nicht den Schädel zertrümmerten. Ihre festen Sohlen und Hacken wollten mich umbringen. Dann zogen sie mir die Jacke aus, suchten auch noch die Hose durch und verschwanden.
* * *
Ich lag da und heulte, war zu keiner Bewegung fähig, nahm nur wahr, dass Blut von meinem Kinn auf die Gehwegsteine tropfte, sich eine kleine, schimmernde, rote Pfütze bildete. Es war wohl die Furcht, die mich zittern ließ und lähmte, weniger der Schmerz. Die Angst vor den Wahnsinnigen, die dazu im Stande wären, mir mein Leben zu nehmen, um meine Jacke zu besitzen. Nur zögernd beruhigte sich mein Atem.
* * *
Er kam schnell näher, ich zuckte ein bisschen zusammen, doch er hockte sich neben mich. Ich sah seine blauweißen Turnschuhe und ein Stückchen der Jeans.
Vorsichtig berührten mich seine Finger. »He, Kleiner!«, waren seine ersten Worte. Er sagte immer KLEINER zu mir, auch später noch, als ich gewachsen war. Warum auch immer, er sagte nochmals: »He, Kleiner!«
Dann griff er mir unter die Arme und zog mich hoch. Meine Beine waren weich, meine Knie zitterten, überall breiteten sich quälende Schmerzen aus, wie ich sie nie zuvor in meinem Leben gespürt hatte. Im ersten Moment hatte ich den Eindruck, ich würde wieder auf den Boden fallen, würde sterben, liegen bleiben und Mama und Jack niemals wiedersehen. Schon wollte ich der Welt good bye sagen, mich von meinen Träumen verabschieden, obwohl ich vom Beten keine Ahnung hatte. Winner ließ mir keine Zeit dazu. Nicht zum Fallen und nicht zum Beten.
»He, Kleiner«, sagte er wieder. »Wird schon nicht so schlimm sein.«
Ich war noch nicht bei vollem Bewusstsein, lallte nur etwas Sinnloses, das niemand verstand. Ich schämte mich der Tränen nicht, die ich noch immer weinte.
»Komm, Kleiner. Gehen wir.« Er steuerte mich, wie man einen Blinden führt, oder einen Gebrechlichen.
Eine Hand hielt ich vor meinen Mund, aus dem noch immer Blut lief. Vorsichtig setzte ich ein Bein vor das andere. Es schien zu funktionieren. Er führte mich in einen Hausflur und trug mich eine Holztreppe hoch. Ich glaubte, eine Blutspur zu hinterlassen, denn von meiner Hand tropfte es auf den gebohnerten Dielenboden. Auf jedem Absatz machten wir eine kurze Pause. Er sagte fast nichts mehr. Und was er sagte, nahm ich nicht in mir auf, denn ich wurde von den Schmerzen eingenommen, die hässlich und brutal auf mich einschlugen. Eine Mischung aus Leid, Angst und Kälte ließ mich zittern.
Mit seinem Fuß klopfte er gegen eine Tür, hart und laut. Ich hörte nicht die Schritte, die sich näherten, nahm nur verschwommen wahr, wie sich die Tür öffnete und ein schwarzes Mädchen herausschaute. Sie drückte die Tür noch einmal zu, löste eine Kette und ließ uns in die warme Wohnung hinein.
»Ich hab’ ihn gleich mitgebracht.«
Sie schlug ihre schwarzen Hände mit den rosa Handflächen zusammen. »Mein Gott, diese Hurensöhne! Bring ihn in die Küche.«
Er schleppte mich hinein und setzte mich in einer weißgekalkten Küche auf einen Stuhl. Ich jammerte ein wenig und bot sicherlich einen traurigen Anblick. Sie hatten in der Küche alte Möbel stehen, aber auch neue Maschinen. Der Kühlschrank summte, eine runde, weiße Lampe spendete warmes Licht. In einer Ecke der Küche stand ein Herd, davor ein Mülleimer und daneben eine Büchse voller Zigarettenstummel. Gegenüber dem Herd, neben dem Doppelfenster, von dem die Farbe bröckelte, hing ein Waschbecken an der Wand, darüber ein kleiner Warmwasserspender. Ein Geruch gemischt aus Zigaretten- und Essendüften hing in der Luft, doch ich konnte ihn kaum wahrnehmen, meine Nase beschäftigte mich auf andere Art und Weise.
Sie brachte einen Lappen, hielt ihn unter den Wasserhahn und durchnässte ihn mit kaltem Wasser. Dann kam sie an meinen Stuhl. Das Mädchen schien mir nicht älter, als ich es war, ihre Haare hatte sie sich zu kleinen, strammen Zöpfchen geflochten, sie trug keine Ohrringe, hatte Hosen an, sicherlich Jeans, von denen ich kaum etwas sah, weil sie sich eine bunte Schürze umgebunden hatte.
Vorsichtig tupfte sie mir das Blut aus dem Gesicht. Er ließ derweil eine Schüssel voll Wasser laufen und stellte sie vor mich auf den Tisch. Dann nahm er meine zitternden Hände und tauchte sie in das warme Wasser. Langsam bewegte ich die Finger in der Schüssel, deren Wasser sich rasch rosa färbte. Mir wurde schlecht.
Als sie meine Nase mit dem kalten Lappen berührte, stach mich ein beißender Schmerz.
»Autsch ...«, brachte ich heraus und Tränen schossen in meine Augen.
»Sie haben dir das Nasenbein zerschlagen, Kleiner«, sagte er mitleidig und gab mir ein Taschentuch, das ich mir unter die Nasenlöcher hielt. Er trocknete mir Gesicht und Hände langsam ab, worauf sie mir ein Pflaster auf die Stirn klebte und die Ränder festdrückte. Die Schüssel mit dem rosa Wasser wurde im Ausguss geleert.
Daraufhin ging er zum Kühlschrank, füllte zwei Gläser, legte ein paar Eiswürfel hinein und meinte, während er mir eines der Gläser in die Hand drückte: »Hier, Kleiner. Das wird uns gut tun.«
Ich genoss das kalte, betäubende Getränk. Ein Gefühl der Geborgenheit drang in mich ein.
Er hatte sein Glas in einem Zug geleert, ging zur Heizung, drehte sie etwas höher.
»Ich bin auch ein Hurensohn«, flüsterte ich und betrachtete das Mädchen und anschließend den Mann. Ich schätzte sein Alter auf vierundzwanzig Jahre, er war sehr breit in den Schultern und muskulös.
»Du? Du bist nicht einer von denen.«
»Meine Mutter, meine ich ...«, ein Schwall von Schmerzen ergriff mich, »... Sie war damals eine Hure, als sie mich bekam. Ich muss ein Hurensohn sein.«
Beide lächelten. »Wir haben alles gesehen, von oben, ich und mein Mädchen.« Er wusch sich die Hände. »Als ich runter kam, war es aber schon zu spät. Die Bande jedenfalls hab ich in unsrer Gegend noch nie gesehen. Sie hatten sich im Hausflur versteckt. Weil ich sie gehört habe, bin ich zum Fenster gelaufen. Dann haben sie das Mädchen vorgeschickt, als du kamst. Ein alter, gemeiner Trick.« Sein Mädchen nickte ständig, während er sprach. »Wo kommst du her, Kleiner?« fragte er. »Ich glaub, ich hab dich schon gesehen.«
Ich schluckte. »Dreiundvierzigste«, meinte ich. Selbst das Reden verursachte Schmerzen. »Aus der dreiundvierzigsten Straße.«
Und was suchst du hier?, fragten mich seine Blicke.
»Ich bin nur hier vorbeigekommen. Ich war am Hafen. Vielleicht hab ich ein bisschen geträumt, jedenfalls hab ich niemanden bemerkt, bis das Mädchen mich angriff. Was wusste ich schon, was sie von mir wollte?« Ich wollte, konnte aber nicht mit den Schultern zucken.
»Es waren Weiße«, sprach er laut. »In unsrer Straße sind oft Weiße. Aber die tun niemanden was zu leide.«
Er setzte sich zu mir an den Tisch. Das Mädchen begann den Tisch für das Abendmahl zu decken, Teller klapperten.
»Ich mag es nicht, wenn sich jemand auf so ‘ne billige Art Geld verdienen will. Es passiert trotzdem oft. Und die Bullen sind nie da, wenn man sie braucht. Und wenn man sie nach so einem Vorfall ruft, dann tippen sie deinen Namen in ihre Computer ein und du hast bei ihnen einen Namen. Mehr nicht. Die scheinen ganz andere Sorgen zu haben.« Er rückte sein Messer gerade.
Sie stellte Brot und Butter und ein bisschen Wurst auf den Tisch. Dann löste sie die Schleife von der Schürze und setzte sich zu uns. Für einen Augenblick sah ich ihre gute Figur, ihre Jeans lagen eng auf ihren Beinen.
»Wie heißt du?«, fragte er mich.
Ich sah auf. Die Nase blutete nicht mehr. »John. Mama sagt immer Jonny.«
Sie stand auf, stellte einen Teekrug auf den Tisch, aus dem ein dampfender, angenehmer Geruch drang. Im Sitzen goss sie die Tassen voll.
»Greif zu, Kleiner«, sagte er. »Im Übrigen bin ich Winner, wenigstens dürfen mich meine Freunde so nennen. Und das ist mein Mädchen Mary. Warum hast du dich nicht gewehrt?«
Ich wich der Antwort aus, nahm mir eine Brotscheibe, schmierte Butter darauf und legte eine dünne Scheibe Käse drüber. Winner gab mir noch eine dazu. Ich biss ab.
Wir schwiegen lange Zeit während des Essens.
»Wenn ich mich gewehrt hätte«, sagte ich mit vollem Mund und passte auf, dass nichts hinausfiel, »hätten sie mich bestimmt totgeprügelt.« Beim Kauen taten mir die Zähne weh. Jetzt erst stellte ich fest, dass sie mir einen halben Schneidezahn herausgeschlagen hatten. Instinktiv griff ich mit einem Finger nach dem Zahn. Winner sah es.
»Das sieht nicht schlimm aus, Kleiner«, meinte er und versuchte zu lächeln. »Also, ich bekomme nichts mehr rein«, sagte er zu Mary, dem schlanken Mädchen.
Ich war schon längere Zeit satt, denn ich aß nie sehr viel. Mary lächelte und erhob sich. Während sie sofort begann, die Teller abzuwaschen und alles Übriggebliebene in den Schränken zu verstauen, angelte Winner nach dem Blechaschenbecher und stellte ihn zwischen mich und sich. Plötzlich lag eine Schachtel billiger Zigaretten vor mir.
»Bedien dich.« Winner streckte seine Beine aus.
Ich wollte nicht abweisend sein und holte mir eine der Zigaretten aus der Schachtel. Winner nahm sich auch eine und hielt mir ein aufflammendes Feuerzeug unter die Nase.
»Danke.« Nach den ersten Zügen hustete und röchelte ich erbärmlich.
Winner blies den Qualm durch die großen Nasenlöcher, die ich trotz aller Anstrengungen nicht hatte. »Nun erzähl mal, Kleiner, was du so machst, den lieben langen Tag.« Er schlürfte nebenbei Tee.
Auch ich versuchte ein bisschen meine Beine auszustrecken, doch es gelang mir nicht ganz. »Ich weiß nicht, ähm ...« Was sollte ich ihm erzählen? Dass ich nichts gemacht hatte, außer zu träumen? Ich wurde nervös, versuchte ständig die Asche von der Zigarette zu klopfen. »Ich hab gelebt, bei Mama und war ständig auf der Suche nach ‘ner ordentlichen Arbeit. Am liebsten hab ich am Hafen gesucht, aber nie hab ich versucht, einen Job für längere Zeit zu bekommen. Ich hab eben gelebt.« Ich schlürfte an meinem Tee. »Mama sagt immer, ich wäre ein Poet, der nichts aufschreibt, ein Träumer, manchmal ein Parasit.« Ich drückte die Zigarette in der Blechbüchse aus, doch sie qualmte langsam weiter.
»Und wovon hast du gelebt? Vom Träumen kann kein Mensch satt werden. Irgendwas musst du ja schließlich essen.« Winner gab Mary sein leeres Teeglas.
»Gelebt?« Ich überlegte ein Weilchen. »Zuerst von Mamas Geld, dann kam Jack und gab mir was. Jack, den Mama vielleicht mal heiraten will. Der hat wohl ‘ne gute Stellung, er gibt mir soviel, dass ich meistens damit auskomme.«
Winner nickte beifällig. »Mit dem Arbeiten, das ist nicht so einfach. Die meisten von uns haben nichts Richtiges gelernt. Das ist unser entscheidender Nachteil. Bei mir war das Anfangsglück ziemlich groß. Ich bin Boxer und solange ich gute Leistungen bringe, werde ich ordentlich bezahlt dafür. Jetzt ist das alles anders, sie haben mich rausgeschmissen, weil ich mal was Falsches gesagt habe, so war ich weg vom Profiboxen. Jetzt mache ich nur noch Kampfsport in einem Casino. Die schweren Jungs setzen auf mich, wie man auf ein Pferd setzt. Bei diesen Kämpfen ist so ziemlich alles erlaubt und es ist nicht immer einfach, wieder gesund zu werden, wenn man was Richtiges abbekommt. Ich muss mich für jeden Kampf neu bewerben. Mary arbeitet zur Zeit in einem Lagerhaus von Houstens Boutique und trägt den ganzen Tag schwere Kartons. Das ist auch kein Job für die Ewigkeit.«
»Wollt ihr was trinken?« Mary hatte den Abwasch beendet. Winner nickte und sein Mädchen goss zwei Whiskey ein, schüttete Wasser und Eiswürfel dazu und rührte mit einem Plastiklöffel um.
Wir stießen mit unseren Gläsern an.
»Was machst du heute noch?«, fragte Winner plötzlich. »Du kannst über Nacht bei uns bleiben, wenn du das willst, Kleiner.«
Ich nahm die Einladung dankend an. Im Dunkeln würde mich nichts überzeugen können, hinunter auf die Straße zu gehen.
* * *
Am nächsten Morgen wollte ich Winners Wohnung verlassen. Wir hatten uns geeinigt, dass ich zwei Tage später wieder vorbeikommen würde. Winner hatte an diesem Abend einen Kampf zu bestehen und wollte mich mitnehmen.
Während ich die Straße entlang humpelte, wurde mir bewusst, wen ich kennen gelernt hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich Menschen meine Freunde nennen, von Ma und Jack abgesehen.
Im Spiegel bedauerte ich mein tiefblaues Auge. Vom Zahn fehlte nur ein kleines Stückchen. Mein Magen und einige Knochen schmerzten sehr.
Winner hatte mit angeboten, mich nach Hause zu bringen, doch ich lehnte ab. Daraufhin gab er mir zehn Dollar und eine Jacke.
Später betrat ich Mamas Wohnung, die plötzlich kalt und dunkel wirkte, kramte aus dem Kühlschrank in der Küche eine Colabüchse, ließ sie zischen und trank ganz langsam das schwarze Zeug. In den Küchenschränken suchte ich nach Jacks Zigarettenschachtel, irgendwo hatte er immer eine geöffnete Schachtel liegen, soweit kannte ich ihn. Im Besteckkasten, zwischen Löffeln und Messern fand ich sie. Ich nahm Büchse und Zigarettenschachtel und verschwand in der Wohnstube, ließ mich auf unser altes Sofa fallen, hängte die Beine über die Lehne, zog den Aschenbecher, der auf dem Stubentisch stand, zu mir heran, entzündete die Zigarette mit Jacks zweitem Feuerzeug und blies Rauchschwaden über mich, die sich behutsam im Raum verteilten.
Wie konnten sie das tun? Einen wehrlosen Menschen zusammenschlagen, fast ermorden, um ihm dann die Jacke und lausige fünfundzwanzig Dollar zu rauben. Warum nur hatten sie dies getan? Ich fand keine Antwort und es schien mir damals nicht möglich, eine Antwort finden zu können.
Diese Schokolade gehört mir, Jacky!
Warum nur? Alles flimmerte vor meinen Augen, ich verfiel – wie so oft – meinen Träumen. Warum, verdammt, spielte Schokolade keine Rolle mehr? War das der AMERICAN WAY OF LIFE?
Viele Stunden waren vergangen. Die Zigaretten hatten sich in Rauchschwaden aufgelöst, in der Colabüchse gähnte Leere. Ich schlief irgendwann ein.
* * *
»Ist Mary nicht da?«, fragte ich, nachdem ich die Wohnung betreten hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mir eigene Zigaretten gekauft.
»Sie arbeitet in der Spätschicht. Was ist, willst du was essen?«
Wir gingen in die Küche, es roch nach Tomatenketchup.
Ich nickte. Seit dem Morgen hatte ich nichts gegessen.
Winner mixte uns was, drückte eine Zigarette aus und stellte zwei Teller auf den Küchentisch. Mit einer Gabel zog er Makkaroni aus einem Topf auf die Teller und goss Ketchup darüber.
»Lass es dir schmecken, Kleiner.«
Wir kauten um die Wette auf den Makkaroni herum. »Hast du sie noch mal gesehen?«, fragte er mich.
Ich schüttelte vorsichtig meinen Kopf, damit der Ketchup, der aus der Makkaroni lief, die ich gerade in meinen Mund schlürfte, nicht über den Tisch spritzen würde.
»Ich sag ja, die waren aus ‘ner anderen Gegend«, meinte Winner mit vollem Mund. Er riskierte einen Blick auf seine Uhr und stopfte sich dann die Makkaroni schneller in den Mund. Kaum war sein Teller leer – ich hatte noch nicht einmal die Hälfte geschafft – goss er sich mit einem Zug den Scotch hinter, sprang auf, zündete sich eine Zigarette an und meinte: »Iss ruhig weiter. Ich muss mich fertig machen. Wenn du Lust hast, dann kannst du ja ...« Er zeigte auf das Waschbecken.
»Mach ich.«
Er verschwand aus der Küche und ich beeilte mich mit dem Essen. Vielleicht würde er bald wieder auftauchen. Und das Chaos in der Küche konnten wir unmöglich Mary hinterlassen.
Ich öffnete meine neue Schachtel Zigaretten, steckte mir eine an und goss warmes Wasser, das in einem Topf auf dem Ofen sprudelte, in eine Blechschüssel. Langsam begann ich Töpfe, Teller und Besteck abzuwaschen. Die Zigarette behielt ich im Mund und der Qualm biss in meine Augen.
Als Winner wieder auftauchte, saß ich am Küchentisch und trank gerade den restlichen Whiskey aus.
»Du bist ja richtig toll, Kleiner«, meinte er und rückte einen weißen Binder zurecht. »Wie sehe ich aus?«, wollte er wissen. Unter dem Binder hatte er ein dunkelblaues Hemd angezogen. Auch die graue Schlaghose passte zu ihm.
»Du siehst unheimlich nobel aus.«
Winner lebte von seiner Kraft. Er lächelte, ohne dass ein wahres Lachen in seinem Gesicht lag.
»Es wird schwer heute.« Über seine Wangen strich etwas Blässe. »Ich muss zwei Runden einem Meister gegenhalten, der fast vierzig Kilogramm mehr wiegt als ich. Außerdem dopt er.«
»Warum diese Ungerechtigkeit?«
»Der Besitzer will die Wetten hochtreiben, er hat verbreiten lassen, dass ich der Meinung wäre, ich könnte heute den Meister fertig machen. Dabei hab ich nicht die geringste Chance gegen ihn.« Mit den Worten welkten seine Lippen. »Was soll’s, gehen wir.«
Ohne weitere Worte zu wechseln, verließen wir das Haus in der 47. Straße. Nach einigen Schritten stoppte Winner ein Taxi. Neben Winner fühlte ich mich unheimlich sicher.
Wir fuhren durch die riesige Stadt, mitunter krochen wir nur mühselig und langsam durch die verstopften Straßen. Es wurde bereits dunkel, die Reklamen begannen zu flimmern, Friscos Nachtshow setzte ein.
Das Taxi hielt, Winner zahlte, wir stiegen aus. »Nimm meine Tasche«, raunte Winner. Draußen standen ein paar Menschen, die uns begrüßten.
»He Winner, wir haben auf dich gesetzt! Heut haust du ihn zusammen!«, riefen sie.
Mir wurde ganz anders. Mit stockenden Schritten folgte ich Winner, der die Grüße der Leute mit einem hässlichen Lächeln erwiderte. Durch einen Nebeneingang betraten wir das Glücksspielcasino, das den vielsagenden Namen »VEIN OF GOLD-CLUB« (»Goldader-Klub«) trug. Winner versuchte gerade jetzt den strahlenden Sieger zu spielen, für den eine Niederlage Utopie war.
Ein dicker Kerl kam grinsend auf uns zu, er qualmte aus dem Mund und hielt mit den Lippen eine dicke Zigarre fest. »Hallo Winner! Alles okay mit dir?«, fragte er und klopfte Winner mit kleinen, dicken Händen auf den Rücken. Ich hielt mich im Hintergrund auf. Überall rannten Leute herum und Winner versuchte noch immer zu lachen.
»Alles okay, Chef.«
»Du siehst blendend aus, Winner. Du stehst hoch im Kurs.« Dann flüsterte der Dicke Winner etwas ins Ohr. Dessen Lachen erstarb.
»Na komm, mach dich fertig, in einer Stunde bist du dran.« Nach diesen Worten verschwand das unsympathische Männlein.
Winner winkte mich zu sich. »Komm.«
Wir liefen einen langen Gang entlang, den man nur notdürftig gestrichen hatte. Links und rechts tauchten Türen auf.
»Hier rein«, meinte Winner.
Ich ging ein paar Schritte zurück und betrat nach Winner den unfreundlichen Raum. Er beherbergte zwei Bänke und mehrere Kraftgeräte.
Langsam zog sich Winner um, stand in Badehose vor mir und begann sich warm zu machen. Er strampelte sich mächtig ab, bald bildete sich ein Schweißfilm auf seiner Stirn und auf dem breiten Rücken.
Er legte sich auf eine Bank, begann Gewichte zu stemmen. »Weißt du, was er gesagt hat?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Es wird hier mein letzter Auftritt sein. Ich soll mir dann einen neuen Job suchen, irgendwo anders.«
Er kroch unter den Gewichten hervor und lockerte seine Muskeln auf. Schweißperlen liefen über seinen Rücken. »Nach dieser Niederlage darf ich mich hier nicht mehr sehen lassen. Die Leute würden mich lynchen.«
Er sagte das alles, während er sich bewegte, doch an seinen Gesichtszügen erkannte ich, wie ernst die Sache war.
»Und dann, was willst du dann machen?«
Er zuckte mit den Schultern, nahm eine Ölflasche aus der Tasche. »Reib mich ein.«
Ich ließ Öl auf meine Handflächen tropfen und verteilte es auf seiner Haut.
»Ich weiß nicht.«
Die Tür öffnete sich mit einem Ruck. Ein dürres Männlein stand im Rahmen. »Bist du fertig?«
Winner nickte.
»Dann komm.« Das Männlein verschwand wieder. »Zünd mir ‘ne Zigarette an«, bat mich Winner. Ich machte es und steckte sie ihm in den Mund. Er wusch sich die Hände.
»Es ist besser, du kommst nicht mit hoch«, sagte er plötzlich.
Ich begriff. »Gut, ich bleibe hier.«
Winner setzte sich auf eine Bank, schüttelte seine Oberschenkel, schloss die Augen für einen Moment, nahm die Zigarette aus dem Mund und warf sie in das Waschbecken.
»Okay, Kleiner. Ich geh dann.«
Ich öffnete ihm die Tür. Er lächelte mir zu. Dann hörte ich nur noch seine Schritte. Die Tür fiel ins Schloss. Mir war, als müsste ich selbst in die Höhle des Löwen.
Für eine Sekunde setzte ich mich, stand wieder auf und wusch mir die Hände. Von weither drang das Schreien einer Menschenmenge in meine Ohren. Ich zuckte zusammen.
Wieder setzte ich mich für kurze Zeit. Dann zog ich meine Jacke aus, legte mich auf die Bank und versuchte das Gewicht, unter das ich gekrochen war, einige Zentimeter von meinem Körper wegzustemmen. Es gelang mir für eine Sekunde. Meine Arme knickten ein. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte es nochmals.
Ich schaffte sogar einen Zentimeter mehr.
Das Schreien verwandelte sich in ein schreckliches Pfeifkonzert. Ich machte weiter, zehnmal wollte ich es schaffen, dann zwanzigmal.
Die Schreie verstummten. Unbewusst lauschte ich. Ein kurzer Aufschrei drang durch die Wände, wieder Pfeifen. Fünfundzwanzig. Ich konnte das Gewicht keinen Millimeter mehr bewegen.
Ich kroch von der Bank, schüttelte meine Arme, mein Magen schmerzte.
Ruhe. Ich nahm eine Hantel auf, bewegte sie vor meiner Brust hin und her. Ich schwitzte schrecklich, ging zum Waschbecken. Winners Zigarette hatte sich aufgelöst. Ich ließ kühlendes Wasser über mein Gesicht laufen.
Elendiges Pfeifen. Es hielt lang an. Ich blickte auf meine Uhr. Winner war jetzt fünfzehn Minuten verschwunden. Wie lange würde der sinnlose Kampf dauern? Wieder legte ich mich auf die Bank. Ich arbeitete wie besessen.
Schreie. Zehn Mal. Meine Arme zitterten. Zwanzig.
Das Pfeifen wurde lauter. Eine gewaltige Masse stieß Buhrufe aus. Ich setzte mich auf die Bank neben Winners Tasche und zündete mir eine Zigarette an. Meine Hände zitterten schrecklich. Asche fiel auf den Betonfußboden. Ich schlich zur Tür, warf einen Blick auf den Gang. Nichts. Ich ging wieder hinein, trat die Zigarette auf dem Boden aus.
Ich blickte wieder zur Tür, Schritte näherten sich, die Tür wurde geöffnet.
Zwei Männer schleppten Winner und setzten ihn auf der Bank ab. »Wenn er okay ist, soll er zum Chef kommen.« Sie verschwanden wieder.
Winner saß wie ohnmächtig da, seine Augen trafen mich für einen Moment, gläsern und unheimlich. Seine rechte Augenbraue war aufgeplatzt und blutete stark. Ich nahm ein Päckchen aus Winners Tasche und drückte eine Binde auf die geplatzte Braue.
Mir schien es, als könnte Winner kein Wort sagen. Sein Körper war zerkratzt, er kämpfte um Atem. Ich nahm einen Lappen, machte ihn nass und begann Winners Körper abzutupfen. Langsam hielt Leben Einzug in Winners Augen.
»Es ist vorbei, Winner«, hörte ich mich sagen. »Es ist vorbei.« Seine Hände bewegten sich. Ich bewunderte ihn endlos, ich bewunderte jede Schramme an seinem Körper und jeden blauen Fleck.
»Er hat immer auf die gleiche Stelle gedroschen ...«, waren seine ersten Worte nach dem Kampf. »Und sie haben gebrüllt, haben mich eine lahme Ratte genannt, sie haben geschrien, wollten den Nigger hängen sehn ... Der Chef wird sich freuen.«
Es war unglaublich, was Winner hinnehmen konnte. Er nahm mir den Lappen aus der Hand. Ich holte ein Pflaster aus dem Päckchen und klebte es ihm über die Augenbraue, sein rechtes Auge war völlig verquollen.
Vorsichtig erhob er sich, hielt mit beiden Händen seinen Kopf, drückte die Fäuste gegen die Schläfen. »... immer auf die gleiche Stelle. Er wusste genau, dass ich ihm unterlegen war.«
»Du sollst zum Chef kommen, wenn du okay bist.«
Langsam zog er sich an, rang vorher noch einige Male den Lappen über seinem Kopf aus. Den Binder ließ er in der Tasche.
»Wie immer ...« Dann drehte er den Kopf hin und her, nahm eine Zigarette aus der Schachtel, ich gab ihm Feuer. Jetzt war er fast wieder der Alte. Er zog den Qualm tief in die Lungen und ließ ihn durch die Nase wieder herausströmen.
»Wir können.« Ich nahm meine Jacke und Winners Tasche, dann verließen wir den Raum, durchliefen den Flur und langten an einem Lift an. Ein Liftboy brachte uns in eine obere Etage. Der Betonboden war mit weichen Teppichen bedeckt, Winner öffnete eine Tür. Ein blondes Girl lächelte ihn an. Ehe sie etwas sagen konnte, hatte Winner bereits eine weitere Tür geöffnet und stand im Zimmer des kleinen, dicken Chefs.
Noch einer stand in diesem Zimmer, einer, den Winner keines Blickes würdigte, sein Gegner. Der verließ den Raum, als Winner an den Tisch des Chefs trat. Der übergab ihm einen Umschlag.
»Hier mein Junge«, sagte der, »ich hab dir am Hinterausgang ein Taxi hinstellen lassen. Und wenn du Hilfe brauchst, dann wende dich an Biondy, hab mit ihm gesprochen.« Er grinste. Auf dem Tisch qualmte eine Zigarre vor sich hin.
Winner steckte den Umschlag ungeöffnet in die Hosentasche. »Komm«, sagte er zu mir und verließ ohne ein weiteres Wort das Chefbüro und dann den »VEIN OF GOLD CLUB«.
Am Hintereingang stand tatsächlich ein Taxi. Wir stiegen ein und der Fahrer beschleunigte.
»Wer ist Biondy?«
Winners Mundwinkel zuckten. »Ein Händler und Vermittler. Vertreter des Untergrunds«, antwortete er und tastete die Augenbraue ab.
»Wirst du zu ihm gehen?«, fragte ich.
Er zuckte. »Bei Biondy gehen viele Verbrecher ein und aus.«
Am Abend gingen wir aus, doch lange hielt es uns nicht in dem verräucherten Schuppen in der 33-sten. Mary wirkte nicht weniger müde und überspannt als Winner selbst.
* * *
In der Zukunft fand ich mich oftmals bei Winner wieder. Wir wurden gute Freunde. Eine Zeitlang gingen wir gemeinsam auf einer Großbaustelle arbeiten. Dann wollten sie mich feuern, weil ich zu jung war und nur Winner behalten. Doch Winner ging mit mir.
Wir hatten uns ein wenig Geld zur Seite gelegt und kamen ein Weilchen ganz gut zurecht.
Der Winter kam und mit ihm Weihnachten. Wir feierten gemeinsam in Mamas Wohnung. Zu Beginn des neuen Jahres wurde Mary gefeuert und bekam zunächst keine neue Arbeit. Mama versuchte uns ein Weilchen mit Jacks Geld zu unterstützen. Dann verschwanden Jack und Mama in Miami, wollten dort ein Jahr bei Jacks neuer Firma bleiben. Jack hatte einen großen Auftrag bekommen. Mama kündigte ihre Wohnung in der 43. Straße, ich zog zu Winner. Manchmal schrieb Mama in einem Brief, sie würde sich durchs Leben mogeln, mit Jacks Arbeit ginge es langsam voran. Uns ging allmählich das Geld aus. Mama schrieb, sie könnte uns kein Geld schicken.
Die Abende wurden trauriger, der Fernseher lief ununterbrochen, wir saßen wortlos davor, rauchten viel und tranken. Winner schaltete ununterbrochen von einem Programm auf das andere.
Eines Abends stellte Winner den Apparat mitten im Film ab, sah uns ein Weilchen an. Seine Augen waren gläsern vom Alkohol, seine Stimme rau von den Zigaretten. Er stand auf, lief einige Male im Zimmer auf und ab, wollte etwas sagen, blieb ruhig und setzte sich wieder. Er stellte den Fernseher wieder an.
Tropische Sonne, fast nackte, schwarze Frauen, weißer Sand. Eine raue Stimme erklang. »ALLE MENSCHEN HABEN ANGST VOR DER ATOMBOMBE – NIEMAND VOR DEM DURST! – EIN KLEINER TROPFEN BRANDY!« Ein Segelboot fuhr am Horizont eines klaren, blauen Meeres, auf seinen Segeln eine Brandyflasche. Goldig tauchte die leuchtende Sonne in die Wogen ...
Das Bild brach zusammen.
»Ich geh morgen zu Biondy. Mal sehen, was er mir anbieten kann. Wenn du willst, kannst du mitkommen.« Winner drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Ich geh ins Bett. Gute Nacht.«
Mary erhob sich sofort. Auch ich verschwand in meinem Zimmer. An anderen Abenden machte ich noch etwas Kraftsport, der nicht nur Muskelkater, sondern auch kleine Muskelpakete mit sich brachte.
Doch an diesem Abend war mir nicht danach. Schon mehrmals hatte man uns verwarnt, die Miete für die Wohnung zu zahlen, sonst würde man uns auf die Straße setzen.
Mein Zimmer war halbwegs manierlich eingerichtet, ich hatte Möbel aus Mamas Wohnung. Doch meistens saß ich in der Küche oder im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Winner war darum besorgt, all das Zeug, das sie Crack, Haschisch und Kokain nannten, von mir fernzuhalten.
Manchmal konnte ich den Berichten der STATE CONTROL entnehmen, wie viele Menschen tot aufgefunden wurden, an deren Tod nicht nur der Winter schuldig war. Mit ängstlichen Blicken begegnete ich der Obdachlosenwelt, in Form von Menschen, die sich in der Nähe von Luftschächten oder Mülltonnen aufhielten, in Kartons oder mit Zeitungen bedeckt schliefen. Ich hatte große Angst, in diese Welt abzustürzen.
»Kommst du mit, Kleiner?«, fragte Winner beim Frühstück. Er hatte neuen Mut geschöpft. Ich schlürfte warme Milch aus Trockenpulver in mich hinein.
Ich nickte.
»Wenn wir bei ihm sind, dann halte dich ein wenig zurück«, sagte er und nahm die Zeitung zur Hand. Ein Weilchen versank er in den Zeilen, nahm eine Zigarette aus der fast leeren Schachtel, ohne seinen Kopf auch nur ein einziges Mal vor die Zeitung zu schieben. Seine Zigarette wurde kürzer und kürzer. Nachdem er sie ohne hinzusehen ausgedrückt hatte, klappte er die Zeitung mit einem Ruck zu, legte sie weg, erhob sich und sagte »Okay«.
Dies war das sicherste Zeichen, dass er bereit zum Aufbruch war. Ich stand ebenfalls auf, ging hinaus auf den schmalen Korridor, legte den kurzen Schal um meinen Hals und zog die Jacke über. Winner gab Mary einen Kuss. »Mach’s gut, mein Schatz, und drück uns die Daumen.«
»Good by«, sagte ich.
Wir standen im Treppenhaus. Winner sprang die Treppen hinunter und hielt sich dabei mit beiden Händen an den Geländern fest. Es krachte, wenn er auf den Dielen der Treppenabsätze aufkam. Ich beeilte mich. Die 47. Straße war so ziemlich ausgestorben. Beim Atmen krochen Nebelwolken aus unseren Mündern. Es war noch einmal ungewöhnlich kalt geworden.
»Wenn das so bleibt, dann bekommen wir Probleme mit dem Öl«, meinte Winner und klopfte sich die Handflächen zusammen. »Hallo Joe.« Ein alter Mann, der damit beschäftigt war, Kippen unter einem Fenster wegzukehren, nickte uns zu. Ein Stückchen weiter erwischten wir ein Taxi. Winner beobachtete den Zähler, dessen Zahlen zwischen ihm und dem Fahrer leuchteten. Er hatte sein letztes Kleingeld in der Hand und zählte mit. »Stopp!«, sagte er plötzlich. Wir standen irgendwo in der Stadt. Winner bezahlte.
»Wir sind doch noch nicht da, wo sie hinwollten?«, bemerkte der Fahrer.
Winner zuckte mit den Schultern. »Macht nichts, Mister. I have not money. Betrügen wollen wir ja nicht. Wir sind doch feine Leute.«
Der Fahrer lachte. »I have not money« hatte Winner gesungen. Wir stiegen aus dem Taxi und gingen zu Fuß weiter. Menschen überholten uns. Sie hatten es eilig, zur Arbeit zu kommen. Zeitungsjungen schrien sich die Stimmen heißer. Ein appetitlicher Essengeruch drang aus einer Tagesbar. Menschen stürmten gerade geöffnete Läden, an den Ampeln standen sprungbereite Passanten. Winner pfiff leise das Glory glory halleluja ...
Vor einem glitzernden Riesen blieben wir stehen.
»Hier ist es«, sagte Winner. Ich staunte. Vor solchen Häusern hatte ich schon oft geträumt. »Mister Biondy.«
»Was macht er da?«, wollte ich wissen.
»Angeblich ist er der Manager einer Werbefirma, in Wirklichkeit vermittelt er die verschiedensten Aufträge. Er kassiert von den Typen, die bei ihm Leute bestellen und bezahlt die, die für ihn arbeiten. Ein ganzer Batzen Geld fällt für ihn mit ab.«
»Und das darf er?«, fragte ich.
Winner brach in einen Lachkrampf aus. Tränen traten in seine Augen, er hielt sich den Bauch. »Oh, Kleiner«, brachte er endlich hervor. »Wunderbar. Du musst noch viel lernen. Frisco ist nicht der Himmel. Und selbst im Himmel wirst du beschissen.«
Endlich gab er sich einen Ruck, wir stiegen eine breite Treppe hinauf und betraten das Foyer. Wir liefen zu einem gläsernen Kasten, Winner steckte seinen Kopf hinein. Eine Dame mit Brille räusperte sich und blickte uns fragend an. Wir bemerkten sogleich, dass sie lieber nichts mit uns zu tun haben wollte.
»Ähm ... Mister Biondy, wo finden wir ihn?«, fragte Winner endlich.
»Mister Biondy hat das Zimmer dreihunderteinundzwanzig in der vierundzwanzigsten Etage«, antwortete sie mit ihrer dünnen Stimme.
»Danke, Miss.« Winner lächelte. Wir gingen zum Lift. Jede Menge Leute standen davor, obwohl zehn Lifttüren vorhanden waren. Endlich klingelte es, der Liftboy grüßte, als die Leute sich herausschoben und grüßte wieder, als die anderen sich hinein drängelten. Wir hatten keine Chance mitzukommen und rutschten schnell vor den benachbarten Lift. Diesmal klappte es. Der Lift öffnete sich, zuerst trat der Liftboy heraus, dann zwanzig Leute, die es alle sehr eilig hatten. Wir brauchten uns nicht anzustrengen, denn wir wurden von ganz allein in den verspiegelten Lift geschoben. Es war ruhig, als er sich in Bewegung setzte. Nur ein langer, weißer Mann mit Vollbart, sprach laut auf eine junge Frau ein, die ihm gerade bis zur Brust reichte und ihn verängstigt von unten her anblickte. »Erste Etage.« Einige stiegen aus und andere ein. Nachdem der Liftboy die Tür nach dem Erreichen der dreiundzwanzigsten Etage wieder geschlossen hatte, drängelten wir uns vor. »Vierundzwanzigste Etage.« Wir quetschten uns hinaus. Unsere Stimmen wurden von Teppichen verschluckt, vorsichtig sahen wir uns um. Hinweisschilder wiesen in verschiedene Richtungen, zeigten die Nummern der Zimmer an. Wir begegneten niemandem auf den langen Gängen, die wir durchschritten, gelangten endlich vor dem Zimmer dreihunderteinundzwanzig an.
»Mr. Biondy – Chefman der Advertisement Company Colinton – ACC« stand auf dem Schild über seiner Tür. Winner klopfte gegen die Glasscheibe der Tür, durch die man nicht hindurchsehen konnte. Ein Schatten näherte sich, die Tür wurde geöffnet. »Guten Tag«, sagte eine ältere Dame und schob ihre Brille in die Stirn. »Wen darf ich melden?«
Winner schob mich hinein. »Guten Tag, Miss. Melden Sie Mister Biondy, dass Mister Winner hier wäre, wegen einem Auftrag. Und ...«, er holte den Briefumschlag aus seiner Tasche, »geben Sie ihm das.« Die Dame nickte, nahm den Umschlag entgegen, klopfte gegen eine Tür, nachdem sie die zum Korridor verschlossen hatte und lauschte.
»Ja!«, rief es aus dem Zimmer.
Sie öffnete die Tür für einen Moment und verschwand in Biondys Zimmer. Ich sah Winner in die Augen und machte ein beeindrucktes Gesicht. Die Dame kam wieder, hüstelte. »Sie können eintreten, Mister Winner, ihr Begleiter auch.«
Ich dachte schon, ich würde wieder draußen warten müssen. Die Tür stand noch offen. Wir traten furchtsam ein, Winner nahm seine Strickmütze vom Kopf. »Guten Tag, Mister Biondy.«
Ein sehr sportlicher Typ von Mann, der höchstens fünfzig Jahre zählte, stand hinter einem Schreibtisch, den Mund zu einem breiten Lächeln gedehnt und streckte Winner die Hand entgegen. »Hallo, Mister Winner. Ich habe schon auf Sie gewartet«, sagte er mit einer unglaublichen Freundlichkeit. Er gab auch mir die Hand. »Ihr Mitarbeiter?«, fragte er zu Winner gewandt und zeigte auf mich.
»Ja.«
Er wies auf zwei Sessel, die an einem flachen Tisch standen. »Drink?«, fragte er.
Wir nickten.
»Brandy?«
Wir nickten wieder.
»Mit Wasser und Eis?«
Noch ein Nicken.
Biondy füllte drei Gläser.
Wir nahmen zögernd unsere in die Hand und nippten daran.
»Ihr braucht eine Arbeit?«, stellte er fest. »Okay. Ich habe zur Zeit keine großen Auswahlmöglichkeiten für euch. Das heißt, wählen könnt ihr schon. Entweder ihr sagt zu oder ihr lasst es sein.«
»Was bieten Sie uns an?«, fragte Winner und lehnte sich weit in den Sessel zurück, wobei er seine Beine übereinander schlug. Biondy blätterte in einem Katalog. »Eine Fahrt, ein kleiner Truck. Die etwas zerbrechliche Ladung muss von Frisco über Sacramento und Valley nach Carsor-City gebracht werden. Das sind rund dreihundert Meilen. Allerdings dürft ihr nur dreißig Meilen in der Stunde fahren, das schreibt die Transportgenehmigung vor, weil es sich um eine gefährliche Ladung handelt.
»Dreißig Meilen? Dann springen uns die anderen Fahrer an den Hals!«, gab Winner von sich.
»Nein. Sie werden schön Abstand halten. Das Fahrzeug ist entsprechend getarnt. Wenn sie euch sehen, werden sie sich davor hüten, mit euch in Verbindung zu kommen«, sagte Biondy und setzte ein merkwürdiges Grinsen auf.
Winner nippte an seinem Glas. »Was ist das für ein Zeug, das wir fahren sollen? Sprengstoff?«
Biondy wackelte und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Sprengstoff?«, brachte er heraus. »Nein.« Er schüttelte sein lockiges Haupt. »Es sind Eier. Ganz normale Hühnereier.«
»Hühnereier?« Winners Augen traten ein Stückchen aus den Höhlen. »Was sollen wir dreißig Meilen fahren, wenn wir nur Hühnereier transportieren?«
Biondy lächelte nicht mehr. »Das ist ja das Problem. Keines der Eier darf kaputt gehen. Kein einziges, habt ihr verstanden? Keins. Wenn das passiert, dann ist der Auftrag gelaufen.«
Wir staunten nicht schlecht und konnten doch nicht glauben, was uns Biondy da erzählte. Ich lutschte einen Eiswürfel, den ich mit meiner Zungenspitze aus dem Glas geangelt hatte. Der Brandy war scharf und wärmte mich von innen.
Winner zündete sich eine Zigarette an und gab mir auch eine. Biondy lehnte ab. »Ihr müsst mit der Kiste rüber nach Nevada. Mit dem Zoll ist alles geklärt und bezahlt. Die Papiere sind völlig in Ordnung. Es kann also nichts passieren«, sagte er stattdessen. Irgendetwas war faul an der Sache.
»Was springt für uns dabei raus?«, fragte Winner und blies den Qualm in Biondys Zimmer.
»Nicht wenig«, antwortete der und klopfte Winner auf die Schulter. »Vorher zweitausend Dollar, bei der Ablieferung in Carson City fünftausend Dollar. Nur für euch.« Wieder 1ächelte Biondy und legte einen Zettel auf den Glastisch.
Winner konnte gut lesen. Er legte seine Zigarette auf den Aschenbecherrand, nahm den Zettel und vertiefte sich darin. Mit einer Hand kratzte er sich am Kopf. »Siebentausend Dollar, für Eier. Das glaube wer will«, meinte er plötzlich.
Biondy hustete. »Ihr müsst ja nicht annehmen.«
Ein weißes Telefon hupte aufdringlich. Biondy erhob sich schwungvoll, drückte auf eine Taste an seinem Schreibtisch. »Miss Wabster, übernehmen Sie den Anruf.« Das Hupen verklang. Biondy blieb stehen. »Was ist nun?«, fragte er etwas unruhig. Winner reichte mir den Zettel rüber. Dort standen nochmals die Forderungen, die genauen Zeiten der Übernahme und der Übergabe des Trucks, auch, wo wir übernachten mussten und an welcher Stelle wir nach Nevada rüber sollten. Die Geldsummen tauchten auf und leere Zeilen für den Vertragsabschluss. Ich sagte nichts und gab Winner den Zettel zurück. Der legte ihn auf die Glastischplatte, stand auf, reichte Biondy die Hand.
»Gut, Mister Biondy. Sauber ist das Ding nicht, das wissen wir beide. Wir sind in einer Zwangslage und mittellos. Wir willigen ein.«