Heimweh nach der Omi - Judith Parker - E-Book

Heimweh nach der Omi E-Book

Judith Parker

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Draußen stürmte und schneite es, aber im Herrenhaus von Sophienlust war es gemütlich warm. Die Schneeflocken wirbelten an den Fenstern der großen Halle vorbei, wo die Kinder vor dem prasselnden Kaminfeuer saßen und sich lebhaft unterhielten. Das Winterwetter gefiel den Kindern. Sie warteten ungeduldig auf das Nachlassen des Schneegestöbers, damit sie die Skier, die sie zu Weihnachten bekommen hatten, endlich einweihen konnten. Denn der Schnee hatte in diesem Winter sehr lange auf sich warten lassen. Pünktchen stand versonnen an einem Fenster und blickte in das Schneetreiben hinaus. »Ich hatte mal eine Glaskugel, die voller Schnee war. Wenn man sie ganz toll schüttelte, wirbelten die Flocken genauso durcheinander wie draußen vor dem Fenster«, erzählte sie lächelnd. »Ja, solche Kugeln kenne ich. Ich hatte auch einmal eine. Darin war ein Haus mit einem roten Dach und zwei grüne Bäume. Und wenn ich die Kugel schüttelte, sah es aus, als ob jemand die Betten ausschüttelte.« Vicky sah Pünktchen triumphierend an. »Du denkst bestimmt an das Märchen von Frau Holle«, meinte Angelika, Vickys Schwester. »Vielleicht!« Vicky strich ihrem Meerschweinchen Micky, das sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte, zärtlich über das Köpfchen. »Eigentlich könnte es wirklich zu schneien aufhören«, seufzte Pünktchen auf.

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Seitenzahl: 153

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sophienlust – 525 –

Heimweh nach der Omi

Judith Parker

Draußen stürmte und schneite es, aber im Herrenhaus von Sophienlust war es gemütlich warm. Die Schneeflocken wirbelten an den Fenstern der großen Halle vorbei, wo die Kinder vor dem prasselnden Kaminfeuer saßen und sich lebhaft unterhielten.

Das Winterwetter gefiel den Kindern. Sie warteten ungeduldig auf das Nachlassen des Schneegestöbers, damit sie die Skier, die sie zu Weihnachten bekommen hatten, endlich einweihen konnten. Denn der Schnee hatte in diesem Winter sehr lange auf sich warten lassen.

Pünktchen stand versonnen an einem Fenster und blickte in das Schneetreiben hinaus. »Ich hatte mal eine Glaskugel, die voller Schnee war. Wenn man sie ganz toll schüttelte, wirbelten die Flocken genauso durcheinander wie draußen vor dem Fenster«, erzählte sie lächelnd.

»Ja, solche Kugeln kenne ich. Ich hatte auch einmal eine. Darin war ein Haus mit einem roten Dach und zwei grüne Bäume. Und wenn ich die Kugel schüttelte, sah es aus, als ob jemand die Betten ausschüttelte.« Vicky sah Pünktchen triumphierend an.

»Du denkst bestimmt an das Märchen von Frau Holle«, meinte Angelika, Vickys Schwester.

»Vielleicht!« Vicky strich ihrem Meerschweinchen Micky, das sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte, zärtlich über das Köpfchen.

»Eigentlich könnte es wirklich zu schneien aufhören«, seufzte Pünktchen auf. »Ich möchte so gern endlich Ski fahren.«

»Ich auch«, erklärte Isabel und klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte. »Ich habe vorhin den Wetterbericht gehört. Demnach muss es morgen schön sein.«

»Ach, der Wetterbericht«, ließ sich der vierzehnjährige Martin Hofer vernehmen, der seit zwei Wochen in Sophienlust weilte, weil seine Eltern für längere Zeit verreist waren. Er stammte aus Bayern und hatte erzählt, dass er bereits mit vier Jahren auf Skiern gestanden hatte. »Außerdem gibt es hier auch keine richtigen Abfahrten.«

»Doch, es gibt welche!« Jetzt mischte sich Dominik ein, weil er es nicht leiden konnte, wenn jemand abfällig über Sophienlust sprach. »Der Hasenberg ist zum Beispiel sehr hoch.«

»Ach ja, der Hasenberg«, entgegnete Martin friedfertig, denn ihm lag viel an Dominiks Freundschaft.

Im stillen bewunderte er den Erben von Sophienlust restlos.

»Schaut doch nur, es hört tatsächlich zu schneien auf!«, rief Malu. Sie erhob sich und trat ans Fenster. »Da wird sich Benny aber freuen. Er hat Schnee sehr gern. Benny, komm her!«, rief sie ihrem Wolfsspitz zu, der es sich auf einem Sessel bequem gemacht hatte und nicht daran dachte, seinen gemütlichen Platz aufzugeben.

Carola Rennert rief die Kinder zur Nachmittagsschokolade. Wenig später saßen sie an dem langen Tisch und sprachen mit gutem Appetit dem noch warmen Apfelkuchen zu.

*

Am nächsten Tag, einem Samstag, schien die Sonne. Der Himmel wölbte sich tiefblau über der verschneiten Landschaft.

Gleich nach dem Frühstück schnallten die Kinder und Wolfgang Rennert, der ein ausgezeichneter Skifahrer war, die Skier an, um zum Hasenberg zu fahren.

Nach einer guten halben Stunde erreichten sie den Fuß des Hügels. Martin Hofer stieg bereits auf und juchzte laut, als er oben war. Dann stieß er sich mit den Stöcken ab und brauste los.

Dominik unterdrückte einen Seufzer. Ob er auch einmal so gut Ski fahren würde? fragte er sich. Doch nach einer Stunde stellte er bei sich fest, dass das Reiten entschieden leichter war als dieser Sport.

Wolfgang Rennert, der in Nicks Gesicht wie in einem offenen Buch lesen konnte, sagte lachend: »Nick, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Es wird sicher nicht mehr lange dauern, bis du ganz sicher auf den Skiern stehst.«

»Wirklich?«, fragte der Junge skeptisch.

»Schauen Sie, Herr Rennert!«, rief Pünktchen. »Ich kann schon fahren.« Als sie nach ein paar Metern in den Schnee purzelte, lachte sie silberhell auf.

Malu stellte sich am geschicktesten an, aber auch Isabel machte ihre Sache recht gut.

Fabian übte verbissen. Seit er zu der großen Familie von Sophienlust gehörte, wollte er alles so schnell wie möglich erlernen, um Tante Isi und Tante Ma Freude zu bereiten. Er wollte damit seinen Dank dafür abstatten, dass hier alle so gut zu ihm waren.

Alles in allem wurde es für die Kinder und ihren Lehrer ein amüsanter und vergnügter Vormittag.

»Aber jetzt müssen wir auf dem schnellsten Weg heim!«, rief Wolfgang Rennert nach einem Blick auf seine Armbanduhr. »Wir werden auf der anderen Seite abfahren. Aber ihr müsst langsam fahren, weil es dort mehr Bäume gibt.«

Die Kinder nickten und prüften nach, ob ihre Skier auch richtig saßen. Dominik jedoch blickte angestrengt auf die Autostraße, die ungefähr einen halben Kilometer entfernt vorbeilief und Bachenau mit Sophienlust verband. Der chromblitzende weiße Wagen, der dort fuhr, interessierte ihn brennend. Als er nun die Abzweigung nach Sophienlust einbog, rief Nick: »Schaut doch! Wir bekommen Besuch!«

»Wieso?« Pünktchen sah ihn erstaunt an.

»Siehst du denn nicht den tollen Schlitten dort unten? Mensch, das ist ein Straßenkreuzer, wie man ihn nicht oft zu Gesicht bekommt.«

»O ja, jetzt sehe ich das Auto«, rief Pünktchen.

»Dann nichts wie heim!«, meinte Dominik. Er brannte bereits vor Neugier. Rasch stieß er sich ab und fuhr los. Anfangs verlief seine Abfahrt auch so fantastisch, dass er glaubte, den Dreh jetzt herauszuhaben. Aber dann rutschten die Skier einfach unter ihm fort, sodass er ziemlich unsanft auf seine vier Buchstaben fiel. Pünktchen, die dicht hinter ihm gewesen war, fuhr direkt auf ihn zu und schlug einen Purzelbaum.

»Uff!«, stieß sie hervor, als sie sich wieder aufgerichtet hatte. »Ski fahren ist ziemlich schwer. Aber wir werden’s schon lernen, Nick.«

Er brummte irgendetwas vor sich hin und fuhr langsam weiter. Später, als sie auf ihren Brettern die Waldschneise entlangrutschten, fühlte er sich um vieles behaglicher.

Frau Rennert stand auf der Freitreppe und wartete auf die Kinder, die sie sofort umringten und lebhaft auf sie einsprachen. Denn sie wollten wissen, wer zu Besuch gekommen war.

»Nicht so stürmisch, Kinder!«, rief Frau Rennert lachend. »Erst einmal erzählt mir, wie es war.«

»Prima! Fantastisch. Ganz toll!«, bekam sie zur Antwort.

Dominik hatte sich unterdessen den tollen Wagen, der im Gutshof stand, von allen Seiten angeschaut und festgestellt, dass er eine amerikanische Nummer hatte. »Tante Ma!«, rief er aufgeregt. »Erzähl doch schon wer da ist!«

»Ein Herr und ein kleines Mädchen. Sie sind im Augenblick bei deiner Mutter im Biedermeierzimmer.«

»Dann bekommen wir gewiss ein neues Kind. Nicht wahr, Tante Ma?« Fragend sah Pünktchen die Heimleiterin an.

»Möglich wäre es.«

»Dann ist das Kind also Amerikanerin«, stellte Dominik fest.

»Und stinkreich muss der Vater sein«, meinte Vicky burschikos.

»Vicky, drück dich bitte etwas gewählter aus«, ermahnte Frau Rennert die Kleine.

»Aber Nick sagt doch auch immer so etwas und …«

»Tante Ma, wie heißt denn der Amerikaner?«, wollte Dominik wissen.

»Ich habe mir den Namen nicht merken können. Er klang so fremd …«

»Na ja, ist ja auch egal. Wir werden es noch früh genug erfahren.« Nick gab sich im Moment zufrieden.

»In einer Viertelstunde wird gegessen«, sagte Frau Rennert. »Zieht euch die Skischuhe aus.«

In Windeseile entledigten sich die Kinder ihrer Anoraks und der Skischuhe. Dann zogen sie sich in den Wintergarten zurück. Die Tür zur Halle ließen sie jedoch offen, damit sie beobachten konnten, ob Tante Isi und ihr Besuch das Biedermeierzimmer verließen.

Habakuk war höchst erfreut über die Anwesenheit der Kinder. Er ließ vor Begeisterung einen ganzen Wortschwall los. Dabei turnte er vergnügt auf seiner Stange herum.

Als der Gong zum Mittagessen ertönte, brummte Dominik: schade, nun können wir den Amerikaner und das kleine Mädchen nicht mehr sehen.«

»Horch!« Malu legte den Zeigefinger an die Lippen. »Da kommen sie. Ich höre ganz deutlich Tante Isis Stimme und nun die eines Mannes.«

Die Kinder drängten sich an der Tür und lugten in die Halle. Aber viel konnten sie nicht sehen, denn die drei gingen sehr schnell vorbei.

»Kommt her!«, rief Malu. »Von diesem Fenster aus können wir den Hof gut überblicken.«

Von ihrem Späherposten aus sahen die Kinder jetzt einen auffallend großen Herrn in einern eleganten pelzgefütterten Ledermantel. Die dazu passende Kappe trug er in der Hand. Nun neigte er sich über Tante Isis Hand und küsste sie. Aber das interessierte die Kinder nur wenig. Interessant war für sie nur das kleine Mädchen in dem weißen Pelzmäntelchen, das neben Tante Isi stand. Rotblonde Korkenzieherlocken quollen unter der weißen Pelzkappe hervor und fielen dem Kind weit über den Rücken und die Schultern.

Malu, die nach wie vor kleine Kinder über alles liebte, war ganz hingerissen von dem reizenden Kind. »Wie süß!«, rief sie. »Ob sie bei uns bleibt?«

»Ich glaube schon«, bemerkte Isabel. »Tante Isi hält die Kleine doch an der Hand. Der Herr geht jetzt auch allein zu dem Wagen und steigt ein.«

»Seht doch nur, die Kleine wendet sich ab und verbirgt ihr Gesicht in Muttis Rock!«, rief Dominik. »Allem Anschein nach will sie nichts von ihrem Vater wissen.«

»Vielleicht ist er gar nicht ihr Vater. Vielleicht hat er sie nur hergebracht«, überlegte Pünktchen.

»Ja, so scheint es zu sein«, meinte auch Malu, die es kaum erwarten konnte, das kleine Mädchen näher kennenzulernen. Sie wollte Tante Isi bitten, das Kind ihrer Obhut zu überlassen. Sie hatte doch schon oft Kleinkinder versorgt.

»So, nun werden wir endlich erfahren, was es für eine Bewandtnis mit dem kleinen Mädchen hat.« Nick atmete auf, als das Auto losfuhr und Denise mit dem Kind wieder die Freitreppe hinaufstieg. »Eines steht jedenfalls für mich fest«, fügte er hinzu. »Das Kind bleibt bei uns. Vielleicht für immer.« Er stürmte aus dem Wintergarten. Die anderen folgten ihm.

Als Denise die Kinder erblickte, huschte ein amüsiertes Lächeln über ihr bildhübsches Gesicht. Sie beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinunter und sagte zärtlich: »Aline, schau, da kommen die anderen Kinder.«

»Ja, Tante Isi.« Sie sah Denise ernst an und wandte sich dann den Kindern zu, die langsam näher kamen.

»Mutti, ein neues Kind, nicht wahr?« Dominik blickte auf die Kleine nieder.

»Ja, Nick. Das ist Aline Bonaventura. Sie bleibt für unbestimmte Zeit bei uns.«

»Was für ein seltener Name«, raunte Pünktchen Angelika zu.

»Ich habe den Namen schon mal irgendwo gelesen«, entgegnete diese.

»Malu, ich kenne dich doch und weiß, dass es dir Freude bereitet, dich um Aline zu kümmern«, sagte Denise freundlich. »Darum habe ich Alines Koffer auf dein Zimmer bringen lassen. Ulla wird nachher ein Kinderbett in deinem Zimmer aufstellen. Nicht wahr, du bist doch damit einverstanden?«

»Ja, Tante Isi, ich bin sogar sehr glücklich darüber.« Malus Wangen glühten vor Freude. »Aline, ich heiße Malu«, wandte sie sich nun an das Kind.

»Nicht wahr, du schläfst gern mit mir in einem Zimmer?«, fragte sie mit einem aufmunternden Lächeln.

Die Kleine nickte, dann lächelte sie plötzlich. »Malu«, wiederholte sie und löste sich von Denises Hand. Nach kurzem Zögern streckte sie ihr Händchen Malu entgegen.

»Ja, Aline, ich bin Malu«, sagte diese leise. Dabei hob ein glücklicher Seufzer ihre Brust. Alle kleinen Kinder fühlten sich zu ihr hingezogen. Das erfüllte sie mit Stolz.

»Ich mag dich«, erklärte Aline ernst. »Ich will auch nicht mehr traurig sein, weil meine Omi so krank geworden ist.«

Dominik spitzte die Ohren. Auch die anderen Kinder warteten darauf, mehr zu erfahren. Aber Aline dachte im Augenblick nicht daran, mehr zu erzählen.

Denise verabschiedete sich, um nach Schoeneich zu fahren.

»Mutti, ich fahre heute mal mit dir mit«, sagte Dominik zu ihrer Überraschung. »Ich war schon lange nicht mehr daheim. Morgen ist ja Sonntag, da bleibe ich mal in Schoeneich.«

»Das ist nett von dir.« Denise kannte ihren Sohn gut und wusste, dass er nur deshalb mitfuhr, weil er mehr über Alines Herkunft erfahren wollte. Doch sie würde seine Neugierde nicht befriedigen können, denn sie wusste selbst nur wenig über Alines Familienverhältnisse.

»Also, das ist alles, was du weißt«, stellte Nick auf der Fahrt nach Schoen­eich prompt enttäuscht fest. »Das ist eigentlich nichts Besonderes.«

»Nein, Nick. Wie gesagt, Aline stammt aus der ersten Ehe von Herrn Bonaventura. Er ist zum zweiten Mal verheiratet, und seine Frau erwartet ihr erstes Baby.«

»Und er lebt in New Orleans, nicht wahr?«, vergewisserte er sich noch einmal.

»So ist es, mein Junge. Er hat irgendetwas mit Ölbohrungen zu tun. So genau hat er sich nicht ausgedrückt.«

»Ach so. Und mehr hat er dir wirklich nicht erzählt?« Maßlose Enttäuschung war in Nicks Gesicht zu lesen. »Dabei habe ich geglaubt, dass ihn und Aline irgendein Geheimnis umgibt.«

»Zerbrich dir nicht den Kopf über die Bonaventuras, mein Junge. Du wirst schon noch erfahren, was mit ihnen los ist. Obwohl meiner Meinung nach alles in bester Ordnung ist. Sobald seine Frau das Baby bekommen hat, wird Herr Bonaventura seine Tochter gewiss wieder abholen. Solche Fälle hatten wir doch schon öfters. So, da wären wir. Ein Glück, dass es endlich zu schneien aufgehört hat. Wenn noch mehr Schnee gefallen wäre, hätten wir unsere Häuser nicht mehr verlassen können.«

»Das wäre eine Wucht gewesen, Mutti. Dann hätten wir nicht in die Schule zu gehen brauchen und …«

»Mutti! Mutti!« Der jüngste Schoen­ecker, Henrik, lief auf Denise zu. »Endlich bist du da! Warum hast du mich heute früh nicht mitgenommen? Warum …«

»Ich bin von Tante Ma angerufen worden, dass Besuch auf mich wartet, mein Junge«, erklärte sie und küsste ihn. »Ich musste ganz schnell abfahren. Heute Nachmittag oder morgen darfst du aber nach Sophienlust mitfahren. Wo steckt denn Vati?«

»Er sitzt im Kaminzimmer und liest Zeitung. Er hat mich gebeten, nach dir Ausschau zu halten, weil es doch schon so spät ist und wir alle Hunger haben«, teilte ihr Henrik eifrig mit. »Du, Nick, bist du heute Ski gefahren?«, wandte er sich an seinen Bruder.

»Ja, Henrik …«

Denise achtete nicht mehr auf die Unterhaltung ihrer Söhne, sondern eilte ins Haus, wo sie von ihrem Mann sehnsüchtig erwartet wurde.

»Endlich bist du da, mein Liebes«, begrüßte er sie liebevoll und zog sie für einen Moment an sich. »Ich habe schon befürchtet, du wärst mit dem Auto im Schnee steckengeblieben.«

»Ach wo«, lachte sie und ließ sich dann von ihm aus dem Pelzmantel helfen. »Mister Bonaventura hat mich so lange aufgehalten. Er hat seine kleine Tochter bei uns gelassen. Viel konnte ich von ihm nicht erfahren. Er war ziemlich wortkarg. Dafür ist die kleine Aline ein bezauberndes Geschöpf. Sie ist drei Jahre alt und sehr gescheit. Zuerst wollte ich sie gar nicht aufnehmen, weil er so seltsam war. Doch dann konnte ich dem Kinderblick nicht widerstehen. Er gab mir einen Scheck mit einem viel zu hohen Betrag. Als ich ihn ablehnte, meinte er nur, er wisse nicht genau, wie lange Aline bei uns bleiben müsse. Später könnten wir ja dann abrechnen. Malu ist natürlich vor Freude darüber, dass wieder ein Kleinkind bei uns ist, ganz aus dem Häuschen. Bei ihr ist die Kleine auch am besten aufgehoben. Ja, und unser kluger Nick vermutet wieder einmal, dass die Ankunft des Kindes mit einem Geheimnis verbunden ist. Dass irgendetwas nicht so ist, wie es sein sollte, vermute ich ja auch. Doch ich werde mich hüten, Nick darauf aufmerksam zu machen, sonst fühlt er sich verpflichtet, Sherlock Holmes zu spielen«, fügte sie lachend hinzu.

Alexander stimmte in ihr Lachen ein.

Dann erklärte er: »Denise, ich habe einen Mordshunger. Martha war schon zweimal bei mir und hat mir ihr Leid geklagt.«

»Das kann ich mir denken. Arme Martha. Dass es sich die Leute nicht abgewöhnen können, immer so kurz vor dem Essen nach Sophienlust zu kommen. Ich mache mich nur ein wenig frisch, Alexander. Bin gleich wieder unten.« Denise eilte die Treppe hinauf.

Nach dem Essen, das trotz Marthas Sorge ausgezeichnet gewesen war, erlaubte Denise ihren Söhnen, wieder nach Sophienlust zu fahren. Denn Henrik wollte unbedingt die kleine Aline kennenlernen.

Der Chauffeur Hans brachte die beiden Jungen dorthin. Da er sich seit kurzem für das neue Hausmädchen Ulla Häußler interessierte, war er jedes Mal froh, wenn man ihn nach Sophienlust schickte.

Dominik und Henrik fanden die anderen Kinder im Wintergarten. Aline war nicht von Habakuks Käfig fortzubekommen. Beim Anblick des bunten Vogels hatte sie ihren heimlichen Kummer schnell vergessen. Obwohl sie nichts von ihren wahren Gefühlen zeigte, litt sie doch sehr unter der plötzlichen Trennung von ihrer lieben Omi und von Stephan. Sie liebte ihren großen Bruder innig. Alles, was er sagte, war für sie heilig. Deshalb wollte sie auch ihren Vati nicht liebhaben.

Bei dem Gedanken an den großen ernsten Mann, den sie vor ein paar Tagen zum ersten Mal gesehen hatte und der ihr Vati sein sollte, schossen heiße Tränen in ihre Augen. Wenn Stephan ihr nicht verboten hätte, lieb zu ihm zu sein, hätte sie ihn sogar sehr liebgehabt. Aber Stephan hatte ihr erzählt, dass er ein sehr böser Mann sei, der schuld am Tod ihrer Mutti sei. Natürlich verstand sie das alles nicht so genau. Aber wenn Stephan ihr das sagte, stimmte es auch.

Verstohlen fuhr Aline sich mit dem Handrücken über die Augen und blickte dann wieder zu Habakuk hin, der plötzlich rief: »Lena! Einen runden Po!« Erheitert lachte die Kleine auf.

»Hallo!«, rief Dominik von der Tür her. »Aline, komm doch mal zu mir. Das ist mein kleiner Bruder Henrik. Er war sehr neugierig auf dich. »

Aline drehte sich um und kam näher. Dabei verschränkte sie ihre Hände auf den Rücken. Nachdenklich musterte sie Henrik, der verlegen grinste. »Ich mag dich«, erklärte sie schließlich und streckte dem Jungen freundschaftlich ihre Rechte entgegen. »Zeigst du mir die elektrische Eisenbahn?«

»Das werde ich tun«, mischte sich Dominik ein. »Henrik ist noch zu klein, um die Schaltung bedienen zu können.«

»Das ist nicht wahr!«, empörte sich der Jüngere. »Ich kenne mich genau in allem aus. Soll ich es dir beweisen? Oder glaubst du mir nicht?« Herausfordernd sah er Nick an.

»Ist schon gut, mein Kleiner.« Dominik hatte keine Lust, sich mit ihm zu streiten.

»Aber wir wollten doch heute Nachmittag Tischtennis spielen«, erinnerte Pünktchen ihn an sein Versprechen.

»Später, Pünktchen. Erst einmal soll Aline alles in Sophienlust kennenlernen. Morgen Vormittag zeigen wir ihr dann die Ponys und die Pferde.«

»Habt ihr auch Lämmchen?«, fragte sie sogleich interessiert.

»Ja, Aline, aber nicht viele. Dafür gibt es eine Menge Kühe, sogar einen Stier. Aber er ist sehr böse.«

»Wirklich?« Die Kleine steckte vor Staunen den Finger in den Mund. »Gehen wir jetzt zur Eisenbahn?«, bat sie.

Also gingen die Kinder ins Eisenbahnzimmer.

»Weißt du, was ich merkwürdig finde?«, raunte Dominik Malu zu. »Dass Aline so gut Deutsch spricht. Dabei kommen die Bonaventuras doch aus Amerika.«

»Ich glaube aber«, entgegnete Malu, »dass sie noch niemals in Amerika war. Ihre Mutter scheint tot zu sein. Vermutlich hat Aline noch einen Bruder.«

»Glaubst du? Wie kommst du denn darauf? Du wirst sehen, hinter der ganzen Sache verbirgt sich ein Geheimnis.«