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Eine zeitgemäße christliche Ethik
Das Vermächtnis eines großen Theologen
Jörg Zink legt in seinem neuen Buch dar, wie er eine zeitgemäße christliche Ethik sieht: Der Sinn einer Ethik ist nicht der, dass der Mensch durch sein Tun etwas Besseres werden soll, sondern der, dass der Mensch tut, was er schon ist und was Jesus ihm im Namen Gottes zuspricht. Der Mensch soll sich nicht als kleiner, schmutziger Sünder verstehen, sondern groß von sich denken - sehr groß.
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Seitenzahl: 320
Unsere Welt, unsere Erde, unsere Völkergemeinschaft sind in einem kritischen Zustand. Wohin treibt uns, was wir Menschen heute tun? Wohin treibt es die rasende Entwicklung der menschlichen Zivilisation? Gibt es irgendeine gute Zukunft für uns, die Bewohner dieser Erde? Wie müssen wir leben, wenn von uns eine ordnende und steuernde Energie ausgehen soll? Gibt es einen Weg für uns, der sich beschreiben und begehen lässt? Gibt es einen Auftrag, den wir erfüllen sollen und können? Was müssen wir tun, um den Sinn unseres kleinen Lebens in seinen großen Zusammenhängen zu erfüllen? Woher gewinnen wir das Vertrauen und den festen Stand, und woher die Klarheit unserer Gedanken in dem riesigen Gewoge aus Spiel und Kampf im täglichen Geschehen? Und woher die viel besungene Freiheit?
Anders gefragt: Wie soll unser ganzes Leben verstanden, geordnet und gestaltet sein, damit auf unserer Erde von der Menschlichkeit des Menschen geredet werden kann? Von Überwindung der alles blockierenden Angst? Gibt es denn ein Bild des Menschen, der sein Heil nicht mehr von der Durchsetzung seiner Sicherheitsinteressen erwartet, sondern zu einem gemeinsamen Tun bereit ist? Was ist das Maß und die Kraft eines Menschenlebens? Was gilt für uns? Ich möchte genauer sagen: Uns Christen? Uns modernen Menschen, die versuchen, etwas wie Christen zu sein? Uns unsicheren Zeitgenossen, denen das Wort vom christlichen Glauben etwas gibt wie eine Hoffnung? Wie sollen wir leben? Wie denken? Wie entscheiden, wie handeln? Wo soll das Ziel sein, dem wir nachgehen? Und was soll am Ende dabei herausgekommen sein? Wofür wollen wir unsere Kräfte einsetzen? Und wie weit soll unser Wille reichen, mitzuwirken in den öffentlichen und privaten Problemen unseres Landes, wie breit soll er ausgreifen rund um die Erde? Wie tief lassen wir uns berühren vom weltweiten Elend? Wie viel furchtlosen Widerstand gegen Macht und Unrecht, Leichtfertigkeit und Gedankenlosigkeit wollen wir aufbringen? Wie viel sind uns die Geltung des Rechts, die Überwindung von Gegensätzen irgendwo, die Würde von Menschen, die Offenheit einer Zukunft wert?
Ich suche also nach einer Aufgabe, die meine Kräfte wert ist, nach einem Sinn, der meinem kleinen Leben mitgegeben sein könnte. Ich spreche von gut und böse, von wahr und falsch, von gerecht und ungerecht.
Ich sage dann: Es ist mir wichtig, ob es etwas wie Gerechtigkeit gibt. Es ist mir wichtig, ob es zwischen den Menschen redlich zugeht. Ob wir miteinander eine Welt schaffen können, in der wir im Frieden leben können. Denn ich wünsche meinen Enkeln und meinen späteren Nachkommen eine Welt, die so lebendig und schön ist, wie sie während meines eigenen Lebens war. Aber was wird die Menschheit in den nächsten dreißig Jahren an Schönheit und Fruchtbarkeit der Erde ruiniert haben? Wie viele Kriege mit welchen Waffen werden bis dahin über die Erde hinweggerast sein? Wie viel neues und schweres Unrecht wird die Schwachen unter den Völkern getroffen haben? Wie und wovon werden die immer zahlreicher werdenden Menschen sich ernähren? Die große Frage wird sein: Wie muss ein Mensch aussehen, wie wird er leben, der heilend wirken kann für die Erde oder befreiend auf diese Welt der Kriege? Der fähig ist, ein wenig Gerechtigkeit zu schaffen dort, wo er lebt? Ich weiß: Gerechtigkeit ist ein Traum, aber es ist einer der wenigen Träume, für deren Verwirklichung sich lohnt zu leben.
Was ich in diesem Buch zeigen möchte, ist ein Vorschlag. Seit Jahrtausenden haben die Menschen nach ethischen Regeln gesucht, nach denen sie leben konnten, und auch die Christen haben immer gefragt, was es denn eigentlich sei, das ihnen Gott an Aufgaben stelle. Immer aber hat in der langen Zeit irgendeine Generation nachdenklicher Menschen gefragt, ob eigentlich, was da an Maßstäben gefunden war, für ihre Zeit noch gelten könne, und hat es umgedacht. Heute nun stellen wir fest, dass viel von dem, was der christliche Glaube von früheren Generationen gefordert hat, überholt und vergangen zu sein scheint, und wir fragen sehr neu, wie denn das Leben von Christen heute gelebt werden könne. Wir fragen auch, auf welche Weise und in welchem Maß eine religiöse Ethik für das nicht religiöse Verhalten eines religiösen Menschen und für die weltlichen Macht- und Rechtsverhältnisse zuständig sein könne. Wir fragen, ob und in welchem Sinn sie die weltlichen Verhältnisse zu ändern fähig sei.
Wir stellen diese Frage also nicht von einem festen Punkt aus. Wir glauben vielmehr, unser Glaube habe von unserem heutigen Denken und von der heutigen Weltsituation aus von Tag zu Tag zu entscheiden, wie er sich ins Spiel oder in den Kampf der Kräfte einbringen könne. Das Verhältnis zwischen unserem christlichen Ethos und der Weltgesellschaft von heute ist also kein festes Gefüge, es begibt sich vielmehr als Prozess. Unser Glaube geht davon aus, die Gemeinschaften und Gesellschaften der Menschen seien veränderbar und verbesserlich.
Wenn ich nun den Versuch unternehme, zu sagen, was ich als Christ in meiner heutigen und konkreten Welt zu tun und zu lassen hätte, dann fällt mir auf, dass einige Voraussetzungen einer christlichen Ethik sich heute anders darstellen als noch vor wenigen Jahren. Betrachten wir die Versuche, die heute auf dem Tisch liegen, so fällt uns auf, dass wir sehr Vieles sehr neu zu bedenken haben.
Mir fallen vier Stellen auf, an denen es mir in einer normalen christlichen Ethik von heute zu fehlen scheint:
Wenn ich danach suche, was das Besondere an den Weisungen Jesu sei, so fällt mir als Erstes auf, dass in den meisten christlichen Versuchen zur Ethik genau dieses Besondere kaum vorkommt, dass vielmehr das Misstrauen spürbar ist, ob diese Weisungen sich für eine wirksame und auf das heutige Leben anwendbare Ethik eigneten. »Man kann mit der Ethik Jesu, der Ethik etwa der Bergpredigt, keine Politik machen«, sagt man auch unter Christen. Man kann auf Gewalt nicht verzichten. Man kann nicht verlangen, dass ein Politiker »ein Ja spricht, das ein Ja ist, und ein Nein, das ein Nein ist«. Man kann seinen Feind nicht »lieben«. Man braucht für eine praktikable Ethik noch andere Maßstäbe. Man baut also Hilfskonstruktionen in die christliche Ethik ein, die wie ein stützendes Balkengerüst dem Wort Jesu festen Stand geben sollen. Ob das die »Zwei-Reiche-Lehre« der Protestanten ist, wie sie den Fürsten des 16. Jahrhunderts wohl gefiel, oder das Naturrecht der katholischen Theologie, wie es aus dem Weltbild des Mittelalters hervorging, eine populäre Volksmoral, wie sie überall zu sichern vermag, was ist und gilt, eine zeitgemäße revolutionäre Absicht, wie sie in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vielen zum Maß des Christlichen geworden ist, eine die Verhältnisse stabilisierende Soziallehre, wie man sie heute sucht, eine Hierarchie von Werten oder speziell von »christlichen Werten«, von denen in den oberen Etagen der Bundesrepublik so mancher träumt, oder was es immer sei, das den Anweisungen Jesu zu Stand und Halt helfen soll. Von seinem Wort und seinem Geist bleibt in aller Regel nicht viel übrig. Aber eben das gilt es heute neu zu zeigen: Wie es aussieht, wenn wir ernst nehmen, was er über unser Denken und Entscheiden und Verhalten sagt. Es ist auf alle Fälle der Punkt, auf den es ankommt.
Eine zweite Stelle, an der wir heute neu ansetzen müssen, ist die, dass wir neu ernst nehmen, was die Apostel und die Schreiber des Neuen Testaments uns über Jesus berichten. Meine Generation hat vor fünfzig und mehr Jahren gelernt, über das Leben, über das Werk, über das originale Wort des Mannes aus Nazaret wüssten wir praktisch nichts. Wir hätten nur die Berichte und Interpretationen der zweiten Generation nach ihm in der Hand. Das Evangelium also sei nur die Weise, wie die zweite Generation sich Jesus und seinen Willen nach Ostern erklärt habe. Inzwischen hat in der Wissenschaft eine neue Zuversicht Platz gegriffen, die Person, das Wort, der Weg und die Botschaft Jesu seien durch das Wort der zweiten Generation hindurch sehr wohl erkennbar. Ich mache hier also den Versuch, nicht von einer späteren Jesusdeutung, sondern vom wirklichen Jesus auszugehen in dem Vertrauen, dass es mir gelingen werde, ihn zu verstehen. Und das auch dort, wo es um Gedankenfelder wie die Rechtfertigungslehre oder die Ethik geht.
Eine dritte Stelle: Es scheint mir heute unmöglich zu sein, in einer Weise, wie sie in früheren Zeiten versucht werden konnte, das christliche Leben in ein festes System von Geboten, Ordnungen und Regelungen einzubinden. Dazu müsste ich mir vorstellen, der Mensch sei ein unveränderliches Wesen, und ich müsste mir desgleichen vorstellen, die menschliche Gesellschaft sei unverändert heute dieselbe wie vor tausend oder dreitausend Jahren, und sie werde in den kommenden tausend Jahren unverändert sein, die sie heute ist. Nach dem Evangelium aber kann und muss sich unser Verhalten, unser Sein und Wesen im Sinn der Botschaft Jesu verändern. Danach können und müssen sich die Wechselwirkungen zwischen unserem Glauben und der menschlichen Gesellschaft, und zuletzt der Charakter und das Wesen, die Struktur und Funktionsweise von Staat und Gesellschaft verändern. Alles, was da ist und geschieht, vollzieht sich als Prozess und als lebendige Wechselwirkung. Was wir Christen aber einzubringen haben, ist nicht zuerst eine Ordnung, sondern die Freiheit unseres Glaubens und die Richtung, die er dieser Entwicklung gibt.
Das bedeutet aber als Viertes, dass die Zukunft für uns eine andere Rolle spielen wird. Das Bild, das eine christliche Ethik im herkömmlichen Stil bietet, ist dies, dass die Zukunftsvorstellung Jesu praktisch ausfällt. Es wird selten erkennbar, dass es für Jesus nicht nur um die Reparatur gegenwärtiger Schäden oder um die gegenwärtige Sicherung sozialer Verhältnisse geht, sondern vor allem um die Vision einer Zukunft. In einer Zeit aber, in der die weltlichen, die philosophischen Ethiken mit der im Augenblick geschehenden Entscheidung oder Tat genug haben und die Zukunft ausblenden, scheint es mir an der Zeit zu sein, nachzufragen, was denn eine christliche Ethik über die Zukunft zu sagen habe. Denn die offene Zukunft und ihre Gestaltung waren für Jesus selbstverständlich und für seine Ethik charakteristisch. Auf sie kam ihm alles an. Christliche Ethik ist also ein Ausdruck für den offenen Prozess, der zwischen der Wandlung, die in uns selbst stattfindet, und dem, was in der Zukunft mit unserer Welt geschehen wird, sich abspielt.
Ich vermute, man werde an meinem Versuch viel Unausgeglichenes beanstanden, viel Fehlendes anmahnen und viel Spekulatives kritisieren. Ich denke aber, dieser Versuch müsse gewagt werden, und bin jedermann dankbar, der auf dem Weg weiter nachdenkt, der damit eingeschlagen wird.
Es hat immer Religionen gegeben, und es gibt sie bis heute, die sich ihrem irdischen Umkreis zuwandten, und sie haben den Menschen gewiss viel Halt und Orientierung gegeben. Es gab immer auch Religionen, die das Leben auf dieser Erde für zweitrangig und die Beschäftigung mit seiner Alltäglichkeit für herabziehend hielten, die dazu aufriefen, man solle dieser Welt entsagen und auf den Wegen des Verzichts eine andere, höhere Wirklichkeit erreichen. Es war aber von jeher ein Besonderes am christlichen Glauben, dass er beides ergriffen hat: das Hier und das Dort. Das Jetzt und das Künftig. Und auch für unsere Zeit wird es eine der Signaturen des christlichen Glaubens sein, dass er sich ebenso entschieden dem irdischen Elend zuwendet, wie er von der Sehnsucht getrieben ist nach dem Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, das über unsere kurze Geschichte auf dieser Erde hinausliegt. Bis zum heutigen Tag liegen in der Sehnsucht und in der Kraft, beides zu verbinden, seine Schönheit und seine Größe. Und seine Wahrheit.
Ich habe darum allerlei Fragen an mich selbst wie an Sie, liebe Leserin, lieber Leser: Regt sich in uns etwas wie die Sehnsucht nach einer Veränderung der Dinge? Haben wir noch Träume, die in die Zukunft ausgreifen? Brennt etwas in uns wie Leidenschaft für das Glück und Heil der Menschen? Hat unsere Seele Flügel, die über den Tag hinaustragen? Mir scheint für Sie wie für mich selbst viel weniger wichtig zu sein, wie viel wir unter den Menschen gelten oder was wir alles schon geleistet haben, ob wir ordentliche Menschen sind oder unordentliche, und viel mehr, ob in uns die Kraft ist, für etwas Großes einzutreten, uns an etwas Wichtiges hinzugeben, an fremdem Leid von Herzen teilzunehmen, über Neues und Überraschendes zu staunen. Mir scheint wichtig, wie viel Leben in uns ist und wie viel Unabhängigkeit. Und endlich: Ob wir Hände haben, die zugreifen können, wo immer Hände nötig sind.
Denn darum wird es gehen: Ob wir ein gemeinsames Ziel sehen für uns selbst und für die Menschheit, ob wir sorgsam genug dem nachdenken, was zu tun ist, und ob es eine Kraft gibt, die uns verbindet und befähigt zu einem gemeinsamen Willen. Jesus sagt: Du siehst die Zeichen der Zeit! Schau hin! Nimm wahr, was kommt! Und greif zu, dort, wo du stehst.
Wir pflegen unser Leben nicht nur mit den Mitteln des Rechts, sondern auch mit den Mitteln der »Moral« oder denen einer »Ethik« zu ordnen.
Das Wort Moral kommt von dem lateinischen Wort »mores«. Damit meinte der Römer den überlieferten Bestand an Sitten und Gebräuchen, den ganzen Komplex von ererbten Handlungsmustern und Verhaltensweisen, der das Leben in seinem Volk und Umfeld ordnete. Nach diesen Mustern hatte ein Mensch sich zu richten, wollte er als moralisch einwandfrei gelten. Das Modell freilich, nach dem sein jeweiliges Leben zu gestalten sei, hat damals jedes Volk für gültig gehalten; es galt ihnen von Göttern für alle Zeiten festgelegt, und in der Tat war es für das gemeinsame Leben dienlich und sinnvoll. Bis heute ordnet ein moralisch denkender und handelnder Mensch sein Leben nach dem, was ihm sein Volk, seine Kultur, seine Religion vorschreiben. Er gehorcht dem, was Frühere gesagt haben, oder den Autoritäten seiner Gegenwart. Er hat seinen persönlichen Wert für die Gemeinschaft in dem Maß, in dem er sich einfügt. Er gewinnt seine Ehre und seinen Selbstwert aus dem, was ihm die Umwelt oder die Tradition vorschreiben. Ehe wir aber kritisch zu fragen beginnen, wo denn in einem solchen moralischen Kosmos etwas wie Freiheit Raum finden könne, wo da der Spielraum für individuelle Lebensentwürfe bleibe, müssen wir sehen, dass eine solche moralische Ordnung nicht gering einzuschätzen ist. Sie ist zum Leben hilfreich. Eine Gesellschaft ohne einen gewissen moralischen Konsens und ohne eine Autorität, die über ihm wacht, ist nicht lebensfähig. Ein Rechtssystem ohne moralische Fundierung kann und darf nicht gelten.
Ethik ist mehr. Sie hat sich in den letzten dreitausend Jahren allmählich gegen die bloße Moral durchgesetzt. Seitdem begann der Einzelne sich aus seinem Gruppenzwang zu lösen. Er fand Freiheit, fand die Würde seiner Person. Er suchte nach einer »Ethik«. Er trat heraus aus der ordnenden Gemeinsamkeit und begann zu fragen: Was kann mir vorgeschrieben werden? Was entscheide ich selbst? Wie weit trägt meine Freiheit? Im Lauf der Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung wurde die Frage immer genauer: Wer ist denn der Mensch überhaupt, dass er die Freiheit eigener Entscheidungen fordern kann? Der Einzelne trat, seit den ältesten Stücken der Bibel, seit dem Beginn des griechischen Nachdenkens, seit dem Aufkommen der großen Religionen der Erde, immer freier in den Vordergrund. Das Haus eines gemeinsamen Lebens in einer Stadt oder einem Land entstand mehr und mehr durch eine Verbindung zwischen gemeinsamen Interessen und der freien Initiative Einzelner. Das Gemeinsame wurde stärker durch die Kraft des Einzelnen.
Das Wort Ethos kommt aus dem Griechischen. Dort bezeichnet es die erkennbare Gestalt eines selbstständigen Menschen. Es bezeichnet eine Haltung, ein Verhalten, die an einem freien Menschen erkennbar werden. Eine Sinnesart. Eine Gesinnung. Eine Denkweise. Es beschreibt die Handlungsweise eines Menschen, der aufgrund eigener Entschlüsse eine Lebensform sucht, die seiner Gestalt ein genaues, ein »ethisches« Profil gibt.
Das Wort »Ethos« bedeutet auch, wenn ich es ein wenig anders schreibe, so viel wie Haus. Wohnbereich. Verbinde ich nun die beiden Bedeutungen, die vom »Haus« und die von der »Sinnesart« miteinander, so will »Ethik« heißen: Da ist ein selbstständiger Mensch. Der macht sich an die Arbeit, das Haus seiner eigenen Person zu bauen, das Haus seines Lebens, aber auch das Haus der Gemeinschaft, in der er lebt. Dieses Haus bleibt nicht grundsätzlich, was es immer gewesen war. Es will ausgestattet, verändert, renoviert werden, vielleicht einmal ganz abgerissen und neu geplant und neu gebaut. Ethos also ist nichts für alle Zeit Feststehendes, sondern ein bewohnbares Haus für eine bestimmte Zeit und für bestimmte Menschen, das in freier Phantasie, mit Erfahrung und Sachkenntnis immer wieder neu entworfen werden muss. Ein Haus, in dem gut ist zu wohnen. Freiheit des ethisch handelnden Menschen gründet also keineswegs auf der Beliebigkeit, mit der einer tut, was er will, sie meint vielmehr die freie Fähigkeit, das gemeinsame Haus so zu bauen, dass ein gemeinsames Leben und Wohnen möglich ist.
Damit aber, dass Ethik von der Gesamtgestalt eines Menschen spricht, und nicht nur von seinem moralischen Gehorsam, umfasst sie über das bloße gute oder böse Handeln hinaus eine lange Reihe von persönlichen Fragen. Zum Beispiel: Wie eins bin ich mit mir selbst? Stimmen mein Nachdenken, mein Verhalten, meine Erscheinung zusammen? Was geht von mir aus außer meiner Korrektheit? Wie viel Freundlichkeit? Fairness? Klarheit? Toleranz? Wie viele Einfälle, wie viel Kompromissbereitschaft? Wie viel Bescheidung? Wie viel Selbstkontrolle? Wie viel Einfühlung? Wie viel Verstehen? Wie viel Glaubwürdigkeit? Wie viel Mut gewinnen die Menschen durch mich? Wie viel Zuversicht? Und dabei werde ich immer mitbedenken, dass von mir ausgeht nicht nur, was ich will, sondern auch alles, was mir unbewusst ist. Ethik umfasst alles, was in mir ist und in mir wirkt. Was hin und her geht zwischen mir und meiner Welt. Ich werde zu einem glaubwürdigen Menschen nicht nur durch das, was ich tue, ich muss vielmehr ein stimmiger Mensch sein, um glaubwürdig und frei handeln zu können.
In der ethischen Praxis zeigt sich, dass der eine rasch und wie selbstverständlich weiß, was er zu tun hat, der andere es auch weiß, es aber nicht tun kann, der dritte es nicht weiß und auch nicht findet, und der vierte es nicht weiß und erst durch langes Prüfen, durch Gespräche, durch viel Unklarheit und Angst hindurch zu seiner Entscheidung kommt. Denn es geht in dem ganzen Bereich, den wir die »Ethik« nennen, um das ganze Leben, es geht um praktische Entscheidungen, die nur zum Teil moralisch zu nennen sind. Das Moralische aber ist ein Aspekt neben vielen anderen Aspekten.
Es geht nicht nur darum, ob eine Tat »gut« ist oder »böse«, sondern auch darum, ob sie von Vertrauen getragen ist oder aus der Angst kommt, ob ein Mensch sich mit ihr etwas vormacht, ob sie durchgehalten werden kann, oder ob der Mensch an ihr scheitern muss, ob sie Mut macht oder Mut aufzehrt.
Das »Gute« ist dann auch das, was einen Menschen seiner selbst gewisser macht, was ihm auch auf anderen Gebieten mehr Klarheit gibt, was seine Sorge um ihn selbst abbaut, was ihm Freiheit gibt, ohne ihn ins Beliebige zu entlassen, was Ausdruck seines Glaubens ist und ihn bereit macht, bei einer nächsten Entscheidung wieder seine Überzeugung und nicht etwas anderes auszudrücken. Es geht ja nicht um den jetzigen Augenblick allein, sondern um eine ganze Lebensgeschichte, die ihm voranging, und um eine Lebensgeschichte, die ihm folgt.
Auch in heutiger Zeit stehen wir, was das Bemühen um eine wirkliche Ethik freier Menschen angeht, noch immer in den Anfängen. Es wurde nie in der Weltgeschichte so laut und deutlich nach Gerechtigkeit gerufen, wie es heute weltweit geschieht. Aber kaum jemand kann sagen, was denn Gerechtigkeit sei und wie sie zustande kommen solle. Nie wurde so energisch nach Frieden verlangt, aber der Friede ist nicht zu gewinnen. Nie wurde so klar gesagt, was geschehen müsse, damit unsere Erde biologisch am Leben bleibe, aber nie standen diesem klaren Wissen die Interessen der Völker, der Staaten und der Wirtschaftsmächte so massiv entgegen. Es wäre dringend, dass der wissenschaftlichen Forschung oder der wirtschaftlichen Macht Grenzen gesetzt würden, aber kaum etwas ist gegen moralische oder ethische Vorstellungen so resistent wie sie. Wir ahnen vielleicht gerade noch, dass wir eine Verantwortung hätten für das Leben kommender Generationen, aber wir ziehen kaum Konsequenzen. Ob es eine Rechtsgemeinschaft der gesamten Natur einschließlich der unbelebten geben müsse, das ist keine Frage, die in einer herkömmlichen Moral gestellt werden könnte, wohl aber eine, um die eine heutige Ethik nicht herumkommt. In den reichen Ländern werden die Ernten vernichtet; aber viel zu wenige können sagen, wie man sie zu den Hungernden dieser Erde bringt. Das Streben der Mächtigen nach mehr Macht hat ein Vernichtungspotenzial entwickelt, das die gesamte Menschheit vielfach auszurotten vermag. Jeder kann den Irrsinn feststellen, aber nur wenige wissen, wie ihm abzuhelfen sei. Niemand auch weiß, wie eine heutige Weltpolitik glaubwürdig werden könnte. Aber die Weltpolitik ist der Spiegel unserer eigenen Seele, und sobald ich über mich selbst nachdenke, entdecke ich, dass ich selbst ein politisches Wesen bin, und dass die allgemeine Ratlosigkeit meine eigene Ratlosigkeit ist.
Solange ich moralisch denke, gilt die Reihenfolge, dass ich das Vorgeschriebene tun muss, um zu einem guten Menschen zu werden. Mein gutes Tun macht mich zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft. Denke ich hingegen ethisch, so werde ich entdecken, dass ich ein guter Mensch sein muss, um gut handeln zu können. Dass eine Wandlung in mir vorgegangen sein muss, damit ein verändertes Tun aus mir hervorgehen kann. Dass etwas in mir anders geworden sein muss, soll mein Tun sich von dem eines Herdenwesens unterscheiden, das dem Trieb aller oder auch nur etwa seinen eigenen Bedürfnissen folgt. Wie aber soll dieser veränderte Mensch zustande kommen? Das ist die Grundfrage, von der eine ernsthaft auf die Zukunft der Menschheit hin entworfene Ethik auszugehen hat. Anders wird sie in weltfernen Träumen oder abstrakten Zumutungen enden.
Wenn ich so frage, bin ich mir bewusst, dass eine solche Richtung unserer Gedanken weit hinausgeht über irgendeine bisherige Moral, aber auch weit mehr einbegreift als eine bisherige Ethik, und dass es eines beträchtlichen Mutes bedarf, um ein Leben so groß zu entwerfen. Der christliche Glaube aber ging, wo er wirklich zum Zug kam, nie in einer Moral auf, und er wird künftig auch in keiner noch so freiheitlichen Ethik aufgehen. Er wird das Bild eines Menschen zeigen, der über alles bisher Gültige, Bewährte und Anerkannte hinaus einer offenen Zukunft zugewandt ist und der über alle Wirrnis der Gedanken und der Ereignisse auf dieser Erde hinaus von einem Ziel weiß, das seinem gewagten Sein und Tun den Sinn gibt.
Sie erwartet eine ungeheure, eine kaum noch vorstellbare ethische Anstrengung. Eine Anstrengung, die Verhältnisse auf unserem Globus grundstürzend zu verändern. Unsere kulturellen oder nationalen Einzelgesellschaften völlig neu durchzugestalten. Und das Muster, nach dem dies geschehen kann, durchzuzeichnen auf unsere kleinen Gemeinschaften und auf unser privatestes Leben. Nur sehr wenig wird bleiben können, wie es heute ist. Wir haben hinter uns das Reich Hitlers. Das können wir nicht vergessen. Wir haben um uns das wilde Gewoge der politischen und wirtschaftlichen Mächte. Wir haben uns gegenüber und um uns her die Folgen unseres heutigen Tuns. Wir haben vor uns eine mögliche Zukunft, vor der uns, wenn wir sie nicht ausblenden, nur grauen kann. Der Christ der Vergangenheit war in aller Regel dem Staat gehorsam und der Kirche treu. Er beschränkte seine Freiheit aus freien Stücken auf sein privates Umfeld. Das ist gründlich und endgültig vorbei. Ich stehe meinem Staat frei gegenüber und verantwortlich. Und ich gehe meinen Weg durch die heutige Weltlandschaft, ob die Kirche hinter mir zurückbleibt oder ob sie mir voraus ist. Ich füge mich ihr ein, so lange mir scheinen will, sie sei auf der Höhe der Zeit und sie sage ihr Wort nicht für Menschen des vorigen Jahrhunderts.
In den vergangenen achtzig Jahren war zu lernen, dass ein christliches Ethos seine Kraft durchaus in der privaten Sphäre zu erweisen hat, dass aber der Raum, in dem es sich zu bewegen hat, weit über das Private hinausgeht, dass es das öffentliche Leben, die öffentliche Ordnung, die öffentliche Wohlfahrt, das politische Nachdenken und Entscheiden, die Kontrolle derer, die Macht ausüben, Gerechtigkeit zwischen den Völkern, Krieg und Frieden, Umgang mit der Erde und Verantwortung für künftige Generationen mit einschließt. Die Aufgaben, die eine christliche Ethik heute anzeigt, reichen so weit wie der Planet, auf dem wir leben, und greifen über den heutigen Tag weit hinaus in die Zukunft.
Da ist das Thema Armut. Hunger. Krankheit. Wir sehen heute ganze Völker im Elend versinken. Auch die Gründe sind klar zu sehen. Sie liegen in der Machtverteilung zwischen den Wirtschaftsmächten und den ihnen ausgelieferten Völkern und in der Verbrauchermentalität der wohlhabenden Teile der Erde. Geht das alles uns Christen nichts an? Mit Wohltätigkeit allein werden wir an den Verhältnissen nichts ändern.
Da ist das Thema Arbeit. Wir stehen in einer rasend schnellen Entwicklung der Produktionstechnik. Die Arbeit, die gestern tausend leisteten, leisten heute an vielen Stellen deren hundert, in dreißig Jahren vielleicht noch zehn. Mit der heutigen Arbeitsbeschaffungsrhetorik ist dem nicht beizukommen. Finden wir keine Lösung für die Neuverteilung der noch bezahlbaren Arbeit, so werden wir in fünfzig Jahren in unserem Land dreißig Millionen Arbeitslose haben. Und weltweit ein Heer von mit Hungerlöhnen bezahlten Kulis.
Da ist das Thema Frieden. Frieden war für das nationale Bewusstsein früherer Zeiten die Frucht gewonnener Kriege. Heute wissen wir, dass jeder Krieg eine Folge politischen Versagens ist. Dass er nicht Leben bringt, sondern Leben auslöscht und danach Leben behindert. Krieg löst keine Probleme. Er schafft sie. Basis des Friedens ist nicht die Macht, sondern die Gerechtigkeit. Können wir an unseren Erfahrungen vorbeileben?
Da ist das Thema, wie Frieden zu gewinnen ist. Das Thema des Verzichts auf Gewalt. Wie sollen Auseinandersetzung, Einflussnahme oder Machtausübung im täglichen Kleinkrieg zwischen Menschen, Gruppen, Ideologien oder Meinungen ausgetragen werden? Wie sieht ein gewaltloses Arbeitsprinzip für Pädagogik, Ehealltag, politische Auseinandersetzung, Interessenkampf zwischen Völkern aus? Alternativen gibt es nicht.
Das Thema Terrorismus. Die Vorstellung eines mit Massenvernichtungswaffen ausgerüsteten Terrorismus ist ein Albtraum. Er kann schnell Wirklichkeit werden. Aber nützt es, ihn mit Waffen zu bekämpfen, solange über seine Ursachen nicht nachgedacht wird? Terrorismus kommt auf, wenn ein politisches, ein militärisches oder ökonomisches Unterdrückungssystem unerträglich geworden ist für ein Volk, das sich militärisch nicht zu wehren vermag. Was tun wir angesichts der weltweiten Weigerung, über die Ursachen nachzudenken?
Da ist das Thema Umwelt. Wir können heute wissen, wie bedroht die Biosphäre der Erde ist. Es gilt, dem Anspruch zu widerstehen, alle geschaffenen Dinge dienten ausschließlich den Interessen des Menschen. Ein weltweites Ethos muss auch die Würde von Stoffen und Kräften, Tieren und Pflanzen und ihr Lebensrecht einbeziehen, wollen wir selbst überleben. Es gilt, mehr Achtung vor dem Lebendigen aufzubringen. Mehr Nachdenklichkeit. Mehr Bereitschaft zum Verzicht auf Verbrauch. Sollte hier nicht für Christen eine elementare ethische Aufgabe liegen? Die Erdcharta der Vereinten Nationen hat gute und genaue Vorschläge dazu.
Da ist das Thema Gleichrangigkeit aller Menschen. Es gilt heute, die Menschenrechte ausgebeuteter und unterdrückter ethnischer Gruppen, Rassen und Urvölker auf gleicher Höhe zu respektieren wie die entwickelter Völker. Ihre kulturelle Identität zu achten, ihnen den gleichberechtigten Zugang zur Macht, zu Bildung und zum Wohlstand zu eröffnen. Dass Mann und Frau die gleiche Würde und das gleiche Recht eignet, ist kaum mehr einer Erwähnung wert. Es muss selbstverständlich sein.
Da ist das Thema Ausübung von Macht. Wir werden heute von jedem Staat der Erde fordern müssen, dass er sich hinsichtlich der Weise, wie er Macht ausübt, vor einer ihm übergeordneten Instanz verantwortet, sei es das Völkerrecht, sei es die Menschenwürde, sei es die Gerechtigkeit, sei es, wenn wir religiöse Menschen sind, Gott. Machtausübung muss transparent geschehen und unterliegt der Rechenschaftspflicht.
Da ist umgekehrt das Thema Schutz der staatlichen Machtausübung. Die Macht auf unserer Erde wird heute fast schon mehr von Wirtschafts- und Geldmächten ausgeübt als von Staaten. Es ist aber unabdingbar, das Monopol der Macht zu schützen, das dem Staat zukommt, wenn denn irgendwo und irgendwie noch von einem Rest von Gerechtigkeit die Rede sein soll.
Da ist das Thema Wahrheit der Information. Wir werden wachen müssen darüber, dass Information in allem Reden frei bleibt von staatlicher oder ökonomischer Einflussnahme, und zwar weltweit. Wir werden festhalten müssen, dass der Zugang zur freien Information ein Grundrecht des Menschen ist.
Da ist das Thema öffentliche Mitrede. Die Gesellschaft von morgen wird lebensfähig sein nur, wenn sehr viele ihren Willen in die öffentlichen Entscheidungen einbringen. Es wird an dieser Stelle einer Menge Phantasie und Einsatzwillen bedürfen.
Da ist das Thema Vorausdenken. Das öffentliche Reden begrenzt sich selbst in aller Regel auf wenige Jahre oder auf kurze Wahlperioden. Wer denkt schon darüber nach, mit welchen Mitteln künftige Generationen die Schulden bezahlen, die wir anhäufen, oder wie sie die zerstörte Erde einigermaßen restaurieren, oder wie sie mit unseren radioaktiven Abfällen umgehen sollen? Wer sollte den Mut finden, ohne Scheuklappen fünfzig Jahre vorauszudenken, wenn nicht die Wachen in unserer gegenwärtigen Generation, und unter ihnen in erster Linie auch die Christen?
Da ist endlich das Thema Weltethos. Es könnte für uns gelten, die Maßstäbe und Werte unseres christlichen oder unseres humanistisch-abendländischen Ethos auf ihre Kommunizierbarkeit mit den ethischen Vorstellungen anderer Kulturen zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern. Denn das Überleben der Menschheit könnte daran hängen, ob wir zu einem Völkerrecht finden, das von allen Kulturen und Religionen bejaht werden kann. Christliche Ethik exportieren zu wollen, nützt nichts. Wir werden die Grundrechte und Grundpflichten der Menschen überall auf der Erde gleich oder ähnlich gewahrt sehen müssen. Die höllische Möglichkeit, die Arnold Gehlen zeichnet, der gewärmte, große Kulturstall, in dem die Raubtiere einander umkreisen, ethische Formeln flüsternd, kann nicht die einzige Perspektive sein, die uns bleibt.
Bedenken wir aber nun, dass ein gleicher oder ähnlicher Katalog höchster ethischer Anforderungen sich durchzeichnet in unseren kleinen Lebensumkreis und unser privates Lebensinteresse, so kann uns die Müdigkeit ergreifen oder die Resignation. Die Angst. Denn wie soll ein Mensch wie du und ich seinen Alltag bestehen und dazu und darüber hinaus die Kraft aufbringen, all dies aufs Herz zu nehmen? Ich kann niemanden verurteilen, dem dies alles zu groß und zu viel ist, der sich in sein kleines Umfeld zurückzieht und sich gegen solche Überforderung abschließt. Aber weniger als all dies erwartet die Welt von morgen von uns weder im Großen noch im Kleinen.
Warum zähle ich das alles auf? Weil kein Zweifel darüber bestehen sollte, dass eine Ethik, vor hundert Jahren erstellt, uns keinerlei Hilfe geben wird. Dass eine Ethik nie ewigen Bestand haben wird, sondern immer nur den Versuch darstellt, eine für ein Volk oder eine Zeit geboten erscheinende Gestalt ihres Lebens aufzuzeigen. Und weil zum Zweiten deutlich sein muss, dass die Menschheit ihren Weg durch ihre jeweilige Gegenwart nur so finden konnte und kann, dass sie die Maßstäbe, die für ihre Voreltern gegolten hatten, geändert hat. Alles fließt. Und es ist gut, dass alles fließt. Es ist ein Gesetz der Geschichte, in der wir alle miteinander stehen, dass alles fließen darf und kann und muss. Ich lege großen Wert darauf, dass ich nicht in der Zeit meiner Urgroßeltern lebe, sondern in der meinen. Und ich will als ein Mensch dieser Zeit fragen, was denn für einen wie mich, der sich bemüht, ein Christ zu sein, gelten könne.
Die Ansprüche bestehen in Forderungen, die völlig neu sind und so hoch, dass unsere ethische Leistungsfähigkeit größer und unser Gewissen unabhängiger sein müssten, als es je von der Menschheit gefordert war. Allein durch eine Aufzählung der Aufgabenfelder wird klar, dass heute eine ethische Sensibilität aufblühen müsste, weltweit, wie die Menschheit sie nie aufgebracht hat.
In einer fatalen Gegenläufigkeit zu diesen wachsenden Ansprüchen scheinen die Fähigkeit und der Wille, irgendeiner ethischen Forderung zu entsprechen, in den Menschen dahinzuschwinden. Jürgen Habermas äußerte unlängst, was wir beobachteten, sei ein Verdorren aller normativen Sensibilitäten. Heute verändere sich die Konstellation zwischen Religion und Aufklärung. Es gehe nicht mehr um das kritische Hinterfragen alter Normvorstellungen, sondern darum, dass wir lernten, dass auch unser Staat lernte, behutsamer als je mit allen Ressourcen umzugehen, aus denen sich die moralische Sensibilität seiner Bürger speise. Das Wort kommt einem vorsichtigen Griff gleich in Zeiten, die unserer westlichen Aufklärung vorausliegen. Es fragt nach den uralten Weisen, wie Menschen jemals zu ihren ethischen Aufstellungen gekommen sind. Wie aber öffnet man Menschen, die einer Ethik nicht zu bedürfen meinen, den Zugang zu den Ressourcen moralischer Sensibilität? Es ist eine Aufgabe, von der ich im Augenblick nicht sehe, wie sie erfüllt werden soll. Die Aufgaben wachsen, der Wille und die Kraft, sie zu bewältigen, nehmen ab.
Die Erfolge der Naturwissenschaft haben zu einer gründlichen Entmythologisierung des Lebens geführt. Dabei entstand eine seltsame Leere. Alles wissenschaftlich nicht Nachweisbare geriet in den Verdacht, Ideologie oder Illusion zu sein. Was uns orientieren könnte, was uns trösten könnte, schwand dahin. Und dabei haben wir alle die Fähigkeiten verkümmern lassen, die einen Sinn finden oder Werte setzen könnten.
In der guten alten Zeit unserer Urgroßeltern war gewiss nicht alles besser, aber es war einfacher. Wenn damals jemand sagen wollte, was ein Mensch zu tun und zu lassen habe, so holte er seine Maßstäbe aus dem reichen Schatz Jahrtausende alter Vorräte an bewährten Moralvorstellungen. Wenn ich heute dasselbe tun soll, wenn ich also sagen soll, was in einer Welt wie der heutigen gut sei oder böse, gerecht oder ungerecht, so werde ich nach ein paar allgemeinen Sätzen am Ende sein. Weiß ich es denn? Weiß es irgendjemand?
Ich müsste mich in dieser komplizierten Welt auskennen, wie sich keiner auskennt, wollte ich sagen können, was ein Geschäftsmann oder Arzt, eine allein stehende Frau oder der Manager eines großen Geldinstituts zu tun und zu lassen hätten. Ich würde rasch sehen, dass ich keinen Rat habe, einfach deshalb, weil ich zu wenig weiß. Ich müsste im einen Fall ein Fachmann für Mikrobiologie, im anderen ein Experte in Wirtschaftsfragen und in einem dritten für Journalismus oder internationales Recht sein. Denn was eine Ethik sagt, muss ja für alle Menschen gleich oder ähnlich lauten. Ich kann sie auch nicht aufgliedern in eine ärztliche Ethik, eine feministische, eine politische, eine Umweltethik. Auch nicht in eine individuelle oder soziale. Nicht in eine Prinzipienlehre, die sagt, was allen gilt, und eine angewandte, die von Lebensumkreis zu Lebensumkreis verschieden lautet. Denn alles wird sich verwirren, wenn die eine Regel und zugleich die andere im selben Menschen Raum finden sollen. Für eine allgemeine Ethik aber werde ich nur eine kleine Anzahl von einfachen, gemeinsamen Regeln finden können, die die konkreten Einzelfragen nur sehr im Ungefähren beantworten können.
Dabei wird es sich aber so verhalten, dass nicht einmal ein Fachmann eines bestimmten Gebiets die vollständige Übersicht über sein Fach besitzen kann, die ihn instand setzte, für seine Fachkollegen konkrete Handlungsmuster zu entwerfen.
Dazu kommt, dass die Welt, in der wir uns ethisch bewähren sollen, sich so rasch wandelt, dass ethische Regeln kaum noch von einer Generation auf die nächste vererbt werden können. Das Denken eines Christen bedürfte also einer Offenheit, einer Beweglichkeit und Erneuerungsfähigkeit, die es nie besessen hat. Wenig kann mehr überliefert, kaum etwas noch einfach gefordert werden. Das ethische Gespräch wird wichtiger, als es je war. Aber vom ethischen Gespräch zu einem gesellschaftlichen Konsens ist ein unendlich weiter Weg. Wir Christen werden von Generation zu Generation klären müssen, was denn eigentlich das Evangelium sei, das uns diese Richtung anzeigt, und wir werden immer wieder einen Schritt zurücktreten, um zu sehen, was uns anvertraut ist, ehe uns ein Schritt in eine neue Richtung gelingen kann.