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Glauben in heutiger Zeit - Anregungen zur Auseinandersetzung
- Ein Plädoyer, das Wagnis des Glaubens einzugehen
- Kraft schöpfen aus einem Glauben, der den Verhältnissen unserer modernen Welt entspricht
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Seitenzahl: 113
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Copyright © 2006 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
ISBN 978-3-641-07110-3V002
www.gtvh.de
Wissen Sie etwas, verehrte Leserin, lieber Leser, das nicht abgeht, wenn Sie daran kratzen? Das nicht zusammenbricht, wenn Sie daran rütteln? Gibt es einen Boden, der nicht einbricht, wenn Sie darauf treten? Etwas, an dem Sie sich festhalten können, wenn alles ins Rutschen kommt?
Der christliche Glaube tritt von jeher mit dem Anspruch auf, er sei dieses Feste, dieses Verlässliche. Wir könnten uns der Richtung anvertrauen, in die er uns führt. Wir könnten das Ziel ins Auge fassen, das er uns zeigt. Was er uns über das Leben und seinen Sinn sagt, sei wahr. Und wir könnten ihn verstehen, soweit unsere menschlichen Gedanken überhaupt fähig seien, in die Rätsel unseres Daseins einzudringen.
Das ist heute deutlich und selbstverständlich: Es gibt nichts, über das wir nicht nachdenken dürften. Auch am christlichen Glauben gibt es nichts dieser Art. Wir müssen nichts schlucken, das wir nicht gekaut haben. Wollen wir den Glauben verstehen, so müssen wir ihn prüfen. Wir werden dabei bemerken, dass wir immer ein Stück weiterdenken müssen, als unsere Gedanken uns tragen wollen. Das heißt, dass es immer auf ein Denken ankommt, das von einem Vertrauen gehalten ist, wenn wir uns dem nähern wollen, was für uns wirklich wichtig ist.
Ich kann mir denken, dass Ihnen unbehaglich wird, wenn einer von »Glauben« spricht, und dass Sie sagen: Ich halte mich an das, was ich weiß. Glauben sei zu unsicher. Aber was heißt denn glauben? Es heißt ja nicht, dass einer etwas Unvernünftiges für vernünftig hält, weil er seinen Verstand nicht gebrauchen will. Es heißt nicht, dass er etwas Ungenaues hinnimmt, weil er nicht genau denken will. Es heißt vielmehr, dass er weiterdenkt, wenn andere zu denken aufgehört haben.
Es heißt nicht, dass er von einer jenseitigen Welt träumt, weil er mit der diesseitigen nicht zurecht kommt. Es heißt vielmehr, dass er nach dem Ganzen von Diesseits und Jenseits sucht, dass er also zusammenbringen will, was er sieht und was er nicht sieht. Es heißt nicht, dass er sich an Meinungen von gestern klammert, weil ihm die heutige Welt Schwierigkeiten macht. Es heißt aber wohl, dass er nicht meint, wir Heutigen müssten alle Wahrheit erst erfinden, sondern dass er ernst nimmt, was Menschen vor uns gedacht haben, und zugleich aufnimmt, was heute gedacht werden muss.
Wer glaubt, kann vertrauen, auch wo er nichts sieht. Er ist seiner Sache gewiss, auch wenn er keine Beweise hat. Er sieht offenen Auges in eine wirre Welt und weiß dabei, dass er geführt wird. Er vertraut darauf, dass ihm sein Leben gelingt, auch wenn er das nicht erzwingen kann. Der Glaube ist nicht der Traum, der ihm das Leben leichter macht, sondern die Grundlage für ein Leben, das diesen Namen verdient.
Vielleicht erleben Sie irgendwann, dass Ihnen Mächte gegenüberstehen, die Sie erbarmungslos im Griff haben. Politische oder wirtschaftliche, bekannte oder unbekannte, denen Sie nichts entgegenzusetzen haben. Glauben heißt dann, wissen, dass es in dieser Welt eine Macht gibt, ihnen allen überlegen. Es heißt dann, in den Schutz dieser Macht treten, die wir Gott nennen.
Vielleicht erleben Sie auch, dass Ihnen alles zwischen den Fingern zerrinnt, was Sie sich erhofft haben. Dass Ihnen alles misslingt, was Sie doch so gut gemeint hatten. Glauben heißt, darauf vertrauen, dass es neue Anfänge gibt, auch für ein gescheitertes Leben.
Glauben heißt, einen Weg gehen und dabei Erfahrungen machen. Es heißt, an solchen Erfahrungen festhalten. Es heißt auch, auf einen zurückgelegten Weg dankbar zurückschauen können. Mit Zuversicht auf einen neu beginnenden Weg vorausblicken. Es heißt, den ganzen Verlauf eines Lebens in einer guten Hand bewahrt wissen. Es heißt, sich von Sorgen und Ängsten nicht den Mut abkaufen lassen. Auch Leichtigkeit bewahren und Humor, wenn Sie sich fragen, was denn groß und klein, was wichtig und was unwichtig sei. Lassen Sie uns also nachfragen, wie denn all dies gewonnen werden könne.
Jeder Mensch, auch wenn er sagt, er komme ohne Religion aus, hat irgendeine Religion – sofern er überhaupt über das Leben nachdenkt. Wenn Ihnen aber jemand eben dies sagt, er komme ohne Religion aus, so geben sie ihm Recht. Er hat vermutlich eine Religion, ohne die man auskommen kann. Denn wenn einer behauptet, er glaube nichts, so täuscht er sich. Niemand lebt von dem, was er sehen und beweisen kann. Niemand kann etwas planen oder tun, wenn er nicht glauben will, die Zukunft werde so sein, dass er seine Pläne ausführen kann. Niemand kann einen Menschen lieben, wenn er nicht glauben will, denn der andere kann ihm auf keine Art beweisen, dass er seine Liebe ernst meint. Es gibt keine Liebesbeweise. Wer nicht glauben will, kann mit keinem Menschen zusammen leben oder zusammen arbeiten. Er muss von Tag zu Tag auf seine Verlässlichkeit vertrauen. Wer morgen etwas tun will, glaubt, dass er morgen noch lebt. Eine Welt aber, die so ist, dass mir niemand glaubt, es sei wahr, was ich sage, und es sei ehrlich gemeint, was ich tue, ist die Hölle.
Wichtiger als alles noch so genaue Wissen ist etwas anderes. Mir jedenfalls ist wichtig, ob in uns etwas Lebendiges ist. Ob sich in uns etwas sehnt. Ob wir noch Träume haben. Ob in uns noch ein Feuer brennt. Ob unsere Seele Flügel hat. Ob wir uns freuen, ob wir staunen, ob wir von Herzen an etwas teilnehmen können. Ob Freiheit in uns ist. Und ob wir fähig sind, praktische Konsequenzen aus dem zu ziehen, was uns wahr zu sein scheint.
Ein Seiltänzer führte, hoch über den Köpfen der Leute, seine atemberaubenden Kunststücke vor. Die Zuschauer waren begeistert. Einmal blieb er auf dem Seil stehen und rief: »Glaubt ihr, dass ich eine Schubkarre nehmen kann, einen Mann hineinsetzen und ihn sicher über das Seil schieben bis an die andere Seite?« – »Ja! Ja!«, riefen die Leute. Da rief der Seiltänzer einem Mann zu, der besonders begeistert Ja gerufen hatte: »Sie da! Kommen Sie herauf! Kommen Sie, Sie sollen mit mir über das Seil fahren!« Der wurde bleich. »Nein! Nein! Ich nicht. Das ist etwas anderes!«
»Das ist etwas anderes.« Wenn ich Jesus höre, so sagt er: »Nicht die werden glücklich sein, die ›Ja‹ rufen, sondern die, die das Wagnis eingehen.« Machen Sie einen Versuch.
Was Sie nun in diesem Buch lesen, ist keine Glaubensvorschrift. Es ist nur der Versuch, so knapp es möglich ist, zu sagen, was der christliche Glaube für mich selbst durch ein langes Leben hindurch bedeutet hat und noch bedeutet. Es ist nur der Versuch, Ihnen zu helfen, dass Sie Ihren eigenen Weg und Ihren eigenen Glauben finden. Sagen Sie ruhig auf jeder Seite, die Sie lesen: Das sehe ich anders. Aber denken Sie danach geduldig und genau weiter nach über das, was für Ihren eigenen Glauben grundlegend ist. Vielleicht wollen Sie am Ende das ganze Buch so umschreiben, wie es für Ihren Kopf und für Ihr Herz lauten muss. Denn nur auf die Wahrheit, die Gott Ihnen selbst eröffnet, können Sie Ihren Glauben gründen. Und nur sie und nicht, was ein anderer Mensch Ihnen sagt oder was eine Kirche lehrt, kann Ihnen helfen, Ihr eigenes Leben zu bestehen.
Wenn wir schon glauben wollen – wer steht dafür gerade, dass es wahr ist, was wir glauben? Dass es nicht unsere Phantasie ist, unsere Wunschvorstellungen, unsere Träume, was wir danach unseren Glauben nennen? Fest scheint mir zu stehen: Was wir über Gott und die Welt, über Himmel und Erde, über unsere Zukunft und den Sinn unseres Daseins glauben wollen, können wir nicht selbst und nicht allein erfinden. Wer das meint, überschätzt sich. Wir können noch so viel wissen, dafür wird es immer zu wenig sein. Wir können über Gott nicht einmal sagen, ob es ihn gibt oder nicht. Dafür müssten wir einen anderen Geist besitzen als den wir haben. Was wir uns an der Grenze zu den unsichtbaren Dingen, zu den hintergründigen Kräften unserer Welt ausdenken, wird immer schmal, einseitig, ungenau und wahrscheinlich falsch sein.
Wir bringen uns nicht selbst zur Welt. Wir erhalten uns nicht selbst am Leben. Wir lernen fast alles, was wir können müssen, von anderen. Was wir denken, knüpft beinahe immer an Gedanken an, die andere vor uns gedacht haben. Woher also nehmen wir die Gedanken, mit denen wir unserem eigenen Glauben auf den Grund gehen wollen?
Das Christentum hat an vielen Stellen Ähnlichkeit mit anderen Religionen. Das Eine, auf das es ankommt, das Eine, das seine Besonderheit ausmacht, ist eine schmale, einsame Gestalt der Geschichte. Die Gestalt des einfachen Wanderpredigers aus dem galiläischen Nazaret: Jesus. Das wird auch von der Sensationspresse unserer Tage mit Recht so gesehen. Unendlich viel wird über ihn geschrieben, diskutiert, gemutmaßt oder behauptet. Eine Flut von Aufsätzen und Büchern geht über den Markt. Wer auch nur ein wenig Phantasie oder kaum etwas wie Sachkenntnis hat, schreibt irgendetwas Aufregendes über ihn, den Revolutionär, den Gammler oder Terroristen, über den Friedensschwärmer, den Esoteriker, den Guru, den »Mönch aus »Qumran«, oder auch über den Betrüger oder gar über die schlichte Erfindung Jesus, der gar nie gelebt habe. Kein Jahr vergeht, in dem uns nicht ein halbes Dutzend Bücher davon überzeugen möchte, nun sei endlich der Betrug aufgedeckt oder irgendeine infame Fälschung. Ganze Geröllhalden von Einfällen sind schon über ihn ausgeschüttet worden.
Vielleicht kann es uns heute ja gelingen, den Schutt abzuräumen so, dass die Gestalt jenes Jesus wieder deutlicher vor uns steht. Es hat wenig Sinn, jeder dieser »Enthüllungen« hinterher zu laufen und sie zu widerlegen. Aber es ist gut, wieder einmal selbst zu sehen, was wir über ihn wahrnehmen können, zuzuhören, was er gesagt hat, und dabei das eigene Nachdenken nicht zu vergessen.
Denn wenn wir uns fragen, was denn am Christentum, an der Kirche oder an unserem eigenen Glauben wichtig sei, können wir uns für die christliche Moral entscheiden oder für christliche Werte, für die soziale oder politische Mitarbeit der Kirche in der Öffentlichkeit, für ein Dogma oder für ein geistliches Amt, für die Bibel oder für die Meinung irgendeines wichtigen Mannes der Geschichte. Aber wir werden dabei bemerken, dass das Zentrum alles christlichen Glaubens oder Nachdenkens und der Ursprung seiner Bedeutung in der einsamen Gestalt jenes Jesus von Nazareth liegen und dass sich an ihm alles zu orientieren hat, was christlich heißen will.
Er aber verstand sich als einen Hinweis. Als einen, der auf Gott hinzeigt. Was er gesagt hat, hat er gesagt, um hörbar zu machen, was Gott spricht. Was er getan hat, hat er getan, um zu zeigen, wie Gott wirkt. Seinen Lebensweg ging er, um zu zeigen, wie ein Mensch ihn geht, der sich von Gott geführt weiß. Und wir nehmen es ihm ab, weil er uns überzeugt, dass er mehr von Gott weiß und tiefer in die Wirklichkeit dieser Welt blickt als wir. Wir verlassen uns auf seine Vollmacht. Wir verlassen uns darauf, dass er von Gott beauftragt ist, und nennen ihn darum den »Christus«, das heißt den Bevollmächtigten Gottes.
Für das, was er von Gott sagte, stand er bis zu seinem Tod ein. Von den Frommen unter seinen Zeitgenossen ertrugen viele ihn und seine Botschaft nicht. Er stand ihnen gegenüber, ohne sich zu wehren, und wurde von ihnen getötet. Was er litt, kommt uns zugute. Denn angesichts seines Todes können wir glauben, dass Gott uns nahe bleibt, auch wenn wir geängstet und verzweifelt sind, verlassen oder schuldig, und am Ende, wenn wir sterben.