Hardcover Nemesis - Alex Gfeller - E-Book

Hardcover Nemesis E-Book

Alex Gfeller

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Beschreibung

Erzählungen aus Feld und Wald. Hemmungslos und unvernünftig.

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Seitenzahl: 416

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Inhaltsverzeichnis

Nemesis

Der Ursprung der Welt

Der Angriff der Außerirdischen

Wettbewerb

Artemis und Apollon

Castrovillari

Nach Amerika

Salmakis und Hermaphroditos

Fonni

Gustav Schwab Junior

Kassandra

Das Wild und die Herden

Geschwätz

Lerum

Die Suada des Idioten

Die glorreichen Sieben

Europa

Auf der Rutsche

Die Uniformierten

Die Straßensperre

Faustregel

Milâs

Es gibt keinen tieferen Sinn

Die Handlungsreisende

Sinj

Feministen

Ein Scheißplot

Tortosa

Ein Politikerleben

Da haben wir ein Problem

Die göttliche Konsequenz

Gorillas auf dem Mist

Psyche

Die Götter trudeln ein

Die Geheimdienste

Sack ab!

Die atemlose Schnepfe

Der Ursprung der Welt

Der Mandelkern

Nemesis

Nemesis ist die antike Göttin der gerechten Vergeltung und als solche das ausführende Organ der Göttermutter Artemis, der rachsüchtigen Muttergottes des gesamten östlichen Mittelmeerraumes, später das etwas zweifelhafte propagandistische Vorbild für die Jungfrau Maria, aber gütig und grausam zugleich, gefürchtet, geachtet, Geburts- und Todesgöttin in einer Person, hier eindrücklich dargestellt von Albrecht Dürer aus Nürnberg an der Pegnitz, das man unten auf dem winzigen Stich erkennt, hergestellt im Jahre 1501 oder 1502. Sie nimmt und gibt Leben, was irgendwie logisch ist.

Nemesis, als Göttin der gerechten Vergeltung, ist eine der ältesten griechischen Göttinnen überhaupt und wird zuweilen zusammen mit Themis, Gaia und teilweise auch mit Aphrodite zu einer einzigen Göttin, zu einer einzigen Figur, zu einer einzigen Gottheit verschmolzen, manchmal sogar mit Artemis selber, so, wie man sie aus dem weltberühmten Druck von Albrecht Dürer ersehen und erkennen kann. Sie vermag sich ohne Weiteres und ohne jede Anstrengung ihrerseits in andere Gottheiten zu verwandeln, manchmal sogar auch in Sterbliche oder in Tiere aller Art, aber auch in tote Dinge und tote Gegenstände ihrer Wahl oder in noch entferntere, noch abseitigere Apparenzen in Einzahl oder Mehrzahl. Selbst das Zeitalter kann sie wählen. Die derart Wandlungsfähige vermag somit alle und alles zu erreichen, auch in jeder denkbaren Tarnung, und das ist ihr einzig Sinnen und Trachten, denn der gerechten Vergeltung entgeht niemand. So liegen die Dinge.

Der Ursprung der Welt

Diese angenehm warme Nacht will Nemesis direkt am großen, grünen Fluss verbringen, beschließt sie spontan, an der Waare, in welche die kleinere Schuss gleich hinter Benne-les-Bains mündet, und sie steuert zu diesem Zweck den schweren, fremden Wagen weit außerhalb der grauen Stadt bald einmal durch eine ruhige Auenlandschaft mit üppiger Vegetation, wo sich meist nur einige wenige stille Freizeitfischer und vereinzelte Spaziergänger aufhalten, die ihre Köter ausführen, oder aber wo sich, vorwiegend des Nachts, mittellose Halbwüchsige und zahlungskräftige Freier zum gemeinsamen, bezahlten Freiluft-Ficken treffen, denn es hat sich bald einmal gezeigt, dass es für Nemesis am einfachsten ist, die Nächte ganz bescheiden im Auto zu verbringen, indem sie sich, sobald sie das Fahrzeug an einer geeigneten, also abgelegenen Stelle geparkt hat, einfach in einen kleinen, eurasischen Siebenschläfer verwandelt. Als kleiner Bilch von nur sieben Zentimetern Länge wird sie sich auch heute Abend auf dem weichen Rücksitz zusammenrollen und sofort einschlafen, denn ein Siebenschläfer (Glis glis) verschläft nun mal den größten Teil seines Lebens, das liegt in seiner beneidenswert entspannten Natur; allein sein Winterschlaf dauert sieben Monate.

Genau dies möchte Nemesis eigentlich ganz generell für sich selber auch beanspruchen, und zwar sowohl ganz persönlich gesehen, als auch auf ihre göttliche Unsterblichkeit bezogen. Somit erklärt sich auch ihre ungewöhnliche Affinität zu diesen putzigen, wenig bekannten, weil hoffnungslos verschnarchten Gliridae. Sie möchte in ihrer göttlichen Verspieltheit recht ei-gentlich ihr eigenes kleines Plüschtierchen sein, denn auch sie hat zweifellos ihre infantile Seite. Deshalb fährt sie jetzt auf diesem holperigen, steinigen Feldweg auf einem breiten Damm die ruhig, aber zügig dahinfließende Waare entlang. Der zunächst breite und übersichtliche Feldweg wird jedoch allmählich zu einem schmalen, ausgetretenen Pfad, und auch der Damm selber wird immer enger, während die mondlose Nacht schneller hereinbricht, als ihr lieb sein kann. Auf der einen Seite droht das steile Uferbord gegen eine kleine Anhöhe oder künstliche Aufwerfung hin, und auf der anderen Seite der an dieser Stelle schon erstaunlich tiefe und auch schon recht breite Fluss in seiner ganzen bedrohlichen Schwärze. Bald einmal muss Nemesis besorgt feststellen, dass sie sich völlig verfahren und in eine ziemlich unangenehme Lage gebracht hat, aus der das schwere Auto wohl nicht mehr aus eigener Kraft herauskommen wird.

Schon gerät es in eine bedenkliche Schieflage; die eine Seite kippt gefährlich über die Kante ab, und obwohl Nemesis immer noch ungeschickt versucht, den Wagen auf dem schlüpfrigen Spazierweg zu halten, der sich jetzt zum halb zugewachsenen, schrägen Pfad verengt hat, rutschen die Räder langsam, aber unaufhaltsam ins Wasser, und Nemesis versinkt mitsamt dem schönen, teuren Auto geräuschlos in den tagsüber dunkelgrünen Fluten.

Zum Glück nimmt sie unter Wasser Okeanos selber in Empfang, der Ursprung von überhaupt allem und jedem und auch der Vater aller Flüsse, und er meint kopfschüttelnd, zu seiner Gattin Tethys, der allmächtigen Urmutter und Beschützerin von überhaupt allem und jedem gewandt, dass dies wieder einmal ein typisches Missgeschick ihrer Tochter Nemesis gewesen sei. Sie kennen sie ja gut, ihre Tochter, denn Okeanos und Tethys, das universale Ur-Geschwisterpaar, sind wahrhaftig die leiblichen Eltern von Nemesis. Wasser und Erde zum Anfang, und als nächstes gleich die Vergeltung, das ist griechische Stringenz! Noch bevor überhaupt etwas hat geschehen können, wird bereits prophylaktisch zugeschlagen und vergolten! Raffiniert! Subtil! Pikant! Evident! Konsequent!

Sie, ihre Tochter also, müsse sich wohl wieder einmal gründlich verschätzt haben, befinden die erheiterten Eltern, genau wie damals, als sie sich als Zebrabarsch in allen warmen Gewässern der Welt herumgetrieben und sich hinter Korallen und sonst allerlei Ungeeignetem ganz ungeschickt versteckt habe, um dem permanent notgeilen Saubock mit seinem gigantisch erigierten Geschlechtsteil, ihrem unverschämten Schänder, dem nimmersatten Göttervater, dessen Namen wir hier gar nicht erst erwähnen wollen, zu entkommen.

Nemesis ist peinlich berührt, in der Tat. Sie versucht sich zu rechtfertigen und fragt die beiden aus der Defensive heraus, wieso denn ausgerechnet in göttlichen Handlungen eine Logik innewohnen sollte? Wo da die übergeordnete Unlogik bleibe? Götter haben es nicht nötig, logisch zu sein, auch wenn, zugegeben, die Logik durchaus etwas Schönes, also etwas eindeutig Griechisches sei und auch an sich habe. In der Tat ist die Logik zunächst und überhaupt etwas eindeutig Griechisches und somit etwas Unbestechliches. Also solches ist sie ewig richtig. Aber griechische Götter machen nun mal seit jeher den Trend und die Mode; sie allein bestimmen, was Hellenisch ist, und was nicht; sie allein erklären, was modern ist, und was dépassé. Verstehen Sie? Wenn also griechische Götter mit einem Mal aus unerfindlichen Gründen scharf auf griechische Logik sein sollten, dann bitte sehr, dann können sie diese Logik jederzeit haben. Es muss aber nicht unbedingt sein, denn Logik ist zweifellos irdisch, nicht göttlich.

Doch wer könnte es ihnen verwehren? Zumal Okeanos und Tethys nicht beliebige Götter, sondern, wie gesagt, nichts weniger als der Ursprung von überhaupt allem und jedem sind, nämlich nichts weniger als der Anfang der Welt. So ist das. Wasser und Erde. Oder jedenfalls fast. Über die Frage nach dem Ursprung der Welt kann man sich in der Tat grün und blau ärgern, und schon immer hat man sich deswegen auf dem Olymp, aber auch unter den Sterblichen endlos und zuweilen gar blutig gestritten, und zwar nicht nur aus reiner Lust am Streiten, wie viele Götter argwöhnen. Für ausnahmslos alle Kinder – und alle Menschen und Götter sind gleichzeitig auch Kinder von irgendwem, wenn wir mal von Okeanos und Tethys absehen – sind sowieso die eigenen Eltern der Ursprung von allem und jedem, das ist schon mal klar, seien sie nun da oder nicht da, seien sie immer noch da oder bereits nicht mehr da, seien sie noch beisammen oder schon längst getrennt, seien sie blöde oder weise, seien sie verliebt oder verkracht, seien sie arm oder reich, mächtig oder machtlos oder vom Glück reichlich belohnt. Eltern also, in welcher Erscheinungsform auch immer, sind allzeit der Anfang jeglicher Welt und bleiben im Rahmen dieses Anspruches in alle Ewigkeit absolut unbestritten. Nicht einmal die Großeltern bringen dieses eindeutige Gefühl so direkt herüber, was ja eigentlich logischer wäre, ein bisschen logischer jedenfalls, doch Großeltern sind nun mal nicht der Anfang von allem und jedem, denn die sind bereits prähistorisch und emotional gesehen nur noch mehr oder weniger geschmackvolles Beiwerk, jedenfalls nimmer und niemals so wichtig wie die Eltern. Das steht fest.

Okeanos und Thetis sind also tatsächlich, zumindest in den Augen von Nemesis, ganz eindeutig der Anfang von allem und jedem. Was wollen wir mehr? Doch was ist vor Okeanos und seiner Schwester Tethys gewesen? muss man sich logischerweise, also hellenistisch konsequent fragen. Man kommt nicht darum herum. Nun, auch hier gibt es Antworten. Okeanos ist der Sohn von Uranos und Gaia, und die Meeresgöttin Tethys ist die Tochter von Uranos und Gaia. Somit hat es vor Okeanos und Tethys schon etwas gegeben, vor dem Anfang der Welt, stimmt genau, das ist logisch, nämlich Uranos und Gaia. Uranos, der Himmelsgott, also der Himmel selber, und Gaia, die gewaltige Göttin Erde, also die Erde selber. Himmel und Erde, wenn Sie so wollen, oder Licht und Erde, wenn Ihnen das besser behagt. Im Einklang mit Feuer und Wasser. Vulkane und Meere. Alles inklusive. Sauber durchmischt. Fruchtbar bis zum Abwinken.

Gaia hatte bereits die Gebirge und die Meere erschaffen, noch bevor sie von Uranos befruchtet worden ist, was wiederum eine ganz andere Geschichte ist, nämlich eine erste, völlig unharmonisch verlaufene, völlig unbefriedigende Geschichte voller sexueller Frustrationen. Es handelt sich hierbei ganz un-zweideutig um die allererste sexuelle Frustration der Erdgeschichte überhaupt. Das ist, ganz nebenbei, nicht unbedeutend: Die Welt hat mit einer gigantischen, sexuellen Frustration begonnen, meine Herrschaften, und auch dieses pikante Detail entbehrt nicht einer gewissen Logik. Sie endet natürlich blutig, tragisch wie nichts sonst, diese Urfrustration, denn sie muss ja bühnengerecht enden, nämlich mit der blutigen Kastration von Uranos durch Chronos, seinen leiblichen Sohn, und zwar im Auftrag von Tethys selber. Ovarektomie und Orchiektomie, begangen am eigenen Vater. Oh boy! Ja, so sind sie, die Götter, gnadenlos in all ihren Handlungen. Doch das nur nebenbei. Wenn etwas schiefgehen kann, dann geht es irgendwann mal schief, ganz bestimmt, früher oder später. Das wissen wir längst, denn das ist ein göttliches Gesetz, und darauf können Sie einen fahren lassen. Es kommt aber lediglich darauf an, wann man zu zählen beginnt, das leuchtet jedem ein. Ein Autorennen beginnt ja auch nicht bereits mit der Aufwärmrunde oder gar in der Rennwagenfabrik, und so gesehen war die leide Episode mit Gaia und Uranos lediglich die Aufwärmrunde zur ganzen Erdgeschichte, wichtig zwar, wenn Sie so wollen, unabdingbar gar, zugegeben, doch ein vernünftiger, moderner und aufgeklärter Grieche beginnt mit dem Zählen wohlweislich bei Okeanos, beim Gott des gewaltigen Stromes, der die ganze Erdenscheibe umfließt, Vater der dreitausend Okeaniden und ebenso vieler Söhne, der Flussgötter, denn es gibt auf der Erde exakt dreitausend Flüsse, und wenn uns nicht alles täuscht, dann müssten eigentlich auch die dreckige Schuss und die blödsinnige Waare dazugehören, nicht wahr?

Verdammt! Das haben wir ja ganz vergessen! Es könnte also rein theoretisch unter den dreitausend Flussgöttern auch den Gott der Waare geben, der Nemesis soeben unter Wasser stillschweigend und beiläufig aus dem Auto geholfen und somit gerettet hat, sowie auch den wahrhaft bemitleidenswerten Gott der verschlammten Schuss, versteht sich, die sich als stinkende Kloake sprichwörtlich mit dem ganzen Scheißdreck der Leute von Beil-Benne herumschlagen muss, ein wahrhaft wenig beneidenswertes Schicksal.

Der Angriff der Außerirdischen

Die Leute beschäftigen sich momentan, ganz unberührt und unbehelligt von Kenntnissen der klassischen Antike, mit ganz anderen, nämlich wichtigeren Fragen, wie zum Beispiel: Sind die Feministen unter Umständen mit den berühmten Außerirdischen verwandt oder gar identisch, wie sie angeblich in Texas oder Arizona drüben gesichtet worden sind und jetzt endlich auch einmal hier, in diesem unseren eigenen Land (und nicht immer nur in Amerika drüben) gelandet sein könnten? Sollte dies zutreffen: Wo muss man überhaupt mit Suchen anfangen? Was muss man bei einer unfreiwilligen Begegnung mit Außerirdischen unbedingt beachten? Worauf muss man bei ihnen gefasst sein? Darf man sie fotografieren? Kann man sich mit ihnen vielleicht verbal oder mit Gesten verständigen? Lassen sie sich unter Umständen bestechen? Wenn ja, in welcher Währung? Akzeptieren sie gewöhnliche Nahrungsmittel und alkoholische Getränke? Muss man sich eventuell bewaffnen? Stellen sie womöglich eine Gefahr für unser Selbstverständnis, für unsere persönliche Sicherheit, für unsere integrale Körperlichkeit, für unser gesamtes Hab und Gut und für unseren geliebten Gebirgskleinstaat dar?

Muss unter diesen wahrhaft außergewöhnlichen Umständen vielleicht sogar erstmals die landeseigene, teuer auf- und hochgerüstete und in jahrzehntelanger, ja, sogar nahezu jahrhundertelanger, angespannter und nie erlahmender Kampfbereitschaft verharrende LVWMFA, also unsere treue, ungeschlagene und unbesiegbare Landesverteidigungswehrmachtsfriedensarmee alarmiert oder zumindest benachrichtigt oder sogar tatsächlich in Alarm versetzt werden? Muss eine Generalmobilmachung angeordnet werden? Muss eventuell bereits wieder das Réduit bezogen werden?

Jetzt gehen die diversen Meinungen aber mächtig auseinander, und das ganze Land hat endlich diese ihm längst zustehende nationale Aufmerksamkeit und sein unwidersprochen bewegendstes Thema seit vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten gefunden, nämlich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als man sich – genau am 9. Mai 1945 – die Augen reibend gefragt hat: „Wer hat jetzt diesen bekackten Krieg eigentlich gewonnen, wenn die sieggewohnten Deutschen so unerwartet am Arsch sind? An wen muss man sich neuerdings wenden? Bei wem muss man sich derzeit vorsorglich anmelden, wenn man bei den Deutschen nicht mehr jederzeit anklopfen kann und darf? Wer bezahlt uns die vielen ausstehenden Rechnungen? Wer kauft uns jetzt noch die bestellten Zünder und den ganzen Stacheldraht ab? Die Army knifes? Die Offizierskugelschreiber? Die Kriegszigarren? Und wer zahlt die Bankkredite zurück? Die Devisenschulden? Und wo muss man jetzt bitte katzbuckeln, ansaugen, Klinken putzen, anschleimen, arschkriechen und arschlecken? Bei wem muss man sich jetzt einflöten und anbiedern, wenn nicht mehr bei diesen wahrhaft flotten und zuverlässigen Burschen in Berlin, mit denen man sich doch jahrzehntelang so gut verstanden hat? In London, in Washington oder gar in Moskau? Bei Churchill, Truman oder bei Stalin? Herrschaft! Das erklärt einem wieder keiner! Und Englisch oder Amerikanisch kann hier auch kaum einer, geschweige denn Russisch! Mein Gott! Wie tief müssen wir noch sinken?

Warum haben nicht einfach, wie vorgesehen, die Deutschen den Krieg gewonnen? Das wäre doch für uns viel einfacher gewesen? Und viel logischer dazu! Darauf wären wir doch eingestellt und vorbereitet gewesen? Das haben wir doch alle heimlich erwartet? Alles hat doch für uns so gut ausgesehen, alles ist doch für uns so vorteilhaft gelaufen, bis etwa Stalingrad und El Alamein – und nun sind wir richtig am Arsch!“

„Wie hätten wir zum Beispiel damals wissen können und erraten sollen, dass ausgerechnet die beschissenen Deutschen den Krieg verlieren werden?“ schreibt ein reichlich konsternierter Verteidigungsminister später in seinen nie veröffentlichten Memoiren.

Aber genau deshalb müsse man heute jederzeit auf jeden Ernstfall vorbereitet sein, und zwar auf wirklich jeden Ernstfall, also auch auf einen Krieg im Weltraum, wie auch auf einen Seekrieg, also auch auf einen erneuten, totalen U-Boot-Krieg, lautet die bewährte Verteidigungs-Doktrin, die allerdings und zum Glück noch niemandem geschadet hat, muss man der Gerechtigkeit halber erwähnen, denn wer kann ernsthaft schon im Voraus wissen, was sich der tückische Feind alles ausdenkt?

Welcher Feind? Darüber schweigt man sich vorerst bedeutungsvoll aus, nachdem bedauerlicherweise bereits einige Lieblingsfeinde sang- und klanglos von der Weltbühne abgetreten sind, erstens aus Gründen der Diplomatie, zweitens aus strategischen und taktischen Gründen, drittens aus Gründen der nationalen Disziplin und viertens überhaupt, denn man möchte ja nicht alles im Voraus verraten. Aber man ist gewappnet.

Der neue Verteidigungsminister raunt vertrauensvoll in die Runde: „Ein richtiger Soldat weiß das einfach.“

Wettbewerb

Die folgende lange und vielleicht auch etwas umständliche Aufzählung ist für uns Außenstehende in der lockeren Form eines heiteren, unterhaltsamen und vielleicht auch lehrreichen Städteratens gehalten, an welchem Sie sich gerne beteiligen dürfen, damit Ihnen nicht so langweilig ist. Raten Sie doch mal, von welchen Städten hier die Rede ist! Wer alle neunzig Städte auf Anhieb erkennen kann, kriegt vom UNO-Generalsekretär Sithu U Thant den Internationalen Städte-Wiedererkennungs-Orden in Gold und Zwetschgenmus.

1. Auf dem breiten, sonnigen Boulevard stehen unter Palmen viele runde Tischchen und bequeme Stühle, in denen man sich entspannt zurücklehnen kann, um das wahrhaft lebhafte Geschehen auf der belebten Straße mitzuverfolgen. Doch die Meise ist völlig pleite und deshalb derart angespannt, dass sie, auf der Kante des geflochtenen Stuhles sitzend, sich beim Kell-ner erst mal erkundigen muss, wieviel ein Glas Orangensaft kostet, bevor sie es bestellen kann, denn ihr verbleiben gerade mal zwei lausige Pfund. Der Orangensaft kostet erfreulicherweise nur ein Pfund, so dass ihr noch ein Pfund für einen Kaffee bleiben wird. Dann aber wird sie endgültig pleite sein.

2. Eine alte, hässliche und sehr kleine Watschelente fragt jeden Macker, der zufällig vorbeigeht, leise, doch auffällig ein-dringlich, ob er sie ins Kino mitnehme, doch die Macker sind alle in Eile, haben etwas anderes vor und wollen gar nicht ins Kino gehen, auch nicht mit ihr, der alten Vettel, nicht mitten am Nachmittag jedenfalls, und erst später wird der zunächst ahnungslosen Meise einfallen, dass diese stark geschminkte Alte eine Prostituierte auf Kundenfang gewesen sein könnte. Der Film heißt „Der Schrei des Kormorans“.

3. Die Kutteln sind nicht auf die übliche, italienische Art gekocht, sondern auf die lokale Art mit Kümmel im örtlichen Weißwein. Das ist der Meise unbekannt, und sie ist überrascht, wie gut Kutteln ohne die obligate, dicke Tomatensauce schmecken. Etwas später versucht sie, im Hafenbecken mit einer langen Stange einen Fußball aus dem Wasser zu fischen, aber es gelingt ihr nicht, weil sie den verdammten Fußball mit der schweren Stange einfach nicht zu packen kriegt; er entgleitet ihr immer wieder, bis er schließlich weit draußen im stillen See für immer unerreichbar entschwindet. Neben ihr wartet konsterniert der magere Kranichjunge, dem der Fußball gehört hat. Die Meise ist peinlich berührt und gleichzeitig verlegen, dass sie ihm nicht hat helfen können, den Fußball wieder zu kriegen.

4. Gleich neben dem Bahnhof steht der alte, gotische Dom, immer noch schwarz von all den verheerenden Bränden. Er sieht mit seinen zwei Türmen genau wie auf den zahllosen Abbildungen aus, und ein dicker, alter Kirchendiener erklärt soeben, wo damals die Bomben eingeschlagen haben. „Rinjesaust“ sagt er in seiner nuschelnden Art. Er spricht ein für die verwunderte Meise völlig unverständliches Deutsch, nämlich den örtlichen Dialekt, und sie ist überrascht, dass es deutsche Dialekte gibt, die sie kaum verstehen kann, denn das hat sie, die sie immerhin Theaterstücke von Ringelnatz auf Sächsisch gelesen hat, gar nicht gewusst.

5. Im italienischen Restaurant in der Fußgängerzone wird sie von einer etwas fülligen, jungen Gans mit sehr schwarzen Haaren und überaus funkelnden Augen bedient, die ihr gestenreich erklärt, sie studiere Medizin oder sie wolle Medizin studieren; so genau hat die Meise ihr verwaschenes Neapolitanisch nicht verstanden. Doch sie ist nachhaltig überrascht, dass diese doch eher schlicht und bescheiden wirkende Höckergans Medizin studieren soll, ein sehr anspruchsvolles Studium immerhin, und im Hotelzimmer hat sie sich danach ernsthaft gefragt, ob ihr die junge Gans einen Bären aufgebunden haben könnte, und vor allem: Wozu?

6. Am Rande der eher unscheinbaren, nur spärlich beschilderten, aber sehr breiten Umfahrungsstraße stehen in lockerem Abstand langgezogene, einstöckige Gebäude in sichtlich vernachlässigtem Zustand, deren Zweck oder Bestimmung nicht oder nicht mehr erkennbar ist. Man sieht dort nur wenige Vögel, wie übrigens überall in dieser absolut ruhelosen Stadt der Vans und Pickups, denn eine moderne Stadt von heute kommt offenbar ohne Passanten aus, also ohne Fußgänger, so, wie sie auch ohne Zentrum auskommt, ohne Struktur, ohne Form und gänzlich ohne Inhalt. Das ist der Meise neu, das hat sie so deutlich noch nirgendwo sonst erfahren, doch irgendwie leuchtet es ihr ein: In einem gewissen Stadium der urbanen Entwicklung weist eine moderne Gesellschaft keine Fußgänger mehr auf, ebenso wie sie keine Kultur und keine Geschichte mehr vorzuzeigen hat.

7. Ein kräftiger Pelikan in einem roten T-Shirt sitzt ausgestreckt auf einem billigen Gartenstuhl, der zurückgekippt mit seiner Rückenlehne an eine schmutzige Hauswand lehnt. Der dicke Pelikan beobachtet den emsigen Verkehr aus halb geschlossenen Augen, und ein anderer, ein noch korpulenterer Pelikan, kommt nach einer Weile hinzu, stützt sich mit ausgestrecktem Arm an dieselbe Hauswand mit der abblätternden Farbe und fragt den Sitzenden etwas. Aber dieser schaut weder hoch, noch gibt er dem Fragenden eine Antwort. Er bleibt in das lebhafte Verkehrsgeschehen vertieft, als wäre es ein spannendes Footballspiel.

8. Der erschreckend dichte Verkehr braust Tag und Nacht mit exakt derselben ungeheuren und die Meise überraschenden Intensität vorbei, ohne Unterbruch, ohne Lücke, ohne Ruhepause, und genau das erstaunt die Meise, die sich ein eher moderates Verkehrsaufkommen gewohnt ist, am meisten. Wir haben es hier mit einer 24-Stunden-Rush-Hour zu tun, und das hat die Meise tatsächlich noch nie erlebt. Leistungsstarke Computer regulieren geschickt den innenstädtischen Verkehrsfluss, so dass er immer gleichbleibend intensiv und fast ohne zu stocken abläuft, und niemand kümmert sich um die eigentliche und naheliegende Frage, warum denn die Vögel hier ständig unterwegs sind.

9. Es gibt zunächst den großen, alten, römischen Hafen, und es gibt den noch viel größeren, neuen Passagierhafen, aber es gibt auch, etwas abgelegen, den geradezu riesenhaften Containerhafen und gleich daneben den noch viel enormeren Erdöl- und Erdgashafen. Es gibt zudem auch noch den ausgedehnten und weitverzweigten, mondänen Yachthafen, und es gibt sogar immer noch, wie schon erwähnt, tief im Herzen der Altstadt mit ihren eindrücklichen, imperialen Palästen, fast etwas vergessen, den alten, also den allerersten, den kleinen, halbrunden, römischen Barken-Hafen aus den Anfängen der prächtigen und stolzen Stadt. In diesem ausnehmend kleinen Hafen dümpeln heute in undurchsichtigem Wasser kleine, verwahrloste und an-scheinend vergessene Ruderboote tatenlos vor sich hin.

10. Die alte Stadt ist durchaus charmant und von ihrer Erscheinung her absolut eigenständig und unverwechselbar; es gibt hier sogar, so stellt die Meise überrascht fest, ein nahezu komplettes und auch sehr eindrückliches römisches Theater mit prächtigem Blick aufs Meer, das heute verstaubt, versteckt und verschämt in einer hinteren, ziemlich abgelegenen und vergessenen Ecke des Zentrums steht, angelehnt an eine hohe, senkrechte Felswand, eingeklemmt zwischen moderne Geschäftshäuser der hässlichsten Art, halb zugeschüttet mit Müll und Bauschutt, überwuchert und überwachsen von allerhand Unkraut und Gestrüpp, also bedeckt mit Dreck und Abfall, so dass man das antike Bauwerk von einiger Bedeutung, gleichsam achtlos erdrückt von der geschäftigen Stadt, kaum noch zu erkennen vermag.

11. Welche verantwortungslos nachlässige oder vernachlässigte Stadt, so muss sich die Meise bei diesem traurigen Anblick fragen, kann es sich leisten, einen antiken Zeugen der Geschichte und der Kultur von dieser überragenden Qualität einfach vergammeln und verrotten zu lassen? Vielleicht, so mutmaßt sie, hat der überaus intensive Energie- und Frachtverkehr die Stadt inzwischen derart reich und verschwenderisch gemacht, dass ihr heute ihre eigene Herkunft und Geschichte gar nicht mehr so wichtig und vielleicht sogar geradezu egal ist. Wahrscheinlich lässt sich mit solch hervorragenden Zeugen der Antike heute einfach kein Geld mehr verdienen, nimmt die Meise achselzuckend an. Ja, so muss es sein.

12. Der Papagei mit dem leuchtend roten Gefieder führt die Meise in eine sehr belebte Bar, und dies ist die erste Bar überhaupt, welche die junge, unerfahrene Meise in ihrem bislang kurzen Leben betritt, muss man dazu erklären, denn sie ist wirklich noch sehr jung und hat noch fast nichts vom Leben erfahren, könnte man sagen, und sie hat auch noch überhaupt nichts davon begriffen, muss man befürchten. Sie trinkt etwas Scharfes, Klares, das ihr angeboten wird, zum ersten Mal überhaupt, von dem sie jedoch gar nicht viel mitbekommt, weil es ihr gar nicht schmeckt. Der Papagei behauptet stolz und kühn, das tränken hier alle: Wachholderschnaps.

13. Der rosarote Flamingo, ein aufmerksamer Brieffreund aus der großen Weltstadt, ist ob der Meise arg provinzieller Weltfremdheit deutlich amüsiert, denn die Meise hat bis zu diesem Zeitpunkt, so muss sie verlegen gestehen, noch überhaupt nie eine Dirne gesehen, eine Prostituierte, also eine käufliche Taube, eine Nutte; sie kennt den Begriff „Dirne“ tatsächlich nur aus dem kirchlichen Unterricht, der noch gar nicht so lange zurück liegt, ein Begriff, der als überdeutliche Abschreckung gedacht ist, ein Unwort also, das man lieber nicht in den Mund nimmt, und vielleicht gerade deshalb wird sie vom Flamingo absichtlich ins berühmte Rotlichtviertel gezerrt und geschleppt, mit recht viel Häme und Schadenfreude, wie ihr scheint, wo sie es aber gar nicht erst wagt, richtig hinzuschauen.

14. Sie ist von all den rot erleuchteten Schaufenstern, in denen sich die aufgepeppten Tauben räkeln und plustern, extrem peinlich berührt, ist äußerst verlegen und enorm betreten, ist furchtbar beschämt und auch deutlich verwirrt, blickt beim Ge-hen stur und eisern zu Boden, um ja nichts davon sehen zu müssen, und sie verlässt dieses verruchte Rotlichtviertel so schnell wie möglich wieder, und zwar sehr erleichtert, ohne auch nur eine einzige Prostituierte gesehen zu haben, das ist die ganze Wahrheit. Sie hat es einfach nicht über sich gebracht und hätte es auch gar nicht gewagt, eine käufliche Taube auch nur anzuschauen, das ist alles, und sie hat zudem vor all den stumm herumhängenden, sichtlich gewaltbereiten Mackern mit den eindeutig bedrohlichen Blicken deutlich fühlbare Angst verspürt.

15. Jeder zweite Pfau trägt hier eine schicke Uniform; das ist gleich auf den ersten Blick zu sehen. Die Meise hat noch nie im Leben so viele Uniformen in allen denkbaren gedeckten Farben dieser Welt auf einmal und an einem Haufen gesehen, und allesamt kleiden sie stattliche Pfauen mit herrischem Ausdruck, genau die Art von Vögeln, welche die Meise auf den Tod nicht ausstehen kann. Alle diese fetten Macker, die eindeutigen Herren im Lande, stolzieren hier also in qualitativ hervorragenden Ehrenkleidern voller Orden und Abzeichen herum, diese stolzen Aufschneider, selbst in den verpissten Pissoirs, aufgeblasen und aufgeschwollen, aufgedunsen und aufgekeimt, aufgemotzt und aufgedonnert, aufgetakelt und aufgepeppt wie übergewichtige Schlampen in einer Operette von Offenbach. Doch eine harmlose Operette ist das hier ganz gewiss nicht; das hier ist der tödliche Ernst einer bösartigen Diktatur, nicht mehr, und nicht weniger. Die Nichtuniformierten müssen sich hier, ganz im Gegensatz zu den Pfauen und deutlich erkennbar, mit ausgesprochen billiger, schäbiger und ärmlicher Bekleidung begnügen

16. Die einheimischen Pfauenfrauen machen hier die Dreckarbeit. Fassungslos beobachtet die Meise junge, kräftige Pfauenweibchen in schmutzigen Überkleidern, die auf einer Baustelle mangels eines Zementmischers im Schneegestöber den frischen Zement in einer flachen Blechwanne von Hand mischen, also mit schweren Schaufeln, exakt so, wie es auch ihr eigener Großvater damals daheim in den kargen Dreißiger-, Vierziger- und Fünfzigerjahren gemacht hat, als sich seine kleine Baufirma noch nicht einmal einen lausigen Zementmischer hat leisten können. Andere Pfauenweibchen reißen mit schweren Presslufthämmern den gefrorenen Straßenbelag auf. Das ist in den Augen der Meise sogar noch krasser als Zement mischen, besonders wenn man an all die nichtsnutzigen, uniformierten Pfauenmännchen denkt, die in ihren prächtigen Uniformen überall in der Stadt herumstolzieren und sich nutzlos breitmachen.

17. In all den riesigen Fabriken scheinen auch nur Pfauenweibchen zu arbeiten; sie stehen mit hässlichen Kopftüchern still und stumm an schmutzigen Vorkriegs-Maschinen, starren vor sich hin und verrichten von morgens bis abends die immergleichen langweiligen Handgriffe. Etwas derart Rückständiges und Undezentes hat die Meise noch gar nie gesehen. Trotzdem lächelt sie nickend einer der Pfauenfrauen zu, die an einer uralten Maschine Schrauben herstellt, gerade so, als ob sie sich im Schraubendrehen auch auskenne, doch die Pfäuin hat überhaupt keinen Anlass, das Lächeln zu erwidern. Stumm und ausdruckslos blickt sie zur Meise herüber, die ja nur ein freundliches Zeichen setzen will, und ohne eine Miene zu verziehen, wendet sie sich wieder ihrer uralten, klobigen Maschine zu, einem Beutestück aus Deutschland, und denkt sich ihren Teil.

18. In der belebten Kneipe sieht sie zum ersten Mal eine richtige Kakerlake, eine maikäfergroße, pechschwarze Kakerlake, die hilflos in ihrem Bierglas zappelt. Eine betrunkene Drossel will ihr das billige Feuerzeug, mit dem sie sich soeben eine Zigarette angezündet hat, teuer abkaufen, und statt aus dem plumpen Glas mit der Kakerlake zu trinken, schiebt sie es diskret zur Seite. Eine andere Sumpfdrossel versucht, sie von der Seite ungehemmt zu küssen, kann sich jedoch nur noch schlapp an ihre Schulter lehnen, wie wenn sie ihr Vorhaben plötzlich vergessen hätte. Darauf kippt sie vornüber und rutscht seitlich unter den Tisch, wo sie zusammengerollt wie ein Hund liegen bleibt und zwischen den Beinen der übrigen Gäste sofort einschläft.

19. Ihre Begleiter und gleichzeitigen Bewacher, die misstrauischen Buntspechte, sind darob sichtlich betreten und schimpfen lauthals über die verdammte Säuferdrossel, der man das Arbeitsbuch abnehmen sollte, wie sie erklären, obschon das gar nichts nützt. Doch die Meise empfindet Mitleid mit dem armen Schwein, eines von unglaublich vielen Millionen von armen Schweinen hier in diesem erschreckend grobschlächtigen Land, denn sie muss annehmen, dass es ihr in dieser so unsympathischen und absolut abstoßenden Großstadt spätestens nach einem halben Jahr ebenso ergehen würde. Auch sie läge wahrscheinlich bald einmal nur noch betrunken unter dem Tisch, absolut unfähig, all das öffentliche und private Elend, das sie hier täglich umgibt, physisch zu bewältigen und psychisch zu verkraften. So traurig ist das Leben in einer gottverdammten Diktatur nun mal, muss sie sich konsterniert sagen.

20. Die Stadt ist viel kleiner, als man gemeinhin annimmt, eigentlich erstaunlich klein, streckenweise fast dörflich für eine historische Stadt dieses ehemals weltweiten wirtschaftlichen und kulturellen Ausmaßes, zumindest ihr Zentrum, stellt die Meise ganz überrascht fest. Man hat ihre wahrhaft spektakulären Sehenswürdigkeiten, an denen sie so reich ist, zusammen mit wahren Massen von Zugvögeln aus aller Welt bald einmal abgeschritten. Die Meise findet sich jedenfalls schon mittags auf einem zentralen Marktplatz wieder, wo es ihr recht gut gefällt, weil die Stadt hier wiederum wie ein friedliches Dorf aussieht, von denen es in diesem schönen Land nur so wimmelt. Sie denkt gar nicht mehr an eine bedeutende Millionenstadt, sobald sie sich in der unerwarteten Ruhe dieses Platzes wiederfindet und mit Blick auf das pittoreske Marktgeschehen gemächlich einen leckeren Kaffee trinkt.

21. Auf einem breiten, hohen Sockel aus Granit steht ein überaus finster dreinblickender Kolkrabe, ein richtiger, eindeutiger Finsterling, der angestrengt in eine ganz bestimmte Richtung starrt, direkt hinüber zum prunkvollen Palast eines anderen, noch mächtigeren Finsterlings nämlich, der ihn seinerzeit als ungebetene, unerwünschte, lästige und verhasste Konkurrenz kurzum hat verbrennen lassen, genau an dieser Stelle, genau auf diesem Platz, und zwar bei lebendigem Leibe. Es gibt viele Dinge, die man sich kaum noch vorzustellen wagt, wie etwa eine öffentliche Verbrennung bei lebendigem Leibe, denn sie sind wirklich schwer zu begreifen, solcherlei Grausamkeiten, so wie es überhaupt viele Dinge gibt, über die man nachträglich nur verständnislos den Kopf schütteln kann, findet die Meise konsterniert.

22. Gleich nebenan steht eine recht eindrückliche Erhebung, von der man auch auf den zweiten Blick gar nicht sagen kann, ob es sich nur um einen sehr großen Hügel oder bereits um einen sehr kleinen Berg handelt, Grund genug, um anschließend ein steiles und steiniges, sehr umständlich gewundenes Sträßchen hinaufzufahren, um diese doch recht merkwürdige Erhebung, die von weitem wie ein reifer Furunkel ausschaut, aus der Nähe zu erleben. Ganz oben, auf der Terrasse des erstaunlich gut geführten Restaurants, hat man einen betörenden Blick auf den See, die Bucht und die Stadt. Die Meise kann sogar das kleine Hotel an der Seepromenade erkennen, in welchem sie sich für einige Tage gemütlich eingerichtet hat.

23. Am frühen Abend wird sie in einem engen Restaurantkeller mitten in der kleinen Altstadt – oder in dem, was davon noch übriggeblieben ist – wo sie ausgezeichnetes Safranreis mit schmackhaften Würstchen gegessen haben wird, zum ersten Mal in ihrem Leben mit ihrer allerersten Kreditkarte bezahlen, und sie wird überrascht sein, dass es tatsächlich völlig reibungslos funktioniert. Ihre brandneue Kreditkarte wird ohne weiteres akzeptiert, und das Bezahlen geht viel schneller und anonymer vonstatten als jede andere Bezahlung zuvor. Sie hätte, so wird sie nachher stolz herumerzählen, nie gedacht, dass Geld ausgeben so fix ablaufen kann.

24. In dieser merkwürdigen Stadt, immerhin gut tausend Jahre lang die größte, wichtigste und mächtigste deutschsprachige Stadt mit der deutschen Kultur schlechthin, also eine Stadt mit einer Kulturgeschichte ohnegleichen, gibt es in den Augen der Meise einfach nichts mehr. Da ist nicht nur nichts los, sondern gleich überhaupt nichts an Geschehen und an Leben überhaupt. Es hat da zwar allerhand eindrückliche Avenuen und breite Boulevards, weite Plätze und große Parks, wie es sich für eine Stadt dieses Ausmaßes und dieser Bedeutung gehört, zugegeben, auch hohe, klassische Häuserblocks, Alleen, Gassen und unzählige Taxis, genau wie in jeder anderen Stadt der Welt. Man trifft auf Parks und Paläste, auf öffentliche und private, verschwenderisch ausladende Prunkbauten ohne Zahl, auf mehrere Schlösser und sogar auf eine Burg, einverstanden, alles ist da, was es für einen Hochglanzprospekt braucht. Auch gibt es hier jede Menge sommerlicher, gefiederter Passanten und ornithologischer Flaneure, die scheinbar ziellos herumschlendern, ganze Familienclans, Touristenpulks und Vogelvereine auf ihrem jährlichen Vereinsausflug. Aber sonst ist hier einfach nichts los. Es gibt nichts zu sehen, nichts Interessantes jedenfalls, noch hat es irgendwo gemütliche Ecken, wo man verweilen möchte. Die Meise ist enttäuscht.

25. Die wenigen Vögel, die in der ungewöhnlich langen und breiten Fußgängerzone anzutreffen sind, die vereinzelten volatilen Passanten, meist ältere, griesgrämige Uhus mit Schirmen, billigen Plastiktaschen und meist leeren Einkaufsnetzen, schauen alle sehr hässlich und richtig abstoßend aus, und sie scheinen sich alle in ihrer eigenen Stadt richtig zu langweilen, wenn nicht gar zu Tode zu ärgern. Genau so sehen sie hier aus. Langweiliger als diese unglaublich langweilige Großstadt kann tat-sächlich keine andere Stadt sein, findet die Meise perplex, und der gesprächige Taxichauffeur, ein etwas zerzauster Gockel mit dicken Brillengläsern, ein sicher bereits mehrfacher Hühnergroßvater, von dem sie sich völlig enttäuscht ins schlecht geführte Hotel zurückfahren lässt, hält ihr überdies und überflüssigerweise während der ganzen Fahrt auch noch mit starkem Akzent einen langen und eindringlichen Vortrag über Geschlechtskrankheiten aller Art und deren vielfältige Übertragungsmöglichkeiten. Es ist nicht zu fassen.

26. Nie hätte sie zuvor gedacht, dass es irgendwo eine Stadt geben kann, die derart öde ist wie ausgerechnet diese Stadt, die doch eine lange und äußerst interessante Geschichte vorzuweisen hat; sie zeichnet sich wohl einzig durch ihre gewachsene Farblosigkeit und gestandene Eintönigkeit aus, könnte die Meise amüsiert annehmen, wenn sie es nicht besser wüsste. Nirgendwo hat sie sich so oft die Frage stellen müssen: Wo sind denn die geflügelten Bewohner dieser Stadt? Sitzen sie alle mit dem Bier vor der Glotze und starren das Erste Programm mit der öden Samstagabendunterhaltung ab, so dass diese Stadt, die nun wirklich zum Vergessen ist, gar keine Attraktivitäten auf- und vorzuweisen braucht?

27. Die abgewaschenen Mauern sind so alt, dass man sich bei ihrem Anblick gleich fünfhundert Jahre zurückversetzt fühlt, wenn nicht noch mehr, und überall, hinter jedem Hausvorsprung, hinter jeder Ecke, erwartet man unwillkürlich die blutigen Häscherraubvögel von damals, die ohne jede Vorwarnung auf offener Straße unbesehen alle totschlagen, erwürgen oder abstechen, die ihnen in die Hände geraten, nur weil sie offensichtlich anders sind und deshalb auch anders ticken als die staatlichen und klerikalen Gewaltverbrecher oder sich ihnen dummerweise nicht auf Anhieb zu erkennen geben, die sich ihnen somit nicht sofort ergeben oder sich ihnen gar nicht erst beugen wollen, ganze kinderreiche Vogelfamilien – wer auch immer. Wer noch fliehen kann, flieht an diesem schrecklichen 31. Juli 1492 Hals über Kopf aus der Stadt. Die Blutbäder sind aber schon angerichtet. Es ist, nach tausend Jahren friedvollen und prospektiven Zusammenlebens von drei unterschiedlichen Religionen, absolut unfassbar, was da geschieht.

28. Die tiefe und nachhaltige Beklemmung weicht nicht von ihr, selbst im imposanten Restaurant nicht, in das sie sich vorübergehend geflüchtet hat, um der erstaunlicherweise immer noch unangenehm präsenten Atmosphäre von Gewalt, Verfolgung und Massenmord endlich zu entgehen, und das Essen kann ihr gar nicht erst schmecken, denn vor ihrem inneren Auge leben all die schrecklichen Massenmorde unweigerlich wieder auf, angerichtet zu praktisch allen Epochen der gewalttätigen Geschichte dieses von brutalem Hass und gnadenloser Verfolgung, von nackter Intoleranz und harter Unerbittlichkeit gebeutelten und deutlich gezeichneten Landes. Die Meise vermag sich sogar die Leichenberge und die Ströme von Blut in den engen Gassen vorzustellen, ja, sie kann all das Blut sogar riechen, und diese Vorstellung nimmt ihr verständlicherweise für mehrere Tage jeden Appetit.

29. Nirgendwo sonst im Lande wird so viel gebaut, bebaut, überbaut, umgebaut, abgebaut, aufgebaut und zugebaut wie hier; überall sind Bauarbeiter zugange, sei es auf den zahllosen Baustellen, oder auf den vielen Brücken, Straßen, Kanälen, Bahnlinien und Plätzen, und man hat bald einmal den Eindruck, als ob praktisch alle Bewohner dieser Stadt im Hoch- oder Tiefbau tätig seien, so sehr wird das Stadtbild von Baustellen geprägt. Selbst wenn man irgendwo pissen geht, kann man darauf zählen, dass dort einer auf den Knien gerade am Pflastern, am Streichen oder am Kacheln ist, oder dass eine auf einer Leiter steht und die Decke weißelt; man wird von den zahllosen Bauarbeitern und Bauarbeiterinnen gewissermaßen auf Schritt und Tritt verfolgt. Sie sind jedoch absolut diskret, und man darf annehmen, dass diese ungewohnt rege Bautätigkeit ein gutes Zeichen für das endlich befreite und erleichterte Land ist. In der Tat: Das Land befindet sich in einer nie gekannten Aufbruchstimmung, als sei es soeben neu gegründet worden.

30. Als sich die Meise im großen Hotel nach den Frühstückszeiten erkundigt, muss sie sich erst durch die Plastikabdeckungen der Gipser und Maler kämpfen, bevor sie bis zur Rezeption vordringen kann, und im Rundfunkgebäude muss sie viele überaus komplizierte Umwege in Kauf nehmen, weil alle Verbindungskorridore von Plattenlegern und Fugendichtern, von Heizungsmonteuren und Maurern, von Spenglern und Elektrikern, von Anstreichern, Schreinern und Fensterputzern in Beschlag genommen sind.

31. Das Problem ist nicht die schöne Stadt mit ihrem umwerfenden Dom selber; das Problem ist ihre nähere und weitere Umgebung, denn wenn man sich aus dem wuseligen Stadtzentrum begibt, wenn man sich aus den spärlichen, staubigen Vororten entfernt, ist man schnell einmal auf dem nahezu menschenleeren Land draußen. Der Übergang zwischen Stadt und Land kommt ungewöhnlich plötzlich. Das liegt zwar durchaus in der Natur der Sache, könnte man zunächst meinen, doch gleichzeitig mit der Stadt pflegen auch gleich all die engen und kurvigen Straßen aufzuhören, manchmal sogar sehr abrupt. So kommt es vor, dass die muntere Meise die belebte Stadt mit ihrem kleinen Scooter auf einem breiten Boulevard frohgemut verlässt, nur um auf dem Lande draußen etwas Ruhe und frische Luft zu genießen, und plötzlich irgendwo in den Feldern endet, weil das Sträßchen, in das der stark bevölkerte Boulevard gemündet ist, einfach unvermittelt aufhört.

32. Nicht selten kommt es vor, dass sie in der hügeligen Umgebung der Stadt unvermittelt ratlos vor einem prächtigen Olivenhain steht, vor einem schattigen Wäldchen, vor einem güldenen Kornfeld oder vor einem steilen Rebberg, und einmal ist sie sogar in einem kurzen, buschigen Anstieg steckengeblieben und mitsamt ihrem Scooter umgekippt, ohne sich allerdings ernsthaft zu verletzen, in einer sanft ansteigenden und harmlos scheinenden Böschung, weil sie zunächst geglaubt hat, hier mit dem schwächlichen Motorino problemlos hinauf zu kommen.

33. Die Meise ist endlich aus dem schneeweißen, majestätischen Schiff ausgestiegen, aus ihrem ersten Passagierschiff, zu-sammen mit vielen anderen, emotional sehr ergriffenen Passagieren, ist durch die Zollabfertigung geschlendert, hat dem Zollbeamten fast gleichgültig ihren schäbigen Kartonkoffer mit der billigen, weißen Unterwäsche gezeigt, ist anschließend auf den weiten, warmen Platz hinter dem kleinen, engen Hafenbecken gelangt, hat dort sofort den richtigen Bus gefunden und ist gleich und wie selbstverständlich eingestiegen. Der Bus ist weggefahren, gerade so, als sei sie in dieser hellgrauen Hafenstadt zu Hause und als habe sie diese Busfahrt schon tausendmal gemacht. Sie ist nicht einmal überrascht.

34. Dabei befindet sie sich in ihrem jungen, unerfahrenen Leben überhaupt erstmals richtig außer Landes, in einem ganz fremden Land, auf einem ganz anderen Kontinent, wo sie nicht einmal die Aufschriften lesen kann und auch die vielen fremdartigen Umgangssprachen nicht versteht. Und trotzdem hat sie das verblüffende und zudem reichlich unverständliche, also verwirrende Gefühl, hier eigentlich zu Hause zu sein, also end-lich angekommen zu sein, meinetwegen zurückgekommen zu sein, ein Gefühl übrigens, das sie während ihres ganzen Aufenthaltes in diesem fremden Land nicht verlassen sollte, und das erstaunlicherweise bewirkt, als bewege sie sich hier ständig in einer absolut bekannten Umgebung und in einem ganz gewohnten Umfeld, und auch die überaus freundlichen Leute sind ihr überhaupt nicht fremd. Eine sehr merkwürdige Erfahrung, in der Tat.

35. So hat sie auch mit den vielen wirklich komischen Vögeln hier kein Problem, auch wenn sie ihre vielen absonderlichen Sprachen gar nicht versteht, denn all diese verrückten Vögel kommen selber von überall her und sprechen somit die unglaublichsten Sprachen, selbst Sprachen, von denen die Meise noch gar nie gehört hat, oder Sprachen, die ihrer Ansicht nach eigentlich längst ausgestorben sein müssten. Sie kommt mit ihnen auf Anhieb gut zurecht und hat absolut kein Problem mit der Verständigung und mit dem extrem komplizierten und auch gefährlichen Leben in dieser überaus lebhaften Stadt und in diesem unglaublich komplizierten Land, das hier als theatrale Inszenierung seiner selbst täglich und vor allem sehr öffentlich stattfindet.

36. Die Meise befindet sich in einer eigenartig stillen und scheinbar unbelebten Zweimillionenstadt, von deren Existenz sie bis zu ihrem Eintreffen in dieser Stadt noch nie etwas gehört hat und auch nichts hat wissen können. Wie auch? Und nicht nur das: Sie hat nicht einmal das Land gekannt, in welchem sich diese Stadt befindet, immerhin die Hauptstadt dieses Landes, denn sie hat zuvor auch von diesem Land noch nie etwas gehört oder gelesen, hat somit bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht wissen können, dass es dieses Land und diese Stadt überhaupt gibt, und sie muss sich erneut vorwerfen, dass ihre Bildungslücken doch weitreichender seien, als sie jemals gedacht hätte. Wie kann es überdies geschehen, dass man von einem Land, in welchem man sich befindet, in welchem man somit persönlich anwesend ist, noch nie etwas gehört oder gelesen und auf keiner Karte jemals etwas gesehen haben kann? Ist das nicht unglaublich?

37. Sie fährt im Schritttempo durch kilometerlange Schrebergärten, stundenlang auf kleinen, schiefen Strässchen voller Schlaglöcher, Pfützen, Pferdefuhrwerke, Enten- und Gänsescharen, spielenden Kindern und Radfahrern, vorbei an hohen, improvisierten Gartenzäunen, hinter denen sich geduckte, graue Gartenhäuschen aus stark verwitterten Balken und Brettern und rissiger Dachpappe verbergen, denen man die Jahre deutlich ansehen kann, und sie fragt sich, wann denn endlich die richtige Stadt kommen möchte, die Metropole, denn sie wähnt sich während langer Zeit, vielleicht während zweier Stunden Fahrt in einem ganz ungewöhnlich breiten, nahezu gleichförmigen und überraschend wenig belebten Gürtel von leicht vernachlässigt wirkenden Gemüsegärten, Ställen, Hühnerhöfen, Futterweiden, Ententeichen und Schweinekoben, in denen diese engen Schrebergarten-Baracken und selbstgezimmerten Gartenhäuschen dicht verschachtelt beieinander stehen. Erst nach einer ganzen Weile fällt ihr ein, dass dies die eigentliche Stadt ist, dass also gar nichts anderes vorhanden ist als diese vermeintlichen Schrebergärten, dass die zwei Millionen Einwohner dieser Stadt hier, in diesen flüchtig zusammengebretterten Gartenhäuschen leben und nicht anderswo, und dass dies ihre einzigen, wirklichen und wahren Lebensbedingungen und Lebensrealitäten sind, weitab von jeder vollmundigen Propaganda, und dies bei zeitweise minus dreißig Grad im Winter, nota bene. Das ist heavy.

38. So etwas Bemerkenswertes ist ihr verständlicherweise noch nie widerfahren, und umso neugieriger schaut sie sich im fremdartigen, doch nur ganz kleinen und deshalb leicht überblickbaren Stadtzentrum dieser ihr so unbekannten Stadt in diesem ihr so unbekannten Land um. Die wenigen durchaus eigenartigen und recht kleinen, pastellfarbenen Gebäude stammen mehrheitlich aus dem vorletzten Jahrhundert und sehen wie Gebäude aus dem vorletzten Jahrhundert aus, nur dass sie seit ihrer Entstehung niemals gepflegt, gereinigt, geflickt oder gar restauriert worden sind. Die Meise hat hier ständig das befremdliche Gefühl, durch alte, etwas verblichene und vergilbte, schwarz-weiße Postkarten oder durch blässlich kolorierte Ansichtskarten aus der vorletzten Jahrhundertwende zu wandeln, wenn sie sich auf den baumgesäumten, ungewohnt verkehrsarmen und nur sehr schlecht unterhaltenen Straßen befindet. Auch die kleinen, mehr als schäbigen Ladengeschäfte und winzigen, ärmlichen Kioske vermitteln ihr den Eindruck, als seien sie mitsamt ihrem spärlichen Angebot deutlich mehr als hundert oder gar zweihundert Jahre alt.

39. Die historischen Gebäude um diesen eindrücklichen, zentralen Platz herum zeigen alle eine verführerische Fülle und ein strotzendes Gepränge, wie sie nur eine enorm reiche und ausnehmend mächtige Stadt aufweisen kann, denn wir befinden uns in einer zentralen und recht wichtigen Stadt, wo zumindest die ungewohnt reichen Vögel so überaus reich sind, dass sie sich diese üppige Pracht jahrhundertelang auch an allen öffentlichen Gebäuden haben leisten können, nicht nur an ihren eigenen, privaten Palästen. Die Meise betrachtet fast etwas betreten, aber trotzdem mit unverhohlener Bewunderung, die geradezu verschwenderisch prächtigen, gotischen Fassaden der überaus eindrücklichen Gebäulichkeiten und fragt sich gleichzeitig, wer diesen haarsträubenden Pomp, diesen blendenden Glanz und diese überaus kostspielige Herrlichkeit damals wohl hat bezahlen müssen. Sicher nicht die Reichen und die Mächtigen selber; so blöd können die gar nicht gewesen sein.

40. Abgesehen davon, dass es in dieser ausnehmend kleinen Stadt immerzu regnet, begleitet gerade sie ein Ruf, über den man sich nicht genug wundern kann. Denn Reisevögel aus aller Welt begehren aus völlig unverständlichen Gründen ausgerechnet diese Stadt, und nur diese eine Stadt zu besuchen, diese und keine andere, diese winzige und vergleichsweise unbedeutende Stadt, in der es eigentlich gar nichts Besonderes zu sehen gibt, in der nie jemand Bedeutendes gelebt hat und in der auch nie etwas Wichtiges geschehen ist. Doch sie wollen alle ums Verrecken diese Stadt gesehen haben, wollen hier und nur hier an schmiedeeisernen Geländern zum Fotografieren stillgestanden haben, vor Treppen, Brunnen, Fassaden, Brücken und allerlei anderen, eher belanglosen An- und Aussichten, die es anderswo in aller Reichlichkeit auch zu sehen gäbe, nur um da-nach ihren Angehörigen zu Hause in fernen Erdteilen beweisen zu können, dass sie sich tatsächlich hier aufgehalten haben. Was soll man davon halten? Es muss sich hierbei um eine Art geschickt gesteuerte Hysterie handeln, anders ist das nicht zu erklären.

41. Alle Zugvögel drängen sich in den einzigen Souvenirladen dieser kleinen Stadt und schleppen die hemmungslos überteuerten Preziosen voller Silber und Gold, Edelstein und Diamanten gleich tonnenweise in alle Welt ab, lauter Tand, Gebilde aus Menschenhand, den man auch anderswo viel günstiger kaufen könnte. Man kann sich tatsächlich nur noch wundern, denn zu unverständlich sind die wahren Hintergründe einer Motivation endloser Touristenmassen, die später zu Hause voller Stolz bekunden können wollen, ausgerechnet hier und nicht anderswo gewesen zu sein und ihr ganzes Erspartes hier und nicht anderswo ausgegeben zu haben. Die Meise kann sich diese Erscheinung nur mit dem zugvogelhaften Herdentrieb er-klären, mit der ornithologischen Reisestringenz oder mit dem winterlichen Schwarmverhalten, also mit dem kollektiven Stumpfsinn, der aus konturlosen Individuen schnell mal ein er-schreckendes Massenphänomen macht. Oder ist das Ganze doch nur die Folge einer wahrhaft gezielten Informations- und einer gerissenen Geschäftsmethode?

42. Das Beeindruckende ist diese unmittelbare Nähe zum Hafen und zur großen Werft, und wo immer man sich in dieser großen Stadt auch befinden mag; man hat von jedem Winkel der an sich nicht sonderlich schönen Hanglage immer diesen unerhört weiten Überblick über die ausgedehnte Bucht mit den großen Werft- und Hafenanlagen und das wahlweise leuchtend blaue, graue, silberne, bleierne, milchkaffeebraune, hell- oder dunkelgrüne Meer, je nach Lichteinfall, ein richtiges Meer voller leckerer Fische, Muscheln und allerhand köstlichen Krabbelzeugs übrigens, also ein wirkliches Meer mit gewaltigen Gezeitenunterschieden, die einen schwindlig werden lassen können. Machen Sie da mal ein Boot fest!

43. Die ganze Stadt liegt an einem weitgestreckten, steilen Hang, und der zentrale Boulevard ist eigentlich nichts anderes als eine endlos lange Steigung einen endlos langen Hang hoch und neuerdings auch noch eine Fußgängerzone, die von den spärlichen Vögeln, die diese mühsame Zone entlangkeuchen, eindeutig ein Zuviel an Kräften abverlangt. So hört man denn auch die mehrheitlich eher schlecht gelaunten Möwen verständlicherweise oft schimpfen und laut fluchen, in einer sonderbaren Sprache, die niemand anderes als sie selber versteht, eine Sprache übrigens, die sie in der Öffentlichkeit generationenlang bei Busse oder Kerkerstrafe nicht haben benutzen dürfen, ja, nicht einmal im Kreise ihrer Familie hätten sie diese fremdartige, abseitige und eigensinnige Sprache sprechen dürfen, schon gar nicht in den Schulen oder in den Ämtern, kurz, eine Sprache, die hier eigentlich längst ausgestorben sein sollte.

44. Die Meise kreuzt ein junges Möwenpaar, das sich lauthals zankt; das ist selbst dann zu verstehen, wenn man diese merkwürdige Sprache gar nicht kennt, auch wenn man kein einziges Wort davon versteht, nicht einmal ja oder nein, danke oder bitte, Hallo und Auf Wiedersehen. Eine wirklich fremde Sprache. Beide Ehepartner beschuldigen sich gegenseitig lauthals und rechtfertigen sich gleichzeitig selber, so dass es alle Passanten hören können, und beide versuchen, mittels lauten Schreiens besser dazustehen als ihr verhasster Partner. Es gibt keinerlei Unterschiede zu anderen zerstrittenen Paaren auszumachen; das Muster bleibt immer und überall dasselbe, egal in welcher Sprache, das ist der Punkt.

45. Die Meise erklärt der leicht bekleideten Finkendame, dass sie, die Meise also, jetzt eigentlich gar nicht hier, in dieser eindeutig zweifelhaften Kaschemme sein sollte, sondern an der internationalen Ausstellung auf der anderen Straßenseite drüben, für die sie extra habe herkommen müssen, für die sie sogar eine lange und unangenehm langweilige Eisenbahnfahrt in unbequemen, lauten, überfüllten und verrauchten Zügen mit unfreundlichem Zugspersonal habe in Kauf nehmen müssen. Sie erklärt des Weiteren, dass sie Ausstellungen gar nicht möge, ebenso wenig, wie sie Ansammlungen von Vögeln möge, und sie könne eigentlich auch diese Stadt nicht ausstehen. Eigentlich könne sie keine Stadt ausstehen, erklärt sie auf Nachfrage, jedenfalls habe sie noch nie eine Stadt angetroffen, die ihr rundum gefallen hätte. Deshalb seien große Städte für sie etwas, was sie als Meise unbedingt meiden müsse, denn Städte seien nicht ihr natürliches Biotop.

46. Die Demo war sehr bewegt; die Spatzen demonstrierten gegen die Anwesenheit einer bösen Diktatur als ausländischer Gast in einer populären, nationalen Ausstellung; sie demonstrierten gegen diesen Gast statt gegen die Gastgeber, die diesen garstigen Gast eingeladen hatten, was zumal logischer, doch weitaus weniger attraktiv gewesen wäre, denn die Gastgeber, die diese schlimme Diktatur dummerweise an die harmlose Ausstellung geladen hatten, waren allesamt biederes Bankpersonal, brave, unschuldige Geschäftsleute und demokratisch legitimierte Repräsentanten dieser eher popeligen Ausstellungs-Stadt und keinesfalls Freunde einer Diktatur. Es waren einfach nur ganz gewöhnliche Deppen und Arschlöcher, das ist alles, nicht einmal richtige Geschäftemacher.

47.