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Entrückung in eine andere Welt: Mystik als sozialrevolutionäre Kraft
- Nach den »Ufergedanken« ein neues sehr persönliches Buch von einem der großen protestantischen Theologen
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Seitenzahl: 143
Jörg Zink, geboren 1922, ist einer der bekanntesten evangelischen Theologen der Gegenwart. Seit 1980 lebt er als freier Publizist in Stuttgart. Er ist Verfasser zahlreicher erfolgreicher Titel zu Fragen der Bibel, des christlichen Glaubens und Lebens. Immer gehörte seine Liebe weniger der wissenschaftlichen Forschung als den Menschen dieses Landes, die an ihrem inneren und äußeren Leben zu tragen und zu leiden haben. Ihnen versucht er mit seinen biblischen Auslegungen und seiner Deutung des christlichen Glaubens den einen oder anderen Schritt Verstehen und Vertrauen möglich zu machen.
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Wir Heutigen sprechen allgemein und unscharf von »Wellness«, wenn wir beschreiben wollen, womit die Industrie des Wohlfühlens uns helfen soll. Wellness ist ein Wort, das alles Wohlfühlen zusammenfasst, das über die reine Funktionsfähigkeit, den reinen Funktionserhalt unseres Körpers hinausgeht. Es hat viele konkrete Ausformungen, und eine ganze Industrie lebt davon, dass sie hier ihre Rezepte verkauft.
Im kirchlichen Bereich steht dafür das Wort »Seelsorge«. Seine Funktion ist sehr ähnlich: Für seelisches Wohlbefinden sorgen und dazu helfen, dass seelische Schwierigkeiten besser bewältigt werden. Was mit »Seelsorge« im Einzelnen gemeint ist, ist viel weniger klar. Klar ist allenfalls, dass es eine Dienstleistung der Pfarrer darstellt. Sie sorgen – für die »Seelen« der anderen natürlich.
Das setzt freilich voraus, dass auch die Pfarrer für ihre eigene Seele sorgen. Dass sie sich auf ihren eigenen spirituellen Weg begeben und dass dies nicht der Weg einer allgemein anerkannten Theologie ist, dass er vielmehr aus selbst gesammelten und aus gelebten geistlichen Erfahrungen besteht.
Das mag manchem selbstverständlich erscheinen, aber gerade wir altgewordenen Pfarrer – ich bin 89 – haben in unserer theologischen Jugend auf diesem Feld wenig gelernt und eingeübt. Als ich nach 1945 studierte, war der Glaube eine Sache für den Kopf, für die kirchliche Lehre und die intellektuelle Prüfung. Er war auch Ethik. Es war kirchliches Tun in einem sehr konservativen Sinn, aber dieser Glaube hatte weder das Wohl noch das Heil der Seele im Auge.
Zwanzig Jahre später kam über die Theologie die Entdeckung, dass der Christ eingebettet sei in einen gesellschaftlichen Zusammenhang, und der Glaube also den Sinn habe, in der Gesellschaft klärend und befreiend zu wirken. Spiritualität bestand in der Aufmerksamkeit auf Elend und Unrecht in den Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft. Das war wichtig und ist es heute noch. Aber etwas so Privates, so auf den Einzelnen Zugeschnittenes wie Meditation, wie geistliche Übung konnte kaum für nötig erachtet werden.
Wieder dreißig oder vierzig Jahre später stehen wir in einer merkwürdig leeren Landschaft. Wir haben gelernt, zu denken. Wir haben auch gelernt, uns um unsere Welt und die Menschen weltweit zu kümmern. Wir haben gelernt, Dogmen kritisch zu befragen, sie aus ihrer Geschichte heraus neu zu betrachten und mit ihnen das ganze komplizierte Gedankenwerk der Theologie. Aber wenn ich im Gespräch bin mit einem Altersgenossen oder auch einem jüngeren Kollegen, dann stehe ich schnell vor dem Tatbestand einer großen Ratlosigkeit, wie es denn um die Substanz unseres geistlichen Auftrags stehe. Nämlich, wovon diejenigen seelisch, geistlich leben sollten, die das Evangelium den Menschen weiterzusagen haben. Woher sie für sich selbst die Gewissheit nehmen sollten, die die Laien von ihnen erwarten. Wie es um ihre Vollmacht stehe.
Dem entspricht ein alles durchziehender Mangel an Seelsorge und an gemeinsamem Nachdenken unter den Amtsträgern. Ich bin nun seit 60 Jahren als Pfarrer tätig und stand oft genug vor extrem schwierigen Aufgaben. In dieser ganzen Zeit kam nicht ein einziges Mal einer der Verantwortlichen dieser Kirche zu mir, um mich zu fragen, wie ich mit meinem Amt zurechtkomme. Das höre ich übrigens auch von katholischen Kollegen, die doch dem Gedanken einer spirituellen Begleitung näher sein müssten als wir.
Ich saß einmal mit Karl Rahner und dem Generaloberen des Jesuitenordens Pedro Arrupe in einem der düsteren Räume des Vatikans. Wir sprachen über dies und das, was uns wichtig war, und ich spürte eine tiefe Verlassenheit bei diesen beiden großen Gestalten. Eine tiefe Einsamkeit inmitten eines funktionierenden kirchlichen Apparats. Mir wurde bewusst, wie vor allem Karl Rahner bis an den Rand der Depression ausgelaugt war von seinen einsamen Kämpfen, und ich verstand noch einmal besser, warum er einmal gesagt hat, der Christ der Zukunft werde ein Mystiker sein oder es werde ihn nicht mehr geben. Denn das heißt: Christen würden die Gemeinschaft derer finden, die mit geistlichen Erfahrungen leben und sie würden einander dabei begleiten, stützen und heilen, oder sie würden an der Gegenstandslosigkeit ihres Glaubens enden.
Ich selbst habe als Student gelernt, etwas ganz und gar Unnötiges, ja Störendes sei für den Glauben das, was man religiöse Erfahrung nennt. Aber dann ging ich den religiösen Erfahrungen nach, die ich selbst als Kind und als junger Mensch gemacht hatte, und fand meinen eigenen Weg. Von diesen Erfahrungen habe ich in meinen späteren Büchern gelegentlich berichtet, auch von jenen, die ich während fünf Jahren des Krieges an der Grenze zum Tod und beim Tod unzähliger Freunde gemacht hatte. Ich hatte damals so viele Begegnungen mit dem, was man das Übersinnliche nennt, dass die schlichte Art, mit der die Theologie die übersinnliche Erfahrung disqualifizierte, obwohl die Bibel zum Beispiel voll davon ist, mir nie einleuchten konnte. Und was meine damalige religiöse Konsequenz anging, so schrieb ich schon 1943, mit einundzwanzig Jahren, aus dem Krieg nach Hause: »Wenn das Christentum nicht seinen mystischen Hintergrund wiederentdeckt, dann hat es uns nichts mehr zu sagen.« Ich hätte auch sagen können: seinen Erfahrungshintergrund.
Dem habe ich eigentlich auch nach weiteren 69 Jahren nichts hinzuzufügen. Aber was meine ich mit Mystik? Die Elemente eines mystischen Weges sind zwei. Zum einen: Quelle meiner Einsicht ist nach der Heiligen Schrift und der Verkündigung der Kirche meine eigene Erfahrung. Zum anderen: Was wahr ist, muss ich selbst finden. Was für mich gelten soll, muss sich an meinem eigenen Urteil prüfen lassen. Keine Autorität dieser Welt kann mir das abnehmen oder vorschreiben.
Ich habe danach jahrzehntelang wenig davon geredet, weil mir die Zeit nicht gekommen schien. Heute ist sie es, und ich will mit der Klarheit davon reden, die mir bei meinem hohen Alter angemessen scheint. Seit mehr als 50 Jahren habe ich vom Evangelium geredet, seine Gedanken vorgedacht, damit andere sie nachdenken können. Habe mir an jedem Tag neue Weisen des Redens ausgedacht, um die christliche Nachricht zu erklären. Allmählich fällt es mir schwerer, morgens an meinem Schreibtisch zu sein. Das nehme ich hin. Es schadet aber nicht, denn mit den Jahren wird mir die Sprache der Mystik einfacher und näher und vertrauter. Mit den Jahren bettet sich die Sprache der Mystik immer selbstverständlicher ein in die praktische Lebensführung mit Gott.
Was stellen wir uns denn unter Gott und seinem Wort vor? Zu den Zeiten des Mose oder der Propheten hat Gott geredet. Heute scheint er stumm geworden zu sein. So hat es religiöse Erfahrungen nur bei den Psalmensängern oder bei den Menschen um Jesus gegeben – und die Geschichte dieser Erfahrungen ist zu Ende? Kennen wir den Augenblick nicht mehr, in dem uns »etwas aufgeht«?
Die Menschen der Bibel erkannten Gott auch in Träumen und Visionen. Haben wir keine Träume mehr? Ist uns unbekannt, was es heißt, etwas zu schauen, was über unsere sinnliche Wahrnehmung hinausgeht? Den Menschen der Bibel hat, wie wir sagen, Gott sich offenbart. Wie setzt sich denn diese Offenbarung Gottes heute, unter den Menschen unserer Zeit und bei uns selbst fort? Ist Gott nun zurückgetreten in die Verschlossenheit seines Himmels? Oder ist er gar gestorben? Und kennen wir also »Offenbarung« nur noch als Lehrstück aus grauer Vorzeit, als Gott noch lebte und redete und gegenwärtig war?
Unser landläufiges Christentum krankt an einem Mangel an gegenwärtiger Erfahrung, und nichts ist so dringend wie dies, dass wir die Quelle der eigenen religiösen Erfahrung finden und öffnen. Denn der christliche Glaube ist ja kein Lehrstoff, den einer auswendig lernt und den man dann abfragt. Er bildet sich vielmehr in vielen Erlebnissen, in Begegnungen mit vielen Menschen und ihren Schicksalen und im Horchen auf sehr viele Stimmen, auch in uns selbst. Erfahrung ist eine der stärksten Quellen unserer Kraft. Er-fahren heißt wörtlich: »durch Fahren gewinnen«, nämlich dadurch, dass man sich selbst auf die Reise begibt, auf die Suche nach Wahrheit und Sinn, auf die Suche nach Gott und seiner Nähe.
An den Grenzen unseres Erkennens, im Raum von Ahnung und Erwartung, sprechen wir von religiöser Erfahrung. Sie spricht zu uns von einem Letzten, einem Gültigen, das sich uns mitteilen will als etwas sehr Zerbrechliches und Gefährdetes. Irgendwann, wenn es uns denn geschenkt werden soll, empfinden wir, es komme etwas bei uns an, das größer und dichter, wirklicher und wichtiger ist als wir selbst und das uns gleichwohl nicht bedroht. Und wahrscheinlich wären wir in großer Verlegenheit, wenn wir es anderen begreiflich machen müssten oder verpflichtet wären, vernünftig davon zu reden. Denn es spielt zwischen Gott und uns allein, und es ist andererseits oft so deutlich, dass wir niemanden brauchen, der es uns erklärt.
Freilich sind wir nicht die ersten Menschen, die Erfahrungen machen; vielmehr sind wir selbst geprägt durch uralte menschheitliche Erfahrung. Schon in der Steinzeit haben die Menschen in ihren Höhlen oder Savannen ihre Erfahrungen gemacht und haben sie in Bildern von Ahnen oder Göttern verdichtet, in Malereien, in heiligen Orten und Zeiten, später in Bildwerken, in Tempeln, in Kulten und heiligen Gesängen und Tänzen. Spätere Generationen haben sie in Schriftrollen und Büchern niedergelegt und in die immer weitergehenden und sich allmählich klärenden Gedanken ihrer religiösen Botschaften gefasst.
Zu meinen, in der Bibel habe Gott zum ersten Mal zu Menschen geredet, dürfen wir getrost als naiv ansehen. Und zu meinen, die volle Erkenntnis Gottes sei in der Bibel von Anfang an schlagartig dagewesen, ebenfalls. Auch die Bibel zeigt einen Weg, einen langen und mühsamen, durch viele Irrtümer und Verstrickungen hindurch zu einer immer deutlicheren Erfahrung Gottes. Gott hat, seit es Menschen gibt, immer geredet, und die Menschen haben so viel von ihm vernommen, wie der Bewusstseinsstufe entsprach, auf der sie lebten. Wir alle sind, ob wir es wissen oder nicht, durch diese tiefe und breite, jahrtausendealte Überlieferung bestimmt. Wir stehen nicht allein in der Welt, und die Welt ist nicht von uns erfunden worden, wir fließen vielmehr mit in dem großen Strom von Wassern und Wirbeln im breiten Flussbett einer geistigen Geschichte. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung meinte gelegentlich, wir sollten doch immer einmal wieder den hunderttausend Jahre alten Mann fragen, den wir in uns hätten, wenn wir etwas über uns selbst wissen wollten; und ich würde hinzufügen: die hunderttausend Jahre alte Frau. Sie haben uns eine Menge zu sagen. Und es ist durchaus keine geistige Enge, in die wir geraten, wenn wir feststellen, auch der christliche Glaube komme zu uns auf dem Wege einer alten Geschichte und also auf den Wegen des Erzählens, des Bezeugens und des Feierns sehr alter Gedanken und Rituale.
Erfahrung hat immer zwei Gestalten: unsere eigene einerseits, die menschheitliche Gesamterfahrung andererseits. Wir werden unser ganzes Leben lang zwischen beiden hin und her gehen, einmal der einen,
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