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Grauer Wolf ist ein Indianerjunge, der eigentlich nur mit seinen Freunden spielen möchte, doch zusammen mit den anderen Kindern wird er in eine weit entfernte Schule verschleppt. Das Leben dort ist schrecklich, denn anstelle von Liebe und Aufmerksamkeit, wird er mit militärischem Drill und Strafen erzogen. Auch seine Sprache darf er nicht mehr sprechen und seine Haare werden abgeschnitten. Als das Heimweh immer schlimmer wird, fasst er einen mutigen Plan: Zusammen mit zwei anderen Kindern seines Volkes will er die Flucht wagen und nach Hause zurückkehren. Auf der abenteuerlichen Reise bekommen sie unerwartet Hilfe von Wilbert, einem Tramp. Eine wahre Geschichte um ein fast vergessenes Verbrechen: Die Erziehung der Indianerkinder in Boarding Schools – erzählt für Kinder
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Seitenzahl: 156
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In Erinnerung an Horse, Little Chief und Little Plume vom Volk der Arapahoe, sowie allen indianischen Kindern, die nicht mehr heimgekehrt sind.
Ein Lakota-Junge will nach Hause
KinderromanvonKerstin Groeper
Impressum
Grauer Wolf, Kerstin Groeper
TraumFänger Verlag Hohenthann, 2022
1. Auflage eBook März 2022
eBook ISBN 978-3-948878-31-3
Lektorat: Michael Krämer
Satz/Bildbearbeitung: Janis Sonnberger, merkMal Verlag
Datenkonvertierung: Bookwire
Titelbild: Christian Heeb
Historisches Foto mit freundlicher Genehmigung des Carlisle
Indian School Digital Resource Center
Illustration: Marion Großer
Copyright by TraumFänger Verlag GmbH & Co.
Buchhandels KG, Hohenthann
Grauer Wolf
Die Reise
Der erste Schultag
Der geheime Bund
Winterkälte
Der Plan
Die Vorbereitung
Die Flucht
Geduld
Die Flucht
Der Zug
Die große Stadt
Rochester
Fort Wayne
Chicago
Aurora
Der Missouri
Heimkehr
Grauer-Wolf hockte am Morgen am Bach und ließ gedankenverloren Steine ins Wasser plumpsen. Er hatte Hunger, aber er wusste, dass im Topf seiner Mutter keine Suppe auf ihn warten würde. Er verstand es nicht, denn früher hatten sie immer genug zu essen gehabt. Seitdem sie hierher gezogen waren, in das Land, das ihnen die Weißen zugewiesen hatten, war alles anders. Die Weißen nannten es Reservation, doch für Grauer-Wolf war es wie ein Gefängnis. Die Weißen hatten ihnen die Pferde und Waffen genommen, sodass der Vater nicht mehr jagen konnte. Stattdessen bekamen sie „Rationen“ – Essenslieferungen, die so knapp waren, dass sie einfach nicht reichten, um all die hungrigen Bäuche zu stopfen. Die Einzigen, die noch Waffen und Pferde besaßen, waren die Canksa-yuha, die Mitglieder der indianischen Lagerpolizei, die ihre Brust stolz mit einem silbernen Stern schmückten. Grauer-Wolf sah in ihnen Verräter, Männer, die sich mit dem Feind verbündet hatten und nun ihr eigenes Volk unterdrückten. Diese Männer hatten seltsamerweise immer genug zu essen. Sie trugen die Kleidung der Weißen und hatten sich die Haare abgeschnitten. Für Grauer-Wolf war das unvorstellbar, denn in den Haaren steckte die Seele eines Menschen. Man schnitt sie nur, wenn man um einen Angehörigen trauerte. Seine eigenen Haare waren lang! Er hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten und mit Otterfell umwickelt. Jeden Morgen kämmte er sich die Haare und legte sie dann wieder in ordentliche Zöpfe. So, wie seine Väter und Großväter es ihn gelehrt hatten. Er sah auf, als in der Ferne eine Staubwolke zu erkennen war. Eine Kutsche und ein Fuhrwerk der Weißen näherten sich dem Dorf, das zum Großteil noch aus weißen Zelten bestand. Nur hier und da waren schon die Hütten der Weißen gebaut worden, in denen einige Familien wohnten. Hühner scharrten in der Erde, auf der Suche nach Futter. Auch sie waren ihnen von den Weißen gegeben worden. Unbeachtet lagen einige Ackergeräte in der Nähe. Bisher hatte sich niemand dazu bewegen lassen, ein Feld anzulegen. „Zu viel Wind!“, sagten die Älteren. In der Ferne waren die Gebäude der Agentur zu erkennen, wo der Agent einmal im Monat die Ausgabe der Lebensmittel und Kleidung überwachte. Der Agent war ein fetter weißer Mann, der die Aufgabe hatte, über die Menschen zu wachen, aber in Wirklichkeit war er eher ein Gefängnisaufseher.
Die Lakota waren besiegt! Dabei konnte sich Grauer-Wolf an keine Schlacht erinnern, die sie gegen die Weißen verloren hätten. Es war der Hunger gewesen, der die Lakota zur Aufgabe gezwungen hatte. Die riesigen Büffelherden waren verschwunden und das Wild war so zurückgegangen, dass die Krieger nicht mehr genug Fleisch nach Hause brachten. Die Soldaten hatten ihnen versprochen, dass sie in der Reservation genügend Essen erhalten würden, aber das war eine Lüge gewesen.
Grauer-Wolf stand auf und lief zum Tipi seiner Eltern. Sein Vater war Medizinmann, doch man hatte ihm die Trommel und alle anderen heiligen Gegenstände weggenommen. Ihm war verboten worden, die Kranken zu besuchen, und wenn er es doch tat, dann wurde er bestraft. Heidnischer Hexenzauber! So dachten die Weißen über die heiligen Zeremonien, die sein Vater geleitet hatte. Früher war der Vater ein geachteter Mann gewesen, doch nun schlug ihm Angst entgegen. Die Mutter wurde zur Seite gedrängt, wenn sie mit ihren Lebensmittelkarten das Essen abholen wollte. Sie ertrug es schweigend und mit Stolz. Grauer-Wolf aber hasste es. Manchmal war die Wut so groß, dass er sich am liebsten mit den anderen Jungen geprügelt hätte. Sein Vater fühlte seinen Zorn und schüttelte den Kopf. „Du wirst wie unsere Feinde, wenn du dem Zorn nachgibst! Füttere niemals den bösen Wolf in dir, sonst wird er über dich siegen.“
Grauer-Wolf hielt sich an diese Worte, auch wenn er manchmal zu platzen drohte. Wie würde die Zukunft für sein Volk aussehen? Einst waren sie stolz über die Prärie geritten, doch nun waren sie nur noch Bettler, die auf das Wohlwollen der Weißen angewiesen waren.
Die Mutter hüllte sich in eine Decke und schritt hinter ihrem Mann zur Mitte des Dorfes, wo ein weißer Mann zu ihnen sprechen wollte. Ruhig setzten sich die Männer hin und warteten ab, was der Mann ihnen zu sagen hatte. Die Frauen und Kinder hockten sich dahinter und Schweigen breitete sich aus. Meist kam nie etwas Gutes heraus, wenn ein Weißer zu ihnen sprach. Der Mann hielt eine Rede mit blumigen Worten, mit denen er ihnen von einer weit entfernten Schule erzählte, in der die Kinder lesen und schreiben lernten und eine Berufsausbildung erhielten. „Die Zeiten haben sich geändert. Ihr lernt nun, wie man Felder bestellt und Vieh züchtet. Eure Kinder werden in die Schulen des weißen Mannes gehen, damit sie all das lernen, was sie in der weißen Welt wissen müssen. Sie bekommen dort Kleidung und Nahrung. Es wird dort gut für sie gesorgt werden.“
In Grauer-Wolf rauschte es, als er verstand, was der Mann dort wollte. Er wollte die Kinder! Der Mann wollte, dass alle Kinder im Alter von sechs bis sechzehn Wintern mit ihm gingen, um in einem weit entfernten Haus der Weißen zu leben und so zu werden wie sie. Grauer-Wolf wollte kein weißer Mann sein! Er war Lakota! Er wurde aufgefordert, sich mit den anderen Kindern in eine Reihe zu stellen, und gehorchte nur widerstrebend. Er warf seinem Vater einen verzweifelten Blick zu, doch der starrte nur ausdruckslos vor sich hin. Seine kleine Schwester klammerte sich an die Hand der Mutter und blickte ängstlich zu ihm hinüber. Sie zählte erst fünf Winter und durfte noch zuhause bleiben. Grauer-Wolf zählte neun Winter. Er wollte nicht weg von seinen Eltern! Er wollte nicht in diese Schule des weißen Mannes! Der Mann ging an der Reihe der Jungen und Mädchen vorbei und zählte sie. Ein Mädchen war schon eine junge Frau und erwartete ihr erstes Baby. Sie zählte zwar erst sechzehn Winter, doch der Mann entschied, dass sie bei ihrem Ehemann bleiben durfte. Der weiße Mann machte einen Scherz, dass in sechs Jahren dann ihr Kind in die schöne Schule gehen durfte. Die anderen Kinder erhielten ein Schild um den Hals, auf dem stand, wie sie hießen und woher sie kämen. Sie sollten es während der langen Reise nicht abnehmen.
Dann hieß es bereits Abschied nehmen. Die Kinder durften nicht mehr in die Tipis zurückkehren, um ihre Sachen zu holen, sondern die Mütter durften ihren Kindern nur noch schnell ein Bündel packen. „Beeilt euch!“, rief der weiße Mann. „Wir wollen vor der Dunkelheit noch bis zum großen Fluss kommen! Jedes Kind erhält von uns einen Beutel mit Proviant. Ihr müsst ihnen nichts mitgeben.“ Vom Wagen holte er die Beutel und verteilte sie an die Kinder. Grauer-Wolf nahm es in die Hände und drückte es gegen seine Brust. Sein Herz drohte zu zerspringen vor Angst und Trauer. Er wollte nicht weg! Dieser Gedanke rauschte in seinem Kopf. Er wollte nicht weg! Er ließ den Beutel einfach fallen und rannte so schnell er konnte aus dem Dorf. Seine Zöpfe flogen, als er versuchte, den Bach zu erreichen. Vielleicht konnte er sich dort verstecken, bis der weiße Mann weg war. Er keuchte vor Angst, als er bemerkte, dass ihn zwei Männer verfolgten. Die Canksa-yuha! Diese Verräter! Kurz vor dem Bach holten sie ihn ein und drehten ihm den Arm auf den Rücken. Es tat weh! „Hör auf!“, brüllten sie ihn an, als er versuchte sich zu befreien. Grauer-Wolf keuchte, aber er weinte nicht, obwohl sein Herz vor Trauer brach. Es hatte keinen Sinn! Die Lagerpolizei würde ihn wieder erwischen! Hilfesuchend sah er sich nach seinen Eltern um, die am Wagen standen und bereits das Bündel für ihn gepackt hatten. Sie machten keinen Versuch, ihm zu helfen, sondern hatten sich mit der Situation abgefunden. Er schluckte die Tränen hinunter und gab den Widerstand auf. Wenn seine Eltern es aushielten, dann würde er es auch überstehen. Mit einem dankbaren Nicken nahm er das Bündel entgegen, das seine Mutter ihm gepackt hatte, dann sah er seinem Vater in die Augen. „Denk immer daran, dass du ein Lakota bist!“, flüsterte dieser in sein Ohr. „Komm zurück, wenn du kannst. Dann finden wir einen Weg für unsere Familie.“
Grauer-Wolf lächelte. Ja, er würde einen Weg finden, zu ihnen zurückzukehren! Nun hatte er keine Angst mehr. Er war Lakota und die Ahnen würden ihn schützen. Kurz umarmte er seine Eltern, dann bückte er sich zu seiner kleinen Schwester und drückte sie ganz kurz an sich. „Ich kehre zurück, kleine Schwester. Und dann sorge ich dafür, dass du nicht gehen musst!“ Es war ein Versprechen.
Grauer-Wolf saß mit den anderen Kindern auf der Ladefläche des Fuhrwerks und versuchte sich irgendwo festzuhalten. Der Boden war uneben und so wurden sie immer wieder hin und her geworfen. Zwei kleinere Kinder saßen mit versteinerten Gesichtern ihm gegenüber und er konnte erkennen, dass sie mit den Tränen kämpften. Die Kinder schwiegen, als sie einer ungewissen Zukunft entgegenfuhren. Am Abend erreichten sie einen Posten, in dem auf Stroh ein Nachtlager für sie vorbereitet war. Eine weiße Frau begrüßte sie freundlich und teilte ein reichhaltiges Essen aus. Es war das erste warme Essen seit Tagen. Die Kinder aßen hungrig und legten sich dann auf die ausgebreiteten Decken. Wohin würde der Mann-der-zählt sie bringen?
Am nächsten Tag schlossen sich ihnen zwei weitere Fuhrwerke an, auf denen Kinder saßen. Anscheinend wurden allen Familien die Kinder weggenommen.
Grauer-Wolf kniff die Lippen zusammen. Zum ersten Mal regte sich in ihm der Widerstand. Er spitzte die Lippen und wandte sich an seinen Freund Kleine-Feder. „Wir werden sehen, wo sie uns hinbringen. Und wenn es uns nicht gefällt, dann kehren wir heim.“
Die Augen des anderen Jungen hefteten sich vertrauensvoll auf ihn. „Wirklich?“
„Wirklich“, versprach Grauer-Wolf.
„Vielleicht ist der Ort nicht so schlecht?“, hoffte Kleine-Feder. „Wenigstens geben sie uns zu essen.“
„Ich habe lieber Hunger!“, bemerkte Grauer-Wolf mit finsterem Gesichtsausdruck. „Ehe die Weißen uns in diese Reservation eingesperrt haben, hatten wir immer genug zu essen.“
Kleine-Feder senkte unglücklich die Augen. „Sie haben nicht einmal gekämpft, als man uns ihnen weggenommen hat.“ Er war wütend auf seinem Vater.
„Mit was?“, fragte Grauer-Wolf. „Nein, es ist an uns, nun zu kämpfen. Wir werden einen Weg finden, zu ihnen zurückzukehren.“
„Ja, nur um dann wieder dorthin geschleppt zu werden“, befürchtete Kleine-Feder.
Ein anderer Junge hatte ihr Gespräch mitgehört und beugte sich zu ihnen. „Wenn ihr die Flucht wagt, dann komme ich mit!“
„Selbst, wenn sie uns einfangen, werde ich es wieder versuchen. So lange, bis ich bei meinen Eltern bin!“ Grauer-Wolf war fest entschlossen.
„Und dann? Wenn der Mann-der-zählt wiederkommt?“
„Meine Eltern sind nun gewarnt. Sie werden mich verstecken“, behauptete Grauer-Wolf.
Die nächsten Tage wurden die Kinder kleinlauter, denn die Reise schien kein Ende zu nehmen. Sie mussten in das Feuerross steigen und wurden in dem ratternden Ungetüm immer weiter nach Osten gebracht. Grauer-Wolf hatte noch nie eine Eisenbahn gesehen und fürchtete sich, in das fauchende und Rauch spuckende Ding einzusteigen. Aber er wollte mutig und den anderen ein Vorbild sein, so ließ er sich an einen Platz in einem Abteil führen. Weiße Frauen mit seltsamen Hüten auf den Köpfen kümmerten sich kurz um die Kinder und reichten ihnen Äpfel und belegte Brote. Grauer-Wolf hatte noch nie einen Apfel gesehen und wusste nicht, was er damit tun sollte. Unschlüssig hielt er das runde Ding in seinen Händen und drehte es hin und her. Eine Frau lächelte ihm zu, nahm einen weiteren Apfel aus dem Korb und biss hinein. „Schmeckt gut!“, erklärte sie.
Grauer-Wolf verstand sie nicht, aber er verstand, dass er die seltsame Frucht probieren sollte. Vorsichtig biss er hinein und zeigte mit keiner Regung, ob sie ihm schmeckte oder nicht.
Die Frau rauschte empört ab und beschwerte sich über den ungezogenen Jungen.
„Was ist das?“, erkundigte sich Kleine-Feder.
„Eine Frucht!“, erklärte Grauer-Wolf. „Sie schmeckt ganz gut. Ein bisschen fester als unsere Pflaumen.“
Die Jungen sahen aus dem Fenster und beobachteten, wie die Landschaft an ihnen vorbeiglitt. Ihre Herzen sanken zu Boden, als sie erkannten, dass es schwierig werden würde, den Weg nach Hause zu finden.
Eines Nachmittags erreichten sie den Ort, den die Weißen „Schule“ nannten. Es war ein riesiges Gebäude, an das einige weitere Gebäude angrenzten. Mehrere weiße Frauen und Männer standen auf der Veranda vor dem Eingang und musterten die Ankömmlinge streng. Zuerst mussten sich die Jungen und Mädchen nach der Größe sortiert aufstellen, doch es dauerte eine Weile, weil die Kinder die fremden Worte nicht verstanden. Dann wurden die Jungen und Mädchen getrennt in die Gebäude geführt. Als Erstes wurde ihnen die Kleidung abgenommen. Grauer-Wolf wurde unter eine Dusche gestellt und musste sich abschrubben, dann bekam er Unterwäsche zugeteilt. Er hatte bisher immer nur seinen Lendenschurz getragen und wusste nicht, was er mit diesen seltsamen weißen Kleidungsstücken anfangen sollte. Dann musste er sich auf einen Stuhl setzen und ein Mann mit einer großen Schere begann, ihm die langen Haare abzuschneiden. Grauer-Wolf war so entsetzt, dass er aufsprang und versuchte, aus dem Raum zu flüchten. Zwei Männer fingen ihn wieder ein, packten ihn an den Oberarmen und schleiften ihn zum Stuhl zurück. Auch andere Jungen wollten aufspringen, doch als sie sahen, dass es kein Entrinnen gab, ließen sie es mit ausdruckslosem Gesicht über sich ergehen. Allen Jungen wurden die Haare kurzgeschnitten. Dann wurden ihnen Hosen, Hemden, Schuhe und ein weiteres Bündel Wäsche überreicht. Männer halfen ihnen, sich anzuziehen; dann standen die Jungen in ihren seltsamen Uniformen in einer Reihe da und die Männer nickten zufrieden. Für Grauer-Wolf waren es keine Freunde und Helfer, sondern Feinde. Wieder wurde ihnen das Schild mit ihren Namen umgehängt und sie mussten in einen weiteren Raum gehen. Hier saß eine Frau an einem Pult, die von jedem Kind die Herkunft und den Namen in ein Buch schrieb. Dann wählte sie aus einer Liste einen englischen Namen und schrieb ihn ebenfalls in das Buch und auf das Schild. „Du heißt nun Georg!“, erklärte sie Grauer-Wolf mit einem Lächeln. Sie tippte ihn an die Brust und wiederholte den neuen Namen: „Georg!“
„Sunkmanitu-tanka hota emaciapelo!“, betonte Grauer-Wolf. „Ich heiße Grauer-Wolf!“
„Nein, nein!“ Die Dame schüttelte energisch den Kopf. „Du heißt nun Georg! Sag deinen Namen!“
„Sunkmanitu-tanka hota le miye!“, wiederholte Grauer-Wolf stur. „Ich bin Grauer-Wolf.“ Er war stolz auf diesen Namen, denn das „Grau“ bezog sich nicht auf das Fell des Tieres, sondern auf dessen Weisheit. Sein Vater hatte schon früh erkannt, dass der Sohn ernsthafter als andere Kinder war, und deshalb diesen Namen gewählt. Die Frau seufzte tief und schickte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung fort. „Wir klären das morgen im Klassenzimmer!“
Natürlich verstand Grauer-Wolf nicht, was sie sagte, aber er hörte, dass es eine Drohung war. Er stellte sich wieder zu den anderen und beobachtete, wie ein Kind nach dem anderen einen neuen Namen erhielt. Dann wurden die Jungen in einen Schlafsaal geführt. An die zwanzig Stockbetten standen hier, in denen teilweise schon andere Jungen lagen. Den Neuankömmlingen wurde eine Seite an der fensterlosen Wand zugewiesen. Von Grauer-Wolfs Gruppe war nur noch ein Junge übrig geblieben. Die Mädchen waren ohnehin in einem anderen Gebäude; und zwei ältere Jungen waren in einer anderen Klasse und einem anderen Schlafsaal. Auch das gehörte wohl zum Plan der Schule: Man trennte die Kinder, damit sie sich nicht gegenseitig helfen konnten. Grauer-Wolf warf Kleine-Feder einen verzweifelten Blick zu, als er mit ihm an die zugewiesenen Betten trat. Jedes Kind hatte einen kleinen Nachttisch und ein Regal, in das es seine Sachen legen konnten. Ihre Bündel aber, die sie von den Eltern bekommen hatten, waren weg. Ebenso wie die schöne Kleidung, die sie bisher getragen hatten. Ihnen wurde gesagt, dass sie zur Schlafenszeit Nachthemden tragen müssten und die Schuhe vor den Schlafsaal zu stellen hatten.
Die Kinder gehorchten widerspruchslos und legten sich dann auf die seltsamen Betten. Sie hatten noch nie zuvor in richtigen Betten geschlafen. Ein Mann mit schwarzer Kutte schritt durch den Schlafsaal und drohte ihnen dann mit einem Stock. „Ruhe jetzt!“, rief er mit dunkler Stimme.
Die Kinder verschwanden unter den kratzigen Decken, dann wurde es ruhig, als der Mann den Schlafsaal verließ. Erst jetzt wagten es die Jungen, leise miteinander zu flüstern. Grauer-Wolf erfuhr von einem anderen Lakotakind, das im Bett neben ihm lag, dass es streng verboten war, in seiner Muttersprache zu reden. „Ihr müsst ganz schnell die Sprache der Wasicu lernen“, flüsterte es leise. „Sonst waschen sie euch den Mund mit Seife aus.“
„Was ist Seife?“, wunderte sich Grauer-Wolf.
„Das schäumende Ding, mit denen sie sich die Hände waschen! Es schmeckt grässlich.“
„Wo kommst du her?“, fragte Grauer-Wolf.
„Ich heiße nun Benjamin. Ich bin ein Mniconjou-Lakota!“
„Ich heiße Sunkmanitu-tanka hota und ich bin auch Mniconjou aus dem Kul Wicasa Tiospaye. Unser Dorf steht am White-Fluss.“
Benjamin kicherte hinter seiner vorgehaltenen Hand. „Ihr müsst euch an die neuen Namen gewöhnen, sonst sperren sie euch ein und geben euch nichts zu essen.“
„Mein Name wurde mir von meinem Volk gegeben. Wenn ich ihn verleugne, verleugne ich auch, wer ich bin!“
Benjamin schrak etwas zusammen. „Ich weiß! Mein Name lautet Itancan-cistela, Kleiner-Häuptling. Und ich bin aus dem Wambli-tokahe Tiospaye. Aus der Familie von Adler-der-führt. Aber hier nennen sie mich Benjamin.“ Er seufzte kurz und fuhr dann fort. „Ihr müsst euch anpassen, wenn ihr überleben wollt.“
„Ich gehe wieder heim!“, versicherte Grauer-Wolf mit fester Stimme.
„Hasch!“ Benjamin wedelte mit der Hand vor seinem Mund, als Warnung lieber still zu sein. „Auch das darfst du niemandem erzählen! Es gibt hier Verräter unter uns. Hier sind auch Kinder aus anderen Stämmen, die uns gerne bei den Lehrern anschwärzen. Aber selbst Jungen aus unserem Volk werden schnell zu Verrätern, wenn es darum geht, Vorteile zu erhalten.“
Grauer-Wolf schwieg entsetzt. Aber er nahm die Warnung ernst. Er würde über seine Fluchtpläne nur mit den besten Freunden reden.
„Wenn du gehst, dann nimm mich mit!“, flüsterte Benjamin. „Dann bin ich wieder Itancan-cistela. Und meine Schwester nehme ich auch mit!“
„Wo sind die Mädchen?“
„Sie sind in einem anderen Gebäude und dürfen nicht mit uns reden. Nicht einmal Brüder und Schwestern dürfen sich sehen.“
„Dann wird es aber schwierig, sie mitzunehmen!“, stellte Grauer-Wolf fest.
Der Junge winkte ab. „Sie kommt, wenn ich sie rufe!“