Halder - Max Bronski - E-Book

Halder E-Book

Max Bronski

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Beschreibung

Kurt Halder, der Präsident des Verfassungsschutzes, macht sich auf den Weg von Köln nach München, um an einer Sitzung der Soko Nordring teilzunehmen. Im Euro-Industriepark ist ein Polizeiwagen nach der Methode "Nobelkarossentod" abgefackelt worden, dabei kam Kommissar Röhricht ums Leben. Die Polizei verdächtigt ein militantes linksradikales Netzwerk, dies ruft den Verfassungsschutz auf den Plan. Aber auch rechtsextreme Kreise sind in das Geschehen verwickelt, der Ermordete gehörte einer subversiven Polizeigruppe an und verschickte Drohbriefe an Exponenten der linken Szene. Halder entwickelt ein persönliches Interesse an dem Fall, er nimmt zwei ehemalige RAF-Sympathisanten ins Visier, die den Eindruck erwecken, ihren antikapitalistischen und antifaschistischen Kampf wiederaufnehmen zu wollen. Halder sieht sich bei der Bekämpfung der RAF-Restbestände in der Tradition großer Vorgänger, die ihren Einsatz mit dem Leben bezahlen mussten. Zu diesem Motiv gesellt sich noch ein weiteres: Eine ehemalige Schulkameradin hat sich bei Halder gemeldet und ihn zu einem Besuch eingeladen, den er mit seiner Dienstfahrt verbinden kann. Ein Jugendtraum scheint wahr zu werden. Schicht für Schicht seziert Bronski Halders familiäres, weltanschauliches und seelisches Innenleben und verknüpft es mit seinem Handeln als Verfassungsschützer. Es entsteht das Psychogramm eines rechten Ideologen an höchster Stelle.

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MAX BRONSKI (Franz-Maria Sonner), geboren 1953 in Tutzing, ist Autor zahlreicher Kriminalromane. Seine Reihe um den Münchner Antiquitätenhändler Gossec (zuletzt erschien 2018 Schneekönig) ist legendär. Für Oskar erhielt er 2019 den Glauser-Preis für den besten Kriminalroman des Jahres; zuletzt erschien Jaguar (2020). Max Bronski lebt in München.

MAX BRONSKI

HALDER

KRIMINALROMAN

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2021

Originalveröffentlichung

Erstausgabe September 2021

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Autorenporträt Seite 2:

© Monika Stein

1. Auflage

E-Book-ISBN 978-3-96054-265-0

Inhalt

Über den Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

(…) daß damit die Zukunft des Abendlandes nicht ein uferloses Hinauf und Vorwärts in der Richtung unserer augenblicklichen Ideale und mit phantastischen Zeiträumen ist (…)

Wer diese Höhe der Betrachtung erreicht hat, dem fallen alle Früchte von selbst zu.

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes

Wem Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit nichts als ein Schwindel sind, den sich die Schwachen zum Schutz vor den Starken ausgedacht haben (…), der vermag es recht wohl, als Anwalt der Starken auf den Widerspruch zu deuten, der zwischen jenen vorweg schon verkümmerten Ideen und der Realität gilt.

Theodor W. Adorno, Spengler nach dem Untergang

1

Halder ließ die Verschlüsse seines Businesskoffers aufschnappen, der auf den Oberschenkeln ruhte. Glöckler, sein Chauffeur, sah prüfend in den Rückspiegel. Einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke, dann kümmerte sich jeder wieder um das Seine. Halder wartete noch einen Moment, dann klappte er den Deckel hoch und musterte sich in dem Spiegel, den er dort an der Innenseite an einer der Laschen befestigt hatte.

Das kleinformatig gerahmte Gesicht wirkte darin makellos. Glattrasiert und gut gecremt lag ein Schimmer auf seiner Haut. Er wendete den Kopf leicht zur Seite und blies probehalber die linke Backe auf.

Fast makellos!

Ein kritischer Blick hätte die verbliebene leichte Schwellung auf der linken Seite bemerkt. Ursache war eine entzündete Zahnwurzel, ein Übel, das der Arzt rasch hatte beheben können. Trotzdem war Halder seiner sorgfältig geplanten Agenda eine Woche hinterher. Die Entzündung hatte ihn nicht arbeitsunfähig gemacht, aber aus dem Verkehr gezogen. Die Gesichtserkennungs-Routine seines Smartphones lehnte ihn rundweg als Zugangsberechtigten ab. Erst über den Passwortmanager auf seinem Rechner verschaffte er sich die notwendige PIN.

Spätestens da war ihm klar, dass er nicht unter Leute gehen durfte. Die Schmerzmittel wirkten zwar, Denken und Reden waren nicht beeinträchtigt, aber in den Augen der anderen war er behindert. Und darauf kam es an. Der Durchgriff auf seine Leute und Verhandlungspartner gelang ihm nur, wenn er sich äußerlich makellos präsentierte. Die Zuversicht, parkettsicher zu sein, kam zwar von innen, aber ihre Schwingungen mussten sich mit einem gelungenen Äußeren verbinden, sonst schwächte das eine das andere.

Welliges, glatt nach hinten gestrichenes Haar, ein durchaus fein ziselierter, lang gezogener Schädel, dazu die Nickelbrille – der Idealtypus eines preußischen Beamten, intellektuell veredelt. Die Schwellung wirkte seiner natürlichen Autorität entgegen und machte ihn zur Karikatur. So beschränkte er sich eine Woche lang darauf, sein Amt telefonisch zu dirigieren. Die bloße Stimme rief das Bild hervor, das man von ihm gewohnt war: Sorgfältig geschnittene dunkle Anzüge, anthrazit, schwarz oder nachtblau, schwarze Schuhe, gut gebügeltes weißes Hemd, Krawattenfarbe nach Tagesform von dezent bis kühn. Ein hamsterähnlicher Gesichtsbeutel gehörte nicht dazu, eigentlich auch nicht die Farbe seines Businesskoffers, Cognac statt Schwarz, aber er strich so gerne über das naturbelassene, italienische Rindsleder und liebte den herben Geruch der tanningegerbten Haut.

Die Mitglieder der Soko Nordring reagierten besorgt auf seine Absage und Bitte um Terminverschiebung, er versicherte ihnen jedoch schon im Vorfeld, dass seine Überlegungen den Gang ihrer Ermittlungen nicht verändern würden, sie seien gewiss auf dem richtigen Weg. Mehr oder weniger; das allerdings fügte er nur in Gedanken hinzu. Der Ton blieb freundlich, man wünschte ihm gute Genesung und verabredete sich für eine Woche später.

Schließlich war da noch das Treffen mit Lena, der er in keinem Fall verunstaltet gegenübertreten wollte. Er hatte es parallel dazu arrangiert, seine Reise von Köln nach München hätte sich allein ihretwegen schwerlich begründen lassen. Natürlich galt auch für ihn: Wer observieren ließ, musste selbst auch damit rechnen, Gegenstand der Aufmerksamkeit anderer zu sein.

Halder musterte sich ein zweites Mal im Spiegel, und eine Verwandlung fand statt. Sein Jugendbild trat ihm entgegen, Halder, mit ungebärdigem Schopf, Fliegerjacke, Karottenjeans und Turnschuhen.

Der Goldglanz der Erinnerung überstrahlte alles.

Diese Ausstattung gab es wohl, aber Halder war nie der tolle Hecht, der er gerne gewesen wäre; er lernte gut, bereitete seinen Eltern keine Probleme und fiel allenfalls nach zu viel Bier aus der Rolle. Bei Partys. Manchmal erwachte ein Teufel in ihm, der ihm weismachte, dass er heute Abend alle aus dem Feld schlagen würde. Die Aufschneider niederringen und das schönste Mädchen abschleppen. Aber dann geriet er doch ins Hintertreffen, hockte sich enttäuscht in eine Ecke und trank mehr, als er vertragen konnte.

Schließlich, fast vierzig Jahre später, schlüpfte, offenbar augenzwinkernd geduldet von Admin und Sekretariat, eine E-Mail durch die Sicherungssysteme seines Amts in seinen Posteingang.

Lena!?

Halder war nicht bewusst, dass sie je für ihn geschwärmt hätte, er musste aber einräumen, dass ihm damals ein solcher Fehler in seiner chronischen Unfähigkeit, die Zeichen der Frauen zu deuten, jederzeit unterlaufen konnte. Blind, taub und empfindungslos, noch dazu mit vom Alkohol verödeten Sensorien. Statt auf den Weg zu achten, starrte er aufs Ziel, nicht in die Augen, sondern auf den Busen, nicht auf die Hände, sondern auf den Arsch.

Als Behördenleiter hatte Halder stets jeden öffentlichen Auftritt vermieden, zumal den im Fernsehen. Bekanntheit war für einen Verfassungsschützer nicht unbedingt von Vorteil. Aber in diesem Fall war der Innenminister mit ungeschickten Bemerkungen zur Rückführung von Flüchtlingen selbst in die Bredouille geraten, hatte sich der Kritik, ja sogar dem Spott der Journalisten auszusetzen gehabt, daher konnte sich Halder seiner Bitte nicht entziehen, das Statement zur durch unkontrollierte Einwanderung gefährdeten inneren Sicherheit für ihn zu übernehmen, um den ministerialen Ausrutscher durch die Erkenntnislage des Dienstes zu sockeln. Er äußerte sich ausführlich, wirkte dabei seriös und überzeugend und durfte zudem vielsagende Andeutungen setzen und sie im Vagen belassen, denn welcher Dienst würde sich schon in der Öffentlichkeit vollständig offenbaren?

Er tauchte damit mehrfach in der politischen Berichterstattung auf, sogar in den Abendnachrichten. So war Lena auf ihn gestoßen.

Bist du das, Kurt?

Was für eine Frage! Natürlich war er Kurt, nur welchen meinte sie? Dann aber der Hinweis auf das Max-Planck-Gymnasium, und damit war klar, dass sie wirklich diese seinerzeit so hinreißende Lena war.

Mannomann, hätte man das nur früher geahnt!

Halder las die Mail bewegt ein zweites Mal und blickte vom Bildschirm auf. Seine Augen schmerzten, er war müde und draußen war es bereits dunkel. Aber in ihm wurden Glückshormone ausgeschüttet, die ihm die Brust weiteten und reines Wohlgefühl bescherten. Tatsächlich, oben um seine Deckenlampe wand sich, einem geflochtenen Kranz ähnlich, ein jubilierender Chor von Putten.

Halder lächelte. Hatte er also doch mehr draufgehabt, als zu befürchten war. Versonnen ließ er sich treiben.

Seltsam allerdings mutete ihre Wendung von einer eindrücklichen Begegnung an, die er nicht deuten konnte. War es denn möglich, dass es sich damals um Lena gehandelt hatte?

Jahre nach dem Abitur traf man sich im Skilager des Gymnasiums in der Wildschönau. Eine Wiedersehensfeier. Halder studierte Jura und hatte schon ein wenig reüssiert, weil er sich dem ersten Staatsexamen näherte. Die meisten Mitschüler verfolgten keinen brauchbaren Karriereplan, und Jura war immer eine Option, vor allem für die, die sich eher mühsam in anderen Fachrichtungen versuchten. Halder hatte plötzlich etwas zu sagen. Sie fuhren Ski, tranken Jägertee und Glühwein, und für den Hüttenabend hatte Melzer einen besonderen Einfall, die Zubereitung einer Feuerzangenbowle.

Der große Bowlentopf wurde auf Temperatur gehalten, darüber eine metallene Feuerzange gelegt, auf der sich der Zuckerhut platzieren ließ. Dann aber machte Melzer den entscheidenden Fehler: Statt den Zuckerkegel mit Alkohol zu tränken, bevor er über dem Punsch angerichtet wurde, goss Melzer den hochprozentigen Strohrum darauf, als er bereits darüberlag. Schon beim ersten Mal floss viel zu viel Rum in die Weinmischung. Als dann der Hut nicht stilvoll brennen wollte, kippte Melzer ordentlich nach. Das Gebräu hatte sich so zu einem wahren Höllenpunsch entwickelt.

Der Punsch war heiß, schmeckte süß und fruchtig, den Alkohol musste man in Kauf nehmen. Die Gespräche wurden lebhaft, das Gelächter anhaltend und laut, vor allem brauchte es bald keinen Anlass mehr, es trug sich von selbst.

Irgendwann spät in der Nacht erwachte Halder. Es gab in der Hütte vier Räume mit Matratzenlagern für je fünf Personen. In welchen er wie geraten war, ließ sich seinem verklebten Hirn nicht mehr abverlangen, zudem war die Dunkelheit in den Bergen so tief, dass er nicht einmal zu sagen wusste, mit wem er das Zimmer teilte. Tastend versuchte er, sich zu orientieren, dann verstand er, dass er quer zur gedachten Ordnung auf den Rosshaarpolstern gebettet lag. Offenbar war es nicht weiter von Bedeutung, denn die Person, die er neben sich fühlte, ruhte ähnlich schlampig sortiert. Sie stöhnte, als sie seine Berührung fühlte, und Halder wurde schlagartig klar, dass diese Person eine Frau war.

»Mach’s doch endlich!«, nuschelte sie und fügte noch einen kurzen Namen an, der jedoch so unverständlich blieb, dass fast alle Männer aus der Gruppe angesprochen sein konnten mit Ausnahme von Nikolaos und Heinrich. Halder streckte vorsichtig seinen Arm aus, und sie schob sich dicht an ihn heran. Ihm stockte der Atem, und er wusste nicht, wie er das nun fortführen sollte. Er fürchtete, nicht gemeint zu sein. Die Frau schob seine Hand unter ihren Pullover. Als er sich später nach unten vorgearbeitet hatte, fühlte er, dass sie nass zwischen den Beinen war. Jetzt schien ihm die Situation eindeutig genug, und er versuchte, aus seiner Hose zu schlüpfen. Bei dieser Gelegenheit stellte er fest, dass sie bereits geöffnet war, so als habe er bereits einen Versuch unternommen. Den aber dann in vollständiger Bewusstlosigkeit.

Bei zweien, die ihrer Sinne nicht mächtig zueinanderfinden, so wenig gewollt wie zwei Bretter, die zur Seite kippen und zufälligerweise aufeinander zu liegen kommen, konnte weder von einem Glück der Vereinigung noch von einem nachhaltigen Erlebnis die Rede sein. Im Grunde genommen war alles schon im Akt vergessen, denn Halder schlief danach sofort wieder ein, ohne zu wissen, wie das zuging.

Am nächsten Morgen erwachte Halder, weil Nikolaos in eine Ecke gerollt lag und schnarchte. Beim gemeinsamen Frühstück stellte sich rasch heraus, dass die ehemaligen Mitschüler unausgesprochen in eine Übereinkunft eingewilligt hatten, alles, was nach dem zweiten Glas Punsch passiert war, aus dem Gedächtnis zu verbannen, mindestens jedoch nicht darüber zu sprechen. Die Frauen saßen da, munter, gut geschminkt und nett zurechtgemacht, und in keinem ihrer Gesichter konnte er etwas lesen, was auf das Abenteuer der Nacht hingedeutet hätte. Schließlich wurden die Verwüstungen des Abends beseitigt, und sie verabschiedeten sich höflich und herzlich voneinander. Hans Goldner, der früher schon in der Schülerzeitung engagiert gewesen war, schickte ein paar Wochen später allen Teilnehmern einen Abzug des Gruppenfotos im Schnee vor der Hütte, das er aufgenommen hatte.

Und wenn das nun Lena gewesen war?

Halder atmete tief ein, der Seufzer beim Ausatmen blieb jedoch gedacht. Jugenderinnerungen waren stets bittersüß. Reines Glück gab es nie, immer war ein Kummer damit verbunden.

Er streichelte das Rindsleder. Vor dieser Zusammenkunft galt es noch, die Pflichten zu bewältigen. Die für das Gespräch wesentlichen Akten hatte er sich von Lieberwitz, seinem Assistenten, zusammenstellen und in Schnellhefter binden lassen. Er zog das voluminöse Konvolut hervor.

Der Fall Nordring.

2

»LKA München, Kottke!«

Kommissar Kottke feilte gerade seine Fingernägel, als das Telefon klingelte. Mit der Linken angelte er den Hörer und klemmte ihn zwischen Schulter und Schädel an das Ohr. Er hasste Headsets. Fast ein Jahrzehnt lang hatte er als Polizeimeisteranwärter und schließlich als Polizeiobermeister Dienst in Freilassing an der bayerisch-österreichischen Grenze geschoben. Sein Schreibtisch war telekommunikationstechnisch nie anders ausgerüstet gewesen als mit Telefon auf einem ausziehbaren Schwenkarm und aufgesetzter Schulterhalterung auf dem Hörer. So ließen sich auch beidhändig Protokolle in die Maschine tippen.

»Hier ist Pit.«

»Pit?«

»Der Frontmann von 88Volunteers. Ich habe dir ein Autogramm gegeben und dann haben wir Nummern getauscht. Ein paar Bier haben wir auch zusammen getrunken. Schon vergessen?«

Drei Jahre war das her! Drogen, Zigarettenschmuggel, Flüchtlinge, übermüdete Fernfahrer – Kottke fühlte sich wie einer, der ständig zum Kloputzen abkommandiert war. Die Arbeit war öde, und Anerkennung wuchs einem dadurch nicht zu. Er biss die Zähne aufeinander und schaffte es, in ein Programm aufgenommen zu werden, das ihn vom mittleren in den gehobenen Dienst hievte. Allerdings musste er dafür nach Thüringen. Auf einer abgelegenen Wiese veranstaltete der Hugin-Verlag ein Festival. Es gab einen Infostand mit Buchverkauf, ansonsten ging viel Bier und Gegrilltes über die Theke. Am Nachmittag traten einige Bands auf. Eine letztlich harmlose Angelegenheit, jeder durfte mal seinen Spaß haben. Betrunkene und Randalierer gab es nicht mehr als bei jedem anderen Volksfest auch. Das Festival im Griff zu behalten war nicht besonders schwierig, zumal der in der Alternativszene übliche irrationale Hass gegen Uniformträger nicht aufkam. Gegen Abend traten dann die 88Volunteers aus München als Top-Act auf. Sie spielten kernigen Punkrock wie Kottke ihn mochte. Er kaufte sich eine CD, plauderte ein wenig mit Pit, dem Sänger, und ließ sich die CD signieren.

»Natürlich habe ich das nicht vergessen. Habe nur nicht mit dir gerechnet. Was gibt’s?«

»Probleme.«

»Welcher Art?«

»Mal ganz direkt gefragt: Werde ich von euch überwacht?«

»Warum sollten wir?«

»Seit heute Mittag steht da draußen am Parkplatz ein Fahrzeug von euch. Hatte dir ja erzählt, dass ich gelegentlich im Euro-Industriepark an der Waschanlage arbeite und mir ein paar Mark dazuverdiene.«

»Und wie kommst du darauf, dass das etwas mit dir zu tun hat?«

»Oberweida, verstehst du?«

»Null. Kannst du vielleicht mal ein paar mehr Infos rüberreichen?«

»Oberweida in Thüringen. Alljährliches Festival. Letztes Wochenende mit Zeltlager, Feuer, Grillfete und so. Wie immer ist ein Haufen Kameraden aufmarschiert. Natürlich auch marodierende Antifa. Da gab es eine ordentliche Klopperei.«

»Und du mittendrin?«

»Na ja. Offiziell war ich besoffen, ganz weit hinten und habe nichts mitbekommen. Aber vielleicht gibt es Fotos.«

»Kannst du die Nummer von dem Fahrzeug erkennen?«

»Moment mal!«

Pit ging durch die Anlage. Kottke hörte, wie Wasser auf Blech traf und Bürsten rotierten. Irgendjemand schrie »Mahlzeit!«, dann war nur ein Rascheln zu vernehmen.

»Ich hab’s: M-PM 197.«

»Okay, ich schau mal nach.«

»Danke.«

Bald hatte Kommissar Kottke herausgefunden, dass das Fahrzeug zur Polizeiinspektion 13 gehörte. Die Beamten POM Dobeleit und Kommissar Röhricht waren zur Observierung des Parkplatzes abkommandiert. In letzter Zeit waren vermehrt Einbrüche in parkende Autos angezeigt worden.

Ausgerechnet Röhricht! Dieses Arschloch mit seiner testosterondampfenden Aura. Schon deshalb gab Kottke eine kurze Nachricht an Pit durch. Danach schob er sein Smartphone in die Hosentasche und verschwand auf der Toilette, wo er sich, ein Nacktbild von Gudrun vor Augen, heute schon zum zweiten Mal erleichterte.

Gudrun, seine Ex-Freundin!

Was ihn zu dieser pubertären Hyperaktivität trieb, war Verlustgeilheit. Der Gedanke an sie packte ihn wiederkehrend wie ein jäh ausbrechender Wahnsinn. Das Wiederhaben-Wollen entfachte ein zwanghaftes Begehren in ihm, eines, dem er in Zweistunden-Intervallen mit zusammengebissenen Zähnen erlag. Danach wallte erneut der Hass auf. In langanhaltenden inneren Monologen rechtete er herum und beschimpfte sie unflätig. Nach einiger Zeit poppten dann Bilder auf, in denen er sah, was Röhricht mit ihr anstellte, ausgepinselte Phantasien, die so unerträglich waren, dass er gar nicht anders konnte, als sich in ihnen selbst wieder als Akteur einzusetzen. Im Grunde genommen lief es auf dasselbe hinaus, denn der andere machte, was Kottke immer schon gewollt hatte, weswegen sich die Frage stellte, warum dieses Arschloch nicht endlich verschwand und den Platz freigab, der ihm gehörte. Durch solche Visionen, in denen er seine Person ständig mit der des Anderen austauschte, wuchs seine Erektion.

Dann begann alles wieder von vorn.

Zwischendrin holte er sich eine Leberkässemmel aus der Kantine.

3

»Tag, Polizei!«

POM Dobeleit zückte seinen Dienstausweis. Brandl hatte gerade ein Büschel Glasnudeln aus dem Pappbecher gefischt, von dem braune Soße tropfte. Er ließ alles wieder zurückfallen und musterte die beiden mit unstetem Blick.

»Wir hätten da mal eine Frage.«

Brandl zuckte die Achseln.

»Auf dem Parkplatz draußen sind Autoknacker zugange. Mehr als ein Dutzend Fälle wurden bereits angezeigt. Haben Sie etwas gesehen? Ist Ihnen etwas Verdächtiges aufgefallen?«

Brandl hob beide Arme, als wolle er sich ergeben.

»Wie denn, Leute? Ich hocke den ganzen Tag hinter der Kasse in dem Häuschen da drüben. Da sieht man doch nichts.«

»Sonst jemand?«

»Pit vielleicht. Der steht draußen und braust die Autos ab, bevor sie in die Anlage fahren.«

Brandl steckte Daumen und Zeigefinger in den Mund und pfiff.

»Hey, Pit! Komm mal rüber. Dein Typ wird verlangt.«

Pit stand unschlüssig da. Was wollten die denn hier? Kottke hatte doch bereits Entwarnung gegeben. Dann zog er den Hosenbund über den Bauch und gab den Wasserstrahler an seinen Kollegen weiter.

»Bin gleich wieder da.«

Pit schlüpfte in den grauen Kittel, um mit seinen Armtätowierungen kein Aufsehen zu erregen.

»Ist was?«

Dobeleit wiederholte seine Frage. Pit atmete durch.

»Gesehen? Nicht viel. Arbeite hier nur als Aushilfe, bin eigentlich Musiker.«

»Und was ist Ihnen aufgefallen?«

»Dass diese Zecken von drüben aus den Containern hier ständig herumlungern. Treffen sich da hinten bei den Büschen. Musik haben sie auch dabei, Hip-Hop oder so, und ein paar Pullen. Geld kriegen die vom Amt, und zu tun haben sie nichts. Da würde ich mal nachgraben.«

Dobeleit machte sich Notizen. Dann blickte er auf und hob mit dem Bleistift den Ärmel von Pits Kittel an. Eine Doppel-Acht.

»Soll uns das etwas sagen?«

»Unsere Band heißt 88Volunteers. Mehr nicht.«

»Die Doppel-Acht?«

»Ist nur eine Zahl. Wie Route 66. Ein bisschen Legende kommt immer gut.«

Röhricht fasste seinen Kollegen am Unterarm.

»Interessiert jetzt eigentlich nicht, oder?«

Dobeleit steckte sein Notizbuch zurück.

4

Kottke lief wie ein Tiger in seinem Büro auf und ab. Im Prinzip war bereits Feierabend, er hätte also nach Hause gehen können. Aber was sollte er da? Er fühlte sich ausgewrungen und leer. Gefühle, die gegeneinanderwirkten, rieben ihn auf. Hass blähte ihn auf, Hass gegen Röhricht, diesen Kerl, der sich über seine Freundin hergemacht hatte. Schmerz machte ihn klein, hilflos und bedürftig und nährte die heftige Sehnsucht nach Gudrun.

Gäbe er seinem drängendsten Impuls nach, würde er versuchen, sie zu beobachten und zu überwachen. Sich Gewissheit über alle Schritte zu verschaffen, die sie unternahm. In ihre intimsten Geheimnisse einzudringen bis hin zur Farbe ihres Slips. Erkenntnis, Demütigung und Geilheit waren die Stationen, in denen ihn sein innerer Dämon vorwärtstrieb. Immer im Kreis.

Allerdings war Kottke Polizist genug, um zu wissen, dass Stalking als ein gravierendes Delikt galt. Würde er sich diesen Vorwurf zuziehen, wäre seine weitere Laufbahn blockiert, zumal es sich bei der Verfolgten um eine Kollegin handelte.

Also war der Plan, eine Flasche Wodka zu kaufen und sich die Kante zu geben.

In seiner Hosentasche vibrierte das Smartphone.

»Pit noch mal.«

»Was gibt’s?«

»Du sagtest doch, deine Kollegen seien nicht auf mich angesetzt. Dafür haben sie mich aber ganz schön in die Mangel genommen.«

»Inwiefern?«

»Bin ausführlich verhört worden.«

»Ist doch normal. Du bist eben vor Ort und hast vielleicht etwas beobachtet.«

»Der eine wurde ganz schön zeckig. Hat an meinen Tattoos herumgemeckert.«

»Was ist denn da zu sehen?«

»Nur der Bandname: 88Volunteers. Manchmal fragst du dich echt, ob es in diesem Land noch Meinungsfreiheit gibt.«

»Klingt alles nicht so tragisch.«

»Okay, okay. Ihr seid ja unsere Freunde und Helfer. Was ich eigentlich wissen wollte: Wie wäre es mal mit ein paar Bier? Ich kenne hier in der Nähe eine Kneipe, wo ich mich gerne mit Kumpels treffe.«

»Heute?«

»Heute ist Bandprobe. Der Termin ist heilig. Morgen würde gut passen, da bin ich schon sechzehn Uhr aus der Mühle raus.«

Kottke überlegte. Dann blieb es für heute doch bei der Flasche. Aber ein bisschen Gesellschaft, unter andere Leute kommen, das war sicher nicht verkehrt. Im Umkreis der Band waren auch Frauen unterwegs, vielleicht ließ sich eine abschleppen.

5

Am nächsten Tag verbrachten Dobeleit und Röhricht nun schon den zweiten Abend, geschützt von der Dunkelheit und dem Gebüsch nahe der Nordring genannten Bahntrasse, in ihrem Dienstfahrzeug, um den weitläufigen Parkplatz im Euro-Industriepark im Auge zu behalten. Bereits nach zwei Stunden zeichnete sich ab, dass heute Nacht genauso wenig passieren würde wie zuvor. Als hätte jemand den Autoknackern einen Tipp gegeben.

»Kannst du knicken«, sagte Dobeleit.

Röhricht grunzte und richtete sich hinter dem Steuer auf. Er war in schlechter Verfassung, zu lange gefeiert, zu wenig geschlafen.

»Ich habe einen brutalen Unterzucker.«

»Was heißt das?«, fragte Dobeleit.

»Hunger!«

»Mann! Wir verlassen den Posten hier, fahren rüber zum Mäcki und dann passiert’s womöglich. Außerdem sieht man uns doch. Wenn du ausflaggen willst, dass wir hier Wache schieben, kannst du gleich das Blaulicht einschalten.«

»Schon mal dran gedacht, zu Fuß hinüberzugehen?«, erwiderte Röhricht.

»Wer?«

»Wir können ja knobeln.«

Bald danach öffnete Dobeleit sacht den Schlag, schlüpfte hinaus und bewegte sich die Böschung entlang hinüber zum Schnellrestaurant. Röhricht verfolgte seinen Weg noch eine Weile, dann sank ihm das Kinn auf die Brust. Später träumte er von Grillwürsten, Brathühnern und schließlich von Frühstücksspeck, der rauchend in einer heißen Pfanne zischte. Dann fuhr er hoch. Es roch kokelig. Einbildung? Das Grillhendl-Mobil, das vor dem Supermarkt geparkt stand, war längst verschwunden. Dass Schwaden von drüben über den Parkplatz zogen, schien unwahrscheinlich. Verwirrt öffnete er die Tür. Offenbar kam der Qualm von unten. Er streckte den Kopf hinaus, um sich zu vergewissern. Auf dem Teerboden zeichnete sich der Schattenriss einer Person ab.

»Hey!«, schrie Röhricht.

Er versuchte, sich aus dem Wagen zu wuchten, spürte jedoch einen heftigen Schlag auf seinem Schädel und sackte auf den Fahrersitz zurück.