Herausforderung schulische Inklusion - Margit S. Schiwarth-Lochau - E-Book

Herausforderung schulische Inklusion E-Book

Margit S. Schiwarth-Lochau

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Beschreibung

Die Autorin Schiwarth-Lochau verfolgt seit mehr als 10 Jahren die Bemühungen in den einzelnen Bundesländern, ein Inklusives Schulsystem aufzubauen. Mit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (2009) gingen die Bundestagsfraktionen davon aus, dass die Inklusion, also das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen oder Beeinträchtigungen, letztendlich zur Abschaffung des Förderschulsystems führen wird. Damit wurde die Hoffnung verknüpft, dass der Personal- und Finanzbedarf für das Schulwesen geringer wird. Schiwarth-Lochau erlebte als Förderschullehrerin ab 2010 die überstürzte und konzeptionslose Einführung der Inklusion an den Grundschulen. In ihren Schulgeschichten, die gleichzeitig als Fallbeispiele für den sonderpädagogischen Förderbedarf von Grundschulkindern dienen, beschreibt sie die Herausforderungen und Bedingungen für den Gemeinsamen Unterricht. Des Weiteren hebt sie die Bedeutung der Kommunikation zwischen Elternhaus und Schule hervor. Ist es im föderalen Bildungssystem Deutschlands gelungen, die notwendigen personellen, finanziellen und sächlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit jedes Kind individuell gefördert und gefordert werden kann? Es sollte der Frage nachgegangen werden, ob Inklusion als Chance, gar als Ressource oder Überforderung im Schulsystem gesehen werden muss. Haben sich in den letzten 10 Jahren die Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen verbessert? Wird die Kultusministerkonferenz (KMK) ihren Zielen, Koordinierung und Abstimmung der verschiedenen Landespolitiken sowie Qualitätssicherung in der Bildung, gerecht? Fehleinschätzungen und Sparzwänge führten bundesweit zu einem nie dagewesenen Lehrkräftemangel. Dieser beeinträchtigt die Bildungschancen unserer Kinder! Mit ihrem Buch "Herausforderung schulische Inklusion zwischen Anspruch und Realität" wendet sich die Autorin gleichermaßen an pädagogisch Tätige und Interessierte, Eltern, Lehrkräfte, künftige Lehrerinnen und Lehrer sowie Quer- und Seiteneinsteigende.

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Inhaltsverzeichnis

Grundschule

Prolog

Persönliche Hintergründe

Der Weg zum Buch

Aufbau und Anliegen

Auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit

Teil I

Schulgeschichten - Gemeinsamer Unterricht in der Grundschule

Elternsorgen - Überlegungen zum Schulbeginn

Überlegungen aus Lehrerinnen- und Lehrersicht

Einschulung

Erster Schultag

Tony

Die Förderschullehrerin

Nina und Karlchen

Moritz

Jonas

Julia

Jahrgangsübergreifender Unterricht

Mathilde

Max

Alina

Pierre und Michelle

Bei den Lehrerinnen

Paul

Fatima

Lukas

Miriam

Benny und David

Philipp

Schuljahresende

Ausblick

Ein neues Schuljahr beginnt

Carmen

Friedrich

Erstklässler mit Förderbedarf

Lea

Andreas

Elias

Roberto

Gemeinsamer Unterricht

Vertretungsstunde

Dienstberatung

Kevin

Sina und Michaela

Benjamin

Johannes

Kolleginnen im Gespräch

Kreativität im Deutsch-Unterricht

FREUNDE

Abschied

Im neuen Schuljahr

Vertretungsstunde

Neue Herausforderungen

Belastungen für Kinder und Lehrkräfte

Hat sich die Inklusion etabliert?

Teil II

Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule

Unterschiedliche Sichtweisen

Anregungen für Eltern

Anregungen (nicht nur) für Lehrende

Konflikte und Konfliktaustragung in der Schule

Anwendung der Mediation bei Konflikten in der Schule und Formen der Gewalt

Probleme im Konfliktfeld Schule - Schüler - Elternhaus

Mediation als alternatives Verfahren

Die Beratungs- oder Förderschullehrkraft als Mediator

Das Mediationsgespräch

Spinnwebanalyse

Arbeit mit den Eltern

Gedanken zur Vorbereitung auf schwierige Gespräche mit Eltern

Hilfreiches Hintergrundwissen für eine achtsame Kommunikation und Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule

Belastungen durch verhaltensauffällige Schüler

Hintergründe für unverständliche Verhaltensweisen

Lehrer-Schüler-Interaktionen

Teil III

Theoretische Aspekte zur Inklusion, Strategien, Effekte, Entwicklungen im Schulwesen

Vorläufige zusammenfassende Aspekte und Thesen verschiedener Autoren

Entwicklungen im Schulwesen seit den 1970er Jahren

Gesellschaftliche, soziale und ökonomische Aspekte eines Inklusiven Schulsystems

Widersprüchliche Bestrebungen und Anliegen

Chancen und Risiken der integrativen Pädagogik

Sichtweisen hinsichtlich Erziehung, Bildung und Leistungsanspruch

Herausforderung Inklusion - Anforderungen an Politik und Gesellschaft

Inklusive Missverständnisse Debatte

Länderbarometer - unterschiedliche Strategien und Ressourcen in den Bundesländern

Rheinland-Pfalz

Sachsen-Anhalt

Bremen

Berlin

Hamburg

Thüringen

Mecklenburg-Vorpommern

Nordrhein-Westfalen

Baden-Württemberg

Bayern

Schulische Inklusion - Hürden und Chancen

Forderungen nach guter Bildung

Lehrkräftemangel anerkannt

Unterschiedlicher Umgang mit dem Lehrkräftemangel in den Bundesländern

Sachsen

Baden-Württemberg

Hessen

Schleswig-Holstein

Nordrhein-Westfalen

Mecklenburg-Vorpommern

Saarland

Bayern

Rheinland-Pfalz

Brandenburg

Niedersachsen

Sachsen

Sachsen-Anhalt

Volksbegehren

Erklärungsversuche für den Lehrkräftemangel

Versäumnisse und Chancen im deutschen Bildungswesen - Meinungen und Thesen verschiedener Autoren

Kritische Anmerkungen

Folgen des Lehrermangels und der Schulschließungen während der Pandemie

Unsicherheit für die Betroffenen

Mehr Bildungsgerechtigkeit, Chancen nutzen - Forderungen nach Veränderungen in der Bildungspolitik

Anforderungen an Schule - Anspruch und Realität

Wirkfaktor Schule - Folgen mangelnder Unterstützung

Migration und Bildung

Auswirkungen mangelnden Verständnisses, nicht gelingender Inklusion auf benachteiligte Kinder und Jugendliche

Schulische Inklusion Traum oder Trauma?

Teil IV

Begriffe und Erklärungen

Tätigkeitsbeschreibung von Förderschullehrkräften in der Präventiven Grundversorgung (PF)

Aufgaben des MSDD in Sachsen-Anhalt

Bildungsföderalismus und Kultusministerkonferenz (KMK)

Verschiedene Schulformen

Aggressivität

Alkoholembryopathie (fetales Alkoholsyndrom)

Angst

Angststörungen

Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)

Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeits-Defizit-Störungen (ADS/ADHS)

Autismus

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)

Behinderte

Beeinträchtigung der emotionalen und sozialen Entwicklung, Verhaltensstörungen

Burnout, Erschöpfungsdepression

Debilität

Depression

Dyspraxie

Emotion

Emotionale Intelligenz

Enuresis

Frühreife

Frühkindliche traumatische Erfahrungen

Frustration

Gehirnhautentzündung (Meningitis)

Geistige Behinderung, Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

Hören, Förderschwerpunkt Hören

ICH-Botschaft

Ich schaff’s-Programm

Idiotie (Idiotismus)

Intelligenz und Hochbegabung

Jaktation

Körperbehinderung, Förderschwerpunkt körperlichmotorische Entwicklung

Lernbehinderung, Förderschwerpunkt Lernen

Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), Legasthenie

Motorische Entwicklung

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), frühkindliche traumatische Erfahrungen

Projektion

Psychische Krankheiten

Psychomotorik

Psychosomatik

Rechenschwäche (Dyskalkulie)

Schwarze Pädagogik

Sprache, Förderschwerpunkt Sprache

Soziale Phobie / Phobie

Störungen, psychosomatische

Stress

Underachievement

Verhaltensstörungen

Zwang

Zweisprachigkeit

Anhang

Epilog

Was brauchen unsere Kinder? Was wirkt sich eher hinderlich aus?

Quellen- und Literaturverzeichnis

Danksagung

Grundschule

Große Erwartungen hast du bei der Einschulung.

Rechnen, Schreiben und Lesen möchtest du lernen.

Unruhe und Streitigkeiten stören dich.

Neid und Missgunst brauchst du nicht.

Denken und Knobeln wirst du oft.

Singen und Malen entspannen dich.

Clown Hoppla gehört nicht ins Klassenzimmer.

Helle Freude sollst du beim Lernen haben.

Unendlich viele Möglichkeiten liegen vor dir.

Lass dich nicht entmutigen!

Erfolg wünsche ich dir.

Schiwarth-Lochau

Prolog

Persönliche Hintergründe

Schon im Kleinkindalter begegnete ich behinderten Menschen: Ein Nachbar, er war Familienvater, sowie eine Jugendliche aus dem Wohngebiet litten an den Folgen einer Polio-Erkrankung1 (Kinderlähmung). Diese körperlich eingeschränkten Menschen wurden häufig als Krüppel verachtet, zusätzlich unterstellten manche ihnen eine geistige Behinderung. Selbst Erwachsene stifteten Kinder an, die „Behinderten“ auszulachen, ihren Gang und Bewegungen nachzuäffen. Womöglich hatten diese Leute in den 1950er Jahren das verachtende Menschenbild aus der Zeit des Nationalsozialismus nicht abgelegt und übertrugen es gleich auf die gesamte Familie der Betroffenen.

Meine um drei Jahre ältere Schwester Angelika, wir nannten sie Gela, erlitt kurz vor Vollendung des vierten Lebensjahres bei Verwandten einen Unfall. Da sie körperlich unversehrt blieb, wurde dieser meinen Eltern, die ihr drittes Kind erwarteten, verschwiegen. Viele Jahre später erfuhren wir, dass Gela - mit einer Wäscheleine um den Bauch gebunden, damit sie nicht weglaufen konnte - aus einem Fenster stürzte. Das Mädchen hing in großer Höhe pendelnd, voller Angst abzustürzen, einige Zeit unentdeckt herab. Statt beruhigt und getröstet zu werden, wurde das Kind beschimpft und bestraft, weil es auf das Fensterbrett geklettert war und das Fenster geöffnet hatte.

Nach diesem traumatischen, mit Todesangst verbundenen Ereignis, war meine Schwester nicht mehr das fröhliche, wissbegierige und unternehmungslustige Mädchen von einst. Gela verhielt sich komisch, konnte sich sprachlich nicht mehr zusammenhängend äußern, wirkte verstört. Eltern und Verwandte vermochten nicht sich die Wesensveränderung zu erklären.

Das Krankheitsbild einer einfachen und komplexen „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS)2, bei Frühtraumatisierung verbunden mit einer komplexen Entwicklungsstörung sowie „Posttraumatische Belastungsreaktionen“ waren bis in die späten 1980er Jahre weitestgehend unbekannt. Nach 1980 begann, von den USA ausgehend, die Erforschung des Bereichs PTBS auch bei Kindern. 1990 wurde das Krankheitsbild der PTBS, jedoch noch nicht das der „Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung“, erstmalig in das internationale Klassifikationssystem für Krankheiten ICD aufgenommen.

Meine Schwester wurde im Alter von sieben Jahren wegen der Verdachtsdiagnose „Kindliche Schizophrenie“ in eine Klinik für Kinderpsychiatrie eingewiesen und sechsmal mit Elektroschocks bei vollem Bewusstsein sowie im Stil der „Schwarzen Pädagogik“ „behandelt“. Diese Ereignisse bedeuteten weitere schwere Traumatisierungen und führten zur Verschlimmerung ihres Zustandes. Sie galt nunmehr als schulbildungsunfähig und wurde als „Idiot“ eingestuft.

Zu DDR-Zeiten gab es keine Schulen für geistig Behinderte (in der BRD wurden diese Anfang der 1970er Jahre eingerichtet). Betroffene Kinder kamen in ein Vollheim oder mussten, wie meine Schwester, zu Hause betreut werden. Den Eltern glaubte man nicht, dass das Mädchen trotz seiner Sprachlosigkeit ein gutes Sprachverständnis besaß und lernfähig war.

Bei einem psychisch und geistig behinderten Kind in der Familie stellten einige Leute, auch seitens zuständiger Behörden und Ämter, automatisch die Intelligenz der beiden jüngeren Schwestern infrage, als ob die „Idiotie“3 ansteckend sein könnte.

Meiner Mutter wurden schwere Vorwürfe gemacht, dass sie mich vorzeitig (ich wurde im Juni geboren, Stichtag war damals der 31. Mai) für den Schulbesuch angemeldet hatte. Mein erster Schultag war am 3. September 1959. Gleich in den ersten Deutsch-Stunden erlebte ich als (ursprüngliche) Linkshänderin Abwertung und musste „umerzogen“ werden. Abfällige Bemerkungen über meine kranke Schwester kratzten zusätzlich am Selbstwertgefühl.

So erlebte ich schon als Vorschul- und junges Schulkind, dass man Menschen mit Behinderungen eher mit Ablehnung und Verachtung begegnete, anstatt mit Mitgefühl und Verständnis, dass sie keine besondere Förderung oder Fürsorge erhielten.

Persönliche Erlebnisse und Erfahrungen prägten die eigene sowie berufliche Entwicklung. Nach dem Studium an der Pädagogischen Hochschule in Halle, von 1971 bis 1975, unterrichtete ich zehn Jahre lang an einer POS (Polytechnische Oberschule in der DDR) in den Fächern Physik, Mathematik, später noch in Astronomie und war als engagierte Klassenlehrerin tätig.

Nach dem Erziehungsjahr für mein drittes Kind wechselte ich auf eigenen Wunsch an eine „Hilfsschule“, die später zur Förderschule für Lernbehinderte weiterentwickelt wurde. In einem postgradualen Studium erwarb ich für diese Schulform die Qualifikation als Förderschullehrerin. Zusätzliche, mir wichtig und notwendig erscheinende Ausbildungen, wie die in Gesprächstherapie und Systemischer Beratung, absolvierte ich auf Eigeninitiative und eigene Kosten.

Eine Ausbildung zur Mediatorin für die Anleitung von Schüler-Streitschlichtern sowie Erkenntnisse aus vielseitigen Fortbildungsveranstaltungen der jährlich stattfindenden „Erfurter Psychotherapie-Woche“ erwiesen sich als sehr hilfreich für die Arbeit mit lernschwachen und verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen in den unterschiedlichen Schulformen sowie für die Beratung der Eltern.

Ab 2002 wurde ich neben meiner Tätigkeit als Klassen- und Fachlehrerin an der Sonderschule zunehmend als Beratungs- und Förderschullehrerin in verschiedenen Regelschulen (Grund-, Realund Gesamtschulen) eingesetzt. Dort betreute ich einzelne Schülerinnen und Schüler mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt „Lernen“ (Lernbehinderung) im „Gemeinsamen Unterricht“ (GU), förderte Kinder präventiv in der sogenannten Förderstufe (Klassen fünf und sechs). Dadurch war ich im Schuljahr 2009/2010 wöchentlich an fünf verschiedenen Schulen stundenweise im Einsatz. Für die Förderstunden standen weder angemessene Räume noch Arbeitsmaterial zur Verfügung. Zeit, um sich mit den Klassenleitern und Klassenlehrerinnen auszutauschen, stand oft nicht zur Verfügung, da ich zur nächsten Schule weiterziehen musste.

Der Weg zum Buch

Mit dem Schuljahr 2010/11 sollte alles anders werden. Ich erhielt eine Abordnung an eine feste Grundschule. Um der seit 2009 geltenden UN-Behindertenrechtskonvention gerecht zu werden, wurden erstmals alle schulpflichtig gewordenen Kinder in der Grundschule ihres entsprechenden Einzugsbereichs aufgenommen, auch die Jungen und Mädchen, welche deutliche Entwicklungsrückstände im Vergleich zu Gleichaltrigen aufwiesen, und war von nun an für Kinder mit den verschiedensten Förder- und Unterstützungsbedarfen zuständig.

An den Schulen bestand allseits Verunsicherung oder Ratlosigkeit, welche Rolle eine Förderschullehrkraft im Kollegium einer Grundschule spielen soll und was die sogenannte Inklusion in der Praxis zu bedeuten hat. Bisher gab es nur vereinzelte Kinder, die im GU lernten und stundenweise durch eine Förderlehrkraft betreut wurden.

Es war schnell zu erkennen, welche Schüler und Schülerinnen von Anfang an eine präventive Förderung benötigten, da sie beim Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen zurückblieben, in ihrer Sprachentwicklung oder im Sozialverhalten auffällig waren. Die Kolleginnen und Kollegen erwarteten von mir eine rasche Diagnostik des sonderpädagogischen Förderbedarfs (wie es bisher üblich war), damit die betroffenen Kinder in eine entsprechende Förderschule überwiesen werden oder dass sie wenigstens zusätzliche Betreuungsstunden bekommen könnten.

Mein Auftrag war jedoch, durch gezielte präventive Förderung in der Schuleingangsphase (SEP) das Entstehen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs möglichst zu verhindern. Auf eine Diagnostik in den ersten zwei oder drei Schuljahren sollte verzichtet werden. Kinder mit den Unterstützungsbedarfen in den Bereichen Lernen, Sprachliche Entwicklung und Emotionalsoziale Entwicklung sollten möglichst im Gemeinsamen Unterricht (GU) individuell gefördert werden. Es zeigte sich, dass sowohl bei Eltern und Schülern als auch bei den Kolleginnen und Kollegen ein großer Beratungsbedarf bestand.

Es keimte der Gedanke auf, Erlebnisse und Erfahrungen schriftlich festzuhalten, um sie für den kollegialen Erfahrungsaustausch und Weiterbildungsangebote oder gar für ein Buch zu nutzen.

Im Unterricht einer ersten Klasse brachte mich die Lehrerin mit der Katze Mimi auf eine Idee. Nein, nein, Mimi ist keine lebende Schulkatze, sondern eine Figur zur Fibel von „Volk und Wissen“, dem Erstlesebuch. Diese Handpuppe war bei den Kindern sehr beliebt. Die Erstklässler durften abwechselnd Mimi übers Wochenende mit nach Hause nehmen. Ich stellte mir vor, was das Kätzchen dabei so alles erlebte.

Daraus entstanden erste Schulgeschichten, in denen zwei erdachte Figuren die Rolle der Mimi übernahmen. Der Puppe Nina und Karlchen, dem Bären, schrieb ich eine besondere Gabe zu: Sie können alles um sich herum wahrnehmen und zur Geisterstunde zwischen null und ein Uhr lebendig werden. In dieser kurzen Zeit tauschen sich die Puppe und der Plüschbär über ihre Gedanken sowie Erlebnisse in den Familien und Beobachtungen im Unterricht aus. Der „Einsatz“ der Puppen ist ein Kunstgriff: Mit ihrer Hilfe kann ich auf Kritikpunkte besser aufmerksam machen, diese können schärfer und direkter benannt werden.

Meine eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse als Förderschullehrerin in den ersten drei Jahren an einer Grundschule lieferten den Stoff für ein Sachbuch. 2014 erschien im Projekte-Verlag Halle „Schule ist doof - Inklusion in der Praxis“.

Reichlich zehn Jahre sind seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) vergangen. Die Herangehensweisen und Erfahrungen in den einzelnen Bundesländern bei der Entwicklung eines Inklusiven Schulsystems, in dem Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen, sind unterschiedlich. Es sollte der Frage nachgegangen werden, ob Inklusion als Chance, gar als Ressource oder Überforderung im Schulsystem gesehen werden kann.

In der erweiterten Neuauflage meines Buches widme ich mich den Erfordernissen, Hürden, neuen Erkenntnissen und unterschiedlichen Sichtweisen bei der Umsetzung schulischer Inklusion im föderalen Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland.

Aufbau und Anliegen

Dieses Buch kann als Fachratgeber gesehen werden und wendet sich gleichermaßen an Eltern, Lehrkräfte, pädagogisch Tätige, angehende Lehrerinnen und Lehrer sowie pädagogisch-psychologisch interessierte Leserinnen und Leser. Es dient der Aufklärung zu Fragen des gemeinsamen Lernens von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen und hinterfragt kritisch bildungspolitische Entscheidungen.

Meine ausgedachten, teilweise ernsten, vergnüglichen sowie phantasievollen Geschichten geben Einblick in den ganz normalen, anspruchsvollen Schulalltag an einer integrativ/ inklusiv arbeitenden Grundschule.

Mit den Schulgeschichten möchte ich im Teil I des Buches auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Inklusiven Schulsystems aufmerksam machen und die Probleme aus der Sicht von Kindern, Eltern und Pädagogen darstellen. Ein Teil der Schulgeschichten kann auch Kindern vorgelesen werden und somit als Grundlage für Gespräche mit ihnen über eigene Erlebnisse und Sorgen dienen. Das interaktive Vorlesen im Allgemeinen und über Erlebtes sprechen bieten darüber hinaus eine wichtige Grundlage für die sprachliche Entwicklung, das Interesse am Lesenlernen sowie die Förderung des Textverständnisses bei jungen Schulkindern.

Inzwischen habe ich, parallel zu den Schulgeschichten, für Kinder in der Reihe „Schule ist cool“ sechs Bände, bzw. den Sammelband „Schule ist cool und manchmal doof“ (mit vielen eigenen Illustrationen), über den Stockwärter Verlag Halle veröffentlicht.

Auch wenn in meine Ausführungen Erlebnisse und Erkenntnisse aus dem Schulalltag als Lehrerin, aus Fortbildungen und dem Literaturstudium sowie als Mutter, Pflege-, und Großmutter einfließen, sind Ähnlichkeiten und Parallelen zu realen Personen, Familien, bestehenden Schulsituationen möglich und dennoch zufällig entstanden, also nicht konkret einzelnen Schulen, Personen oder Familien zuzuordnen.

Gleichzeitig dienen die Geschichten als anschauliche Fallbeispiele für verschiedene Förderbedarfslagen, die im Teil IV näher erklärt werden.

Im Teil II widme ich mich einigen Fragen zur Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule sowie der Möglichkeit, Probleme mittels Mediation zu erhellen und lösen zu helfen.

In einigen Schulen, nicht nur in sogenannten „Brennpunktschulen“, fühlen sich manche Kinder nicht wohl, sie bleiben beim Lernen zurück, andere sind unruhig, stören den Unterricht, reagieren oft aggressiv, ihre Eltern sind überfordert, Lehrerinnen und Lehrer reiben sich auf in ihrem Bemühen, die Kinder individuell zu fördern. Was steckt hinter den Problemlagen? Wenn Eltern die an sie gestellten Erwartungen der Schule nicht kennen (z. B. Zuwanderer, Geflüchtete), nicht erfüllen können (z. B. wegen psychischer Erkrankung, Analphabetismus) und Klassenlehrkräfte die sozialen und materiellen sowie soziokulturellen Bedingungen im Haushalt und Umfeld ihrer Schüler nicht kennen, kann es leicht zu Missverständnissen und Schuldzuweisungen kommen. Die Aufgabe der Lehrer und Lehrerinnen ist in erster Linie die Wissensvermittlung und die Sorge für ein förderliches Lernumfeld in der Schule. Sich um die sozialen Probleme zu kümmern, wird ihnen oft zusätzlich aufgedrückt, wenn es an der Schule keine Schulsozialarbeiterin, keinen -sozialarbeiter gibt.

Eine wichtige Rolle für das gegenseitige Verständnis spielen neue Erkenntnisse zu den Folgen traumatischer Erfahrungen in früher Kindheit oder akuter Belastungssituationen und den damit verbundenen Auswirkungen in der kognitiven (geistigen) und emotional-sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Im Teil III des Buches geht es um Schulpolitik, Erfordernisse, Strategien und Ergebnisse in der Entwicklung eines Inklusiven Schulsystems aus der Sicht verschiedener Fachleute und Autoren.

Gute Bildungsmöglichkeiten für alle Kinder und Jugendlichen zu schaffen, unabhängig vom Wohnort, dem Bundesland oder von den materiellen Bedingungen in den Familien, ist aus meiner Sicht eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Im Teil IV werden Fachbegriffe im Zusammenhang mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf und medizinische Begriffe näher erklärt.

Auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit

Mit Interesse verfolge ich die Entwicklungen im Bildungssystem der Bundesrepublik, insbesondere aber im Bundesland Sachsen-Anhalt. Seit Jahren gibt es die verschiedensten Reformbestrebungen in Deutschland, wo Bildungspolitik Ländersache ist und die Kultusministerkonferenz (KMK) Empfehlungen erarbeitet. Mit der Föderalismusreform I von 2006 wurde bekanntlich ein Kooperationsverbot in der Bildungspolitik zwischen Bund und Ländern vereinbart. Laut Einschätzung des (im Jahr 2012) Vorsitzenden der Bildungsgewerkschaft GEW4, Ulrich Thöne, ist der „Wettbewerbsföderalismus gescheitert - ein Kooperationsgebot notwendig“. Er bezeichnete die Bildungslandschaft in Deutschland als „bildungspolitischen Flickenteppich“ mit der Folge, dass die Bildungsgerechtigkeit weiter abnimmt. „7,5 Millionen Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, sind kein Problem einzelner Bundesländer, sondern ein gesellschaftlicher Skandal, der alle betrifft.“ (E&W 04/2012, S. 29)

Eine vom Bundesbildungsministerium geförderte Studie „LEO 2018 - Leben mit geringer Literalität“ stellte den Rückgang dieser Zahl (Stand 2011) als Erfolg dar. Dennoch sind das 6,2 Millionen Erwachsene, die nicht richtig Deutsch lesen und schreiben können. 52,6 Prozent von ihnen haben Deutsch als Muttersprache. Die Mitteldeutsche Zeitung5 berichtet weiter: „Auch bei jenen Erwachsenen, die zwar zusammenhängende Texte verstehen, aber dennoch nicht gut lesen und nur sehr fehlerhaft schreiben können, gab es einen Fortschritt. Hier verringerte sich die Anzahl von 13,4 Millionen im Jahr 2011 auf nun 10,6 Millionen Menschen.“ (MZ, 8. Mai 2019, S. 23)

Was kann, bzw. muss, gegen das Zurückbleiben in der Schule von so vielen jungen Menschen getan werden? Wer ist verantwortlich? Ist das nur Sache der Politik? Können es die Lehrerinnen und Lehrer in einer „Schule für alle“ richten? Viele von ihnen machen sich Gedanken. So z. B. die bayerische Grundschullehrerin Sabine Czerny in ihrem Buch6 „Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können“. Gleich auf der Umschlaginnenseite ist zu lesen: „Wer ist schuld an der aktuellen Schulmisere? Es sind nicht die ehrgeizigen Eltern, die im Grunde nur das Beste für ihre Kinder wollen. Auch nicht die Lehrer, die sich zwischen Bildungs- und Sortierauftrag komplett aufreiben. Doch am allerwenigsten sind es die Schüler, die heutzutage - vorschnell - als lernfaul und unmotiviert abgestempelt werden. Schuld ist ein Schulsystem, das sich unerbittlich und bürokratisch über das Wohl der Kinder stellt - und damit über die Möglichkeiten und Fähigkeiten jedes einzelnen Schülers.“

Jörg Dräger (ehemals Bildungspolitiker in Hamburg) veröffentlichte das Buch7 „Dichter, Denker, Schulversager - Gute Schulen sind machbar - Wege aus der Bildungskrise“ mit einer „Politischen Gebrauchsanweisung“ von Klaus von Dohnanyi. Dräger schreibt in seiner Einleitung8: „Bildungskrise in der Bildungspolitik: Abgesehen von dem Rückstand der Bundesrepublik in internationalem Vergleich ergibt sich ein wahrhaft erschütternder Unterschied zwischen den verschiedenen Bundesländern. Dieser Unterschied hängt weder von der Sozialstruktur noch von den Finanzen der verschiedenen Bundesländer ab, sondern ergibt sich lediglich aus dem unterschiedlichen Ausbau des Schulwesens.“

Des Weiteren verweist er auf den Pädagogen und Philosophen Georg Picht, der schon 1964 in seinem Buch „Die deutsche Bildungskatastrophe“ den „Lehrermangel und die Bildungs-Kleinstaaterei der Bundesländer ebenso wie die mangelnde Chancengerechtigkeit des deutschen Bildungswesens“ kritisierte.

Diese Probleme bewegen uns auch heute noch, sogar in zunehmender Weise. Die Mitteldeutsche Zeitung9 machte unter dem Titel „Lehrer verzweifelt gesucht“ darauf aufmerksam, dass in Sachsen-Anhalt 2000 Pädagogen per Abordnung an andere Schulen versetzt werden mussten, um den Schulbetrieb im Schuljahr 2012/13 mit großer Mühe absichern zu können. Der damalige Landesvorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, Thomas Lippmann, warnte davor, dass das System „in zwei bis drei Jahren kollabieren“ wird, wenn nicht Sofortmaßnahmen ergriffen werden. Statt der geplanten 200 Neueinstellungen pro Jahr müssten 600 junge Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden. „Die anderen Bundesländer haben das längst begriffen und stellen ein, nur wir sind die Blöden“, so Lippmann. „Häufig müssen Absolventen aus Sachsen-Anhalt weiterziehen, da sie hier keine Anstellung finden - andere Bundesländer freut es“, zitiert die MZ (v. 14.08. 2012, S. 1) weiter.

Bis 2016 wurde in Sachsen-Anhalt sogar Personal abgebaut. In einer Richtlinie (RL-Rente 2011) zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente hieß es in der Fassung vom 30. Mai 2013: „Für die Realisierung des von der Landesregierung jährlich fortzuschreibenden Personalentwicklungskonzepts ist es zwingend erforderlich den Personalbestand abzusenken.“

Die Warnungen wurden nicht ernst genommen. Zehn Jahre später heißt es in der Mitteldeutschen Zeitung10: „Lehrermangel ist so schlimm wie nie zuvor. Viel Stundenausfall im neuen Schuljahr. … Rechnerisch reicht die Zahl der eingestellten Pädagogen nur noch für eine Abdeckung von 92 Prozent der eigentlich vorgeschriebenen Unterrichtsstunden. Landesweit jede dritte Schule (34 Prozent) hat bereits eine Unterrichtsversorgung von weniger als 90 Prozent. Vor allem Sekundarschulen, Gemeinschaftsschulen und Förderschulen leiden unter dem Mangel.“ (MZ v. 24.08.2022, S. 1)

Inzwischen stellt der Lehrkräftemangel in allen Bundesländern Deutschlands ein ernstzunehmendes Problem dar. Durch unterschiedliches parteipolitisches Verständnis (und auch Gezänk) gibt es bundesweit nach Landtagswahlen immer wieder Schulstrukturreformen und Änderungen in den Schulgesetzen, was bei Lehrern, Eltern und Schülern häufig zu Verunsicherungen führt. Einige Beispiele dazu: „Um die Jahrtausendwende hatte Sachsen-Anhalt das integrativste Schulsystem Deutschlands“, sagte der GEW Landeschef Lippmann.

Nach der Grundschule erfolgte nicht die Trennung der Schüler einer Klasse in verschiedene weiterführende Schulformen, also nicht der Übergang an ein Gymnasium oder an eine Realschule, sondern es wurde eine gemeinsame Förderstufe in den Klassen fünf und sechs geschaffen. Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf konnten auf Wunsch der Eltern im Gemeinsamen Unterricht gefördert werden. Der Hauptschulbildungsgang an Sekundarschulen wurde abgeschafft, die Schulpflicht auf zehn Jahre erhöht. Lippmann stellte fest:

„Zwischen 1998 und 2003 waren die Weichen für ein längeres gemeinsames Lernen in Sachsen-Anhalt schon gestellt. Doch in der Öffentlichkeit war der daraus resultierende Bruch mit der Tradition des Abiturs nach zwölf Schuljahren nicht zu vermitteln. CDU und FDP hatten leichtes Spiel und kippten die gesamte Reform.“ Mit dem „Bruch der Tradition“ ist gemeint, dass Sachsen-Anhalt mit Einführung der Förderstufe nicht mehr den traditionellen Weg gehen wollte, nach welchem leistungsstarke Schüler und Schülerinnen im Anschluss an die vierjährige Grundschulzeit acht Jahre lang am Gymnasium bis zum Abitur lernen. Nachzulesen ist der Bericht in der E&W 11/2012, S. 21. Seitdem sind die Fronten im Parlament und in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verhärtet, Reformbestrebungen werden argwöhnisch betrachtet.

Kernstück der Schulreform 2005 an Berliner Grundschulen war laut E&W 01/2013, S. 28: „... alle Kinder in dem Jahr einzuschulen, in dem sie sechs Jahre alt werden.“ Für manche Eltern stellt sich damit die Frage, ob mit dieser Regelung die Schulreife des Kindes (durch schulärztliche Untersuchungen festgestellt) noch berücksichtigt wird. In den ersten beiden Schuljahren lernen die Schüler der Klassenstufen 1 und 2 gemeinsam im sogenannten „Jahrgangsübergreifenden Lernen“, der Übertritt in die dritte Klasse erfolgt dann flexibel nach zwei oder drei Jahren. „Die Berliner GEW hat die Altersmischung zwar von Anfang an begrüßt, kritisiert jedoch, dass die Ausstattung vieler Schulen zu schlecht für das gemeinsame Lernen sei. Es fehle an Lehrkräften, Räumen und Fortbildungsmöglichkeiten für Pädagogen.“

Die damit verbundenen Probleme an verschiedenen Berliner Grundschulen (Klassen 1 bis 6) stellt Philipp Möller in seinem Buch „iSCH GEH SCHULHOF“11 sehr kritisch und anschaulich dar.

Möller wagte den Quereinstieg als Aushilfslehrer an einer Berliner Grundschule, in der er zuvor ein halbes Jahr als Assistent der Schulleitung gearbeitet hatte. Er bejaht die Frage, ob er vor seiner ersten Unterrichtsstunde aufgeregt sei: „Kein Wunder, denn in ungefähr zwei Stunden werde ich als Mathelehrer vor einer vierten Klasse stehen - ohne auch nur eine Minute Unterrichtserfahrung zu haben!“ Er schreibt, dass er wusste, was ihn erwartet: „Kinder aus deprimierenden Familienverhältnissen, die sich kaum konzentrieren können und deren Schimpfwörter selbst mir als abgehärteten Berliner die Schamesröte ins Gesicht steigen lassen.“12

In seinem Nachwort äußert Möller 2012, dass er „tief bestürzt über das dramatische Ausmaß unserer Bildungskatastrophe“ ist. „Wenn wir der Bildung nicht schnellstens eine höhere Priorität einräumen, werden wir vermutlich bald alle unter den Folgen der steigenden Bildungsarmut leiden.“13

Über Nordrhein-Westfalen berichtete E&W 10/2012, S. 20/21, dass die ideologischen Grabenkämpfe zwischen SPD und CDU 1978 ihren Höhepunkt erreichten, als die SPD für die Einführung der Kooperativen Gesamtschule eintrat. Inzwischen heißt es dazu: „Das Land hat die ideologischen Grabenkämpfe beendet. Sinkende Schülerzahlen zwingen die Politik und Schulen zu Pragmatismus.“ 2012 wurde im katholischen Kleve am Niederrhein die erste Gesamtschule in NRW eröffnet, welche als erste Sekundarschule die Haupt- und Realschule ersetzen sollte. Inzwischen erlebt das Land einen Gründungsboom bei den Gesamtschulen.

Otto Speck (Prof., Dr., emeritierter Ordinarius für Sonderpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München) setzt sich in seinem Buch „Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht“14 mit „Rhetorik und Realität“ bei der Umwandlung der allgemeinen Schule in ein „Inklusives Schulsystem“ auseinander. Auch er verweist auf verschiedene Ansätze in den Bundesländern. „Die längsten Erfahrungen mit dem FLEX-Modell (Flexible Schuleingangsstufe seit 2001) hat das Land Brandenburg. Die dortigen FLEX-Lerngruppen oder -Klassen sind hier doppelt mit Lehrern besetzt und werden mit fünf Wochenstunden auch durch Sonderpädagogen unterstützt. Dem in Brandenburg wissenschaftlich ausgewerteten FLEX-Modell wird eine zukunftsweisende Qualität zugesprochen.“15

Der Umbau des mehrgliedrigen zu einem inklusiven Schulsystem in Brandenburg ist nicht zuletzt durch den Druck des massiven Bevölkerungsrückgangs beschleunigt worden. Allerdings ist damit auch der Trend zur sozialen Segregation (Ausgrenzung) durch Neugründung von Schulen in freier Trägerschaft verstärkt worden, laut Erziehung und Wissenschaft (E&W 04/2013, S.12) verfünffachte sich die Zahl privater Schulen zwischen 1994/95 und 2011/12 auf 165). Dieser Trend setzt sich fort.

In Bayern gibt es bereits seit dem Schuljahr 1984/85 sogenannte „Sonderpädagogische Diagnose- und Förderklassen“16. „Sie sind aber im Gegensatz zu der eben genannten flexiblen Eingangsstufe den Förderschulen zugeordnet und insofern ein Unikum in den Bundesländern. Sie sehen ebenfalls eine Verlängerung der Verweildauer um ein Jahr vor und stützen sich im Besonderen auf eine differenzierte Förder- und Entwicklungsdiagnostik.“

Auf kritische Entwicklungen im deutschen Bildungswesen machte auch das internationale PISA-Konsortium aufmerksam, indem es auf das „Problem mangelnder Bildungsgerechtigkeit“ in Deutschland verwies E&W 12/2011, S. 17. Unter der Überschrift „Zehn Jahre PISA-Trauma“ heißt es dort: „Eltern, Schüler und Lehrkräfte wissen gar nicht, was sie von den ganzen Maßnahmen nach PISA halten sollen. Vor allem Pädagoginnen und Pädagogen stehen seit Jahren unter wachsendem Reform- und Erwartungsdruck, ohne die notwendige finanzielle und personelle Unterstützung zu erhalten. … Bis zur Verabschiedung einer KMK-Förderstrategie für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler hat es hingegen bis zum März 2010 gedauert.“ (KMK bedeutet Kultusministerkonferenz.)

Seit März 2009 ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen als internationales Vertragswerk auch in der Bundesrepublik Deutschland gültig. Demnach besteht ein Rechtsanspruch behinderter Menschen zur gleichberechtigten Teilhabe am selbstbestimmten Leben in der Gemeinschaft und am gemeinsamen Lernen in einem „Inklusiven Bildungssystem“. Bremen hat als erstes Bundesland 2009 den Inklusionsauftrag der UN-Behindertenrechtskonvention in sein Schulgesetz übernommen. Bei der Beschulung behinderter Kinder gilt dort grundsätzlich die freie Wahl zwischen einem Förderzentrum (Sonderschule) oder der Regelschule.

Vor allen Ländern der Bundesrepublik steht die Aufgabe, das allgemeine Bildungssystem so zu gestalten, dass Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen in der Regelschule eine bedarfsorientierte, individuelle Förderung sowie notwendige Unterstützungsbedingungen erhalten.

In Sachsen-Anhalt wurde das Angebot der schulischen Integration in Form des Gemeinsamen Unterrichts (GU) seit 2001 im Schulgesetz verankert17. Der Schwerpunkt der sonderpädagogischen Förderung richtet sich zunehmend auf inklusive Bildungsangebote mit einem hochgesteckten Ziel: Es soll gelingen niemanden mehr auszuschließen und alle Schüler in eine gemeinsame Schule aufzunehmen. Dabei wird es, unabhängig vom aktuellen Entwicklungsstand und von den Lebensumständen, im Gemeinsamen Unterricht pädagogische Angebote und individuelle Förderung geben, die ein erfolgreiches Lernen für jedes Kind ermöglichen. Die Überweisung von Schülern und Schülerinnen mit einem sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, sprachliche oder emotional-soziale Entwicklung in eine Förderschule soll nur noch auf Elternwunsch geschehen, bzw. wenn eine integrative Förderung nicht im Gemeinsamen Unterricht der Regelschule realisiert werden kann. Das hat zur Folge, dass langfristig die Zahl der Förderschulen sinken wird und Förderschullehrkräfte verstärkt an Grund- und Sekundarschulen eingesetzt werden, um die notwendige sonderpädagogische und präventive Förderung der Schüler sowie die Beratung der Eltern, Kolleginnen und Kollegen abzusichern. Somit muss verstärkt das Augenmerk auf heterogene Lerngruppen (unterschiedliche Lernausgangslagen der Schüler) gelenkt werden.

Allerdings besteht an den Förderschulen die Gefahr, dass durch Abordnungen der ausgebildeten Sonderschullehrer dort ein Fachlehrermangel erzeugt wird.

Ausgehend von meinen langjährigen Erfahrungen aus der Beratungslehrertätigkeit in verschiedenen Schulformen (Grundschulen, Realschulen, Gesamtschulen) muss ich feststellen, dass es große Unterschiede bei den Lernvoraussetzungen der Schüler innerhalb einer Klasse geben kann. Zukünftig könnten häufiger (wie so ähnlich schon erlebt) Konstellationen in der Zusammensetzung einer Klasse entstehen, wie es dieses Beispiel zeigt: Von 25 Schülern haben sieben einen Migrationshintergrund (mindestens ein Elternteil stammt nicht aus Deutschland), zwei einen sonderpädagogischen Förderbedarf mit Schwerpunkt Lernen (Lernbehinderung) und einer den Förderschwerpunkt Sprachliche Entwicklung. Bei weiteren drei bis vier Kindern bestehen Teilleistungsschwächen wie Lese-Rechtschreib-Schwäche18 (LRS) und Rechenschwäche19 (Dyskalkulie). Außerdem lernen in der Klasse zwei verhaltensauffällige Jungen mit einem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom20 mit Hyperaktivität (ADHS), ein hochbegabtes sowie ein chronisch krankes Kind (z. B. erkrankt an Diabetes, mit einem Herzleiden oder einer psychischen Erkrankung). Für Schüler mit einem diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf - aber nicht für Kinder mit Teilleistungsschwächen - wurden in Sachsen-Anhalt anfangs zwei Lehrerwochenstunden zur Förderung im GU zugeteilt, was, auf mein Beispiel bezogen, sechs Unterrichtsstunden wöchentlich im Gemeinsamen Unterricht mit zwei Pädagogen ermöglichen würde. Für die Beibehaltung dieser Stundenzuweisungen fehlt es allerdings an Personal. Bis heute gibt es keine klaren Regelungen, wie viele Kinder mit Förderbedarf in einer Regelklasse lernen dürfen, um adäquat gefördert werden zu können.

In Sachsen-Anhalt und anderen Bundesländern werden Kinder in den ersten beiden Schuljahren nicht diagnostiziert, auch wenn sie deutliche Entwicklungsrückstände aufweisen.

Manche Kinder, oftmals Jungen, wirken regelrecht ungeschickt, tollpatschig, unselbstständig, der Umgang mit Schere und Bleistift gelingt nur schwer, das Schreiben ist für sie eine Qual. Dass hinter der Tollpatschigkeit eine Behinderung stecken könnte, ist allgemein wenig bekannt. Diese Dyspraxie21 wird selten vom Kinderarzt diagnostiziert, tritt aber häufig auf; die Probleme werden eher im Zusammenhang mit einer Lernoder geistigen Behinderung erklärt.

Die Hauptverantwortung für die individuelle Förderung jedes Kindes wurde und wird weiterhin den Klassenleiterinnen und Klassenleitern übertragen. Jedoch sind die Lehrkräfte an den Regelschulen (bundesweit) nicht in erforderlichem Maße auf die neuen Herausforderungen des gemeinsamen Lernens durch entsprechende Weiterbildungsangebote vorbereitet worden; sie sollten jedoch die neuen Verordnungen unverzüglich erfolgreich umsetzen. Außerdem sind an vielen Schulen die personellen, räumlichen und sächlichen Bedingungen nicht ausreichend vorhanden, was nach mehr als zehn Jahren Inklusion noch immer bemängelt wird. „Leuchtturmschulen“, die als Inklusionsschulen anerkannt sind, werden personell etwas besser ausgestattet; das reicht aber nicht für alle. Aufgrund des sich verschärfenden Personalmangels können Förderschullehrkräfte nicht mehr kontinuierlich an den Regelschulen in einem multiprofessionellen Team mitarbeiten, müssen stattdessen nach Anforderung in mehreren Schulen beratend tätig werden.

Es besteht die Gefahr, dass unter dem wachsenden ökonomischen Druck im Bildungsbereich weiter gespart wird und über Leistungsgrenzen von Lehrkräften, Pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie von Schülerinnen und Schülern hinweggegangen wird. Passt das föderale Bildungssystem in Deutschland zu den immer höher werdenden und komplexen Ansprüchen im Berufsleben, die künftige Facharbeiter in einer globalen Wirtschaft zu bewältigen haben? Schon heute können offene Stellen nicht besetzt werden, weil qualifizierte Arbeitskräfte fehlen und ein großer Teil der Arbeitslosen über keine Berufsausbildung verfügt. Was geschieht mit den Jugendlichen, die ohne einen anerkannten Schulabschluss die Bildungseinrichtungen verlassen, welche Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe bekommen sie? Zum Beispiel in Sachsen und Sachsen-Anhalt beträgt der Anteil von Schulabgängern ohne Abschluss (dazu zählen Schüler und Schülerinnen aus den Förderschulen) etwa 10 Prozent.

Seit Inkrafttreten der UN-BRK besteht der Auftrag, ein Inklusives Bildungssystem auch in der Bundesrepublik Deutschland zu gestalten. Wie das funktionieren soll, konnten sich viele zunächst nicht vorstellen, auch nicht, welche Kosten für die Schaffung entsprechender Bedingungen und Probleme damit für Kinder, Eltern und Lehrkräfte verbunden sind. Etliche Schüler und Schülerinnen mit Lern- und Verhaltensbeeinträchtigungen, bzw. mit einem sonder-pädagogischen Förderbedarf, lernten schon vor 2009 an den Regelschulen und hatten einen Anspruch auf den Gemeinsamen Unterricht, wenn es ihre Eltern wünschten.

Dieser Anspruch ist nunmehr seit über zehn Jahren bundesweit gesetzlich verankert. Wird den Eltern mit der Inklusion oftmals zu viel versprochen oder werden zu viele Hoffnungen geweckt, dass ihre im Lernen oder anderweitig behinderten Kinder zu einem höheren, sozial und gesellschaftlich anerkannten Abschluss gelangen können, gar höhere Chancen auf dem Arbeitsmarkt bekämen?

Wie steht es aktuell um das Bildungssystem in Deutschland? Da der Bildungsbereich in der Verantwortung der einzelnen Bundesländer liegt, werden, meines Erachtens, die Probleme nicht gesamtgesellschaftlich gesehen. Immer mehr Bildungsverlierer fühlen sich ausgegrenzt, was sich zum Kipppunkt im sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft entwickeln könnte.

1 Polio Begriffserklärungen im Teil IV.

2 PTBS Begriffserklärungen im Teil IV.

3 Idiotie, geistige Behinderung, Begriffserklärung Teil IV.

4 Erziehung und Wissenschaft, E&W, Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW.

5 MZ, Mitteldeutsche Zeitung Halle/Saalekreis.

6 Sabine Czerny - Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können, Südwest-Verlag, München 2010.

7 Jörg Dräger, mit einer politischen Gebrauchsanleitung von Klaus von Dohnanyi - Dichter, Denker, Schulversager, Gute Schulen sind machbar - Wege aus der Bildungskrise, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011.

8 Ebenda, S. 13, 14.

9 MZ, Mitteldeutsche Zeitung Halle/Saalekreis.

10 Ebenda.

11 Philipp Möller - iSCH GEH SCHULHOF, Unerhörtes aus dem Alltag eines Grundschullehrers, Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln, 2012.

12 Ebenda, S. 17.

13 Ebenda, S. 354.

14 Otto Speck - Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht, Rhetorik und Realität, 2. Auflage, Ernst Reinhardt, GmbH & Co. KG, Verlag München, 2011.

15 Otto Speck - Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht, Rhetorik und Realität, 2. Auflage, Ernst Reinhardt, GmbH & Co. KG, Verlag München, 2011, S. 119.

16 Ebenda.

17 Handreichung zur sonderpädagogischen Förderung in Sachsen-Anhalt, Richtlinien - Grundsätze - Anregungen, Kultusministerium Sachsen-Anhalt.

18 Lese-Rechtschreib-Schwäche, Erklärungen Teil IV.

19 Rechenschwäche, Erklärungen Teil IV.

20 Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, Erklärungen Teil IV.

21 Dyspraxie, Erklärung im Teil IV.

Teil I

Schulgeschichten - Gemeinsamer Unterricht in der Grundschule

Elternsorgen - Überlegungen zum Schulbeginn

Oft sind die Sorgen und Befürchtungen der Eltern vor der Einschulung größer als die der Kinder. Nicht allen Elternteilen gelingt es, eigene, negativ erlebte Erfahrungen in Bezug auf Schule zurückzudrängen. Was mag mancher Mutter, manchem Vater oder den Großeltern so kurz vor der Einschulung ihres Kindes/Enkelkindes durch den Kopf gehen?

Mögliche Gedanken könnten sein:

Wird sich mein Kind ordentlich benehmen und sich mit den anderen Kindern vertragen?

Wird die Lehrerin ihm helfen, wenn es unsicher ist, nicht richtig mitkommt?

Hoffentlich wird mein Kind nicht von anderen gemobbt oder geschlagen. Ob es sich bei Streitigkeiten überhaupt durchsetzen kann?

Was ist mit den älteren Schülern aus den 3. und 4. Klassen - lassen sie die Kleinen in Ruhe?

Wird mein Kind mir auch seine Sorgen erzählen, wenn es in der Schule nicht so gut lief?

Haben wir alle Arbeitsmaterialien besorgt? Hoffentlich schimpft die Lehrerin nicht so sehr, wenn doch mal was vergessen wurde. Ach und die vielen roten Einträge im Hausaufgabenheft! Schon bei dem Großen / der Großen haben die mich immer in Schrecken versetzt. Meistens waren es bloß Mitteilungen. Könnten die nicht mit einem grünen Stift geschrieben werden?

Hoffentlich kommt sie/er mit den Hausaufgaben zurecht. Manchmal denke ich, dass die Kinder im Unterricht zu wenig verstehen, nicht ausreichend Zeit haben und wir Eltern müssen zu Hause alles nachholen, erklären und helfen.

Ob mein Kind überfordert ist mit all dem Stress und dem Lärm? Einige Schüler sollen ja richtig frech und aggressiv sein, sodass der Unterricht dauernd gestört wird.

Ich habe gehört, dass auch Behinderte und mehrere Ausländerkinder in die Klasse eingeschult werden. Alle sollen im „Gemeinsamen Unterricht“ lernen und gefördert werden. Kann das denn gutgehen? Müssen die schlauen Kinder etwa immer abwarten und sich langweilen, weil sich die Lehrerin mit den Schwachen abmühen muss? Zu meiner Zeit herrschten klare Regelungen. Die Schüler mit Behinderungen und Lernstörungen bekamen ein Gutachten und gingen in das entsprechende Förderzentrum bzw. in die Sonderschule, wo man ihnen wirklich helfen konnte. Früher herrschten in den Klassen nicht so gravierende Leistungsunterschiede - es gab eine Spitzengruppe, ein breites Mittelfeld und nur wenige lernschwache Schüler.

Die sogenannte Inklusion ist ein hochgestecktes Ziel, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass eine einzige Lehrerin die Schwachen genug unterstützen kann, ohne dass die anderen Kinder beim Lernen gebremst werden.

Hätten wir uns nicht doch für eine private Schule in freier Trägerschaft, vielleicht eine Waldorf- oder Montessori-Schule, entscheiden sollen?

Hoffentlich verliert mein Kind nicht die Lust am Lernen. Es soll doch möglichst nach der Grundschulzeit an ein Gymnasium wechseln. Ach, man hört durch die Medien so viele schlechte Dinge über die Haupt- und Realschulen. Überhaupt kennt sich keiner mehr so richtig aus mit den vielen Schulbezeichnungen: Sekundarschule, Gesamtschule, Mittelschule, Gemeinschaftsschule und, und, und.

Hoffentlich müssen wir mal nicht wegen der Arbeit in ein anderes Bundesland umziehen. Die Umstellung soll ja so schwierig sein - andere Schulbücher, andere Lehrpläne, Frust für Kinder und Eltern.

Ich wünsche mir, dass die Lehrer und Lehrerinnen gerecht und nett sind, ein Kind mit Schwierigkeiten nicht vor der Klasse bloßstellen und uns als Eltern nicht von oben herab behandeln und belehren wollen.

Überlegungen aus Lehrerinnen- und Lehrersicht

Bevor die Grundschul-Lehrerinnen und Lehrer die Zeugnisse für ihre 4. Klasse schreiben und mit den Eltern den letzten Schultag planen, läuft die Vorbereitung auf das neue Schuljahr mit ihren künftigen ersten Klassen schon auf Hochtouren. Über das Jahr verteilt haben die Lehrkräfte in den verschiedenen Kindergärten hospitiert. Zweimal waren die Kleinen von ihren Eltern zu einer Schnupperstunde in die Schule begleitet worden. Der erste Elternabend für die künftigen Schulanfänger fand auch schon statt. Nur die Klassenaufteilung steht noch nicht fest. Aus den vorliegenden Unterlagen zur Schulanmeldung, den Entwicklungsberichten über Kinder, die schon in integrativen Tagesstätten gefördert wurden, sowie ärztlichen Befunden aus den Vorschuluntersuchungen kann geschlussfolgert werden, welche zukünftigen Schülerinnen und Schüler wahrscheinlich einen erhöhten Förderbedarf haben - vor allem im sprachlichen Bereich. Eine frühzeitige Diagnostik, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt, erfolgt nicht mehr.

Alle Kinder werden altersentsprechend eingeschult und lernen gemeinsam. In Zusammenarbeit der Grundschullehrkräfte mit einer Förderschullehrkraft, die leider nur stundenweise an die Grundschule abgeordnet ist, soll mittels präventiver Förderung ein Zurückbleiben von Schülerinnen und Schülern möglichst verhindert werden. Außerdem kann ja die flexible Schuleingangsphase (drei Jahre SEP in Sachsen-Anhalt, auch in Berlin und Brandenburg) genutzt werden. Das ist alles neu und ungewohnt.

Die Lehrerinnen und Lehrer machen sich darum Gedanken:

Werde ich alle Schüler für das Lernen begeistern können? Kann ich sie ausreichend motivieren, wenn es mal Probleme und Misserfolge gibt?

Gelingt es mir, allen Kindern - bei den unterschiedlichsten Lernausgangslagen - Lernerfolge zu ermöglichen?

Hoffentlich gibt es nicht mehrere Kinder in der Klasse mit gravierenden Verhaltensproblemen. Wenn doch, ist es dann überhaupt möglich, sich auf die Vermittlung von Lerninhalten und auf die Festigung der Kenntnisse zu konzentrieren?

Gibt es ausreichende Lehr- und Lernmittel für eine Differenzierung der Anforderungen oder sind die Haushaltsmittel weiterhin begrenzt und ich muss mir alles selbst zusammenstellen, kaufen und basteln?

Ob ich gut mit den Eltern im Sinne einer Erziehungspartnerschaft zusammenarbeiten kann oder wird es konfliktreiche Situationen geben?

Können alle Kinder ausreichende Unterstützung im Elternhaus erhalten und an außerschulischen Veranstaltungen oder Klassenfahrten teilnehmen?

Warum gab es vor der verbindlichen Einführung der Inklusion, des Gemeinsamen Unterrichts von Kindern mit und ohne Behinderungen, keine klaren Bestimmungen und Weiterbildungen? Wie soll eine Lehrkraft überwiegend allein im Unterricht die neuen Herausforderungen bewältigen?

Schaffe ich es, die Lehrplaninhalte in der vorgesehenen Zeit zu vermitteln? Wird es mir als Versagen angelastet, wenn Kinder stören und ein konzentriertes Arbeiten unmöglich machen?

Kann die Teamarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen den großen Arbeitsaufwand für die GU-Kinder, für Freiarbeit und jahrgangsübergreifenden Unterricht reduzieren helfen?

Hoffentlich gibt es im Kollegium keine Langzeiterkrankungen oder Abordnungen an andere Schulen, sodass eine Klasse aufgeteilt werden muss.

Bei allen Fragen - ich freue mich auf meine neue Klasse und bin gespannt, wie die Kinder und ich den Schulalltag gemeinsam meistern werden.

Einschulung

Welch ein aufregender Tag für die Kinder, Eltern und Großeltern, aber auch für die Lehrerinnen der 1. Klassen! In der Aula der Grundschule wird ein lustiges Programm von den Zweitklässlern und dem Schulchor gestaltet. Danach dürfen die Kleinen erstmals mit ihrer Lehrerin den Klassenraum betreten. Mama, Papa und Gäste müssen draußen bleiben und holen derweil die Zuckertüten herbei.

Neugierig schauen sich die schmuck herausgeputzten Kinder um, einige ängstlich, unsicher, andere forsch und aufgeweckt. Auf den Schülertischen stehen mit großen Buchstaben beschriftete Namenskärtchen. Die Schulanfänger setzen sich an ihren künftigen Arbeitstisch. Der Raum ist geräumig und hell. In Regalen an der Wand befinden sich noch leere Ablagen, viele Arbeitsmaterialien und Lernspiele. Es gibt in der Leseecke sogar einen Spielteppich.

Frau Liebig, die Klassenlehrerin der 1a, macht ihre neuen Schülerinnen und Schüler mit den Begleitern des ersten Schuljahres bekannt: das sind die Pädagogische Mitarbeiterin Frau Sommer, die Förderschullehrerin Frau Nette sowie die Katze Mimi - eine Figur aus der Fibel. Geheimnisvoll befördert die Klassenlehrerin zwei weitere putzige Handpuppen aus ihrer Tasche hervor und erklärt: „Das sind Karlchen und Nina. Meine kleine Tochter und ich haben die beiden noch rechtzeitig vor der Müllabfuhr gerettet. Die Puppe und der Teddy waren ‚verletzt‘, also nicht mehr heil und sahen traurig aus. Das konnte meine Tochter Anni nicht ertragen. So nahmen wir sie mit nach Hause und haben uns um sie gekümmert. Anni hatte die Idee, euch die Handpuppen zu schenken.“ Frau Liebig lässt mit verstellter Stimme ihre Schützlinge zu den Kindern sprechen, was Freude und Zustimmung bei den Erstklässlern auslöst. „Jeder von euch wird sie wenigstens einmal im Verlauf des Schuljahres über ein Wochenende mit nach Hause nehmen dürfen“, verspricht Frau Liebig den Kindern.

Nach dem ersten Kennenlernen nehmen die Eltern ihre Kleinen wieder in Empfang, die Zuckertüten werden übergeben und Erinnerungsfotos geschossen. Die Familien begeben sich nach Hause, um das Ereignis gebührend zu feiern.

Erster Schultag

Endlich, der lang ersehnte 1. Schultag beginnt. Welch ein Gewimmel im Klassenraum! Mamas und Papas haben ihre Kinder bis an deren Schultische begleitet und wollen unbedingt noch etwas mit der Lehrerin besprechen. Ein kleines Mädchen weint, ihr ist die Hektik unheimlich. Freundlich, aber auch entschieden, bittet Frau Liebig die Eltern, sich nun zu verabschieden und den Klassenraum zu verlassen.

Endlich geht es los. Frau Liebig und Frau Sommer begrüßen die Erstklässler. Dabei haben sie die Bärenhandpuppe Karlchen und das Püppchen Nina auf einer Hand, kaspern mit ihnen herum und lassen sie zu den Kindern sprechen. Das finden diese sehr lustig. Danach setzen sich alle in einem Stuhlkreis zusammen, um sich erst einmal kennenzulernen. Jedes der 20 Kinder nennt seinen Namen. Manche muss Frau Liebig wiederholen, da sie so ungewöhnlich klingen. Wer hat schon mal als Mädchennamen „Mekdelawit“ gehört? Die Kleine und ihre Eltern sind aus Afrika zu uns gekommen. Zur Klasse gehören noch mehr Jungen und Mädchen, deren Eltern oder ein Elternteil aus anderen Ländern stammen.

Und schon ist die erste Unterrichtsstunde wie im Fluge vergangen. Nach dem gemeinsamen Frühstück lernen die Kinder das Schulhaus kennen und schauen sich ihre Arbeitshefte und Bücher an, räumen sie in die dafür vorgesehenen Ablagen.

Die erste richtige Schulaufgabe lautet: Schreibe oder male einen Brief! Dazu verteilt die Pädagogische Mitarbeiterin ein vorbereitetes Arbeitsblatt, welches die Kleinen fantasievoll gestalten können. Sie finden Anregungen im liebevoll geschmückten Klassenraum. Dort befinden sich an der Wand Poster mit Buchstaben und Zahlen, gemalte und gebastelte Schultüten und Blumen. Eifrig machen sich die Erstklässler ans Werk. Einige können schon ihren Namen oder Wörter wie Mama und Papa schreiben. Andere versuchen Buchstaben vom Plakat abzumalen, schreiben dabei in Spiegelschrift. Einzelne Kinder haben Mühe den Stift richtig zu führen.

Ganz egal, welche Voraussetzungen die Mädchen und Jungen mitbringen - einen Förderbedarf für Entwicklungs- und Reifungsprozesse haben alle Kinder. Ob hochbegabt oder mit Entwicklungsrückstand - jedes Kind soll individuelle Förderung erfahren. Das ist ein hochgestecktes Ziel und dennoch sollte dies selbstverständlich sein. Um es zu erreichen, müssen die materiellen und personellen Ressourcen an den Schulen verbessert werden.

Tony

Während der großen Pause tauschen sich die Pädagoginnen über ihre ersten Eindrücke in der Klasse aus. Ihnen ist von Anfang an ein Junge aufgefallen. „Schon während des Kennenlernspiels im Stuhlkreis hat er ständig dazwischengeredet. Als ich ihn freundlich aufforderte doch bitte abzuwarten, bis er an der Reihe ist, reagierte Tony sehr eigenwillig“, erzählt Frau Liebig. „Ja, er legte sich einfach auf den Fußboden und meinte, dass er müde und alles langweilig sei“, ergänzt Frau Sommer.

Schnell ist die Pause vorüber und die Kinder gehen vom Hof in den Klassenraum zurück. Tony rennt ungestüm über den Flur, stolpert und fällt der Länge nach hin. Schnell rappelt er sich auf und haut einem hinter ihm laufenden Jungen ins Gesicht. Frau Nette hat den Vorfall zufällig genau beobachten können und will mit Tony sprechen. „Der hat mir ein Bein gestellt, der Idiot“, verteidigt er sich, rennt weg, wirft sich im Flur auf den Fußboden und schreit. Erschrocken und verwundert beobachten einige Kinder die Szene. Frau Nette bemüht sich weiter um den Jungen und spricht beruhigend auf ihn ein. Wenig später steht Tony wie verwandelt auf, marschiert in den Klassenraum, geht spontan auf Moritz zu und entschuldigt sich.

In der letzten Stunde sind mathematische Vorübungen an der Reihe. Die Lehrerin zählt mit den Kindern, heftet Punktbilder, die ihnen vom Spiele-Würfel bekannt sind, an die Tafel, lässt Mengen bestimmen. Danach folgt eine erste Partnerübung. Je zwei Kinder erhalten Grundkärtchen mit 5 Kreisen darauf und dazu bunte Glassteine, die Muggel-Steine genannt werden. Nun soll immer ein Kind die geforderte Anzahl auf die Punkte legen, das andere muss herausfinden, wie viele Steine noch bis zur 5 fehlen. Die Ergebnisse werden verglichen. Einige rufen gleich dazwischen. Die Schulanfänger müssen es noch lernen sich zu melden und abzuwarten. Tony meldet sich auch, kommt aber nicht sofort dran. Völlig verärgert wirft er die Muggel-Steine auf den Boden und kramt seine JU-GI-OH-Karten aus der Hosentasche hervor. Frau Liebig geht ruhig auf den Jungen zu, sagt zu ihm: „Tony, ich bin ganz erschrocken und traurig, dass du die Arbeitsmittel so herumwirfst“. „Das ist mir doch egal, du dumme Kuh! Schule ist doof!“, schreit Tony sie an, wirft auch noch die Karten in den Raum, rutscht vom Stuhl herunter, legt sich unter den Tisch und schiebt einen Daumen in den Mund. Nur gut, dass eine zweite Lehrerin mit im Unterricht ist. Frau Nette kann Tony bewegen mit auf den Flur zu gehen. „Wenn du weiter so laut weinst, kann ich dich gar nicht verstehen“, sagt sie zu ihm und reicht dem Jungen ein Papiertaschentuch. Es dauert eine ganze Weile, bis sich das Kind beruhigt hat. Vor lauter Aufregung stottert22 Tony stark. Kurz vor dem Klingelzeichen kommt seine Mama die Treppe herauf und muss sogleich erfahren, dass es mehrere Vorfälle gegeben hat. Frau Liebig und Frau Nette verabreden sich mit der Mutti zu einem Gespräch am nächsten Tag, da sie verstehen möchten, warum das Kind so heftig reagiert und wie Eltern und Pädagoginnen am besten zum Wohle des Jungen zusammenarbeiten können.

Die Klassenlehrerin fragt ihre Kollegin: „Wie haben Sie das nur geschafft, dass der Tony sich wieder eingekriegt hat? Was haben Sie zu Ihm gesagt?“ „Da Tony fest davon überzeugt war, dass ihm Moritz ein Bein gestellt hat, bin ich erst mal auf sein Kränkungsgefühl eingegangen, habe ihm dann erzählt, wie ich den Vorfall gesehen habe. Danach sollte Tony versuchen, sich in die Lage von Moritz zu versetzen, wie der sich wohl gefühlt hat, als er unschuldig gehauen wurde“, beantwortet Frau Nette die Fragen.

Die Förderschullehrerin

Frau Nette ist genauso wie die Erstklässler neu an der Grundschule. Vorher hat sie als Lehrerin an einer Förderschule für Lernbehinderte und als Beratungslehrerin an verschiedenen Regelschulen gearbeitet. In Zukunft sollen Förderschullehrkräfte an den Grund- und Realschulen mitarbeiten, um den Schülern mit Förderbedarf und Lernschwierigkeiten zu helfen, weil alle Kinder aus dem Einzugsgebiet der Schule gemeinsam lernen sollen. Man nennt das Chancengleichheit in einem „Inklusiven Schulsystem“. Doch was bedeutet das? Vorher war es üblich, dass die meisten Jungen und Mädchen mit Behinderungen von Anfang an eine spezielle Förderschule besuchten. Heutzutage ist es so, dass in den Klassen 1 bis 4 der Grundschulen (und später an der Haupt-, Mittel- oder Realschule sowie Gesamtschule - das sind Namen für weiterführende Schulen ab Klasse 5 oder auch am Gymnasium) mehrere Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im sogenannten Gemeinsamen Unterricht lernen (GU), wenn ihre Eltern das wünschen und die Kinder das auch möchten. Diese Schülerinnen und Schüler können zum Beispiel Lern- und Sprachstörungen haben, große Verhaltens- und Konzentrationsprobleme oder auch leichte Behinderungen beim Sehen, Hören sowie im Bewegungsbereich. Frau Nette und die anderen Förderschullehrkräfte haben eine spezielle Ausbildung und betreuen diese Schüler im Unterricht oder in Einzelförderstunden. In den einzelnen Bundesländern Deutschlands gibt es dafür unterschiedlich viele Stundenzuweisungen pro Woche für ein Kind mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf. Eine weitere Aufgabe der Förderschullehrer und -lehrerinnen ist die präventive Förderung. Was bedeutet denn das schon wieder? Präventiv heißt vorbeugend. Wenn also Schüler beim Lernen zurückbleiben und mehr Zeit und Hilfe brauchen, beraten Klassenleiter und Förderschullehrkräfte darüber, welche Fördermaßnahmen nötig sind. Es kann vorkommen, dass Kinder am Ende der 1. oder 2. Klasse noch nicht richtig Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt haben. Diese können in der Schuleingangsphase ein Jahr länger verbleiben und bekommen Zeit ihre Lernrückstände aufzuholen. Wenn die Lernprobleme langanhaltend sind, müssen Förderschullehrkräfte wie Frau Nette Tests und Überprüfungen durchführen und in Zusammenarbeit mit den Klassenlehrerinnen ein Gutachten schreiben. Die Förderkinder bleiben in ihren Klassen und lernen im Gemeinsamen Unterricht weiter, erhalten aber einfachere Aufgaben, mehr Arbeitszeit und werden anders bewertet. Für die Lehrerinnen und Lehrer ist es gar nicht so einfach, wenn in ihrem Unterricht ein zweiter Pädagoge mitarbeiten soll. Jeder hat seine eigene Art den Unterricht zu gestalten.

Nina und Karlchen

Die putzigen, kuscheligen Handpuppen sitzen im Klassenraum auf dem Fensterbrett gleich neben dem Lehrertisch. Nicht einmal Frau Liebig kann es wissen oder ahnen, dass die beiden etwas Besonderes sind. Dabei hat sie die Figuren doch selbst liebevoll für ihre 1a zurechtgemacht. Ja, vielleicht ist es gerade das, was den Zauber bewirkt. Stellt euch vor, um Mitternacht, zur Geisterstunde, wenn es im alten Schulhaus ganz still ist, beginnen sich die beiden zu regen. Sie können plötzlich laufen, klettern und sprechen! In dieser einen Stunde werden sie regelrecht zu Quasselstrippen, weil sie sich unbedingt über ihre Beobachtungen austauschen wollen.

Über den Tony sind beide richtig erschrocken. Karlchen und Nina haben auch das Gespräch zwischen Tonys Mama, Frau Liebig und Frau Nette belauscht. Was, das macht man nicht? Doch die Puppen können nicht anders, sie nehmen alles auf, was um sie herum geschieht. „Weißt du, was eine Störung im Sozialverhalten ist?“, fragt Karlchen seine Gefährtin. „Also ich habe das so verstanden, dass Tony als Kleinkind schwerkrank gewesen ist, er hatte Gehirnhautentzündung23 oder so ähnlich - und seitdem hat der Junge dauernd Wutanfälle.“ „Dann hat er noch Schläge von seinem Papa bekommen! Kein Wunder, dass Tony stottert und glaubt, dass alle gegen ihn sind.“ „Jetzt sind Tonys Eltern getrennt“, fügt Nina noch hinzu. „Obwohl der kleine Kerl so böse ausgerastet ist, tut er mir wegen seiner schlimmen Erfahrungen richtig leid.“ „Aber wie sollen die Kinder mit solch einem aggressiven Mitschüler klarkommen?“, überlegt Karlchen. Die beiden finden keine Antwort, die Geisterstunde geht viel zu schnell vorbei. Punkt 1 Uhr erstarrten die Puppen wieder.

Wenige Wochen später bekam der Schüler einen Platz in einer Klinik für Kinderpsychiatrie und erhielt dort Sprach- und Verhaltenstherapie. Frau Liebig erklärte für die Kinder verständlich den Grund für Tonys Krankenhausaufenthalt. Seine Klassenkameraden malten ihm Bilder und schickten Grüße. Die Klassenlehrerin und Tonys Mutter blieben über die Zeit der stationären Behandlung des Jungen in Kontakt. Frau Liebig besuchte ihn sogar, nachdem sie ein Gespräch mit der Psychologin geführt hatte.

Moritz

Für Moritz war der erste Schultag frustrierend. Dass ihm ein Mitschüler grundlos ins Gesicht schlägt, damit konnte er nun wirklich nicht rechnen. Seitdem kann er Tony nicht ausstehen. Da half auch keine nachträgliche Entschuldigung.

Den Schulanfang erlebte Moritz sowieso mit gemischten Gefühlen. Sein großer Bruder hatte ihm vorausgesagt, dass Schule ziemlich doof sein kann - er würde schon sehen, wie das läuft. Andererseits war Moritz stolz, endlich ein Schulkind zu sein. Sport und Mathe machen ihm schon Spaß, doch Lesen, Schreiben und Malen mag er nicht. Der Junge strengt sich ungern an. Viel lieber spielt Moritz mit LEGO® oder puzzelt und bastelt.

Montags fällt ihm das Aufstehen besonders schwer. Er hat keine Lust zur Schule zu gehen. Die Eltern und sein Bruder sitzen schon am Frühstückstisch. Moritz trödelt beim Anziehen. Sein Papa ruft nach ihm. Weil Moritz schnell fertig werden will, behält er seinen Schlafanzug einfach an, zieht Jeans und Pullover darüber. Beim Frühstück fängt der Junge an zu diskutieren: „Warum muss ich denn noch zur Schule gehen? Ich kenne jetzt alle Buchstaben, da kommen keine neuen mehr dazu. Bis 100 kann ich auch zählen.“ Sein Papa antwortet: „Das reicht noch lange nicht aus, mein Sohn. Sieh es doch mal so: Mama und ich gehen arbeiten, für euch ist die Schule der Job! Da muss jeder sein Bestes geben.“ Der ältere Bruder bemerkt sogleich: „Ach so siehst du das! Wieso kriegen die Lehrer und ihr für eure Jobs Geld und wir nicht?“

Karlchen hat das Wochenende bei Moritz verbracht und erzählt seiner Freundin Nina von dem Gespräch am Frühstückstisch. Sie grübelt und fragt: „Wieso kann ein Junge in der ersten Klasse schon so lustlos sein?“ Das Bärchen sinnt nach: „Mir ist aufgefallen, dass Moritz bei Schwierigkeiten schnell aufgibt. Das ist in der Schule genauso wie zu Hause. Dann fängt er an zu