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"Wie die Weide die Sonne einfing" und andere indigene Märchen Nordamerikas. Kerstin Groeper hat bei ihren zahlreichen Begegnungen viele Geschichten der Ureinwohner Nordamerikas erzählt bekommen. Ob "Iktomi" der Trickster, oder der raffinierte Otter – immer ist in den Geschichten auch ein Scherz, eine Weisheit, eine Warnung oder eine lustige Herkunftsgeschichte enthalten. Viele Märchen sind stammesübergreifend, da sie wie etwas Wertvolles gehandelt wurden. Geschichtenerzähler waren hochbeliebt – und manchmal ist es fast unmöglich, die Herkunft eines Märchens zu ergründen. Eine kleine, spannende Sammlung an ganz unterschiedlichen Geschichten von den unterschiedlichsten Völkern Nordamerikas wartet auf das Vorlesen – oder gelesen werden. Untermalt werden die Geschichten von den wunderschönen Zeichnungen von Tagita.
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Seitenzahl: 115
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erzählt vonKerstin Groeper
erzählt vonKerstin Groeper
Indigene Märchen, Kerstin Groeper
TraumFänger Verlag Hohenthann, 2023
1. Auflage eBook Oktober 2023
eBook ISBN 978-3-948878-37-5
Lektorat: Monika Nebl
Satz, Bildbearbeitung, Layout: Janis Sonnberger, merkMal Verlag
Datenkonvertierung: Bookwire
Titelbild: Tagita
Illustrationen von Tagita
Copyright by TraumFänger Verlag
Kerstin Schmäling, Hohenthann
Wie Großmutter Weide die Sonne einfing (Menominee)
Das Entlein und die Schildkröte (Delaware)
Das schöne Mädchen (Lakota)
Die alte Frau und der Orca (Haida)
Der Waschbär und die Krebse (Oneida)
Iktomi und die Enten (Lakota)
Erste Frau und die Erdbeeren (Cherokee)
Büffeljunge (Lakota)
Wie die Sterne an den Himmel kamen (Cheyenne)
Das Rennen um die Schwarzen Berge (Lakota)
Türkisjunge (Navajo)
Tapferer Bär und die Geister (Lakota)
Wie das Feuer zu den Menschen kam (Ojibwe)
Die drei Schwestern (Anishinabe)
Donnerjunge (Mohawk)
Der verrückte Kranich (Lakota)
Die Klapperschlange und der Fuchs (Kerstin)
Das riesige Eichhörnchen (Delaware)
Wie der Bär seinen Schwanz verlor (Ojibwe)
Die Schildkröte geht auf den Kriegspfad (Lakota)
Glühwürmchen (Algonquin)
Das Ende der Welt (Lakota)
Für Levi
(Menominee)
Vor langer Zeit, als die Bäume noch bis in den Himmel wuchsen, weil es niemanden gab, der sie fällte, lebte ein Baum, der von allen Großmutter Weide genannt wurde. Sie bot vielen Tieren Schutz, doch manchmal hatte sie auch Unfug im Kopf. So geschah es, dass sie eines Tages den Sonnenball einfing, als dieser hoch am Himmel seine Bahn zog. Großmutter Weide spielte mit dem Ball und fand es sehr lustig, ihn zwischen den Zweigen hin und her zu schubsen. Nachdem bei Bäumen die Zeit viel langsamer vergeht als bei Tieren oder Menschen, merkte sie nicht, dass es längst Abend sein sollte. Die Tiere des Tages wurden müde und wollten schlafen gehen, doch die Sonne leuchtete hell zwischen den Zweigen hervor. Auch die Tiere der Nacht wurden unruhig, denn sie wollten längst zur Jagd aufbrechen, doch das grelle Licht der Sonne blendete sie. „Warum geht die Sonne nicht unter?“, wunderten sich die Tiere des Tages.
„Warum geht die Sonne nicht unter?“, wunderten sich auch die Tiere der Nacht. Also machten sich die Tiere auf, nach der Ursache des Problems zu suchen. Nach einer langen Wanderung fanden sie schließlich Großmutter Weide, die immer noch mit dem Sonnenball spielte.
Die Tiere des Tages riefen: „Großmutter Weide, lass die Sonne weiterziehen! Wir sind müde und wollen endlich schlafen gehen.“
Die Tiere der Nacht riefen: „Großmutter Weide, lass die Sonne endlich weiterziehen, wir haben Hunger und wollen zu unserer nächtlichen Jagd aufbrechen.“
Doch Großmutter Weide spielte glücklich mit dem Sonnenball und vernahm die Rufe der Tiere nicht.
Da setzten die Tiere sich zu einer Ratsversammlung zusammen und überlegten, was zu tun war.
„Hoh!“, rief da der Bär. „Ich bin groß und stark! Ich klettere auf den Baum und befreie die Sonne!“
Die anderen Tiere bewunderten seinen Mut und stimmten erleichtert zu. Also begann der Bär, den Stamm der Weide hinaufzuklettern. Doch je höher er kam, desto mehr knarzte und krachte es. Schließlich merkte der Bär, dass die Äste zu dünn waren, um sein Gewicht zu tragen. Mutlos machte er kehrt und rutschte mit seinen Pranken an der Rinde des Baumes hinunter.
Großmutter Weide fand es lustig, wie seine Pranken ihre Rinde kratzten und schüttelte sich vor Wohlbehagen. „Oh, wer kratzt mir denn so schön meinen Rücken?“
Die Tiere aber fanden es nicht lustig. Ratlos sahen sie sich an, als der Bär wieder zur Erde zurückkehrte.
„Ich bin zu schwer“, stöhnte der Bär. „Die Zweige tragen mein Gewicht nicht.“
„Hoh!“, rief da der Puma. „Ich bin geschickt und schnell. Ich kann hervorragend klettern und bin auch nicht so schwer wie der Bär. Ich werde den Baum erklimmen und die Sonne befreien.“
Die anderen Tiere bewunderten den Puma und beobachteten voller Hoffnung, wie er immer höher kletterte. Doch je höher er kam, desto dünner wurden die Äste. Als er bis über die Wolken gekommen war, merkte er, wie die Äste knarzten und knackten, und auch er musste umkehren. Als er mit seinen Pranken an der Rinde nach unten rutschte, schüttelte sich Großmutter Weide vor Freude. „Huh, wer kratzt mir denn da meinen Rücken?“
Die Tieren aber riefen: „Großmutter Weide, nun lass doch endlich die Sonne frei! Es ist so heiß und hell. Wir sehnen den Abend herbei!“
Aber Großmutter Weide dachte nicht daran und spielte weiter mit dem Sonnenball.
Unten saßen die Tiere und berieten, was sie als nächstes tun sollten. Die Huftiere waren ratlos, denn mit ihren Hufen konnten sie nicht klettern. Also berieten sie, wer es als nächstes versuchen sollte. „Wer kann denn gut klettern und wiegt nicht so viel?“, überlegten sie. Nacheinander versuchten es der Luchs, der Waschbär und der Baumstachler, aber alle kehrten erfolglos wieder um.
Als nächstes hatte der Adler einen Plan: „Wenn wir nicht hoch genug klettern können, um die Sonne zu befreien, dann könnte ich es mit Fliegen versuchen.“
Die Tiere waren begeistert und sahen zu, wie der Adler langsam seine Kreise zog und sich immer höher in die Lüfte schraubte. Staunend beobachteten sie, wie der Adler bis über die Wolken kam und sich langsam der Weide näherte. „Er schafft es, er schafft es!“, riefen sie aufgeregt.
Doch je näher der Adler der Sonne kam, desto heißer wurde es. Der Adler merkte, wie die Hitze seine Federn versengte und diese an den Spitzen schon ganz schwarz wurden. Flügelschlagend kehrte er zum Boden zurück und schüttelte sich. „Es ist zu heiß“, gestand er mutlos. „Fast wären meine Federn verbrannt.“
Die Tiere wurden mutlos und versuchten ein letztes Mal, Großmutter Weide zur Herausgabe des Sonnenballs zu bewegen. „Großmutter Weide, bitte sei doch vernünftig! Wir wollen endlich schlafen oder zur Jagd aufbrechen. Du hast genug gespielt! Lass endlich die Sonne weiterziehen!“
Aber Großmutter Weide hörte nicht – sie war zu sehr in ihr schönes Spiel vertieft.
Da meldete sich das kleine Eichhörnchen zu Wort: „Ich könnte es doch versuchen“, piepste es leise.
„Du?!“ Der Bär lachte das Eichhörnchen aus. „Wie willst du es schaffen, wenn selbst so starke Tiere wie der Puma und ich versagt haben?“
„Ich bin klein und leicht. Der Baum ist mein Lebensraum. Ich hüpfe den ganzen Tag von einem Zweig zum anderen und erklimme die luftigsten Höhen. Ich komme bestimmt hoch genug.“
Der Bär blickte das Eichhörnchen zweifelnd an, doch die anderen Tiere riefen, dass das Eichhörnchen es wenigstens versuchen sollte.
Also hüpfte das Eichhörnchen geschwind den Baum hinauf und verschwand schließlich über den Wolken. Staunend starrten die Tiere nach oben und sahen, wie das Eichhörnchen immer weiter kletterte. Die Zweige wurden dünner und dünner, aber noch trugen sie das Gewicht des Eichhörnchens. Schließlich erreichte das Eichhörnchen in schwindelerregender Höhe die Spitze des Baumes. Es wartete, bis der Sonnenball zur anderen Seite wanderte, und hüpfte auf den höchsten Zweig. Dann streckte es die Pfötchen aus und wartete darauf, dass die Sonne sich ihm näherte. Der Sonnenball kam näher und näher, und mutig streckte das Eichhörnchen seine Pfötchen aus. Mit all seiner Kraft schubste es den Ball über die Zweige – und die Sonne war frei.
Das Eichhörnchen wollte sich wieder festhalten und nach unten klettern, doch die Sonne hatte seine Pfoten verbrannt. Hilflos fiel das Eichhörnchen durch die Zweige. Es konnte sich nirgends festklammern und fiel immer tiefer und tiefer. Unten sahen die Tiere die nahende Katastrophe und schrien: „Eichhörnchen! Halte dich doch fest!“
Doch es gelang ihm mit den verbrannten Pfötchen nicht. Immer schneller stürzte es dem Boden entgegen. „Oje, oje!“, riefen die Tiere und hielten sich die Hände vor die Augen. „Gleich wird es aufprallen!“
Das kleine Tier stürzte durch die Zweige, doch im allerletzten Augenblick hatte der Schöpfer Mitleid mit dem tapferen Eichhörnchen. Kurz ehe es aufprallte verwandelte er es in eine – Fledermaus! Und siehe da: Sie breitete ihre Flügel aus und flatterte durch die Zweige davon.
Seit dieser Zeit wachen die Fledermäuse über den Zyklus aus Tag und Nacht und schicken uns die guten Träume.
Aber was geschah mit Großmutter Weide? Die Weide schämte sich so sehr, dass sie seit dieser Zeit ihre Äste nach unten hängen lässt. Dort bietet sie den Tieren einen guten Unterschlupf für den Tag oder die Nacht. Der Schöpfer aber begrenzte das Wachstum der Bäume, damit niemand mehr die Sonne bei ihrem Lauf über den Himmel störte.
(Delaware)
Einst lebte eine kleine Schildkröte, deren bester Freund eine kleine Ente war. Zu dieser Zeit war der Panzer noch schön glatt und glänzend, sodass das Entlein ihn als Rutschbahn benutzte. Es machte ja so viel Spaß! Immer wieder kletterte das Entlein auf den Rücken der Schildkröte und rutschte von dort ins Wasser.
Die anderen Enten aber sahen diese Freundschaft mit Sorge und warnten das kleine Entlein: „Hör zu, kleines Entlein. Diese Freundschaft ist nicht von langer Dauer. Im Herbst ziehen wir gen Süden, und dann musst du deinen Freund verlassen. Es ist besser, du suchst dir deine Freunde unter den anderen Enten.“
Aber das Entlein wollte nicht hören. Jetzt war Sommer und der Herbst war noch fern. Jeden Tag verbrachte es mit der kleinen Schildkröte, und die beiden hatten jede Menge Spaß miteinander.
Dann kamen die ersten kühlen Winde vom Norden, und wieder warnten die großen Enten das kleine Entlein: „Hör endlich auf uns! Bald ist die Zeit des Abschiednehmens gekommen.“
Doch das Entlein hörte immer noch nicht. Jeden Tag spielte es mit der kleinen Schildkröte und rutschte auf dem glatten Panzer ins Wasser.
Die Winde wurden stärker, und auch das Wasser wurde kälter, sodass dem Entlein die Worte der Erwachsenen einfielen. Unglücklich wandte er sich an seinen Freund. „Wir Enten werden bald in den Süden ziehen, aber ich will dich doch nicht verlieren!“
Auch die kleine Schildkröte war traurig, denn die Zeit mit dem Entlein war so lustig gewesen. Also überlegten die beiden, wie sie vielleicht zusammenbleiben konnten.
„Ich könnte doch hier bei dir bleiben“, schlug das kleine Entlein vor.
„Zu kalt!“ Die Schildkröte schüttelte den Kopf. „Du würdest erfrieren. Auch ich muss mich tief im Sand eingraben, um den Winter hier zu überleben.“
„Hmh!“, seufzte das Entlein traurig. Dann hob es aufgeregt den Kopf. „Und wenn ich dich auf meinem Rücken trage? Dann könntest du mit mir in den Süden fliegen.“
„Eine gute Idee!“, rief die Schildkröte. „Ich wollte schon immer mal wissen, wie es ist, zu fliegen.“
Die Schildkröte kletterte auf dem Rücken des Entleins und kuschelte sich zwischen die Federn. Das Entlein nahm Anlauf, flatterte los und hob ein wenig vom Boden ab. Plumps! Schon landete die Schildkröte unsanft auf dem Boden.
„Ich kann mich nirgends festhalten“, klagte sie.
„Hohch!“ Auch das Entlein sah traurig auf seinen Freund. „So geht es nicht.“
Da hatte die Schildkröte eine andere Idee: „Weißt du was? Ich habe doch einen kräftigen Schnabel. Was der packt, lässt er so schnell nicht wieder los. Wenn du einen Zweig zwischen deine Füße nimmst, könnte ich mich mit meinem Schnabel daran festhalten.“
Was für ein Plan!
Das Entlein war sofort begeistert und suchte nach einem Stock, den es zwischen die Füße nehmen konnte. Er fand den richtigen, klemmte ihn sich an die Füße und wartete auf seinen Freund. Die Schildkröte biss sich daran fest – und schwupps – startete die kleine Ente in die Lüfte. Das war ein Anblick: Oben flatterte die kleine Ente, und unten hing die Schildkröte an dem Stock.
Jeden Tag übten sie nun dieses Manöver, und jeden Tag flog die kleine Ente ein Stückchen weiter.
Schließlich kam der Tag, an dem die anderen Enten gen Süden fliegen wollten. Sie riefen das kleine Entlein und sagten ihm, dass es nun Zeit wäre, sich von seinem Freund zu verabschieden. „Sei nicht traurig!“, meinten sie. „Im Frühjahr kommst du ja zurück.“
Das Entlein aber kicherte nur in sich hinein, denn es hatte ja ganz andere Pläne. Als die Enten also ihre Formation am Himmel bildeten und gen Süden zogen, klemmte es das Stöckchen zwischen die Füße, die Schildkröte krallte sich mit dem Schnabel daran fest – und beide starteten in die Lüfte.
Als sie den Schwarm erreichten, trauten die anderen Enten ihren Augen nicht. Immer wieder flogen sie näher, um sich dieses wundersame Paar anzusehen. Eine ältere Ente flog näher und wunderte sich ganz besonders. „Ich frage mich, wer diese Idee hatte? Eine fliegende Schildkröte habe ich ja noch nie gesehen.“
Die Schildkröte war stolz und brummte: „Hmhmhmhmh.“
Mit einem Kopfschütteln verschwand die ältere Ente, doch schon näherte sich die nächste. „Ich wundere mich, wer so eine Idee hatte? Noch nie habe ich eine fliegende Schildkröte gesehen!“
„Hmhmhmhmhmh!“, brummte die Schildkröte. Sie ärgerte sich, dass sie nicht sprechen konnte.
Die Ente verschwand und die nächste näherte sich neugierig. „Ja, so was? Ich frage mich, wer eine solche Idee hatte. Fliegende Schildkröten!“
Die Schildkröte platzte vor Stolz und rief: „Iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii iiiiiiiiiiiiiiiiiich!“
Huiuiuiui. Sie stürzte den ganzen Weg vom Himmel zur Erde und prallte so hart auf, dass ihr schöner Panzer in lauter Stücke zerbrach. Die Enten mussten ihr helfen, den Panzer zu kleben – der nun nicht mehr glatt und glänzend war. Seitdem haben die Schildkröten einen gefurchten Panzer – damit sie niemals vergessen, dass sie nicht fliegen können.
Die kleine Schildkröte aber hatte gelernt, dass es manchmal besser war, seinen Mund zu halten.
(Lakota)
Einst lebte bei den Lakota ein hübsches Mädchen. Alle Männer waren verliebt und wollten sie als Ehefrau in ihr Tipi führen, doch sie lachte immer nur und wies alle ab. Dabei war sie recht hochmütig. „Was? Dich soll ich heiraten? Was kannst du mir denn bieten?“
Auch ein junger Krieger hatte sich in sie verliebt. Er erinnerte sich noch daran, wie freundlich sie als kleines Mädchen gewesen war und wunderte sich darüber, wie sehr sie sich verändert hatte. Nachdem er der Ärmste im Dorf war, wagte er es jedoch nicht, um sie zu werben. Er hatte Angst, dass sie auch über ihn spotten würde.