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»Unser Ziel ist die Stille der Zeit.«
»Solange Gott mir seine Sonne scheinen lässt, werde ich vor dem Haus meiner Seele sitzen. Die Figuren meiner Phantasie streifen durch den Garten. Ich schaue den Bäumen zu, wie sie ausschlagen, wie die Blätter fallen, wie Schnee sie deckt, wie sie wieder grünen. Und allmählich wachsen. Ich werde gerne alt und danke Gott für jeden Tag.«
Zwanzig Jahre sind vergangen, seit Jörg Zink diese Zeilen geschrieben hat. Nun meldet er sich wieder zu Wort, um sich dem Thema Alter von einer neuen – »älteren« – Warte zu nähern. Was ist das Entscheidende am Altwerden? Was macht das Altwerden jenseits der zwangsläufigen körperlichen Befindlichkeiten aus? Welche Veränderungen folgen daraus und wie wirkt das auf die Gestalt, die Rolle, die es auszufüllen gilt?
Ehrlich und eindrucksvoll lässt Jörg Zink seine Gedanken rund um das Altsein kreisen. Damit ist er eine unüberhörbare Stimme, die sich mit spiritueller Klarheit und Weisheit im lauten Lamentieren über den demographischen Wandel respektvoll Gehör verschafft.
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Seitenzahl: 97
Ein Chinese namens Bo Diu-I, er lebte im 8. Jahrhundert, war 66 Jahre alt, als er dieses Gedicht schrieb, das Günter Eich übersetzt hat:
»An 70 Jahren fehlen mir noch vier.Lohnt sich’s, von diesem Leben noch zu sprechen?Die Trauer sucht mich heim bei fremdem Tod,und wiederum frohlocke ich: Noch atm’ ich hier.
Wie kann man schwarz das Haupthaarsich bewahren?Was ist zu tun, dass nicht das Aug sich trübt?Von den Gefährten blieben Seelentafeln,indessen Knecht und Magd Urenkel wachsen sehn.
Im magern Kreuz drückt wie Metall die Schwere,an den verfallnen Schläfen häuft sich Schnee.Was ist zu tun, wenn sich Gebrechen mehren?Zeit ist’s, dass ich mich anvertrau dem Torder Leere.«
Als ich selbst jugendliche 66 Jahre zählte, schrieb ich ein kleines Buch mit der Behauptung: »Ich werde gerne alt.« Damals sagte mir eine befreundete Dame von 90 Jahren: »Du weißt ja gar nicht, wie das Altsein ist.« Inzwischen sind 23 Jahre ins Land gegangen, und ich bin 89. Die Freundin ist ihren Weg längst zu Ende gegangen, heute hätte sie vielleicht nichts mehr dagegen einzuwenden, dass ich über das Altsein schreibe. Und ob ich es noch gerne bin? Heute, da ich es länger bin, als es manchem an meiner Stelle vielleicht recht wäre? Damals habe ich auf den ersten Seiten beschrieben, wie ich mit dem Älterwerden umgehen wollte:
»Es ist deutlich: Ich werde alt.Ich stand im Garten, die Rebschere in der Hand,neulich, an einem lauen und schönen Abend.Drei Schritte seitwärts meine Frau.Sie sagte etwas, aber ich verstand sie nicht.Man hört nicht mehr wie früher. Ich frage zurück.Sie möchte wissen, ob ich Mittwochabend Zeit hätte.Müllers wollten vorbeischauen.
Der Kalender liegt im Untergeschoss.Ich gehe die Treppe hinab und merke unten:Ich habe vergessen, weshalb ich herabkam.Es fällt mir wieder ein: Ach ja! Müllers.Beim Griff nach dem Kalender stelle ich fest:Die Brille liegt oben.Ich gehe also nach oben, sie holen,und komme wieder.Schließlich finde ich den Mittwoch.Ref 1
Während ich zum zweiten Mal nach oben steige,Stufe für Stufe, fühle ich einen feinen Druckin den Knien.Und oben fange ich an zu suchen:Wo habe ich nur die Rebschere gelassen?Kein Zweifel: Ich werde alt.«
Der Text von damals geht sehr zuversichtlich weiter:
»Aber merkwürdig: Ich finde es schön.Was schadet’s, dass mir Namen entfallen,die mir gestern genannt wurden?Dass alles langsamer geht, auch mühsamer natürlich?Ich werde gerne alt ...«
»Ich brauche nur noch am Schreibtisch zu sitzen,wenn mich die unbändige Lust zu arbeiten überfällt.Ich reise nicht mehr zu geschwätzigen Konferenzen.Ich brauche nichts zu werden. Nichts zu erreichen.Niemand braucht mich gut zu finden.
Was ich tat, tun nun die Jungen.Sie machen fast alles anders. Gut.Ich habe seinerzeit auch fast alles anders gemachtals die Alten. Ich wünsche ihnen ein gesegnetes Tunund Gottes Beistand.
Aber ich? Ich darf einfach ›sein‹.Ist das nichts? Ich gedenke es zu genießen,solange Gott mir seine Sonne scheinen lässt.
Ich werde vor dem Haus meiner Seele sitzen.Die Figuren meiner Phantasie streifendurch den Garten.Die Gestalten meiner Erinnerung gehen aus und einund reden mit mir über längst Gewesenes.
Ich schaue den Bäumen zu, wie sie ausschlagen,wie die Blätter fallen, wie Schnee sie deckt,wie sie wieder grünen. Und allmählich wachsen.Ich werde gerne altund danke Gott für jeden Tag.«
Dass das schwierig sein könnte, war mir dabei durchaus klar:
»Ich weiß, alt sein ist vielen Menschen zu schwer.Einsam vor sich hinzuleben, verlassen,hungernd nach einem Menschen,nach einer Berührung.Arm vielfach. Abgeschoben. Vergessen. Nutzlos.Ich weiß.Und dennoch: Ich werde gerne alt.«Ref 2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Umschlag: © Juanita IV by Lou Wall © Lou Wall / Corbis Ref 1 und Ref 2: Jörg Zink, Ich werde gerne alt © KREUZ VERLAG in der Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br. 92010, S. 3-13 (Auszüge)
eISBN 978-3-641-09194-1
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