Oskar - Max Bronski - E-Book

Oskar E-Book

Max Bronski

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Beschreibung

Ein außergewöhnlicher Kriminalroman über einen scheinbar toten Mann ohne Gedächtnis auf der Suche nach sich selbst Ein Leichenwagen mit drei Särgen fährt durch München. Ziel: das Krematorium. Die Papiere der Toten sind alle gefälscht; offensichtlich geht es darum, Leichen illegal verschwinden zu lassen. Der scheintote Oskar erwacht auf der Fahrt plötzlich zum Leben und befreit sich aus der klapprigen Totenkiste. Auf der klebt ein Zettel, der den vermeintlich Verstorbenen als "Person ohne Identität" ausweist . Und in der Tat, Oskar hat nicht die leiseste Ahnung, wer er ist, wo er herkommt und wie er in diese missliche Lage geraten ist. An der nächsten Ampel ergreift er vorsorglich die Flucht und findet sich, nur mit Boxershorts bekleidet, im Englischen Garten wieder. Zum Glück ist es Sommer, und es herrscht buntes Treiben. Aber wie weiter? Ein abenteuerlicher Selbstfindungstrip nimmt seinen Lauf... "Es ist dieser grundentspannte Erzählton, der einen so unwiderstehlichen Charme entwickelt." taz

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Seitenzahl: 309

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Max Bronski

Oskar

Roman

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Über dieses Buch

Ein Leichenwagen mit drei Särgen fährt durch München. Ziel: das Krematorium. Die Papiere der Toten sind alle gefälscht; offensichtlich geht es darum, Leichen illegal verschwinden zu lassen. Der scheintote Oskar erwacht auf der Fahrt plötzlich zum Leben und befreit sich aus der klapprigen Totenkiste. Auf der klebt ein Zettel, der den vermeintlich Verstorbenen als »Person ohne Identität« ausweist. Und in der Tat, Oskar hat nicht die leiseste Ahnung, wer er ist, wo er herkommt und wie er in diese missliche Lage geraten ist. An der nächsten Ampel ergreift er vorsorglich die Flucht und findet sich, nur mit Boxershorts bekleidet, im Englischen Garten wieder. Zum Glück ist es Sommer, und es herrscht buntes Treiben. Aber wie weiter? Ein abenteuerlicher Selbstfindungstrip nimmt seinen Lauf …

Inhaltsübersicht

Oskar, der Findling死 (Tod)死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死死Oskar, der Freund友 (Freund)友友友友友友友友友友友友友友友友Oskar, der Feind鼠 (Ratte)鼠鼠鼠鼠鼠鼠鼠鼠鼠鼠鼠鼠鼠鼠鼠鼠鼠Oskar, der Heimkehrer家 (Zuhause)家家家家家家家家家家家家家家家Nachwort
[home]

Oskar, der Findling

Die Hinrichtung wurde auf den neunundzwanzigsten März, neun Uhr morgens, festgesetzt. Dieser Aufschub (dessen Bedeutung der Leser später würdigen wird) war dem behördlichen Wunsch zu verdanken, unpersönlich und gemessen vorzugehen, wie die Pflanzen und die Planeten.

Jorge Luis Borges, Das geheime Wunder

死 (Tod)

Schmerzen spürst du nur, solange sich dein Körper noch auflehnt. Danach setzt eine Selbstvergiftung ein, die dir das Hirn vernebelt und dir die schönsten Dinge vorgaukelt. Dieser gnädige Mechanismus begann bei mir nicht zu wirken. Visionen allerdings hatte ich schon, aber keine guten: Eine Lawine aus Schlamm und Schutt war über mich hinweggegangen, unter der ich nun begraben lag. Alpträume flackerten hoch, aber alle ohne Handlung. Keine Figuren oder Gesichter tauchten darin auf, nur gestaltlose Eindrücke. In meinem Hirn war kein Text mehr, nur das tiefe Gefühl von Verlorenheit und Einsamkeit. Ich ruhte an einem vollkommen dunklen und kalten Ort, befand mich in einem Dämmerzustand, gelähmt an allen Gliedern, die Atmung war flach, und mein Puls tickte wie eine Uhr kurz vor ihrem letzten Schlag. Den Tod, so dachte ich, stirbt man. Ich erlebte ihn.

Diese Diagnose konnte nur aus dem Jenseits kommen, von einem, der seinen Fuß bereits auf die Schwelle gesetzt hat und noch einmal zurückblickt. Doch plötzlich war Stillstand, ich war nicht mehr lebendig, aber noch nicht tot. Wie lange meine Verbannung in dieses Zwischenreich anhielt, befand sich außerhalb meiner Vorstellung. Das Schicksal, langsam zu verlöschen, war mir eigentlich vorgezeichnet, dann aber beschloss eine höhere Macht, mich wieder zurückzuholen. Gevatter Tod verabschiedete sich denkbar grob und ließ mich hinauswerfen wie einen ungebetenen Gast.

Ich wurde angehoben, flog durch die Luft und krachte auf den Boden. Eine Tür wurde verriegelt, und eine wilde Fahrt begann. Rücklings lag ich auf einem Brett, das die Schläge und Stöße, die von unten kamen, nicht abfederte.

Oder war ich im Fegefeuer?

Nein, so empfand kein Geistwesen. Die Welt mit ihren harten Oberflächen und scharfen Kanten war wieder da. Ich konnte sie wahrnehmen, auch wenn um mich herum alles dunkel war. Ich tastete Bretter und fühlte rauhes Holz. Unter und über mir, sogar an den Seiten.

Ratlosigkeit überkam mich. Ich überlegte und prüfte, das Ergebnis war niederschmetternd, aber klar: Ich war in eine Kiste eingeschlossen. Was heißt ich? Mit wem hatte ich es denn zu tun? Zutreffender wäre, von mir nur in der dritten Person zu sprechen, denn mehr, als dass ich eingesperrt war, wusste ich nicht von mir.

Neue Eindrücke von außen drangen auf mich ein. Offenbar wurde ich in einem Wagen transportiert. Die Kiste, in der ich lag, polterte bei Unebenheiten auf und ab, schlingerte in Kurven, auch das Brummen eines Motors konnte ich deutlich ausmachen. Und es war heiß und stickig geworden, zumal in diesem Holzgehäuse.

Ich hob die Hände und zog die Beine an, meine Gliedmaßen gehorchten mir wieder. So stemmte ich mich gegen den Deckel. Er war nicht massiv und bestand nur aus zwei Fichtenbrettern, die sich durchbogen, aber ich benötigte doch einige Versuche, bis die Nägel endlich nachgaben und die Abdeckung zur Seite fiel.

Mühsam richtete ich mich auf. Ich befand mich im Laderaum eines Lieferwagens, der mit großer Geschwindigkeit unterwegs war. Aus der Kiste auszusteigen, war schwierig, man wurde hin- und hergeworfen, Halt fand ich an den Seitenwänden, wo Gärtnerwerkzeuge wie  Spaten und Rechen mit Gurten befestigt waren.

Im Laderaum befanden sich zwei weitere Kisten derselben Art. Jetzt, wo ich sie so von außen sah, verstand ich, dass es Särge waren, aber billig zusammengenagelt, gerade so, um den Anschein wahren zu können.

Es stank fürchterlich, kaum erträglich, vor allem aus der Ecke, in der blaue Müllsäcke aufgehäuft lagen. Mit dem Stiel des Rechens hob ich von einem das offene Ende an, um hineinsehen zu können. Am braunen Fell erkannte ich einen Dackel, steif und tot, bereits in Verwesung übergehend.

Wie um Himmels willen war ich hierhergeraten?

Ich hatte mich nahe der Hecktür in die Ecke gekauert. Von außen strömte ein wenig Luft herein, so war ich nicht vollständig diesem Fäulnisgeruch ausgesetzt. Solange es auszuhalten war, hatte ich mich umgesehen. Ich saß in dem Fahrzeug einer Firma Grienbeck GmbH. Wir fuhren, der Geschwindigkeit nach zu urteilen, auf einer Landstraße oder Autobahn und waren, so folgerte ich, unterwegs zu einer Kadaverbeseitigungsanstalt, im besten Fall zu einem Krematorium. Kannte ich meine Leidensgenossen? Auf allen vieren kroch ich zu den anderen Särgen, um sie zu begutachten. Obenauf, wie auf einer Frachtkiste, klebten Identitätsnummern und Namen. Die zu einem Bündel verschnürten nachgelassenen Papiere lagen am Kopfende, alles, was eben an behördlicherseits wichtigem Material von einem Menschen übrig bleibt. Rita Blümel und Leopold Perl, diese Namen hatte ich noch nie gehört, sie waren mir so fremd wie Waldi und seine Kumpane. Als ich die abgesprengten Bretter wieder zusammenklaubte, sah ich, dass es bei mir nichts dergleichen gab, ich gehörte der Kategorie o.I. an, wie man es auf meinem Sarg vermerkt hatte: Person ohne Identität. Ich prüfte mich, ich schämte mich, schließlich packte mich Verzweiflung, aber zur Lösung dieses Rätsels konnte ich nichts beitragen.

Wenn ich an mir herunterblickte, erkannte ich wohl, dass dieser Körper schon immer zu mir gehört hatte. Er war mir vertraut, auch wenn ich in Boxershorts steckte, die mit albernen blaurosa Delphinen bedruckt waren. Das Begräbnisinstitut stattete seine Kunden gerade mit so viel aus, dass sie, ohne Anstoß zu erregen, ins Feuerloch zu schieben waren, denn schließlich hatte das Landratsamt von Deixelwang, so die Quittung in Leopold Perls Papieren, nicht mehr als knapp tausend Euro für uns verausgabt, um uns einem Armenbegräbnis zuzuführen. Unsere Särge waren billiges Brennholz, blicksicher verpackt waren wir darin, und mehr als den Transport zum Krematorium musste diese Leichenkiste nicht überstehen. Trotz der offensichtlichen Schäbigkeit ging die Rechnung offenbar nur dann auf, wenn man uns tote Hunde und Katzen beipackte, für deren Beseitigung sicher auch bezahlt worden war. Aber wen kümmerte es schon, wenn sich unsere Asche mit der von Waldi oder Maunzerle vermischte? Mensch, Katze und Dackel waren Staub, wurden wieder dazu und lagen schließlich friedlich vereint in einer Bio-Urne, deren Wände aus Brotteig sich schon beim ersten Feuchtigkeitsandrang aufzulösen begannen, um rasch Platz für Nachrücker freizugeben. Die Grabstätte jedenfalls war für ein halbes Jahr gebucht, dann war man buchstäblich vom Erdboden verschluckt.

Rita Blümel und Leopold Perl hatten zwar einen Namen, aber offenkundig weder Geld noch Verwandtschaft, die ihnen eine Träne nachgeweint hätte. In meinem Sarg war nur ein mit Sägespänen gefülltes Kissen, aber nichts, was mir hätte weiterhelfen können, mehr über mich zu erfahren.

Immerhin hielt man mich für tot. Hatte ich einen eingeschlagenen Schädel oder ein Geschwür? Vielleicht fehlten Gliedmaßen, oder hatte ich Beulen und sonstige Wucherungen? Irgendwelche Merkmale von Krankheit oder Hinfälligkeit? An meinem Hinterkopf tastete ich einen aufgeworfenen Striemen. Zwei meiner Zehen waren blaurot und schmerzten wie nach einer Erfrierung, aber alles andere schien intakt, offensichtlich normal, wäre nicht diese Gedächtnisschwäche gewesen, die mich hatte vergessen lassen, wer ich war. Ich fühlte mich wie nach einem tagelangen Schlaf, nein, doch eher wie nach einer Narkose oder einer durch sonstige Mittel verursachten Absenz, ansonsten aber wohlauf.

Immer wieder blickte ich auf meine Hände, als könnte ich in oder an ihnen etwas entziffern. Wenn ich zurückdachte, war es, als stieße ich gegen eine dunkle Wand. Ich fühlte deutlich, hinter mir lag etwas Furchtbares. Ich konnte es nicht bezeichnen, aber es war ein Ereignis, das unheilvolle Schatten warf. Mir war etwas widerfahren, was diese psychische Verheerung ausgelöst hatte. Die Frage war allerdings: Hatte ich etwas Schlimmes getan, oder war es mir nur zugefügt worden?

Alles im Leben hat einen Sinn, es kommt nur darauf an, aus welcher Perspektive man die Angelegenheit betrachtet.

War das von mir, oder hatte mir das früher einmal jemand gesagt? Ständig gingen mir Gedanken durch den Kopf, die mich selbst erstaunten. Ich denke, das sagt sich so einfach, weil man sich normalerweise dem, was da oben abläuft, zugehörig fühlt: mein Kopf, meine Gedanken, meine Phantasie. Bei mir war das anders. Was mir so in den Sinn kam, schien von Stimmen herzurühren, mit denen ich nichts zu tun hatte. Ich dachte nicht, sondern hörte nur zu!

In irgendeinem Plan musste es immer schon vorgesehen gewesen sein, dass ich wieder ins Leben zurückfand. Geschenkt bekommt man nichts, diese Gunst war zweifellos mit einem Auftrag verbunden. Dass ich mich aber einem wie eine gesengte Sau fahrenden Leichenchauffeur offenbarte – Hallo, ich bin wieder da! – und mich anschließend zur nächsten Polizeidienststelle bringen ließ, um herauszubekommen, wer ich war, konnte so nicht gemeint sein. Das Geheimnis um mich zu lüften und mich allen daraus entspringenden Konsequenzen zu stellen, war meine Aufgabe. Nur deshalb war ich eines Gnadenerweises würdig, den auch der liebe Gott seit Lazarus nur in seltenen Fällen gewährt.

Interessant, dachte ich, so konnte man das freilich auch sehen!

Diese innere Zwiesprache irritierte mich nicht. Im Gegenteil, ich war dankbar, dass sich jemand um Ordnung in diesem Wirrwarr bemühte. Und eines war vollkommen klar: Wenn du nicht weißt, wo du herkommst, dann weißt du auch nicht, wer du bist. Insofern war ich gut beraten, auf diesen Konvent von Stimmen in meinem Schädel zu hören. Nach einer Weile begriff ich, dass es zwei waren, eine abwägend, bedächtig und klug, die Stimme eines alten Mannes. Irgendetwas drängte mich, ihm den Namen Erlacher zu geben. Die andere quecksilbrig frech und piesackend. Sie gehörte einem Beißer, den ich, ohne lange zu überlegen, Wolfsgruber nannte. Vielleicht war ich den beiden früher einmal begegnet, vielleicht waren sie sogar Freunde oder Bekannte – ich wusste es nicht. Jedenfalls waren sie bei mir geblieben, hausten in meinem Kopf und konnten mir helfen, meine Herkunft zu ergründen.

Der Wagen war deutlich langsamer geworden. Immer wieder hielten wir an, und es war nicht schwer zu erraten, dass wir uns innerhalb einer Ortschaft befanden. Ich packte drei von Waldis Freunden in meine Kiste, legte den Deckel darauf und klopfte die Nägel mit dem Spaten in das Holz zurück. Leopold Perls Papiere nahm ich auf Anraten von Wolfsgruber an mich und lugte durch den Türspalt nach draußen. Wieder drosselte der Sprinter das Tempo und fuhr durch eine langgezogene Kurve. Schließlich hielt er. Da der Motor noch lief, war ich sicher, dass wir an einer Ampel standen. Ich öffnete die Hecktür ein Stück weit und sah, dass eine Grünanlage an die Straße grenzte. Die Gelegenheit war günstig. Ab die Post, drängte Wolfsgruber. Ich sprang heraus, kam vor dem Sportwagen einer älteren Dame zum Stehen, die mich teils erschrocken, teils schockiert musterte. Ich drückte die Tür wieder zu und rannte in die Grünanlage, die in eine steile Böschung überging.

Die Autos oben fuhren wieder an, ich hörte kein Lärmen oder Rufen, offenbar war mir die Flucht gelungen. Nun musste ich vorsichtig sein. Ich trug nur Boxershorts und würde sehr schnell auffällig werden. Von Busch zu Busch arbeitete ich mich vorwärts, weiter hinten rauschte Wasser, vielleicht konnte ich mich da vorläufig niederlassen. Heiß genug, um zu baden, war es schließlich.

»Grüß Gott!«

Ich fuhr herum. Hinter mir stand ein weißhaariger älterer Herr, Typ Rentner, von der Sommersonne ledrig durchgebräunt. Er streckte eine stattliche Apfelwampe nach vorne, aber selbst die konnte nicht verbergen, dass er nackt war. Ohne auf die Erwiderung meines Grußes zu warten, stakste er durch das Gehölz und legte sich in Ufernähe auf eine Klappliege. Jetzt sah ich, dass auch einige andere, die es sich auf der Wiese mit Handtuch oder Decke bequem gemacht hatten, nackt waren.

Hier sind wir richtig, meinte Wolfsgruber.

Ich stieg ins Wasser, um ein Bad zu nehmen. Nach Schwimmen war mir nicht zumute, mehr nach Reinigung, um den Leichen- und Verwesungsgeruch abzuwaschen. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, es mochte früher Nachmittag sein. Schnell trocknete ich. Dann beschäftigte ich mich mit mir, man musste sich ja wieder kennenlernen. Meine Beine waren behaart, ebenso die Brust, auf der meine Wolle schon grau zu werden begann. Meine Muskulatur war gut ausgebildet. Ich fand mich etwas mager, aber das konnte sich ändern, ich wusste ja nicht, wie lange ich scheintot gelegen hatte. Ich schätzte mich auf etwa fünfzig Jahre. Offenbar wirkte ich durchaus noch ansehnlich, jedenfalls widmeten mir die Frauen, die in der Nähe lagen, deutlich mehr Blicke als dem Rentner.

Baut der Kopf den Körper oder der Körper den Kopf? Darauf wusste selbst Erlacher nichts zu antworten.

Ich lag am Ufer des Flüsschens, steckte den Arm hinein und hielt mein Gesicht über das vorbeifließende Wasser, um auf der Oberfläche einen Blick zu erhaschen. Das undeutliche Abbild schwankte, es näherte und entfernte sich mit den Wellenbögen. Kennen Sie diesen Mann? Es war, als ob ich eine Vermisstenanzeige betrachtete. Ja, ich kannte diesen Mann, aber er war mir dennoch schmerzhaft fremd. Manche Personen, so hörte man, verließen das Haus unter einem Vorwand und blieben verschwunden. Nach Jahren kamen sie auf demselben Weg zurück, gezeichnet von dem, was sie erlebt hatten, deutlich anders, aber immer noch sie selbst.

Warum eigentlich? Was hat ein Erwachsener noch mit dem kleinen Kerl zu tun, der die Windeln genässt hat? Mit dem, der auf Bäume geklettert ist und schließlich Zeugnisse ausgestellt bekam? Warum haben wir uns angewöhnt, von diesen vielen als einer Person zu sprechen?

Weil du ohne Gedächtnis und Erinnerung jeden Tag neu denselben Blödsinn machen müsstest, ohne je daraus lernen zu können, mahnte Erlacher. Und endlich stellten sich zu den Gefühlen, die mich bewegten, Bilder ein. Ich war ein kleiner Junge und schlich mich in das Schlafzimmer meiner Mutter. Auch in meinen Erinnerungen konnte ich sie nicht sehen, nur riechen: eine Mischung aus Creme, Puder, Parfüm und Haarspray, Düfte aus all den Dosen und Behältern, die dort auf der Frisierkommode aufgebaut waren und die sich erst an ihr zu einem neuen Ganzen verbanden. Der Spiegel auf ihrer Kommode hatte zwei Flügel. Als ich mich auf ihren Hocker setzte, konnte ich mich von allen Seiten begutachten. Ich dachte nicht etwa, das bin also ich; ich dachte, das bist du. Ich war mir nicht fremd, aber die Verbindung zwischen Ich und Du war lose, eher zufällig, sie hätte sich jederzeit wieder auflösen können, und dann hätte ein anderer vor der Frisierkommode meiner Mutter gesessen. Als ich schließlich einen Handspiegel nahm, um meinen Hinterkopf anzusehen, sagte eine Stimme in mir: Er betrachtet seinen Hinterkopf in einem Spiegel. Damit waren wir zu dritt.

Ich, du, er? Wenn solche Verbindungen erst einmal zerbrochen sind, versteht man, dass sie früher durch Gewohnheit und tägliche Einübung aufrechterhalten werden mussten. Wenn dir niemand mehr sagt, wer du bist und wie du heißt, verflüchtigt sich deine ganze Person wie Wasserdampf in der Atmosphäre.

Ich rollte mich zur Seite und schaute nach oben. Wolkentupfer auf klarem blauem Grund, dazu eine weißgelb strahlende Sonne. Das Gemeinsame an diesem Verwirrspiel und allen seinen Wendungen war, dass sie unter demselben Himmel stattfanden. Mit diesem letzten Gedanken schlief ich ein.

Die Hitze weckte mich bald wieder. Dennoch fühlte ich mich gekräftigt. Ich setzte mich unter einen Baum in den Schatten. Im leisen Rauschen der mächtigen Äste hörte ich das Knattern einer Fahne. Stück für Stück suchte ich die Krone mit den Augen ab. Da oben hing ein Hemd. Ein Scherz, böse Absicht? Egal, genau das brauchte ich! Nach ein paar Anläufen bekam ich den untersten Ast zu fassen und schwang mich auf. Der Rest war ganz einfach. Als ich wieder auf dem Boden stand, trug ich ein Buschhemd. Farblich eine Ohrfeige, es war in Tiefblau und Grellorange gehalten, und motivisch eine Peinlichkeit, auf der Rückseite war ein lächelnder, rundlicher Wal abgebildet, der eine Fontäne spie.

Der Rentner lag in seiner Klappliege, und auf der Kühltasche neben ihm stand ein Dosenbier. Aus einer Tube, die Lichtschutzfaktor 100 versprach, drückte er Sonnencreme. Als er absetzte, hinterließ er eine weiße Raupe, die Richtung Nabel zu kriechen schien. Dann sah er mich und rückte seine Brille zurecht. Meine alberne Erscheinung nötigte ihm ein Grinsen ab, aber auch ich konnte mir diese Regung nicht verkneifen, denn es war, als stünden wir vor unserem Spiegelbild.

So eine Witzfigur, meinte Wolfsgruber. Weit daneben, sagte Erlacher, denn sollte je einer von uns versuchen, den Sinn oder Unsinn unserer Existenz zu begründen, so könnte diese Erklärung gar nicht anders beginnen, als dass ein Mann in einem grellfarbigen, albernen Buschhemd vor einem Alten steht, der seinen Bauch mit Lichtschutzfaktor 100 eincremt. Das Schöne ist, dass der Mensch nicht bloß ein geworfenes Wesen ist, das an der Absurdität seiner Existenz verzweifeln müsste, denn hin und wieder begegnet man Gleichartigen, in denen man sich schlagartig wiedererkennt. Plötzlich geht durch die Oberfläche dieser kompakten und glatten Welt ein Riss, durch den wir uns in einem anderen sehen können und erkennen, wie wir wirklich sind. In diesem kurzen Moment sind wir uns ganz nahe.

»Hättest du vielleicht ein Stück Brot für mich?«, fragte ich und deutete auf seine Kühltasche.

»Freilich.«

Er öffnete den Deckel. Drinnen lagen sauber in Butterbrotpapier verpackt und nebeneinander aufgereiht Schnitten.

»Leberkäs, Schinken, Mortadella und Streichkäs mit Salami. Was magst denn?«

»Streichkäs und Schinken. Geht das?«

»Logisch.«

Ich nahm die Päckchen in Empfang, bedankte mich und ging.

Der Anblick der mit Streichkäse bestrichenen Brotschnitte rührte mich. Am liebsten hätte ich sie sofort jemand anderem gezeigt, um sie angemessen würdigen zu können. Alles war perfekt. Die gesamte Fläche war sauber und gleichmäßig bestrichen, da gab es keine Hügel oder Verdickungen, auch an den Rändern war kein Nachlassen zu bemerken. Das Brot war mit einem scharfen Messer in zwei Hälften geteilt worden, ohne dass Brot oder Käsemasse zerdrückt worden wären. Klar definiert wie geologische Formationen standen die Schichten übereinander. Auch verpackungstechnisch ließ sich mit den zwei übereinanderliegenden Hälften besser arbeiten als mit dem ungeteilten Ganzen. Ich aß die Brote mit gutem Appetit.

»Hey, Mr. Fisherman!«

Erst nach einer Weile begriff Wolfsgruber, dass wir gemeint waren.

»Hey, come on, Mr. Fisherman!«

Ich drehte mich um. Am Ufer des Flusses saßen zwei Schwarze, die mir heftig zuwinkten. Intuitiv verstand ich, warum. Ihre Hemden waren ebenso grellfarbig wie meines. Wir gehörten dem Stamm der Bunthemden an.

»What’s your name?«

Ich hatte mich nun schon eine ganze Zeitlang mit dieser Frage beschäftigt, ohne eine Antwort gefunden zu haben.

»Leo«, sagte ich, denn schließlich trug ich noch die Mappe meines verstorbenen Kollegen unter dem Arm, und eine andere Idee hatte ich nicht.

»Leo, perfect! Me Jacko, he Zaco.«

Beide amüsierten sich. Ich mochte ihr Lachen, das wie Glasperlen aus ihrem Mund kullerte, auf Anhieb. Ihre breiten, ausdrucksvollen Lippen waren klar gezeichnet und ihre Zähne weiß.

»Some smoke?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, reichten sie mir eine dicke Tüte. Schon nach ein paar Zügen hatte ich das Gefühl, vollkommen umgenietet zu werden, aber ich ergab mich von vorneherein allem, was da kommen würde, denn für einen, der so viele Fragen an sich und die Welt hatte, war das nicht der schlechteste Weg. Erleuchtung wurde mir jedoch nicht zuteil; im Gegenteil, ich rutschte auf einer schiefen Ebene immer weiter hinab. Gegen alle Logik, die ich mir zumindest eingebildet hatte, kam ich trotz dieses beständigen Hinabgleitens nicht an einem absoluten Tiefpunkt an, an dem ich hätte ausruhen können oder von dem aus es wieder aufwärtsgegangen wäre. Ich verlor den letzten Halt, hielt meine Oberschenkel an die Brust gepresst und vergrub mein Gesicht in den Armen.

»Problems, Massa?«, fragte Jacko.

Ich blickte kurz auf. Jacko und Zaco holten zwei Trommeln hervor, die unter einem Berg von Decken begraben lagen. Sie waren von unterschiedlicher Größe, die eine schmal und die andere ausladend.

»We call it Djembé! Listen to the drums! They talk to you.«

Sie begannen zu spielen. Für mich klang es fürchterlich, denn sie stimmten sich nicht aufeinander ab, vielmehr hielt jeder seinen eigenen Rhythmus. Das anhören zu müssen, war eine Qual, die mich noch mehr zerriss. Ich war so neben der Welt wie die beiden neben sich. Ich hätte schreien mögen, unterdrückte das, musste sie aber wenigstens bitten aufzuhören. Die beiden arbeiteten hochkonzentriert. Zaco blickte kurz auf, legte den Zeigefinger an sein Ohr und nickte mir aufmunternd zu. Und plötzlich begriff ich. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass ich die Musik zu lesen imstande war. Ich war zwar nicht ganz sicher, ob ich alles richtig auffasste, aber nach meinem Musikverstand schlug Jacko auf der fülligen Trommel einen Zweiviertel- und Zaco auf der schmalen einen Dreivierteltakt. Sie schichteten die unterschiedliche Rhythmik kunstvoll übereinander. Bei oberflächlichem Hinhören klang es wie Zerwürfnis, Streit oder Krieg. Vertiefte ich mich, fanden die beiden Linien immer wieder zu beglückender Harmonie zusammen.

Mir kamen die Tränen. Das waren wir, ich und die Welt, ein kurz aufscheinender Gleichklang in der Zerrissenheit. Erlacher hatte es auf den Punkt gebracht.

Deutlich erleichtert, fast ein wenig beschwingt, spazierte ich später auf einem breiten, unbefestigten Weg. Ich befand mich in einem weitläufigen Park. Die Leute lagerten überall auf den Wiesen, sonnten sich, spielten Ball oder Frisbee. Endlich kam ich an eine Tafel mit einem Übersichtsplan: Englischer Garten München – Nordteil.

München! Zum ersten Mal begriff ich, wo ich gelandet war. Ich kannte München, mir war aber klar, dass ich nicht von hier stammte. Die Stadt war mir vertraut wie eine freundliche, entfernte Bekannte.

Mathäser! Ein Gemurmel hob in mir an, es steigerte sich, wurde zu einer dichten Klangwolke aus Stimmen, Gelächter und Rufen, dazu klapperte Geschirr, klirrten Gläser, und immer wieder war das dumpfe Klacken von irdenen Krügen zu hören, mit denen angestoßen wurde. Ineinandergeschachtelte Räume, ein weitläufiger Saal, hoch oben von der Decke hingen wagenradgroße hölzerne Gerüste, auf denen Lampen wie dicke Kerzen befestigt waren, Säulengewölbe und dazwischen immer wieder kreuzförmig angeordnete Verschläge aus dunklem schweren Holz, mit denen man Séparées geschaffen hatte. Genau: Mathäser, das war ein Ansatzpunkt, vielleicht kannte ich dort jemanden.

Der Karte zufolge floss neben mir der Schwabinger Bach, mein Standort war unweit der Schwabinger Bucht. Nach einer Weile langte ich auf diesem Weg in einem Biergarten an. Offenbar war Werktag, trotz des schönen Wetters war der Andrang überschaubar. Ich schaute an mir hinunter. In meinen Delphinshorts und dem Buschhemd wirkte ich wie ein Fremdkörper. Die anderen Gäste waren besser gekleidet, und ich schämte mich, in diesem grellen Aufzug herumlaufen zu müssen. Neben einem der Tische standen ein Wagen voller leerer Bierkrüge und Plastikboxen mit benutztem Besteck. Zwischen die Boxen war eine grüne Schürze gestopft. Ich zog sie hervor und band sie mir um. So fühlte ich mich den Blicken der anderen wenigstens nicht mehr schutzlos ausgesetzt. Ich strich den hüttenartigen Bau entlang, in dem Selbstbedienungstheken für Speisen und Getränke untergebracht waren.

War ich Biologe? Ich verwarf diesen Geistesblitz sofort wieder, aber das Bild eines zotteligen Tiers, das mit gesenktem Kopf einen Waldweg entlangtrabt, tauchte vor mir auf. Ein Wolf in der Fotofalle. Wahrscheinlich hatte ich einen Artikel in einem Magazin gelesen. Ressort Wissenschaft. Wir können fremde Wesen sehen, verstehen und ihr Verhalten beschreiben. Was uns aber unwiderruflich von ihnen trennt, so hieß es, ist, dass wir die Welt nie aus ihrem Kopf heraus begreifen werden, weil wir uns nicht in ihr Inneres hineinversetzen können. Das war falsch! Ich wusste, was im Kopf eines solchen hungrigen Tiers vorging, nämlich genau das, was in mir rumorte. Ich würde dem Nächstbesten, der die Kasse passiert hatte, das gut gefüllte Tablett aus der Hand reißen und mich darüber hermachen. Sollte es jemand wagen, mich zu stören, würde ich meine Hauer zeigen und knurren.

Vor mir wurde eine Tür aufgestoßen. Ein verschwitzter Koch mit fleckiger weißer Jacke stand vor mir.

»Endlich!«

Ich wartete ab.

»Du kommst doch für den Fritz?«

Wolfsgruber gab mir einen Schubs.

»Ja.«

Ich hatte nicht viele Chancen, mit einem Nein wäre ich aus dem Spiel gewesen. Er sah mich an. Vermutlich wirkte ich mager und verfallen in meiner grünen Schürze.

»Hast schon was gegessen?«

»Nein.«

»Dann komm mit!«

Ich ging hinter ihm her in die Küche. Im Gehen nahm er einen Teller vom Stapel und eine Kelle von der Stange, durchmaß mit energischem Schritt Wasserdampf und Fettschwaden, klatschte Kartoffelsalat aus einem Bottich darauf, legte das dicke, braungeschmurgelte Endstück eines Leberkäs darauf, das unter der Infrarotlampe lag, packte zwei Semmeln dazu und komplimentierte mich wieder zur Tür hinaus.

»Viertelstunde, dann geht’s los! Alles klar?«

Ich nickte und widmete mich ganz der gewaltigen Portion, die er mir aufgetan hatte.

Vor ein paar Stunden war ich wiedergeboren worden, jetzt saß ich da und starrte den Leberkäs samt Kartoffelsalat mit demselben Erstaunen an, mit dem ich mich vor der Frisierkommode meiner Mutter gemustert hatte. Erinnerungen sind nicht nur in unserem Hirn abgelegt, sie ergreifen auch von unseren Gliedmaßen Besitz. Ich, und damit meine ich den Teil von mir, mit dem ich mich eins fühlen durfte, ohne Fragen stellen zu müssen, ich wusste genau, wie man Besteck in die Hand nahm, das große Stück zerkleinerte, aufspießte und dazu Kartoffelsalat auf die Gabel schob. Dieses Gedächtnis war intakt, trotzdem gab es einen anderen Teil meiner Person, der mich drängte, das alles in Frage zu stellen. Leberkäs, allein der Name schon, was ist denn das? Kann man denn dieses rotbraune, schwammartige Gebilde wirklich essen? Und zu guter Letzt schwebte über mir eine Art Aufzeichnungsapparat, der in diesem Moment festhielt, dass diese Person da unten an einem Tisch sitze und gleich Leberkäs mit Kartoffelsalat verzehren werde. Ich blickte um mich. Womöglich bemerkten andere meine Verwirrung, stellten fest, dass bei mir etwas nicht normal war, und ließen mich abholen.

Ich kniff mich in den Oberschenkel. Schmerzen empfindet man doch immer als real, vielleicht wurde mir von dort aus die richtige Perspektive gewiesen. Erlacher machte sich mit einem Räuspern bemerkbar. Die Welt besteht, sagte er, immer aus deinen Erfahrungen, dem Tatsächlichen und dem Möglichen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Schon – aber was war dann mit dem Eigentlichen, der Lösung des Rätsels, wer ich war, warum ich hier saß und Essen anstelle eines Unbekannten ergattert hatte, der einen Mann namens Fritz hätte ersetzen sollen? Wie kam es, dass ich mich verloren hatte und als Ersatzmann für einen Ersatzmann dasaß?

Erlacher überraschte mich erneut mit seinem Tiefsinn. Dass wir für einen anderen einspringen, macht unser Leben aus. Es ist unsere Bestimmung. Schau dir den Hageren da drüben an! Natürlich steckt in seiner Hosentasche ein Pass mit seinem Geburtstag und seinem Namen. Aber was wäre gewesen, wenn sich seine Eltern früher, später oder vielleicht gar nicht kennengelernt hätten? Er ist der Ersatzmann für alle diejenigen, die durch diese leichte Verschiebung an seiner statt da sitzen könnten. Und so hat irgendjemand für dich, der du so unerwartet ins Leben zurückkehren durftest, den Platz geräumt.

War das jetzt messerscharfe Logik oder brüllender Wahnsinn?

Vor meinem inneren Auge tat sich ein großer Saal auf, in dem unzählige Flämmchen flackerten, wenn auch jedes für sich so unscheinbar, so kurz vor dem Verlöschen, dass sie kein Licht mehr spendeten. Das waren die armen Seelen derer, die fast auf die Welt gekommen wären. Dann aber war das Kondom wider alle Wahrscheinlichkeit doch nicht gerissen, das Paar war gestört worden, die Schwangere erlag einem Unfall, oder das Rendezvous musste verschoben werden. Mich schwindelte.

Ein folgerichtiger Gedanke, sagte Erlacher, es kann nur eine begrenzte Anzahl von Mitspielern geben! Indem du den Platz einnimmst, den man dir zuweist, schließt du andere aus. Du bist ihnen zuvorgekommen, oder man hat dich vorgezogen – dieser Schuld musst du dir stets bewusst bleiben. Nichts von dem, was dir widerfährt, war ausschließlich dir zugedacht. Große wie kleine Ereignisse sind wie Sternschnuppen, wenn sie vom Himmel herunterfallen, ziehen sie einen Schweif von Möglichkeiten hinter sich her.

Wolfsgruber knurrte wie ein Hund. Der Hagere schaute unter den Tisch, auch ich erschrak. Überflüssiges Gewese, sagte Wolfsgruber, fürs Erste kommt man weit genug, wenn man den Erwartungen der anderen entspricht. Was Erlacher dir da einflüstert, behältst du lieber für dich. Entscheidend ist, dass man zur rechten Zeit am rechten Ort ist und nie vergisst, den Finger zu heben! Also, iss jetzt endlich! Ich gehorchte, schon um diesen Träumereien, die ständig durch meinen Kopf hindurchsickerten, Einhalt zu gebieten.

Anschließend fuhr ich, wie mir der Koch anwies, mit dem Wagen herum, sammelte Krüge, Geschirr und Besteck ein und lieferte sie an der Spülanlage ab. Immerhin hatte ich ein Essen erhalten, und gegen Abend, als der erwähnte Fritz dann eintraf, steckte mir der Koch einen Fünfzig-Euro-Schein zu. Darüber konnte ich mich nicht beklagen. Zumindest war damit ein Grundstein für meine Rückkehr in das Leben gelegt.

Es war dunkel geworden. Unter den ausladenden Bäumen des Wirtsgartens war eine kleine Bühne aufgebaut, erleuchtet von einer Kette aus bunten Lampen. Die Musiker standen bereits auf der Bühne. Das Klatschen und Rufen der Leute hatte etwas Forderndes bekommen. Es tue ihm leid, sagte der Gitarrist endlich, nachdem er sich mit seinen Kollegen beraten hatte, aber die Band müsse heute Abend leider unvollständig bleiben. Der Schlagzeuger sei auf dem Weg hierher in einen Unfall verwickelt worden. Sie gäben aber trotzdem ihr Bestes. Pfiffe ertönten.

»Oder einer von euch kommt zu uns herauf und spielt mit?«

Zwar gab es Gelächter aus dem Publikum, aber Wolfsgruber wusste sofort, dass diese Aufforderung mir galt, und schob an. Ohne zu zögern, erklomm ich die Bühne.

»Wer bist denn du?«

»Der Leo.«

»Hast du auch einen Nachnamen?«

»Leo Perl!«

Von dem Publikum dort unten bekam ich nichts mit. Ich war ganz bei mir. Dann aber, als wäre auf die graue Menge ein Spot gerichtet worden, streifte mich eine kurze, heftige Wahrnehmung. Nach der Nennung meines Namens riss ein Mann hinten, an einem der Tische, an denen bedient wurde, den Kopf herum. Ganz plötzlich war aus dem Bild ein Detail herausvergrößert worden. Irritiert versuchte ich, es festzuhalten, aber es war sofort wieder verschwunden. Hatte ich Visionen?

Ich setzte mich hinter das Schlagzeug und packte die Trommelstöcke. Sie fühlten sich gut an. Meine Zuversicht war groß, ich konnte das.

»Zum Anfang spielen wir immer einen Zwiefachen«, flüsterte der Gitarrist.

»Was ist denn das?«

Er verzog sein Gesicht.

»Oje. Zweimal Dreiviertel-, dann zweimal Zweivierteltakt.«

Zum zweiten Mal an diesem Tag sprach die Trommel zu mir. Die wirklich große Aufgabe war zweifellos, das Widersprüchliche und Zerreißende miteinander in Einklang zu bringen, so wie es Jacko und Zaco fertiggebracht hatten. Für mich genügte es im Moment jedoch vollauf, wenn ich eines hinter das andere schichtete.

»Auf geht’s!«

Beim Spielen merkte ich, dass ich kein routinierter Schlagzeuger war. Den Rhythmus allerdings beherrschte ich, er lief in mir ab wie ein Uhrwerk, und ich wusste jederzeit, wo die Eins zu Beginn eines Takts war. Mit dieser Gewissheit im Hintergrund konnte ich nicht mehr viel falsch machen. Nach zwei Stunden stand ich auf, erhielt freundlichen Beifall und bekam von dem Gitarristen einen Schein zugesteckt.

»Wenn du willst, kannst du morgen wiederkommen?«

Ich sagte weder ja noch nein. Einen Plan hatte ich nicht, ich wollte endlich weg aus dem Trubel. Das Geschrei hatte zugenommen, die Stimmen waren zänkischer geworden, das Aufeinanderstoßen der Krüge klang bedrohlich. Ich hatte heute mehr erlebt, als ich aushalten und verarbeiten konnte. Ich wollte allein sein. Mach es wie die Lilien auf dem Felde, sagte Erlacher, sie säen nicht, sie ernten nicht. Zum ersten Mal kam mir der Verdacht, dass dies die Stimme eines Pfarrers war. Jedenfalls kam der Hinweis wie von der Kanzel herab. Sorgen machte ich mir auch keine, die Luft war noch mild, irgendwo würde ich eine Schlafstelle finden. Die weitläufigen Wiesen waren von Bäumen gesäumt, und dort fand ich, was ich gesucht hatte: Zwischen zweien war eine Hängematte aufgespannt. Ich lag eine Weile, schaukelte hin und her und blickte hinüber zur Stadt, von der nur eine Wolke aus Licht wahrzunehmen war, die über den Bäumen lag und den Himmel erleuchtete.

Früh wachte ich auf. Mein letzter Traum war, dass ich mich schlafend stellte. Eine Stimme würde mich wecken, sie riefe meinen Namen, und meine Erinnerung würde zurückkehren. Ich hörte das Tappen von nackten Fußsohlen auf einem gefliesten Boden, eine Tür öffnete sich, und ich schlug die Augen auf. Aber die Welt war so, wie ich sie gestern Abend verlassen hatte, wenn auch morgendlich frisch. Die Sonne stieg langsam aus den Bäumen hervor und erklomm den Himmel. Die Vögel zwitscherten, und meine Hängematte war ein wenig feucht vom Morgentau. Ich horchte in mich hinein und stellte fest, dass ich mich gut fühlte. Allerdings hatte ich Hunger. Zunächst jedoch badete ich in der Isar und wusch mich. Dann machte ich mich in südlicher Richtung auf. Ich war bänglich und spürte ganz deutlich, dass ich mich in meiner gegenwärtigen Verfassung nicht in die Stadt wagen konnte. Nur in meiner Naturenklave fühlte ich mich sicher. Ich hatte keinen Stand mehr in dem Leben da draußen.

Ein vertrauter Geruch von Kaffee wehte heran. Hinter den Büschen entdeckte ich einen Kiosk. Geld hatte ich ja, also ging ich hinüber. Der Kiosk war auch innerhalb des Englischen Gartens eine grüne Idylle: Blumenkästen und -kübel umgaben ihn, eine von Rankgewächsen überwucherte Pergola war angebaut, und auch das Dach war bepflanzt, wie Kissen hingen blaue Stauden herab. Ich bestellte einen Kaffee und ein Hörnchen dazu. Ein großer schlaksiger Mann mit schütteren, graublonden Haaren streckte seinen Kopf durch die Luke. Er wirkte ein wenig bucklig, aber das mochte von dem niedrigen Kiosk und dem für ihn zu tief angesetzten Fenster kommen.

»Milch, Zucker?«

Die Frage traf mich unvorbereitet. Der Alltag steckte voller Entscheidungen, die ich nun alle wieder neu aufrollen musste. Die Zeit, die eigenen Vorlieben in Ruhe abzuwägen, hat man jedoch nicht. Der Einfachheit halber nahm ich Zucker. Der lange Kerl schlurfte nach hinten und holte eine Schachtel mit Zuckertütchen, die er zur Selbstbedienung nach draußen schob. Dabei fiel mein Blick auf das Schild, das er innen aufgehängt hatte: Aushilfe gesucht.

»Haben Sie schon jemand?«

Er nahm mich zunächst einmal in Augenschein.

»Nein. Wäre für ein paar Tage.«

Dann verschwand sein Kopf im nicht mehr einsehbaren Bereich, und ich hatte nur noch das mit einem Löwenkopf bedruckte T-Shirt vor Augen. Das Raubtier riss sein mächtiges Maul auf, zeigte furchterregende Zähne und war von einer Mähne umgeben, die so hellgelb wie Flammen um sein Haupt züngelte.

»Und nur schwarz«, sagte er von oben.

Urplötzlich wurde mir schwindlig, ich wusste nicht mehr, worüber wir sprachen. Wieder bekam ich Angst, man könnte mich als Verrückten namhaft machen. Ständig musste ich mich konzentrieren, um keine Fehler zu begehen. Ich versuchte, meinen Kopf durch die Luke zu schieben, um wieder Blickkontakt mit ihm aufnehmen zu können. Ich sah sein Pokerface und verstand, dass wir über Sozialversicherungsbetrug und nicht den Kaffee sprachen.

»Ich mache es!«

Jetzt beugte er sich doch wieder herab zu mir.

»Sauber! Obwohl du nicht weißt, was ich zahle?«

»Wird schon passen.«

»Allerdings!«, sagte er in einem Ton, als wäre ich ihm zu nahe getreten.

Er legte den Kopf schräg, so dass seine ausgedünnte Tolle zur Seite fiel. Von wegen Löwe, meinte Wolfsgruber, der sieht aus wie ein Kakadu. Tatsächlich sprang seine Nase wie ein gebogener Schnabel aus dem Gesicht, und sein Resthaar stand in der Mitte hoch wie eine räudige Federhaube.

»Ein Zehner pro Stunde. Es reicht, wenn du um acht Uhr aufmachst und bei Dunkelheit wieder zu. Sagen wir, hundertzwanzig Euro am Tag?«

Ich schlug ein. Meinen Geldschein schob er wieder zurück.

»Der Kaffee geht aufs Haus. Ich habe jetzt noch einiges an der Backe. Setz dich da draußen auf die Bank, schnapp dir eine Zeitung und trink in Ruhe aus! Dann zeige ich dir, was du zu tun hast.«