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Urs Zobel betreibt das kleine Hotel Swiss in der Münchner Schillerstraße. Das Bahnhofsviertel ist Rotlichtbezirk und Arbeitsstrich, wo sich die Nationalitäten mischen und die Gestrandeten sammeln. Dank der spekulativen Veredelung der Gegend wird die Schrottimmobilie bald zu einem Juwel werden. Urs ist der Sonderling unter all den muskelbepackten Vollmännern, den selbstbewussten Barbesitzerinnen und Händlern in seinem Kiez. Eines Abends gerät direkt vor seinem Hotel ein Auto aus der Kurve, rast den Bürgersteig entlang und bringt mehrere Menschen zu Tode. Die sozialen Medien befeuern die Deutung als islamistisches Attentat, die Polizei postet Warnungen. Doch Urs hat das Geschehen anders erlebt. Auf dem Beifahrersitz des Porsche Cayenne glaubt er den Mann zu erkennen, der vor Jahrzehnten sein Leben zerstört und ihn fast getötet hat. Aber kann Urs seiner Wahrnehmung trauen? Ausgerechnet am Tag vor dem Unfall hat er von dem in Wodka eingelegten Fliegenpilz gekostet, den ein seltsamer Hotelgast aus Sibirien ihm kürzlich als Geheimrezept der Berserker hinterlassen hat. Als er seine Eindrücke sortieren und überprüfen will, scheint er mit seinen Fragen in ein Wespennest zu stechen. Nun will er es erst recht wissen, doch die Reise in die Vergangenheit hat ihren Preis …
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Seitenzahl: 301
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MAX BRONSKI (Franz-Maria Sonner), geboren 1953 in Tutzing, ist Autor zahlreicher Kriminalromane. 2019 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis für den besten Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet; zuletzt erschien Halder (2021). Max Bronski lebt in München und Hannover.
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus 2021
Deutsche Erstausgabe März 2023
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert
www.majabechert.de
Porträt des Autors Seite 2:
© Monika Stein
ISBN EPUB 978-3-96054-316-9
DER ANDERE ZUSTAND
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
GORGO
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
ZWEI VERLORENE SEELEN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Berserker brüllten,
dies war ihr Kampf,
Wolfshäute heulten,
und schüttelten die Eisen
Finnur Jónsson, Den Norsk-Islandske Skjaldedigtning
Aber seine eigenen Mannen (scil. Odins) gingen
ohne Brünnen, und sie waren wild wie Hunde
oder Wölfe. Sie bissen in ihre Schilde und waren
stark wie Bären oder Stiere. Sie erschlugen das
Menschenvolk, und weder Feuer noch Stahl
konnte ihnen etwas anhaben. Man nannte
dies ›Berserkergang‹.
Snorris Königsbuch (Heimskringla), Erster Band
When the men on the chessboard get up
and tell you where to go
And you’ve just had some kind of mushroom,
and your mind is moving low
Go ask Alice, I think she’ll know
Jefferson Airplane, White Rabbit
Es war ein langsames Erwachen, eines, das so gemächlich und gelassen wie das Morgengrauen heraufzog. Überraschenderweise hielt mich eine Frau fest umfangen. Eher fürsorglich, Leidenschaft verflüchtigt sich nicht so vollständig, da wären zumindest Spuren im Gedächtnis haften geblieben. Vorsichtig löste ich mich aus ihren Armen und setzte mich auf. Um ihren Leib war eine Schweizer Armeedecke geschlungen, wie wir sie im Hotel Swiss in jedem Zimmer bereithalten. Auch ich, so stellte ich fest, war in eine solche Wolldecke eingehüllt. Sie hielt ihr Gesicht in die Arme vergraben, nur ihr dichter, dunkler Schopf war zu sehen, aber auch so erkannte ich Olga vom Zimmerservice.
Über mir ein noch blaugrauer Himmel, dessen Farbe durch die aufgehende Sonne immer mehr an Leuchtkraft gewann. Die Uhr drüben am Hauptbahnhof zeigte fünf Uhr dreißig an. Von meinem Ausguck hatte ich einen unverstellten Blick nach Osten, wo sich die Sonnenstrahlen auf blanken Schienensträngen zur Innenstadt hin verlängerten. Ich befand mich mit Olga oben auf dem Dach, dessen First mit einem breit laufenden Kupferblech so abgeflacht war, dass man sich dort bequem hinlegen konnte. Aus feuerpolizeilichen Gründen war im Speicher ein Ausstieg eingebaut worden. Auf einer Leiter stieg man ganz nach oben und hatte dann Zugang zu allen umliegenden Kaminen. Allerdings wusste ich nicht mehr, wann und wie ich hochgeklettert war, und vor allem, warum mir Olga Gesellschaft leistete. Ich schaute nach unten. Die Luke stand nach außen gestemmt offen.
Ich verfügte über keine genaue Erinnerung mehr an meine Eskapaden. Das war beunruhigend. Wahrscheinlich hatte ich auf den Dächern einen Ausflug unternommen, ich hielt mich schließlich nicht zum ersten Mal in luftiger Höhe auf. Da ich aber wohl stundenlang nicht bei Verstand gewesen war, konnte ich nur dankbar sein, alles unbeschadet überstanden zu haben. Ich horchte in mich hinein. Eigentlich fühlte ich mich kräftig und ausgeruht, und so rasch, wie sich in meinem Kopf alles zu ordnen begann, würde ich in Kürze wieder alle Sinne beisammenhaben.
Allerdings hatte ich von diesem Wundertrank deutlich zu viel erwischt. An dieser Einsicht führte kein Weg vorbei. Der Russe hatte nicht übertrieben.
Igor Lönnrot stand eines Tages an der Rezeption. Draußen lag später Februarschnee, die Temperaturen waren so eisig, dass unser automatischer Türöffner seinen Dienst einstellte. Igor trug eine Pelzmütze, die ihm schief auf dem Kopf saß, und einen Fellmantel, den ich bei sibirischen Büffelhirten vermuten würde. Allerdings hatte er ihn trotz der Kälte offenstehen. Das bestickte Hemd darunter war weit ausgeschnitten, so dass seine haarige, magere Brust hervorlugte. Olga, die am Empfang Dienst machte, hielt ihn für betrunken, denn sein Blick wirkte unstet, die Augen glasig und die wenigen Barthaare standen borstig gesträubt ab. Daher holte sie mich aus dem Büro. Auf mich machte er jedoch den Eindruck eines Schamanen, den es aus irgendeiner polaren Tundra zu uns verschlagen hatte. Ich habe keine Angst vor martialischen Männern. Sie stellen ihre Geschichte aus und sind zumeist harmlos.
Igor musterte mich, und wenn ich das richtig deutete, was er mit seinen Pupillen anstellte, so war es ein Versuch, einen Feldstecher von ganz fern auf ganz nah einzustellen. Er befinde sich im anderen Zustand, sagte Igor, sei aber nun erschöpft und brauche ein Zimmer, um sich ausruhen und erholen zu können.
»Wie meinen Sie das: anderer Zustand?«, fragte ich.
Statt einer Antwort legte Igor die Hand ans Ohr und deutete mit dem Daumen nach oben.
»Der Staubsauger ist verstopft.«
Auf eine so unsinnige Antwort war ich nicht gefasst gewesen. Ich war ernsthaft entschlossen, ihn hinauszuwerfen. Noch einmal deutete er mit dem Daumen nach oben. Tatsächlich vernahm ich nun das entfernte Geräusch eines Staubsaugers. Schließlich erstarb es. Dann klingelte das Telefon. Hilde war am Apparat. Der Staubbeutel sei randvoll, sie habe keinen mehr zur Hand. Ob es unten im Magazin noch ein Paket gebe?
Igor lächelte und machte vor mir in Augenhöhe mit beiden Händen Dreh- und Schraubbewegungen, als gelte es in meinem Kopf einiges zu justieren. Ich entschied mich, ihm ein Zimmer zu überlassen. Aber auch das hatte er bereits gewusst, denn er machte eine Verbeugung und sagte:
»Ich bedanke mich auf das Allerherzlichste!«
Ein paar Stunden später rief er mich über das Haustelefon an und fragte, ob ich Zeit hätte, ihm Gesellschaft zu leisten. Er verspüre einen unbändigen Drang zu erzählen. Nachdem ich die ganze Zeit vorher dagesessen und Mutmaßungen angestellt hatte, was Igor wohl für ein Mensch sei, sagte ich sofort zu. In Kürze würde ohnehin Erwin, neben Olga mein zweiter fester Mitarbeiter, eintreffen, um die Nachtschicht zu übernehmen. Ich bereitete eine Kanne Tee und ein paar Sandwiches zu und ging zu ihm nach oben.
Das Zimmer war dunkel, nur durch die Vorhänge sickerte das Licht der Leuchtreklame. Igor saß auf seinem Fellmantel, den er auf dem Boden ausgebreitet hatte. Auf dem Tisch bemerkte ich einen bewegten Lichtpunkt, ein zumeist blau glimmendes Flämmchen am Docht einer kleinen Lampe. Es speiste sich aus aromatisiertem Öl, das einen buttrig-sauren Geruch mit einer deutlichen Note von nassem Ziegenfell im Raum verbreitete. Ich dachte sofort, ohne dass ich je damit in Berührung gekommen wäre, an Yak-Butter. Die fremde Atmosphäre verwandelte mein Zimmer Nummer acht in Igors Jurte, in der ich zu Gast war. Nichts schien mir natürlicher, als mich ebenfalls auf den Boden zu setzen. Igor quittierte es mit einem zustimmenden Lächeln. Er widmete sich interessiert den Sandwiches, hob dazu die obere Brotscheibe an, um den Belag zu inspizieren, und begann dann mit gutem Appetit zu essen. Ich goss Tee ein, wir tranken, und ich hatte den Eindruck, dass etwas Farbe in seine bleichen Wangen zurückkehrte.
Dann beging ich den Fehler, noch bevor er anheben konnte zu erzählen, unser Gespräch mit der Frage zu eröffnen, was ihn denn nach München geführt habe? Er schüttelte den Kopf.
»Das willst du nicht wissen.«
Er hatte recht, das wollte ich eigentlich nicht wissen. Später überreichte er mir, neben seinem eigentlichen Geschenk, von dem noch zu sprechen sein wird, ein Amulett aus Birkenrinde. In einem Anfall von gehässiger Besserwisserei, die sich gern als Wahrheitssuche tarnt, blätterte ich Tage danach die verflossenen Veranstaltungskalender und Anzeigen in Münchner Zeitungen durch und stieß auf einen Hinweis, dass im Olympia-Einkaufszentrum eine Schau mit sibirischem Kunsthandwerk stattgefunden hatte. Sofort legte ich das Blatt beiseite. In der Tat, das wollte niemand wissen. In vielen Situationen hat man die Wahl zwischen einer entzauberten Welt und einer voller Wunder. An diesem Abend entschied ich mich für letztere.
Auf Wegen, die ich in seiner sprunghaften Rede nicht mehr nachvollziehen konnte, versuchte er mir zu erklären, dass seine Familie ursprünglich aus Skandinavien kam und über Finnland nach Russland ausgewandert sei. In welchen ausgreifenden zeitlichen Dimensionen er dachte und erzählte, wurde mir erst klar, als er mich darauf hinwies, dass auch Odin seine Heimat verlassen habe und aus dem Türken- ins Nordland gezogen sei, um sich dort niederzulassen und seine Götterdynastie zu gründen. Ich verlor schon deswegen den Faden, weil ich mir solche Details einzuprägen versuchte. Erkan in seinem Handyladen gegenüber hatte sich sicher noch nie bewusst gemacht, dass der nordische Göttervater aus seinen Reihen stammte.
Den leitenden Gedanken von Igors Rede verstand ich erst, als er auf die Berserker zu sprechen kam, aber bis dahin war es noch eine weite Strecke. Er stellte die Behauptung auf, dass nichts so sehr die ruhmreichen Reihen der Ynglinger, der schwedisch-norwegischen Könige göttlichen Ursprungs, gelichtet habe wie ihre allabendlichen Saufgelage. Manchmal auch irregeleitete Leidenschaft. Sein Blick war wässrig. Ich hatte keine Lust, mich für seine unglücklichen Liebschaften haftbar machen zu lassen, und quittierte die Bemerkung nicht mit der erwarteten Zustimmung. Er verfiel daher ins Anekdotische und schilderte, wie König Fjölnir sturztrunken nachts habe aufstehen müssen, um sein Wasser abzuschlagen, und auf dem Rückweg taumelnd in ein riesiges Metfass gestürzt und elend ertrunken sei. König Sveigdir habe nach dem Gelage versucht, in sein Schlafgemach zu gelangen. Wahrscheinlich kriechend. Dabei sei er dem unter einem Stein sitzenden Zwerg begegnet, der ihn aufforderte, hereinzukommen, wenn er Odin begegnen wolle. Sveigdir sei der Einladung nachgekommen und war fortan für immer verschwunden. König Agni habe Skalf, die schöne Königstochter aus Finnland, geraubt. Nach der Hochzeitsfeier habe sie ihren berauschten Mann gebeten, ihr zuliebe das goldene Halsband anzulegen. Er habe gehorcht und sei danach in einen tiefen Schlaf gefallen. Vermutlich habe er gar nicht bemerkt, dass Skalf ihn an dem Halsband erhängte. Igor streckte seinen Zeigefinger nach oben, um das Exempel weiblicher Niedertracht mit einem Ausrufezeichen zu versehen. Ingjald, so fuhr er fort, habe sechs Gaukönige betrunken gemacht und sie umgebracht, indem er kurzerhand die ganze Festhalle habe abbrennen lassen.
Ich hob die Hände. Diesem Faktenreichtum konnte man sich nur ergeben. Rasch fügte er noch hinzu, dass auch Gudröd beim Trinken erstochen worden sei.
»Hast du schon einmal etwas von den Berserkern gehört, Urs?«
»Nein.«
»Dein Name klingt aber, als würdest du dazugehören?«
Ich überlegte. Meinen Vornamen hatte ich ihm nicht genannt. Aber er schien eben so manches Überraschende aus dem Ärmel schütteln zu können.
Als Land in Sicht kam, reichte Haki, der Seekönig, Ivar, einem hochgewachsenen Kämpen, den Lederbeutel. Der wusste, was zu tun war, und verteilte den Inhalt an eine ausgewählte Schar. Die Männer nahmen sich die getrockneten Pilzscheiben und kauten sie bedächtig. Danach legten Alrik, Eirik, Alf und Yngvi ihre Kleidung ab. Nur das Wolfsfell, das sie um den Hals geknüpft trugen, behielten sie an. Der kalte Nordwind hatte nicht aufgehört zu blasen. Sie zitterten und froren sichtlich. Ihre Zähne klapperten. Die ersten Bewegungen waren noch unbeholfen, sie wirkten steif. Dann begannen sie zu schreien, reckten die Fäuste zum Himmel und trommelten damit an ihre Brust. Dabei vollführten sie eine Art Tanz, stampften auf, dass die Bohlen des Schiffs knackten, gingen in die Hocke, sprangen hoch, traten und schlugen alle von sich weg, die sich noch in ihre Nähe wagten. Ihre Schreie wurden immer tierähnlicher, ein Grollen und Brüllen von tief unten herauf. Die Gesichter schwollen an, röteten sich. Die wutverzerrten Grimassen blieben ihnen schließlich wie eine Maske anhaften. Es war, als ob ein innerer Druck den Schädel aufsprengen wollte. Das Blut schoss nach oben und presste die Hirnmasse zusammen, bis sich Alfs Augen blutrot färbten. Eirik griff in das Kohlebecken, schaufelte glühende Asche heraus, rieb sich damit ein, führte schließlich etwas davon zum Mund und schluckte es hinunter. Rußverschmiert heulte er auf, Eirik war nun kein Mensch mehr, sondern ein Ungeheuer. Die anderen taten es ihm nach. Ihre Haare waren zerzaust, und bald auch ihre Münder schwarz von Ruß. Yngvi biss in seinen Schild, hielt ihn mit den Zähnen fest im Mund und schüttelte ihn hin und her, als könnte er ein Stück herausreißen, Alf zerkaute einen Lederriemen.
Am Ufer hatte sich ein Haufen Bewaffneter zusammengerottet, um die Eindringlinge ins Meer zurückzutreiben, noch bevor sie landen und der Stadt größeren Schaden zufügen konnten. Als die vier dies bemerkten, stürmten sie nach vorne an den Bug, brüllten zu ihren Feinden hin. Endlich hatte ihr Furor Richtung und Ziel. Alrik kletterte den Drachensteven hinauf und bot den Verteidigern seine nackte Brust dar. Die am Strand, wiewohl in Überzahl, wichen zurück. In Raserei verfallene Männer wie sie, Kampfbesessene, hatte man bis dahin noch nicht gesehen. Alrik, Eirik, Alf und Yngvi waren Berserker, die vier tapfersten und wildesten der Schar.
»Warum erzählst du mir das, Igor?«
Dieses ganze Heldending mit Wikingerromantik berührte mich nicht, Rüstung, Schwert und Hörnerhelm waren mir egal. Igor beugte sich vor. Sein Gesicht war dem meinen so nah, dass ich jede einzelne Runzel lesen konnte. Dann sprach er in einem Tonfall und einem gelehrten Duktus, die einer anderen Person anzugehören schienen.
»Die unbedingte Konsequenz dieser Männer. Um ihre Entschlossenheit, ihren Mut und Kampfeswillen zu steigern, schützen sich die Berserker nicht, sie rüsten sich nicht mit Ausstattung, sondern mit Entblößung. Sie steigern die Schutzlosigkeit, treten dem Feind nackt gegenüber und finden so zu Unverwundbarkeit, die nur von innen kommen kann. Sie gehen den Weg der Angst zu Ende und überschreiten die Grenze, jenseits derer das alles nicht mehr zählt.«
Ich war erstaunt, dass er ansatzlos Gedanken von solcher Tiefe formulieren konnte, und sinnierte seinen Worten hinterher, die tatsächlich so viel von meinen eigenen Erfahrungen auf den Punkt brachten, wie mir das noch nie zuvor gelungen war. Igors Blick war erwartungsvoll, fast lauernd auf mich gerichtet. Er registrierte, dass seine Bemerkung bei mir angekommen war, und ließ seinen Oberkörper wieder in die ursprüngliche Lage zurücksinken. Ich verstand aber immer noch nicht, was das mit ihm und seiner Geschichte zu tun hatte. Doch dann wurde ich hellhörig.
»Dazu ist es notwendig, dass man sich in den anderen Zustand bringt. Deshalb kauten die Männer getrockneten Fliegenpilz.«
Am liebsten hätte ich laut losgelacht. Auch Lachen kann Anteilnahme ausdrücken, aber Igor wäre wohl beleidigt gewesen.
»Und du hast …?«
Igor nickte.
»Es verändert einen Menschen grundlegend. Nichts ist mehr, wie es war. Fluch oder Segen …?«
Seine rechte Hand wippte unentschieden hin und her. Dann holte er aus einer Jutetasche, die dem Olympia-Einkaufszentrum entstammte, eine abgegriffene Flasche ohne Etikett. Sie war mit einer trüben bräunlichen Flüssigkeit gefüllt.
»Ich habe den Pilz zusammen mit ein paar anderen Zutaten in Wodka eingelegt.«
Er reichte mir die Flasche.
»Für dich. Ich schenke sie dir. Aber Vorsicht, nur so viel!«
Er deutete einen schmalen Fingerbreit an.
»Diese Essenz hat Kraft. Manche überwältigt sie für immer, dir könnte sie tiefe Einsichten schenken.« Er lächelte und fügte hinzu: »Wenn du tatsächlich Mut hast.«
Ich betrachtete die schäbige Flasche und mit einem Schlag kam mir alles zweifelhaft vor. Eigentlich sah mein Gegenüber nicht wie ein Russe, sondern wie ein Penner aus. Und überhaupt! Ein Russe namens Igor Lönnrot, den es aus Skandinavien nach Sibirien verschlagen hatte? Sicher war nur, dass ich mit einem Mann zusammensaß, bei dem gerade ein mächtiger Fliegenpilzrausch abklang. Aber wen interessierte die Wahrheit? Ich wollte sie gar nicht wissen. Zum zweiten Mal entschied ich mich für die Welt der Wunder.
»Ich müsste mich noch ein wenig ausruhen«, sagte Igor. »Ich hoffe, dass ich deine Gastfreundschaft damit nicht über Gebühr beanspruche?«
Dass Igor das Zimmer nicht bezahlen konnte, war mir klar, aber auch ziemlich egal. Ich konnte mir das leisten, Besucher umsonst zu beherbergen.
»Keineswegs«, erwiderte ich. »Ich freue mich, dass du mein Gast bist.«
Er erhob sich, kreuzte die Arme vor der Brust und verbeugte sich. Zum Abschied überreichte er mir noch das Amulett aus Birkenrinde, dann ließ ich ihn alleine. Unten an der Rezeption gab ich Erwin den Hinweis, dass der Gast in Nummer acht unser Haus ohne Rechnung verlassen würde. Endlich legte ich mich ins Bett. Als ich am anderen Morgen wieder meinen Dienst antrat, war Igor verschwunden. Erwin sagte, auch er habe ihn nicht gehen sehen.
Auf ein Kreppband malte ich, so gut ich konnte, einen Totenkopf und beklebte die Flasche damit. Sicherheitshalber stellte ich sie zu den Putzmitteln. Dort stand sie wochenlang unangetastet, bis gestern Abend.
Ich saß in meiner Wohnung im Souterrain. Oben hatte Erwin den Dienst an der Rezeption übernommen. Draußen war ein lauer Abend, aber ich brachte es nicht über mich, spazieren zu gehen. Sogar gegen das Lesen hatte ich an diesem Abend einen unerklärlichen Widerwillen. Wahrscheinlich war es der familienseitig verbliebene Restprotestantismus in mir, der mich dazu brachte, Herd und Edelstahlflächen in der Hotelküche zu polieren. Als ich im Schrank mit den Putzmitteln nach einem weichen Lappen Ausschau hielt, sah ich die Wodkaflasche in der Ecke stehen. Eigentlich war sie genauso unscheinbar wie sonst, aber irgendein Funke sprang über und plötzlich wirkte sie auf mich, als sei sie von innen her erleuchtet und ihr Inhalt appetitlich bernsteinfarben. Trotzdem tat ich, als hätte ich nichts bemerkt, und wienerte weiter. Als ich die Flasche dann endlich hervorholte, wusste ich, dass die Entscheidung schon viel früher gefallen war. Ich hatte nur noch ein paar verschämte Ehrenrunden drehen wollen, um mir zu beweisen, dass ich auch anders gekonnt hätte.
Ich goss mir einen Fingerbreit ein. Der Extrakt roch faulig. Ich machte die Augen zu und kippte das Glas ab. Dann stellte ich die Flasche in den Schrank zurück und beschäftigte mich wieder mit den Edelstahlflächen, die ich mit großer Akribie zum Strahlen brachte. Da nichts weiter passierte, goss ich etwa die Hälfte der ersten Dosis nach und nahm mir danach den Herd vor. Das Putzen befriedigte mich so tief, dass ich gar nicht daran dachte, mich etwas anderem zuzuwenden. Natürlich fragte ich mich ständig, ob das nun der Rausch sei, aber für diesen Zustand fand ich meine Freude an der Hausarbeit zu gewöhnlich. Freilich gab es Signale seltsamer Art. Als ich mich mit dem Backrohr beschäftigte, kamen mir die verkohlten Essensreste und Krümel übergroß vor. Wenn ich etwas fixierte, wuchs es, als könnte ich meinem Blick jederzeit eine Lupe zuschalten. Auch Klänge bekamen eine andere Note. Das Ächzen und Mahlen des Kühlaggregats gewann an Persönlichkeit und Prägnanz. Ich hatte bei allem, was ich hörte, das Gefühl, mich im Zentrum der Geräuschquelle aufzuhalten. Und nichts war unwichtig. Meine Wahrnehmung stellte jedes Detail genauso groß vor mich hin wie platzgreifende Gegenstände.
Mit viel Liebe betrachtete ich den großen weißen Eisschrank, seinen Metallgriff und den geschwungenen Schriftzug, und es tat mir leid, dass ich versäumt hatte, ihm die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Wie ein alter Eisbär stand er in der Ecke, trotz seiner im Lauf der Jahre angegriffenen inneren Organe immer noch redlich bemüht, seinen Dienst zu tun. Gurgelnd bahnte sich die Kühlflüssigkeit den Weg durch die Windungen seines sklerotisch gewordenen Kühlkreislaufs.
Als ich später in meinem Zimmer im Sessel saß, stellte ich fest, dass die Gegenwart nun kein bruchloses Ineinanderfließen von einem Augenblick zum anderen mehr war, stattdessen wurde ich ruckartig Einheit um Einheit in der Zeit vorwärtsgestoßen. Die Abstände wurden zunehmend größer, schließlich wurde ich vorwärts und plötzlich auch rückwärts gerissen. Eben saß ich noch auf dem Schoß meiner Mutter, dann umwickelte man meine Hände mit Klebeband, verband mir die Augen und warf mich auf die Ladefläche eines Pick-up, ich blickte in die bernsteinfarbenen Pupillen des großen grauen Wolfhundes und hörte sein Jaulen, das er, irgendwo draußen hockend, in den nächtlichen Himmel schickte, danach lag ich mit Susi im Bett und fand mich schließlich in meinem Zimmer wieder. Dieses Durcheinander der Zeiten und Situationen folgte keiner fassbaren Linie, die Erinnerung, was genau mir widerfuhr, war bald danach ausgelöscht, alles, was ich noch festhalten konnte, fiel in dem Satz zusammen: Das also ist dein Leben!
Als ich aus diesem Wirbel für kurze Zeit auftauchte, meinte ich von oben, durch das Gitter über dem Fensterschacht, Licht in mein Zimmer sickern zu sehen. Vögel zwitscherten. König Dag, hatte Igor erzählt, sei so klug gewesen, dass er ihre Sprache verstand. Er habe einen Sperling ausgeschickt, der ihm Kunde aus einem anderen Land bringen sollte. Der aber sei von einem rohen Bauern durch einen Steinwurf getötet worden. Was, dachte ich, wenn auch zu mir ein Sperling geschickt worden wäre, der seine Botschaft nie überbringen konnte? Eine Botschaft, die mein ganzes Leben verändert hätte? Dein Vater wird dich verraten und deine Mutter dich verlassen. Und ist es nicht unser Schicksal, dass das, was eigentlich an uns kommen müsste, nie unser Ohr erreicht?
Diese Weisheiten waren schön und schmerzhaft zugleich, aber Kostbarkeiten, die sich kaum über den Moment hinaus aufbewahren ließen. Vielleicht waren es die anschauliche Vorstellung des Sperlings und mein Gefühl tiefer Verbundenheit mit ihm, die mich dazu veranlassten, mich nun auch selbst in luftige Höhen zu begeben. Was danach kam, ist vollständig gelöscht. Aber ich war offensichtlich auf das Dach geklettert. Wie das mit Olga und der Decke zugegangen war, wusste ich nicht mehr.
Inzwischen war es sechs Uhr geworden. Der Morgenverkehr hatte noch nicht eingesetzt und die Schillerstraße unter mir lag friedlich da. Wenn ich mich vornüberbeugte, stieg die Erinnerung an ein Bild in mir auf: Die Straße, die Fußgänger, die Autos wallten in vielfach gebrochenen Bildern wie Schaum zu mir hoch. Bevor sie mich erreichten, platzten sie. Ich mochte gar nicht daran denken, wie lange ich im Rausch nach unten gestarrt hatte und vor allem, welcher Gefahr ich mich ausgesetzt hatte.
Olga erwachte mit einem Schrei und fuhr hoch. Dann sah sie mich nur ein Stück weit entfernt stehen.
»Was ist passiert? Wie bist du hier heraufgekommen?« Erst mal wollte ich ihre Version abfragen, um meine Geschichte darauf abstellen zu können.
»Moment mal«, sagte sie. Olga war schlaftrunken und brauchte eine Weile, um sich zu sammeln. »Mitten in der Nacht schrecke ich auf. Oben auf dem Dach rumort etwas.« Olga lebte außerhalb von München und hatte im Obergeschoss ein kleines Zimmer, das sie jederzeit nutzen konnte, wenn es wegen eines Spätdienstes keine Zugverbindung mehr gab. »Auf dem Speicher steht die Luke offen. Und dann sehe ich dich da draußen herumturnen.«
»Herumturnen?«
»Du hockst vorne nahe der Dachrinne und schaust auf die Straße hinunter.«
»Du meine Güte! Das hätte mich Kopf und Kragen kosten können.«
»Allerdings. Ich habe fürchterliche Angst ausgestanden, konnte aber nichts tun. Schlafwandler darf man nicht wecken. Sie verlieren ihre instinktive Sicherheit und ein Unglück passiert. Ansprechbar warst du nicht, also habe ich abgewartet. Überraschenderweise hast du dich dann oben einfach hingelegt.«
»Dann war die Decke von dir! Aber wie kommt es, dass du auch oben liegst?«
Meine Frage brachte sie in Verlegenheit.
»Du warst sehr anschmiegsam und hast offenbar Gesellschaft gebraucht. Außerdem konnte ich dich doch in diesem Zustand nicht allein lassen. Womöglich wärst du ein weiteres Mal auf Exkursion gegangen.«
Ich umarmte sie. »Vielen Dank! Ohne dich hätte ich diese Nacht womöglich nicht lebend überstanden.«
»Was träumt man da eigentlich?«
»Ein wildes Durcheinander! Aber ich glaube, ich bin auf der Dachbrüstung eines Hochhauses balanciert.« Das war gelogen, aber ich wollte, dass sie sich als eine Heldin fühlte, die mich gerettet hatte. Hatte sie ja auch.
Ich half ihr auf, und wir stiegen ins Haus zurück. Olga hatte die Decke wie einen Umhang umgelegt. Vor ihrer Zimmertür blieb sie stehen, besann sich eine Weile, dann wandte sie sich zu mir um.
»Ich bin so froh, dass das diesmal gut gegangen ist.«
»Du hast alles richtig gemacht.«
Sie nickte. Ihre Augen wurden feucht. Rasch verschwand sie in ihrem Zimmer.
Olgas Hilfestellung war der Beginn einer Befreiung. Sie trat aus dem Schatten einer Pflegebefohlenen heraus. Meine Angestellte war sie auf Umwegen geworden, durch eine seltsame Verschlingung von Schicksal und Zufall, denn eigentlich hatte sie andere Pläne gehabt. Sie war auf dem Weg, ein Romanistikstudium abzuschließen und danach einige Jahre in Paris zu verbringen. Dann zerbrach ihr Leben an einer familiären Katastrophe.
Olga wuchs in Niederbayern bei ihren Eltern auf. Obwohl es der Vater gerne gesehen hätte, dass die Tochter seinen Hof samt landwirtschaftlichem Betrieb übernimmt, gab er ihrem Drängen nach, sie in München studieren zu lassen. Ihr rasches Fortkommen und die Sprachbegabung bestätigten die Richtigkeit dieser Entscheidung. In den Semesterferien besuchte sie ihre Eltern in Dalking, wo sie, wie üblich, im Hof mitarbeitete. An einem heißen Augustnachmittag bat sie der Vater, ihm bei der Reparatur eines Zauns behilflich zu sein. Sie luden die Zaunpfähle in den Hänger und fuhren mit dem Traktor zu der Weidefläche, die in hügeligem Gelände lag. Der Vater lenkte die Zugmaschine in das Gras, zog die Handbremse, beide sprangen aus dem Führerhaus, er packte den schweren Vorschlaghammer, und Olga holte einen Pfosten von der Ladefläche. Noch ehe sie auf die andere Seite zu ihrem Vater wechseln konnte, bemerkte sie, dass das Gefährt zu rollen begann.
»Handbremse!«, hörte sie ihn rufen.
Olga gelang es, das Führerhaus zu erklimmen, er hatte es nicht geschafft hochzuklettern.
»Zieh die …!«
Alles Weitere ging in einem erstickten Schrei unter, gefolgt von Krachen und Knacken. Endlich brachte Olga den Traktor zum Halten.
»Alles in Ordnung?«
Von ihrem Vater war jedoch nichts mehr zu hören und zu sehen. Schließlich fand sie ihn im Gras liegend, einen entstellten, bereits leblosen Körper, ein rückwärtiges, menschliches Relief, als habe man versucht, ihn in die Erde zu stampfen. Er musste beim Versuch aufzusteigen gestolpert und unter die schweren Räder des Traktors und anschließend die des Hängers geraten sein.
Olga schrie, setzte einen Hilferuf über ihr Handy ab und verlor dann das Bewusstsein. Man fand sie in der Nähe ihres Vaters im Gras liegend.
Der Fall bedurfte keiner aufwendigen Klärung, alles lag klar zu Tage. Ein Unglück zudem, das der Führer des Traktors selbst verursacht hatte: Die Handbremse war nicht vollständig gezogen worden, dennoch hatte das Leben ihres Vaters in Olgas Hand gelegen. Hätte sie das Führerhaus nicht schneller besteigen, die Bremse nicht eher betätigen können? Eine Fülle von günstigen Wendungen tat sich auf, jede so schmerzhaft wie ein Stich ins Herz. Unmöglich, die Fassung wiederzugewinnen oder irgendwo Halt zu finden.
Dann traf sie das Urteil der Mutter: »Du hast dich halt ungeschickt angestellt!« Eine kurze, wegwerfende Bemerkung, natürlich aus ungezügeltem Schmerz gesprochen, dennoch eine Vernichtung.
Ihr Zusammenbruch folgte, die vermeintliche Schuld begrub Olgas Leben unter sich. Aus dem Krankenhaus zurückgekehrt, blieb sie nicht mehr lange in Dalking, die stummen Vorwürfe waren unerträglich. Ihr Weggang war ein Bruch mit der Mutter, aber keine Befreiung. Das Gefühl tiefer Schuld lastete auch in München unvermindert schwer auf ihr. Eine Verdunklung ihres Gemüts war die Folge. Die Glieder blieben schwer, sie konnte ihr Bett nicht mehr verlassen. Alltagsverrichtungen türmten sich zu unüberwindbaren Hindernissen auf. Sie dämmerte in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim vor sich hin. Es gab nur zwei Möglichkeiten, diesen Zustand zu beenden: Sich selbst in die Psychiatrie einzuliefern oder dem Leben ein Ende zu setzen.
An einem verhangenen Spätoktobertag, an dem die dichte Wolkendecke jedoch immer wieder durch eine freundliche Sonne durchbrochen wurde, so als wolle sie ein Zeichen der Hoffnung nach unten senden, dass jedes graue Gespinst zerrissen werden könne, schleppte sich Olga in die Nußbaumstraße zur Psychiatrie. Sie fühlte sich außerstande, einfach hineinzugehen, und so setzte sie sich gegenüber auf das Mäuerchen, um sich zu sammeln und Kraft zu schöpfen. Jeder Entschluss, der nicht zur Tat kommt, verheddert sich immer mehr in einem Gestrüpp von Zweifeln, kein Gedanke gerät an ein gutes Ende, sondern bewegt sich in einem quälenden Kreis zum Ausgangspunkt zurück. Nach zwei Stunden wusste Olga, dass sie nicht in der Lage sein würde, das Gebäude gegenüber zu betreten.
So blieb nur der letzte Ausweg, sich aus dem Leben zu bringen. Einen genauen Plan hatte Olga nicht dafür, Vorkehrungen allerdings hatte sie schon getroffen und sich mit Schlafmitteln eingedeckt. Es widerstrebte ihr, sich in der früher als freundlich empfundenen Umgebung des Wohnheims umzubringen und ihre Bekannten in die Verzweiflungstat mit hineinzuziehen. Es sollte ein anonymer Ort sein.
Auf der Suche nach einem solchen wanderte sie die Schillerstraße hinunter und landete schließlich im Swiss. Ich saß an diesem Abend am Empfang und betrachtete mit Sorge diese aufgewühlte und gezeichnete junge Frau. Wer wie ich einen Tod durchlebt hat, besitzt einen Blick dafür, wenn einer Person das scheinbar Unausweichliche ins Gesicht geschrieben ist. Um meine Wahrnehmung wiederzugeben, kann ich nur die Ausdrucksformen eines Mysterienspiels benutzen: Mit dem Eintritt Olgas verdüsterte sich die Vorhalle des Swiss, hinter ihr sah ich die schwarze Gestalt des Todes stehen. Meine Anteilnahme war sofort geweckt. Ich wusste nicht, welche Umstände die junge Frau hierhergetrieben hatten, aber ich war sicher, dass es keine Drogen, keine Schulden, keine üblichen Abhängigkeiten und Verstrickungen waren. Nichts lädt uns mehr Schuld auf als familiäre Katastrophen. Geldverpflichtungen können beglichen, Abhängigkeiten geheilt und Liebesbeziehungen verarbeitet werden, das familiäre Drama jedoch bietet keinen Ausweg, weil die Akteure für immer Vater, Mutter, Kind, Schwester oder Bruder bleiben.
Und ich hatte recht. Olgas Geschichte war ein Gegenstück zu meiner: Ihr wurde eine Täterschaft aufgeladen, mich machte man zum Opfer. Ich gab ihr das gewünschte Zimmer, quartierte sie allerdings im Obergeschoss in dem Raum ein, den sie heute noch nutzt. Wir fuhren mit dem Lift nach oben, ich hatte ihr den Rucksack abgenommen. Durch den Stoff hindurch tastete ich die Medikamentenschachteln. Ich sperrte das Zimmer auf und gab ihr den Rucksack zurück. Sie zögerte einzutreten, das Leben hatte noch nicht alle Macht über sie verloren.
»Sehen Sie mich bitte an!«, sagte ich.
Bis dahin hatte sie jeden direkten Kontakt vermieden, verkrümmt stand sie da, nur der harten, abweisenden Haut der Dinge zugewandt. Sie hob den Kopf, ihr Blick war unstet wie der einer Person, die auf Flucht bedacht bleibt.
»Ich weiß, was Sie vorhaben. Kann ich Ihnen noch einen letzten Wunsch erfüllen?«
Beschönigungen haben keinen Sinn, sie schmerzen noch mehr als die Wahrheit, wenn jemand an den Rand seiner Existenz gedrängt ist.
Eine Weile lang spiegelte sich nur Entsetzen in ihrem Gesicht, dann brach Olga in Tränen aus. Ich führte sie ins Zimmer, setzte sie auf das Bett und nahm im Sessel Platz. Später bat ich Erwin, der sich mit mir die Arbeit im Hotel teilte, uns einen Tee zu bringen. Ich wartete ab, bis Olga zu erzählen begann. Das Gespräch mit ihr dauerte bis spät in die Nacht. Als sie sich erschöpft auf das Bett fallen ließ, erhob ich mich.
»Sie können das Zimmer bis auf Weiteres nutzen. Wir bringen Ihnen etwas zu essen, wenn Sie möchten. Denken Sie nach, Sie haben Zeit. Es gibt nur zwei Bedingungen …«
Sie sah mich an.
»Sie teilen mir Ihre Entscheidung mit. Und bis dahin geben Sie mir den Inhalt Ihres Rucksacks zur Verwahrung.«
Olga nickte und gab mir die Medikamentenpackungen.
Nach einer Woche rief sie mich an und fragte, ob sie sich im Hotel nützlich machen könnte, um ihre Schulden zu begleichen.
»Ich weiß nichts von Schulden. Dies ist mein Haus, und ich lade Personen nach Belieben ein.«
»Danke. Es würde mir helfen, ins Leben zurückzufinden. In ein anderes.«
Ich gab sie daher in die Obhut von Erwin, der sie umsichtig betreute und einwies. Auch ihm hatte das Leben einige Schrammen zugefügt, und so wussten wir, wie mit verletzten Seelen umzugehen war.
Später wurde Olga auf ihren Wunsch hin meine Angestellte.
Auf dem Weg vom Dachgeschoss nach unten prüfte ich mich noch einmal. Doch, ich war hellwach und spürte weder im Kopf noch in den Gliedern einen Kater! Um keinem Gast zu begegnen, nahm ich den Lift, ging in meine Wohnung und machte mich frisch.
In der Küche neben dem Frühstücksraum hatte Erwin mit den Vorbereitungen begonnen. Er ist ein mageres kleines Männchen. Schon ein wenig bucklig. Auch sonst wirkt er ausgezehrt, hohlwangig, dazu mit tiefliegenden Augen. Allerdings trägt er eine markante schwarze Brille mit wuchtigem Gestell. Man ist versucht, von Brille mit Gesicht zu sprechen, um die Verkehrung der Proportionen zu beschreiben.
»Guten Morgen, Chef. Da hat sich aber einer Mühe gegeben!«
Ich sah mich um. Er hatte recht. Alles blinkte und glänzte. In meinem Anfall gestern hatte ich unsere Küche zu einem fast unwirklichen Showroom aufpoliert.
»Mach Schluss für heute, Erwin. Wir schaffen das alleine. Zeit habe ich noch genug, und später kommt Olga dazu.«
Frühestens in einer Stunde erwarteten wir die ersten Frühstücksgäste. Erwin stand unschlüssig da. Ich sah ihm an, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte.
»Was gibt’s, Erwin?«
»Ich hätte da was für Sie, Chef.«
Ich nickte. »Schieß los.«
»Angeblich gibt es unendlich viele Zahlen?«
Mir waren seine Gesprächseröffnungen vertraut. So hatte ich ihn damals im Café Schiller kennengelernt. Er saß mit Bier und Bleistift vor einem Buch, das den albernen Titel Neunundneunzig Kopfnüsse trug. Darin war ein Sammelsurium von Denkaufgaben enthalten. Kreuzworträtsel, Sudoku und Ähnliches machen viele, aber für Erwin waren solche Fragen ein Anlass, den Dingen auf den Grund zu gehen. Wer es sich nicht leicht machte und beharrlich weiterfragte, konnte auch von einer Kopfnuss zum Urgrund des Seins vorstoßen. Die Erscheinungen sind miteinander verwoben, sie aufzufädeln, führt immer zum Wesentlichen.
Seine Ernsthaftigkeit imponierte mir, deshalb bot ich ihm die Arbeit bei mir an. Dabei ist Erwin ein Gestrandeter, wie so viele bei uns in der Schillerstraße. Ihr Vorteil ist, dass sie sich in fast jedem Job zurechtfinden. Erwin hatte als Sanitäter, Croupier, Saunameister, Kellner und Buchhalter gearbeitet, bevor man ihn auf die Straße gekickt hatte. In der Schwanthalerstraße lebte er in einer Dachkammer. Ich kannte die Adresse, weil sie in seinen Arbeitspapieren stand. Besucht hatte ihn dort noch niemand, wie ich hörte. Vermutlich war es ihm unangenehm. Erwins Passion waren die Abenteuer des Geistes, er dachte ständig nach. Vielleicht ist das der falsche Ausdruck, er tändelte nicht, spielte nicht: Erwin brütete über gewissen Problemen. Er wendete sie hin und her, untersuchte sie, und wenn er keine oder eine besonders originelle Lösung fand, legte er sie mir vor.
»Unendlich, weil man zu jeder Zahl immer wieder eins dazuzählen kann.«
Ich nickte.
»Angenommen, ich fange zu zählen an. Bis an mein Lebensende. Egal wie weit ich komme, ausgezählt ist da nie etwas.«
Ich nickte ein drittes Mal.
»Wenn die Zahlen für mich nicht unendlich sind, dann sind sie es auch für sonst niemanden. Warum denken sich Mathematiker so etwas aus? Was niemand vollenden kann, gibt es nicht. Oder es ist sinnlos.«
Herausfordernd blickte er mich an.
»Ich frage mich«, umsichtig justierte er seine Brille auf der Nase nach, »ob die Mathematik noch eine Wissenschaft für den Menschen ist. Wenn sie Metaphysik sein will, soll sie es sagen.«
Das war stark, darüber musste ich erst mal nachdenken. Ich füllte den Behälter der Kaffeemaschine mit frischem Wasser auf. Konzentriert spürte ich seiner Frage nach, mein Kopf war vollkommen klar. Allerdings arbeitete mein Denken plastischer als sonst. In mir stieg ein Bild des Zahlenstrahls als einer schmalen, geradlinigen Leuchtspur auf, die aus dem Grenzenlosen kam und sich nach vorne wieder in ihm verlor. Zu sagen, dass sich die Unendlichkeit vor oder hinter mir auftat, verbot sich. Sie war ein endloses Fortschreiten und offenbarte sich nicht, jedenfalls keinem Einzelnen. Sie gehörte allen, denn der Pfad war von Menschen bevölkert, die sich aus irgendeinem Anlass mit Zahlen befassten.
Ich sah jetzt die Argumentation vor mir.
»Warst du schon mal in Peking?«
»Nein.«
»Du würdest aber nie behaupten, dass die Stadt nur für die existiert, die sie gesehen haben?«
Er pfiff durch die Zähne, absteigend, von der Quinte auf den Grundton, zuckte die Achseln und fing an, Besteck aus der Schublade zu holen und es feinsäuberlich auf der Arbeitsfläche zu arrangieren.
»Und das Denken wird doch erst so richtig interessant, wenn wir uns mit etwas beschäftigen, das den Menschen übersteigt. Oder?«
Er hielt ein Messer hoch ans Licht, als wollte er dessen Schärfe prüfen.
»Okay.«