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Götz Aly

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Beschreibung

***Wie der einfache Deutsche vom Raubzug der Nationalsozialisten profitierte**** Götz Aly ist einer der wichtigsten und provokantesten NS-Forscher. Hier schreibt er über die hemmungslose Ausplünderung Europas durch die Nationalsozialisten - von der Millionen einfache Deutsche profitierten. Während des Zweiten Weltkrieges verwandelte die Regierung Hitler den Staat in eine Raubmaschine ohne Beispiel. Die große Mehrheit der Deutschen stellte sie mit sozialpolitischen Wohltaten, guter Versorgung und kleinen Steuergeschenken ruhig. Die Kosten dieser Gefälligkeitsdiktatur hatten Millionen von Europäern zu tragen, deren Besitz und Existenzgrundlagen enteignet wurden. Die Erlöse aus dem Verkauf von jüdischen Vermögen überall in Europa flossen in die deutsche Kriegskasse und damit auch in die Taschen der Soldaten. Lange beschwiegen, werden hier endlich die Vorteile, welche die deutsche »Volksgemeinschaft« aus den Verbrechen des Nationalsozialismus, aus dem Krieg und der Ermordung der Juden zog, schonungslos dargestellt.

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Götz Aly

Hitlers Volksstaat

Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort:Antwort auf die Kritik

Inhalt

Teil I Stimmungspolitiker in AktionDer Traum vom VolksreichGigantische ZeitenDer große RuckNationale IntegrationDas Trauma von 1918Hinweise zur LektüreFragestellungenHistorisches MaterialDie GefälligkeitsdiktaturIm Schein des AufschwungsArisierung für den KriegSteuermilde für die MassenSteuerhärte gegen die BourgeoisieGeldfülle für die WehrfreudeTeil II Unterwerfen und ausnutzenMit straffer ZweckmäßigkeitKontributionen an die DeutschenIndividuelles BezahlenKollektives EnteignenKriegsgewinne für das VolkHitlers zufriedene RäuberDer Trödelmarkt des ReichesUnbürokratische SoforthilfeHauptstütze WestSchlemmerlokale in BelgienHolland ohne GrenzenIn Frankreich stark belastetItalien: Bezahlt wird nichtErgänzungsraum OstSklavenarbeit für das ReichEmissionsbank in MoskauOtto NormalverbraucherTeil III Die Enteignung der JudenDas Prinzip StaatsraubInflation und ArisierungFinanzhilfe für SerbienAnforderungen in UngarnEmil und Henny UhlmannGeldwäsche für die WehrmachtQuisling hier, Verfassung dortEnteignen ohne EnteignungsaktRäuberisch vereint in FrankreichSubsidien der VerbündetenSlowakische GerechtigkeitBulgariens KriegshaushaltRumänische GoldpolitikDie Spur des GoldesInflation in GriechenlandDie Juden von SalonikiGold an der Athener BörseDeutsch-griechisches SchweigenVon Rhodos nach AuschwitzTeil IV Verbrechen zum Wohle des VolkesDie Früchte des BösenDer Raubmord an den JudenKriegseinnahmen 1939–1945Spekulative PolitikGeräuschlos und illusionärSparen und VertrauenVirtuelle KriegsschuldenNationaler SozialismusSachverstand und PolitikLeben wie im KinoRassen- und klassenbewusstNachwort zur TaschenbuchausgabeAntwort auf die KritikVergessene NormalitätAkademische NetzwerkeDie Scheinwelt der StatistikDas ideologische Abrakadabra der KritikAnhangUmrechnungskurseAbkürzungenLiteraturPersonenregister

Teil IStimmungspolitiker in Aktion

Der Traum vom Volksreich

Gigantische Zeiten

In dem vorliegenden Buch soll die Symbiose von Volksstaat und Verbrechen sichtbar gemacht werden. Dafür gilt es, den immer noch verbreiteten historiographischen Ansatz zu überwinden, der die so offensichtlich grausame Seite des Nationalsozialismus von denjenigen politischen Aktionen isoliert, die dasselbe Regime für die Mehrheit der Deutschen so attraktiv machte. Im Zentrum steht die Absicht, die Verbrechen historisch angemessen in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Die Genesis des Holocaust erschließt sich eben nicht allein aus den Schriftstücken, die das Rubrum »Judenfrage« auf dem Aktendeckel tragen. Damit wird die Leistung der weit überwiegend verbrechenszentrierten Geschichtsschreibung zur NS-Zeit nicht geschmälert. Das Fragen nach den Voraussetzungen dieser Verbrechen entspricht meinem Zugang und bildete die innere Feder – auch für dieses Buch.

Die NSDAP stützte sich auf die Lehre von der Ungleichheit der Rassen und versprach den Deutschen im selben Atemzug mehr Chancengleichheit, als es sie während des Kaiserreichs und noch während der Republik in Deutschland gegeben hatte. In der Praxis geschah das auf Kosten anderer, mit den Mitteln des Raub- und Rassenkrieges. Aus der Innenschau schien sich im Rassenkampf das Ende des Klassenkampfes anzudeuten. So gesehen, propagierte die NSDAP eine der sozial- und nationalrevolutionären Utopien des vergangenen Jahrhunderts. Das machte sie populär. Daraus bezog sie ihre verbrecherischen Energien. Hitler sprach vom »Aufbau des sozialen Volksstaats«, eines »Sozialstaats«, der vorbildlich sein werde und in dem »alle [sozialen] Schranken immer mehr einzureißen« seien.[1]

Wie alle Revolutionäre erzeugten die überaus jungen Gefolgsleute der NS-Bewegung die Aura des Jetzt-oder-nie. Zum Zeitpunkt der Machtübernahme 1933 war Joseph Goebbels 35 Jahre alt, Reinhard Heydrich 28, Albert Speer 27, Adolf Eichmann 26, Josef Mengele 21, Heinrich Himmler und Hans Frank waren 32. Hermann Göring – einer der Älteren – hatte gerade den 40. Geburtstag gefeiert. Noch mitten im Krieg konnte Goebbels aus Anlass einer statistischen Erhebung feststellen: »Danach beträgt das Durchschnittsalter der führenden Persönlichkeiten auch in der mittleren Schicht der Partei 34 und innerhalb des Staates 44 Jahre. Man kann also in der Tat davon sprechen, dass Deutschland heute von seiner Jugend geführt wird.« Zugleich verlangte er nach »personeller Auffrischung«.[2]

Für die Mehrzahl der jungen Deutschen bedeutete der Nationalsozialismus nicht Diktatur, Redeverbot und Unterdrückung, sondern Freiheit und Abenteuer. Sie sahen darin eine Verlängerung der Jugendbewegung, ein körperliches und geistiges Anti-aging-Programm. Die tonangebenden 20- bis 30-Jährigen erhoben sich 1935 verächtlich über die Kleingeister. Sie sahen sich als moderne, antiindividualistische Tatmenschen. Sie belächelten des »Spießers Sorgen – denn uns gehört das große Morgen«. Im Januar 1940 wähnten sie sich vor der »großen Schlacht«, von der sie annahmen, »… gleich wer fällt, so wird dieses Land einer glücklichen, großen Zukunft entgegengehen«, um noch Anfang März 1944 – trotz aller mittlerweile erlebten Schrecken – »zum Endspurt dieses Krieges« anzusetzen.[3]

Ein 33-Jähriger notierte, warum er sich zu einem der binnen Tagen geschaffenen Umsiedlungsstäbe meldete, die 1939 urplötzlich die Auslandsdeutschen aus Ostmitteleuropa »heim ins Reich« holten: »Ich brauche keine Sekunde zu überlegen, um mich zu melden. Die Aufgabe, die gestellt wird, ist eine einzigartige; ich hoffe, dass man mich brauchen kann und meine Meldung angenommen wird. Dass mich dieser Ruf zugleich aus der Enge meines Büros erlösen wird – wie gleichgültig ist das geworden.« 14 Tage später notiert derselbe Tagebuchschreiber: »Über die Größe der Aufgabe bin ich erschrocken: noch niemals zuvor wurde mir eine solche Verantwortung gegeben.«[4] Über den Studentinneneinsatz zur Betreuung der auslandsdeutschen Umsiedler im eroberten Warthegau und über den improvisierten Aufbau von Schulen und Erntekindergärten schwärmten die jungen Frauen: »Es war ganz gleich, von welcher Fakultät wir kamen, eine große gemeinsame Aufgabe verband uns alle, nämlich die, während der Semesterferien unsere ganze Kraft und unser, wenn auch noch geringes Wissen, hier im Warthegau einzusetzen. Und, ehrlich gesagt, wir waren richtig stolz darauf, dass wir die Ersten sein durften, die hier als Studenten Pionierarbeit leisten durften.«[5]

Der 1915 geborene, spätere Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer mokierte sich 1942 – als 27-jähriger Besatzungsfunktionär in Prag – über die Reste der alten, zögerlichen Verwaltungs- und Bildungseliten, die in seinen Augen den Aufbruch in den »wirklichen Nationalsozialismus« störten: »Die uns in jungen Jahren in der Kampfzeit anerzogene Bereitschaft, Aufgaben zu suchen und nicht auf sie zu warten, der ständige Einsatz für die Bewegung auch nach der Machtübernahme haben uns früher als üblich in die Verantwortung gestellt.«[6] Hans Schuster, in den 1970er Jahren einer der Chefredakteure der Süddeutschen Zeitung, wurde im Mai 1941 Wirtschaftsattaché an der Deutschen Gesandtschaft in Zagreb (Agram), um dort den Satellitenstaat Kroatien aufzubauen. Zuvor hatte er, prädestiniert durch seine Leipziger Dissertation »Die Judenfrage in Rumänien«, an der Deutschen Botschaft in Bukarest gearbeitet und an konspirativen Unternehmungen teilgenommen. Auch er gehörte dem Jahrgang 1915 an. Von Zagreb aus schrieb der 26-Jährige im Januar 1942 in der Atemlosigkeit des weltanschaulichen Überzeugungstäters an seinen später ebenfalls einflussreichen Freund Hellmut Becker:

»Ich möchte wirklich bald hinaus nun – dies letzte Jahr hat für mich zu viel gebracht hier; fast zu glatt ist vieles gelungen – wenn auch unter großen Anspannungen und wochenlangen Gefahren. Das war der Staatsstreich in Belgrad und dann der Krieg und unser Staatsstreich hier in Agram. Dann das Glück, unter einem hervorragenden Menschen, wie der Gesandte Kasche (SA-Obergr.-Führer!), an dem mühseligen Aufbau dieses Staates unter großer Eigenverantwortung ein gutes halbes Jahr teilnehmen zu können, unter besonders günstigen Umständen dank der ganz engen Beziehungen zur hiesigen Regierung aus der Zeit vor dem Umbruch.« Schuster erreichte, was er wollte, und zeigte sich als Soldat bald dankbar, dass ihn »die Vielseitigkeit dieses Daseins, die dauernde Anspannung, das Erfordernis eigener, wenn auch kleiner Entschlüsse« und »eines gewissen Maßes an Phantasie und Initiative […] vor der abstumpfenden Seite des Krieges bewahrt« hatte.[7]

Die vorgestellten Männer und Frauen fanden alle, was sie wollten, und was man in diesem Alter ohnehin gerne will: Eigenverantwortung, noch ungeregelte Verhältnisse, die den Pionier verlangen, den Zwang zur rastlosen Improvisation, zur ständigen Erprobung der geistigen und körperlichen Kräfte. Sie schufen sich ein Leben, in dem sie den beginnenden Trott immer neu brechen konnten. Sie hassten die Borniertheit des Büroalltags, suchten Selbstprüfung und Spaß, den Kitzel des Unberechenbaren und den letzten Kick im modernen Bewegungskrieg. Sie betrieben die nachpubertäre Identitätssuche im Vollgefühl scheinbarer Omnipotenz.

Im Jahr 1933 ergriffen Studenten und frisch gebackene Hochschulabsolventen die Macht. Zu ihnen gehörten die rebellischen Kinder der alten Eliten und die selbstbewusst gewordenen jungen Männer, die vom sozialdemokratisch geförderten Aufstieg der Republik profitiert hatten. Die Heterogenität ihrer Herkunft überwanden sie in der sozialromantischen, zugleich technizistisch-modern ausgelegten Utopie vom nationalen Sozialismus. Sie begriffen sich und ihresgleichen als Avantgarde eines »jungen Volkes«. Aus Erfahrung skeptische Alte verspotteten sie als »Friedhofsgemüse«, lang gediente, prinzipienfeste Beamte als »Herrschaften, denen der Kalk aus den Hosen rieselt«.[8] Gegenwartsfern und zukunftsnah entwickelten sie ihre Visionen von einem Leben, das sie sich als das Gegenteil von Stagnation dachten. Die Aktivisten und die vielen verhalten-neugierigen Sympathisanten der Bewegung setzten dem beengten Heute das völkische Morgenrot entgegen. Die Last des bald schon gigantischen Alltags, um es mit einem Wort der Zeit zu sagen, wurde leicht im Blick auf das Künftige. Im Sommer 1941 erwog Goebbels, seine Kriegsreden unter dem Titel »Zwischen gestern und morgen« erscheinen zu lassen; tatsächlich hieß das Buch dann »Zeit ohne Beispiel«.[9] Der Nationalsozialismus kann aus guten Gründen als Jugenddiktatur begriffen werden. Sie entwickelte sich binnen weniger Jahre zu dem im zerstörerischen Sinn erfolgreichsten Generationsprojekt des 20. Jahrhunderts.

 

Die vielen Anleihen des nationalen Sozialismus aus dem linkssozialistischen Ideenvorrat ergaben sich schon aus den Biographien der Beteiligten. In der Endphase der Weimarer Republik hatten nicht wenige der späteren NS-Aktivisten kommunistisch-sozialistische Erfahrungen gesammelt. So äußerte Eichmann in seinen Memoiren mehrfach: »Meine gefühlsmäßigen politischen Empfindungen lagen links, das Sozialistische mindestens ebenso betonend wie das Nationalistische.« Er und seine Freunde hätten während der Kampfzeit Nationalsozialismus und Kommunismus als »eine Art Geschwisterkinder« angesehen.[10] Der Schriftsteller Wolfgang Hillers erkannte plötzlich, »dass dem Ich ein Wir übergeordnet werden musste, und dass eine neue deutsche Kunst nur aus der Quelle des Wir gespeist werden konnte«.[11]Dieser insoweit repräsentative Mann – man denke auch an Arnolt Bronnen – hatte zuvor mit Bert Brecht und Johannes R. Becher zusammengearbeitet und das Chorwerk »Der große Plan« einstudiert, das die stalinistische Brachialindustrialisierung verherrlichte. Hillers brauchte 1933 nur noch das Wort proletarisch durch deutsch zu ersetzen; den Weg vom Ich zum Wir hatte er bereits zurückgelegt. Seine Erkenntnis, »dass ein neues Wir-Gefühl sich vornehmlich in chorischen Formen« inszenieren lässt, konnte er weiterhin nutzen: Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht … Das neue Deutschland des nationalen Sozialismus gab denjenigen, die während der Demonstrationen, Gedanken- und Saalschlachten auf der anderen Seite gestanden hatten, vielfach die Chance, mit dem Dritten Reich ihren individuellen Frieden zu schließen.[12]

 

Im Folgenden wird noch häufig von Finanzstaatssekretär Fritz Reinhardt und dessen Minister Lutz Graf Schwerin von Krosigk die Rede sein. Die beiden arbeiteten trotz gegensätzlicher biographischer Hintergründe kongenial zusammen.[13] Aufs Krankenbett geworfen, schrieb Reinhardt 1940 seinem Chef: »Ich freue mich schon auf die großen Aufgaben, die bald zu lösen sein werden. […] Wie überglücklich können wir doch sein, in dieser gigantischen Zeit leben und wirken zu dürfen! Paris in deutscher Hand, Frankreich vor der Kapitulation! In so kurzer Zeit! Es ist kaum zu glauben!«[14]

Der schnelle Sieg war mit der Verletzung der Neutralität Belgiens und Hollands ermöglicht worden. Hitler nannte das schon vorher »bedeutungslos«. Seinen Vertrauten und Stück für Stück auch der deutschen Bevölkerung schärfte er jene Maxime ein, die bald jedes Verbrechen ermöglichte: »Kein Mensch fragt danach, wenn wir gesiegt haben.«[15]

Die Frage, ob irgendein Plan, eine propagandistisch erklärte Absicht des NS-Regimes einer späteren Wirklichkeit entsprochen oder sich auf Dauer als realitätstauglich erwiesen hätte, kann nicht einmal akademisches Interesse beanspruchen. Sie führt analytisch in die Irre. Das außergewöhnliche Tempo, die jugendhafte, ins Kollektiv-Fiebrige übersteigerte Bedenkenlosigkeit machen die zwölf kurzen NS-Jahre heute so schwer begreiflich. Die deutsche Gesellschaft gewann ihre extremen Energien aus der von der Führung gehaltenen Einheit des Gegensätzlichen: von rationalen und emotionalen politischen Bedürfnissen, von alten und neuen Eliten, von Volk, Partei und Bürokratie. Die außerordentlich hohe Grundspannung baute sich überall dort auf, wo der politische Apparat das Widerstreitende verband: die Pflege des angeblich Althergebrachten mit der Lust am technisch Machbaren, die antiautoritäre Freude am Umsturz mit der autoritär-utopischen Ausrichtung auf den deutschen Sonnenstaat. Hitler kombinierte die nationale Wiedergeburt mit dem Risiko des Untergangs, die gemeinschaftsselige Klassenharmonie mit arbeitsteiliger Vernichtungsgewalt.

Der große Ruck

Die NS-Führer konnten Juristen, Berufsdiplomaten und Generalstabsoffiziere nur schwer ertragen. Doch zum eigenen Vorteil ließen sie ihnen Zeit zur partiellen Anpassung. Dazu gehörten die in den folgenden Kapiteln immer wieder zu nennenden Beamten der Reichsbank, des Reichsfinanz- und des Reichswirtschaftsministeriums – gewiefte Männer, die ihre fachlich-politischen Erfahrungen noch im Kaiserreich oder als Nachwuchskräfte in den Anfangsjahren der Republik gesammelt und im Ersten Weltkrieg vielfach als Soldaten gekämpft hatten. Die Verschiedenartigkeit und Variationsbreite der Lebensgeschichten lassen sich für sämtliche Fachministerien nachweisen, für die meisten Universitätsinstitute wie für die privat oder (halb-)staatlich organisierten Braintrusts in den Wirtschaftsforschungsinstituten, wissenschaftlichen Gesellschaften, Zeitungsredaktionen oder für die volkswirtschaftlichen Abteilungen großer Banken.

Die Beamten der Abteilung III des Reichswirtschaftsministeriums beuteten Europa 1939 bis 1945 unter Führung des Ministerialdirigenten Gustav Schlotterer mit kaum vorstellbarem Rigorismus aus. Die Abteilung war 1920 gegründet worden, um den Versailler Vertrag zu erfüllen. Als wehrlose Adressaten französischer, belgischer und britischer Forderungen lernten die damals jungen Beamten das Einmaleins des Unterwerfens, Ausplünderns und Erpressens. Später drehten sie ihr passiv erworbenes Know-how gegen die Erfinder, reicherten es mit deutscher Verwaltungsintelligenz gründlich an und verstanden ihre tausendfachen Handreichungen für das Gelingen der Raubzüge als Kompensation für vorangegangene Demütigungen.

Die Nürnberger Gesetze wurden im Herbst 1935 auf dem Reichsparteitag im Hoppla-hopp-Verfahren proklamiert, aber nicht etwa im Reichsgesetzblatt verkündet. Erst nachdem hervorragende Verwaltungsjuristen in den folgenden Wochen die Ideen vom Blutschutz und vom »Ausmendeln« angeblicher Rassenmerkmale in bürokratisch praktikable Normen verwandelt hatten, erschien die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz mit den Festlegungen, wer Volljude, Halbjude oder Geltungsjude sei, wer in Mischehe oder privilegierter Mischehe lebe. Als Grundlage für viele Hunderttausend Einzelfallentscheidungen nahmen die Juristen nicht irgendwelche erbbiologischen, ewig strittigen Messungen, wie sie sich die Rassenforscher mit akademischer Gründlichkeit ausgedacht hatten, sondern die unkompliziert feststellbare, vielfach dokumentierte Religionszugehörigkeit der vier Großeltern. Das ermöglichte das »automatische Verfahren« des Aussortierens.

Ähnliches lässt sich für die »Judenbuße« von 1938 sagen, die Göring im antisemitischen Furor auf eine Milliarde Reichsmark festgesetzt hatte. Erst das Finanzministerium gestaltete sie zur Vermögensabgabe von 20 Prozent aus, streckte die Bezahlung über vier Termine im Laufe eines Jahrs und trieb schließlich deutlich mehr Geld ein, als Göring gefordert hatte.

Erst infolge solcher korrigierender Feinarbeiten konnten die antisemitischen Sondermaßnahmen, die im Rückblick Vorstufen zum Mord an den europäischen Juden bildeten, die notwendige Wirksamkeit entfalten. In diesem Sinne kontrollierte der Rechnungshof des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg die Enteignung der Juden von Belgrad und die Verwaltung der beiden Abschiebelager für niederländische Juden ebenso[16] wie – im Auftrag des Reichsfinanzministers – die (mangelhafte) Effizienz der Ghettoverwaltung in Lodz-Litzmannstadt. In Warschau beauftragte die Wirtschaftsverwaltung das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (heute: Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft) mit einer betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung für das Ghetto. Die in umfänglichen Revisionsberichten niedergelegten Ergebnisse sprachen gegen die Existenz solcher gefängnisähnlichen, aber völlig unwirtschaftlichen »jüdischen Wohnbezirke«.[17]

Auf solche Weise fanden die expressionistisch-massenwirksamen, nicht selten improvisierten Aktionen der nationalsozialistischen Bewegung ihr Widerlager in einer routinierten Bürokratie. Bei aller Bereitschaft, der nationalen Sache zu dienen, gaben die Beamten keines ihrer hergebrachten Steuerungs- und Kontrollinstrumente auf. Der Rechnungshof und die Zivilgerichte arbeiteten weiter; die Federführung, das Mitzeichnungs- und Anhörungsrecht, der mehrgliedrige Verwaltungsaufbau, all das funktionierte mit beachtlicher Effizienz. Die Gauleiter, die das Unbürokratische und die Volksnähe wollten, arbeiteten sich an Finanzbeamten ab, die auf den Buchstaben der Reichshaushaltsordnung bestanden. Das erzeugte Reibung, Ärger, Streit, vor allem jedoch das sachkundige Austarieren sonst halsbrecherischer politischer oder militärischer Manöver. Die polykratische Organisationsstruktur des NS-Staates führte eben nicht – wie oft behauptet – ins Chaos. Im Gegenteil. Aus der fortwährenden Möglichkeit, Interessengegensätze auszutragen und die Frage nach dem besten Weg zu stellen, erklärt sich die freilich stets prekäre Stärke des Regimes: So ließen sich (radikalere) Alternativen entwickeln, administrative Pleiten vermeiden und eine hohe Praktikabilität der nach oft ideologisierten Vorgaben beschlossenen Maßnahmen erreichen; so entstand das schließlich mörderische Gemisch aus politischem Voluntarismus und funktionaler Rationalität.

 

Das Zusammenspiel zwischen Experten, Politikern und Bevölkerungsmehrheit fand seine Basis auch in der Bereitschaft der Regierung Hitler, lang erwünschte Reformgesetze zu verwirklichen, die im Interessenstreit der Republik stecken geblieben waren. Tatendurstig warf die nationalsozialistische Verwaltung vieles über Bord, das lange schon als unnütz und vorgestrig galt. So erfüllte sie 1941 eine Forderung von Jacob Grimm, der die deutsche Schrift 1854 als »unförmlich und das auge beleidigend« bezeichnet hatte,[18] und schaffte per »Schriftbefehl« die Sütterlin wie die Fraktur zugunsten der lateinischen Normalschrift ab. Artikel 155 der Weimarer Verfassung legte fest, dass die feudale, in Nordostdeutschland noch weit verbreitete, den modernen Kapitalismus hemmende Eigentumsform der Fideikommisse aufzulösen sei. Jedoch war die Republik nicht im Stande die – schon im Paulskirchenparlament 1849 geforderte – Verfassungsnorm durchzusetzen. Das entsprechende Reichsgesetz trägt die Unterschrift »6. Juli 1938, Berchtesgaden, Adolf Hitler«.

Die NS-Führung vermittelte einen ersten Vorgeschmack auf die Volksmotorisierung, sie führte den bis dahin fast unbekannten Begriff Urlaub ein, verdoppelte die Zahl der freien Tage und begann, den heute vertrauten Massentourismus zu entwickeln. Der in Berlin zuständige Gauwart der Deutschen Arbeitsfront warb dafür mit aller Energie: »Wir wollen 1938 in immer stärkerem Maße alle die Volksgenossen erfassen, die auch heute noch glauben, eine Urlaubsfahrt sei nichts für den Arbeiter. Diese Zaghaftigkeit muss endlich überwunden werden.« Eine Reise von 14 Tagen innerhalb Deutschlands kostete komplett zwischen 40 und 80 Reichsmark.[19]

Von Anfang an förderte der NS-Staat die Familien, stellte Unverheiratete wie Kinderlose schlechter und schützte die Bauern vor den Unwägbarkeiten des Weltmarkts und des Wetters. Die Grundlagen der EU-Agrarordnung, das Ehegattensplitting, die Straßenverkehrsordnung, die obligatorische Haftpflichtversicherung für Autos, das Kindergeld, die Steuerklassen oder auch die Grundlagen des Naturschutzes stammen aus jenen Jahren. Nationalsozialistische Sozialpolitiker entwickelten die Konturen des seit 1957 in der Bundesrepublik selbstverständlichen Rentenkonzepts, in dem alt und arm nicht länger gleichbedeutend sein sollten, in dem vielmehr »die Lebenshaltung der Arbeitsveteranen nicht allzu stark von der der arbeitenden Volksgenossen abstechen« dürfe.[20]

Da viele NSDAP-Führer aus Verhältnissen stammten, in denen sie selbst mit dem Gerichtsvollzieher Bekanntschaft gemacht hatten, sorgten sie sich schon in den ersten Regierungswochen darum, die – zumal in der Krisenzeit – für die Mehrheit der damaligen Deutschen bedrohlichen Plagen des Pfändens und der Wohnungsexmittierung zu lindern. Zu den ersten NS-Gesetzen gehörten solche, mit denen die Rechte der Gläubiger zugunsten der Schuldner beschränkt wurden. Sie sollten der »Verelendung des Volkes« entgegenwirken. Das 1938 ergangene »Gesetz zur Bereinigung alter Schulden« erklärte schon erwirkte Rechtstitel zum Beitreiben von Schulden hunderttausendfach für ungültig. Das »Gesetz zur Verhütung des Missbrauchs von Vollstreckungsmöglichkeiten« von Ende 1934 richtete sich gegen die »fast unbeschränkte Gläubigerfreiheit« der Vergangenheit.[21] Insgesamt erlaubten die Reformen, und das kennzeichnet die nationalsozialistische Herrschaftsweise insgesamt, dem einzelnen Gerichtsvollzieher erhebliche eigenverantwortliche und fallbezogene Entscheidungsfreiheit.[22]

Das Zentralorgan der Gerichtsvollzieher [GV], die Deutsche Gerichtsvollzieher-Zeitung, schlug sofort einen neuen Ton an: »Ein sozial empfindender GV wird es nicht vermögen, die Ärmsten seiner Volksgenossen dem völligen Elend preiszugeben, ihnen mit ihrer letzten Habe zugleich das Vertrauen zu einem schützenden Staat und die Liebe zu einem Vaterland zu nehmen, in dem auch sie sich berechtigt glaubten, wenigstens auskömmlich leben zu dürfen.« Im »wahren Volksstaat« hatte selbst der Gerichtsvollzieher »ein echt soziales Empfinden« zu entwickeln, »das Härten auf jeden Fall vermeidet«. Er sollte in der Nazizeit »weder Mühe noch eventuell eigenen Nachteil scheuen, um dem sozialen Gedanken gerecht werden zu können«. Schließlich erfülle er »bei der engen Verflochtenheit des sozialen und nationalen Gedankens« immer auch eine völkische Pflicht.

Dementsprechend hatte Hitler (»unser Volkskanzler«) früh die Maxime ausgegeben: »Deutschland wird dann am größten sein, wenn seine ärmsten seine treuesten Bürger sind.«[23] Göring sekundierte: »Der Hauseigentümer, der unbarmherzig und skrupellos arme Volksgenossen um Nichtigkeiten willen obdachlos macht, hat den Schutz des Staates in diesem seinem Treiben verwirkt.« Das gelte auch dann, wenn er bei seinem Verstoß gegen die »Grundgesetze der Volksgemeinschaft« den »Schein eines Gesetzesparagraphen« auf seiner Seite habe.[24] Selbstverständlich blieben die Gerichtsvollzieher aufgefordert, die »böswilligen Schuldner«, gelegentlich auch als »Schädlinge des deutschen Volkes« bezeichnet, »mit aller Schärfe zu treffen«.[25]

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs durfte bei Einberufenen und deren Familien nicht mehr gepfändet werden: »Sämtliche Verfahren zum Zwecke der Zwangsversteigerung von Gegenständen des unbeweglichen Vermögens waren ohne Rücksicht darauf, ob die Zwangsversteigerung vor oder nach dem In-Kraft-Treten der Verordnung [vom 1. September 1939] angeordnet war, kraft Gesetzes eingestellt bzw. aufgeschoben.« Ebenso verbesserte die NS-Regierung den Mieterschutz für die Einberufenen. Auch wenn später wieder härter verfahren wurde, so blieb der Schuldnerschutz doch zentrale Aufgabe jedes einzelnen Gerichtsvollziehers, um auf diese Weise »zum Siege unseres schwer um seine Existenz kämpfenden Volkes sein gewichtig Teil beizutragen«.[26]

Auf derselben Linie lag die Lohnpfändungsverordnung vom 30. Oktober 1940, die den Schutz der Deutschen vor der Zwangsvollstreckung weiter verbesserte. Sie stellte einen Teil des Lohns für Überstunden pfändungsfrei, außerdem Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Kinderbeihilfen und Versehrtenrenten. Sie legte hohe, erstmals auf den Netto- statt auf den Bruttolohn bezogene pfändungsfreie Grundbeträge pro Person und Familienmitglied fest. Im Sinne eines höheren Maßes an Gleichheit zwischen den Deutschen annullierte das Gesetz jenes aus frühbürgerlichen Zeiten überkommene Privileg, das Beamte und Geistliche vor Pfändungen in besonderer Weise geschützt hatte.[27] Es waren solche Gesetze, die den nationalen Sozialismus populär machten und in denen auch Konturen der späteren Bundesrepublik Deutschland durchscheinen.

 

Die Institutionen des Geistes und selbst des Staates bewahrten sich im Nationalsozialismus ein beachtliches Maß an innerer Pluralität. Vielen Intellektuellen, Beamten oder Ingenieuren schien es so, als würden institutionelle Selbstblockaden gebrochen, als nahe endlich die Stunde des großen Rucks, des weder von Parteien noch von sozialem Statusdenken beengten Sachverstandes. In der Spannung zwischen Bruch und Kontinuität, fachlicher Prinzipienfestigkeit und massiv erweiterten Karrierechancen wurden Fachleute jeder Art zu sehr verschiedenen, verschiedenartig nützlichen Werkzeugen der NS-Herrschaft. Ihre privaten Überzeugungen mussten sie deshalb nicht preisgeben. Im Gegensatz zum Kommunismus forderte der Nationalsozialismus nie die absolute Gefolgschaft, wohl aber die anti-elitäre, für die europäischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts vielfach verlockende Volksnähe.

 

Dies führte zu der eigentümlichen Verbindung von populistischer Stimmungspolitik, intelligenter Intervention und kalkulierten Morden. Die allgemeinen Erklärungen für den Aufstieg der NS-Bewegung, die den deutschen Bürokratismus bemühen oder den preußischen Untertanengeist, weisen in die Irre. Denn mehr als die Republik und in deutlichem Gegensatz zum Selbstbild des Führerstaats schränkte der Nationalsozialismus die vertikale Entscheidungsbildung zugunsten der moderneren horizontalen ein. In den bestehenden, erst recht in den neu geschaffenen Institutionen setzte er Initiative frei. Er löste die Starre herkömmlicher Hierarchien. Wo vorher Dienst nach Vorschrift geschoben wurde, erwachte Arbeitsfreude, nicht selten vorauseilendes Mitdenken.

So setzte Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk im Sommer 1935 unter seinen Beamten einen Ideenwettbewerb in Gang, der die steuerliche Ausplünderung der deutschen Juden bezweckte. Gemäß einer mündlich erteilten allgemeinen Weisung unterschieden die Referenten zwischen »empfehlenswerten«, »möglichen, aber nicht empfehlenswerten« und »keinesfalls empfehlenswerten« Maßnahmen. Sie schlugen vor, Dutzende Vergünstigungen stillschweigend zu streichen, sofern sie Juden zugute kamen. Im Hinblick auf noch gültige Gesetze vertraten sie die Auffassung, dass im Falle von Juden »eine Handhabung contra legem schon heute möglich wäre«.[28]

Im April 1938 wiederholte der Finanzminister das antisemitische Brainstorming, um die gesammelten Vorschläge an seinen Kollegen Innenminister weiterzuleiten. Aus der Steuerabteilung regten zwei Beamte an, die Frage zu diskutieren, ob man für Juden die Vermögensteuer-Freibeträge insgesamt oder nur für die minderjährigen Kinder der Steuerpflichtigen streichen solle. Außerdem gaben sie zu bedenken, ob die Blindenhunde kriegsblinder Juden weiterhin von der gemeindlichen Hundesteuer befreit bleiben sollten. Ein anderer Referent hatte bereits einen unterschriftsreifen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der einen Sonderzuschlag für Juden zur Einkommen- und Vermögensteuer vorsah, und zwar mit folgender Finesse: Die Höhe des Zuschlags sollte »beweglich sein, um bei gegebenem Anlass (volksschädigendes Verhalten einzelner Juden) erhöht werden zu können«.[29] Den berühmten, angeblich deutschen Kadavergehorsam stellt man sich anders vor.

Wie der Umkreis Hitlers Repräsentanten der alten Elite beurteilte, die sich im Sinne des Regimes konstruktiv verhielten, lässt sich in Goebbels’ Tagebuch nicht zufällig am Beispiel des Reichsfinanzministers Schwerin von Krosigk nachlesen: Er sei zwar vor Beginn jeder neuen Zuspitzung »etwas klapprig«, bewähre sich aber dann zuverlässig. Dem Typ nach gehöre er zu den »Beamten, die wir in unserem Staat sehr gut gebrauchen können«.[30]1937 verlieh Hitler dem Grafen mit dem Goldenen Parteiabzeichen die Ehrenmitgliedschaft in der NSDAR Hinfort verwandte Schwerin von Krosigk in schwierigen Fällen die Anrede »lieber Parteigenosse« und ließ sie sich selbst gefallen. Für das Jahr 1939 platzierte der zum Ehrennazi Geadelte 450000 Reichsmark für seine standesgemäße Ministerwohnung in den Reichshaushalt.[31]

Der zunächst parteilose Karrierebeamte Lutz Graf Schwerin von Krosigk (1887–1977) stammte aus dem preußischen Landadel, den Grafentitel erwarb er auf dem Wege der Adoption. Er wurde in Anhalt geboren, studierte 1905 bis 1907 in Lausanne und in Oxford; in Halle schloss er sein staatswissenschaftliches Studium mit der juristischen Staatsprüfung ab. Den Ersten Weltkrieg beendete er als hoch dekorierter Oberstleutnant. 1919 trat er in das neu geschaffene Reichsfinanzministerium ein, wurde zehn Jahre später Chef der Haushaltsabteilung, 1932 berief ihn Reichskanzler von Papen zum Minister. Reichskanzler Schleicher und bald darauf Hitler übernahmen ihn als ausgezeichneten Fachmann. Schwerin von Krosigk, der dem engeren NS-Führungskreis bis in die letzten Stunden die Treue hielt, wurde noch am 2. Mai 1945 von Hitlers Nachfolger Dönitz zum Leiter der Geschäftsführenden Reichsregierung ernannt. Im Wilhelmstraßenprozess, dem Fall XI, zu zehn Jahren Haft verurteilt, saß er bis 1951 im Gefängnis.[32] Als Fachminister verstand er seine Sache glänzend. Er war jederzeit in der Lage, seinen Kontrahenten die Finanzprobleme des Zweiten Weltkriegs in frei diktierten, seitenlangen Briefen plausibel auseinander zu setzen.

Anders als Schwerin von Krosigk wurde dessen Staatssekretär Fritz Reinhardt (1895–1980) als Sohn eines thüringischen Buchbinders nicht mit dem silbernen Löffel im Mund geboren. Er besuchte die Bürger- und Handelsschule in Ilmenau, wurde Kaufmann, 1914 in Riga als feindlicher Ausländer festgesetzt und in Sibirien interniert. 1924 gründete er in Herrsching am Ammersee eine Fernhandelsschule. Sie war der neuen Idee des Zweiten Bildungsweges verpflichtet und fand in der Weimarer Bildungsbürokratie keinerlei Echo, wohl aber in der NSDAP, der Reinhardt zwei Jahre später beitrat. Im Geiste des Fernschulgedankens gründete er den Rednerdienst der Partei. Inhaltlich konzentrierte er sich auf die Haushaltspolitik, wurde finanzpolitischer Sprecher und 1930 Reichstagsabgeordneter.

Als Staatssekretär amtierte er von 1933 bis 1945. Bienenfleißig und sachkundig propagierte er die Ziele seiner Politik in Hunderten von Reden, Broschüren und Artikeln. Mit seinem sozialpolitischen Veränderungswillen setzte Reinhardt zahllose steuerrechtliche Privilegien für Unter- und Mittelschichten durch, die nach 1945 gültig blieben. Einen 1941/42 formulierten Vorschlag des Reichsarbeitsministers zur Angleichung der damals noch sehr unterschiedlichen Arbeiter- und Angestelltenrenten kommentierte er mit einem begeisterten »Gut!«.[33] Reinhardt senkte die Eingangskriterien für die verschiedenen Dienstlaufbahnen und führte parallel dazu die obligatorische Fortbildung für alle Beamten seines Ministeriums ein. Deshalb gründete er, was es vorher nicht gegeben hatte, eine Reichsfinanzschule nach der anderen.[34] Goebbels bemerkte über ihn: »Reinhardt ist zwar ein kleiner Schulmeister, der mit einer auf die Nerven fallenden Pedanterie an die Probleme herangeht, aber immerhin im Großen und Ganzen löst er sie.«[35]

Im Spitzen-Duo des Finanzministeriums zeigt sich eine für den Nationalsozialismus charakteristische Mischung: der glänzend ausgebildete, adelige Minister und der aus kleinen Verhältnissen aufgestiegene Staatssekretär, der sich seine Kenntnisse als politisierter Autodidakt hart erarbeitet hatte. Reinhardt sah sich als Mann des sozialstaatlichen Aufbruchs. Schwerin von Krosigk dagegen stand für Tausende Beamte, Offiziere, Wissenschaftler und andere Intellektuelle, denen es gelang, die unbestimmte, in sich widersprüchliche NS-Ideologie von innen heraus zu rationalisieren.

Nationale Integration

Bei aller Unduldsamkeit gegenüber Sozialisten, Juden und Abweichlern empfanden die Deutschen Hitler nicht – wie sich im Rückblick leicht vermuten ließe – als unerbittlichen Ausgrenzer, sondern als großen Integrator. Die Friedensverträge von Versailles und St. Germain hatten das staatliche Zusammengehen von Österreich und Deutschland strikt untersagt. Die Mehrheit sah darin eine tiefe Ungerechtigkeit. Doch dann erfüllte sich 1938 mit dem Anschluss Österreichs – ausgerechnet im März – der nationalromantische Traum von 1848. Freilich formte sich der großdeutsche Nationalstaat nicht als Republik, doch unter dem Jubel des Volkes. Wird die deutsche Geschichte heute als an Abirrungen reiche Verwestlichung interpretiert, so damals – ebenso konsensuell – als gewundener, oft genug kaum mehr erkennbarer Weg zur Einheit von Kulturnation und Staat.

In dieser Stimmung wurde 1938 zum Beispiel in Berlin-Spandau die Jüdenstraße nach Carl Schurz umbenannt, eine weitere Straße nach Gottfried Kinkel, und damit ehrte man zwei herausragende Revolutionäre von 1848/49 – bis in die Gegenwart hinein. Am 15. März 1938 hatte Hitler, der sich nie allein als Kanzler des Deutschen Reiches verstand, sondern immer auch als Führer des deutschen Volkes und damit aller Auslandsdeutschen, auf dem Wiener Heldenplatz ausgerufen: »Als Führer und Reichskanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich.« Wenig später präsentierte er sich in Frankfurt am Main, in der Stadt des Paulskirchenparlaments, als Vollender der Sehnsucht von 1848: »Das Werk, für das vor 90 Jahren unsere Vorfahren kämpften und bluteten, kann nunmehr als vollbracht angesehen werden.«[36]

Die Nation steigerte sich in ein Hochgefühl, das mit den Erfolgen der beiden Blitzkriegsjahre noch praller wurde. Hätten die Habsburger und die Hohenzollern 1918 gewonnen, dann hätte sich eine überlebte Herrschaft auf den Knochen von Millionen Kriegstoten restauriert; Hitler sprach gern vom »habsburgischen Staatskadaver«.[37] Nun aber errang das neue, das junge, nationalrevolutionäre Großdeutschland den Sieg. Geführt von einem Repräsentanten des sozialen Aufstiegs fand die Katastrophe von 1918 ein unerwartetes, als glücklich gefeiertes Ende. Plötzlich schienen die unendlichen menschlichen Opfer, die Leiden des Weltkriegs und der Jahre danach nicht länger vergeblich gewesen zu sein. Die Niederlage wurde in das Vorspiel für einen grandiosen Sieg umgewertet. Als Hitler die Wehrmachtführung im November 1939 auf einen schnellen Angriff gegen Frankreich einschwor, tat er das mit dem Argument: »Das Ganze bedeutet den Abschluss des Weltkrieges, nicht eine Einzelaktion.«[38]

Der – später in der DDR zu hohen Ehren gelangte – Anatomieprofessor Hermann Voss schrieb am 15. März 1939, dem Tag des Einmarsches deutscher Truppen in Prag, in sein Tagebuch: »Die älteste deutsche Universität von Prag, die Mutter der Leipziger Universität, wieder unter deutschem Besitz! Es ist nicht auszudenken. Welch schwerer Schlag für das Slawentum und welches Plus für uns. Man lebt doch in einer großen Zeit und muss glücklich sein, dass man diese Dinge miterleben kann. Was macht es da schon aus, ob es mal nicht so viel Butter gibt, wie man haben möchte, dass es mal keinen Kaffee gibt, dass man dieses oder jenes tun muss, was einem nicht recht passt usw. Das ist doch gegenüber all diesen Fortschritten ein lächerliches Nichts.«[39]

 

Der ununterbrochene Siegeszug, begleitet vom Schein des wirtschaftlichen Aufschwungs, schwächte die Pragmatiker in Deutschland dauerhaft. Die Freunde der realistischen, wenig glanzvollen Kompromisse blieben auf der Strecke (landeten nicht etwa im KZ), ob sie nun Schacht hießen, Beck oder Goerdeler. Sie störten Hitlers volkstümliche Politik des großen Rucks, der klaren Alternativen, des Alles-oder-Nichts. Komplementär dazu entwickelte die NS-Führung früh eine fast ängstliche Sensibilität gegenüber dem genau beobachteten Stimmungsbarometer, weswegen sie die Konsumbedürfnisse immer wieder stützte – oft im Gegensatz zu ihren rüstungswirtschaftlichen Prioritäten.[40]

Die spätere DDR setzte zur Kontrolle ihrer 17 Millionen Bürger 190000 hauptamtliche und ebenso viele nebenberufliche Stasi-Spitzel ein, die Gestapo zählte 1937 einschließlich der Sekretärinnen und Verwaltungskräfte knapp 7000 Mitarbeiter, der SD deutlich weniger. Sie reichten, um 60 Millionen im Auge zu behalten. Die allermeisten bedurften keiner Überwachung. Das bestätigt auch der Blick auf die Konzentrationslager. Nach dem Anfangsterror waren dort am Jahresende 1936, also nach knapp vier Jahren des Konsolidierens, nur noch 4761 Häftlinge eingesperrt – einschließlich der Alkoholkranken und Kriminellen.

Weil Hitler seine Erfolge leicht und spielerisch errang und obgleich er den Aufschwung unseriös finanzierte, wuchs seine Popularität. Sie reichte bald weit über die engere Parteigefolgschaft hinaus und entzog der innerdeutschen Opposition die Grundlage. Bis 1938 festigte sich ein politischer Zustand, den Mussolini treffend als democrazia totalitaria bezeichnete. Nach den Jahren des Bürgerkriegs, des Klassenhasses und der parteipolitischen Blockaden einte die Deutschen das Bedürfnis nach Volksgemeinschaft.

Mein Großvater beschreibt in seinen Lebenserinnerungen ausführlich seine Jahre im Ersten Weltkrieg. Der promovierte Altphilologe, dem der Vater verboten hatte, Mathematiker zu werden, diente als Batteriechef an der Westfront. 1917 stützte er sich dort auf einen »prächtigen« Feldwebel: »Furcht kannte er nicht. Ich wollte ihn zum Offizier machen und forderte ihn auf, sich zu melden. Er antwortete mir: ›Mein Vater ist Schneidermeister. Ich möchte Unteroffizier bleiben. Ich passe nicht in diese Gesellschaft.‹ Aber das EK I hat er bekommen.«[41] Das ist die soziale Dynamik, die im Ersten Weltkrieg in Gang kam. Die NSDAP nahm sie mit großem Effekt auf. Sie zog Tausende Gebildete an, die ihren Klassendünkel im Dreck des Stellungskriegs gelassen hatten. Sie integrierte sozialistisch geprägte Arbeiter, kleine Handwerker und Angestellte, die sich soziale Anerkennung und bessere Lebenschancen für ihre Kinder erhofften. Dazu stießen jene, die bereits von der Bildungsreform der Weimarer Republik profitiert hatten und den sozialen Aufstieg fortsetzen wollten. Sie alle verband nicht der Wunsch nach einer neuen Klassenherrschaft, sondern – heute fast selbstverständlich – nach einem politischen Zustand, in dem die soziale Position zum Zeitpunkt der Geburt den Lebensweg, den späteren Beruf und das gesellschaftliche Ansehen eines Menschen möglichst wenig festlegen sollte.

 

Im Nachhinein wird die Rassenlehre des Nationalsozialismus als pure Anleitung zu Hass, Mord und Totschlag verstanden. Doch für Millionen Deutsche lag das Attraktive in dem an sie adressierten völkischen Gleichheitsversprechen. Die NS-Ideologie betonte die Unterschiede nach außen und nivellierte sie nach innen. Um es mit einem Ausruf Hitlers zu sagen: »Innerhalb des deutschen Volkes höchste Volksgemeinschaft und Möglichkeit der Bildung für jedermann, nach außen aber absoluter Herrenstandpunkt!«[42] Für diejenigen, die zu der als rassisch einheitlich definierten Großgruppe zählten – das waren 95 Prozent der Deutschen –, verringerten sich die Unterschiede im Binnenverhältnis. Für viele wurde das staatspolitisch gewollte Einebnen der Standesdifferenzen in der Staatsjugend fühlbar, im Reichsarbeitsdienst, in den Großorganisationen der Partei und langsam selbst in der Wehrmacht. Auch das Uniforme der NS-Gesellschaft wird heute einseitig als Militarisierung gesehen. Denkt man an die Schuluniformen, die in manchen Ländern noch heute getragen werden, an die Pfadfinderkluft oder an die Einheitstrikots der Sportvereine, dann dient die Uniform auch dem Anspruch, die Unterschiede zwischen den Bemittelten und den weniger Bemittelten zurücktreten zu lassen.

Dasselbe Konzept galt für den gesamten, zwischen 1939 und 1942 immer ausgreifender gedachten Generalsiedlungsplan Ost, der den Deutschen mehr Raum, Rohstoffe und persönliche Entfaltungsmöglichkeiten bieten sollte. In seiner äußersten, 1942 festgelegten Form sah der Plan vor, 50 Millionen Slawen in Richtung Sibirien zu vertreiben. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft förderte jahrelang das technokratisch durchdachte Großverbrechen, das den Tod von vielen Millionen Menschen zum Ziel hatte; noch im Haushaltsplan für 1945/46 waren dafür Forschungsgelder eingestellt. Nach innen muss derselbe Generalsiedlungsplan Ost als Treibsatz für eine aufsteigende Klassenbewegung in Deutschland verstanden werden. Himmler sprach vom »Sozialismus des guten Blutes«. Hitler schwärmte: »Aus Thüringen und aus dem Erzgebirge zum Beispiel können wir unsere armen Arbeiterfamilien herausnehmen, um ihnen große Räume zu geben.« Die Deutsche Arbeitsfront wollte auf diese Weise »mindestens 700000 landwirtschaftliche Klein- und Kümmerbetriebe beseitigt« sehen.[43] Sämtliche wissenschaftlichen Untersuchungen über die so genannten Siedlerreserven des deutschen Volkes wiesen auf die Marx’sche Reservearmee. Anders gesagt, es ging um diejenigen Schichten, die 30 oder 60 Jahre zuvor, von Armut getrieben, nach Amerika ausgewandert wären.

1942 spielten deutsche Kinder »Wehrbauer im Schwarzerdegebiet«, Soldatenbräute träumten zu Hunderttausenden von Rittergütern in der Ukraine und selbst der brave Soldat Heinrich Böll, der gewiss kein williger Vollstrecker gewesen ist, schrieb noch am 31. Dezember 1943 aus dem Lazarett an seine Eltern: »Ich sehne mich sehr nach dem Rhein, nach Deutschland, und doch denke ich oft an die Möglichkeit eines kolonialen Daseins hier im Osten nach einem gewonnenen Krieg.«[44] Die Kinderbuchautorinnen Thea Haupt und Ilse Mau dachten sich eine Fibel »für ganz niedrige Altersstufen« aus. Sie sollte »den Gedanken der Ostsiedlung dem kleinen Kinde nahe bringen und darüber hinaus versuchen, die Indianerromantik unserer Kinder auf den Wehrbauern im Osten zu verlagern«. Das führte zu Entwürfen wie diesem: »Wir wollen uns nun einmal die Siebenmeilenstiefel vom Däumling ausleihen und zusammen durch das fremde Land streifen; die brauchen wir schon, sonst werden wir nicht so schnell fertig damit. […] Nun sind wir im fruchtbaren Gebiet der Schwarzen Erde. […] Neben Weizen und Roggen raschelt der Mais.«[45]

Das alles wurde nicht zum Vorteil von Junkern und Monopolisten geplant, sondern als konkrete Utopie für jedermann.

Das Trauma von 1918

Im politischen Gefühlshaushalt der Deutschen hinterließ der Erste Weltkrieg drei schwere Traumata: die Hungersnot, die infolge der britischen Seeblockade entstand, die Entwertung des Geldes und das Aufflammen des Bürgerkrieges. Im Krieg verhungerten mehr als 400000 Menschen. Hinzu kamen jene, die wegen des Mangels unheilbar tuberkulosekrank oder für andere Infektionskrankheiten anfällig wurden und vor ihrer Zeit starben.[46] Zu den Schreckensbildern der Zeit gehörte die rapide Teuerung. Schon während des Kriegs stiegen die Lebensmittelpreise um gut 100 Prozent, an einzelnen Orten weit mehr.[47] Die staatlich kaum kontrollierte Preistreiberei verschob das materielle Elend zu Lasten der einfachen Leute, die damals über keinerlei materielle Reserven verfügten. Die Hyperinflation von 1923 führte zur faktischen Enteignung des national gesonnenen Mittelstandes.

In der Rückschau auf die letzten beiden Jahre des Ersten Weltkrieges verbanden sich für viele Deutsche mit dem Gefühl vom nationalen Niedergang die Hassbilder von den feigen Nutznießern der Not. Nach weit verbreiteter Meinung hatten sie das vaterlandstreue Volk in selbstzersetzende Unzufriedenheit gestürzt. Erst so habe Deutschland – nach den beiden komfortablen Friedensschlüssen im Osten, dem von Brest-Litowsk (3. März 1918) und dem von Bukarest (7. Mai 1918) – den schon greifbaren Sieg im Westen verspielt. Erst nach dem Zerbrechen der inneren Geschlossenheit sei das Vaterland militärisch zu Boden gegangen und geradewegs in den Hinterhalt des blutrünstigen Bolschewismus geraten. Unter Punkt 12 des Partei-Programms der NSDAP hieß es deshalb: »Im Hinblick auf die ungeheueren Opfer an Gut und Blut, die jeder Krieg vom Volke fordert, muss die persönliche Bereicherung durch den Krieg als Verbrechen am Volke bezeichnet werden. Wir fordern daher die restlose Einziehung aller Kriegsgewinne.«

Die komplementären Ängste vor Kriegsgewinnlern und Revolutionären ließen sich leicht in ein Propagandaphantom projizieren. Es war der »plutokratische Jude«, der in seiner Gewinnsucht dem gleichfalls raffgierigen »jüdischen Bolschewisten« in die Hände spiele. Während der eine angeblich den Mittelstand vernichtete und die bäuerlichen wie die proletarischen Unterschichten in die Knechtschaft des großen Geldes stieß, wurde dem anderen die Kommune zugeschrieben – die Zerstörung alles Gewordenen, das Ende von Anstand, Sitte und Religion, von Gesetz und rechtschaffen erworbenem Eigentum, »die Auflösung jeder Ordnung«.[48]

Auf dem Boden solcher Propaganda begründeten die späteren Akteure antisemitischer Staatspolitik ihre Maßnahmen gegen »die Juden« stets als Abwehr. Das Schlusskapitel von »Mein Kampf« heißt »Notwehr als Recht«. Dieselbe Botschaft findet sich im Titel des Gesetzes »zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, mit dem der Reichstag im April 1933 den Schlussstein der Judenemanzipation demontierte. Die Gesetzesvorlage zur Teilenteignung der Juden, die Beamte des Reichsfinanzministeriums im Sommer 1937 ersannen, trug den Titel »Gesetz über den Ausgleich von Schäden, die dem Deutschen Reich durch Juden zugefügt werden«.[49] Je länger der Krieg dauerte, desto konsequenter wurde er in der deutschen Propaganda als »arischer Widerstand« gegen das angreifende »Weltjudentum« dargestellt, das in »dreifacher Gestalt« nach der Weltherrschaft strebe: »erstens als Jude, zweitens als jüdisch versippter Plutokrat und drittens als jüdischer Bolschewist«.[50]

In das Schema fügte sich die Lehre vom Herrenmenschen zwanglos ein. Sie umfasste neben dem allgemeinen Überlegenheitsgetue die von Wissenschaftlern genährte Furcht vor der Bedrohung des menschlich Höherwertigen, das sich gegen den Ansturm des Minderwertigen notfalls mit Gewalt schützen müsse. Auch die sozialistische Weltanschauung enthielt ein solches Element, die Lehre vom historisch siegreichen Proletariat und von der Bourgeoisie als nichtswürdiger, sterbender Klasse. Individuell erleichterte das den Übergang von der einen zur anderen politischen Heilslehre, zumal der Nationalsozialismus sich als die offenere, pragmatisch angelegte Ideologie empfahl und sehr unterschiedliche Gruppen der deutschen Gesellschaft anzog. Nachdem Bürgerkrieg und Klassenkampf die Republik ruiniert hatten, lockte die NS-Bewegung mit dem Traum vom Dritten Weg: Ihre Politiker versprachen ausgleichende Gerechtigkeit und den Kampf gegen jede Art von »Zersetzung«, sei sie nun liberal-kapitalistischer oder doktrinär-bolschewistischer Natur.

 

Anders als 1939 blickte Deutschland im Jahr 1914 auf die drei siegreichen Kriege Bismarcks und auf einen mehr als vierzigjährigen Frieden zurück, auf Gründerzeit, Aufschwung und bürgerlichen Wohlstand. Die Magazine und Speicher der Privatwirtschaft waren gut gefüllt, sie repräsentierten zu Beginn des Ersten Weltkriegs Werte von rund 40 Milliarden Mark. 1940 konnte das Reich nur auf Lagerbestände von gut fünf Milliarden Reichsmark zurückgreifen. Wobei eine Mark 1940 einen deutlich geringeren Warenwert repräsentierte als 1914. Für Einkäufe im neutralen Ausland verfügte die Reichsbank am Vorabend des Ersten Weltkriegs über Goldreserven im Wert von 1,4 Milliarden Mark, der Wert der umlaufenden Goldmünzen belief sich auf weitere 2,5 Milliarden Mark. Demgegenüber betrugen die ausgewiesenen und geheim gehaltenen deutschen Goldreserven am 1. September 1939 etwa 0,5 Milliarden Reichsmark.[51]

 

Insgesamt kostete der Erste Weltkrieg das Deutsche Reich 160 Milliarden Mark. Trotz der sehr viel besseren Ausgangslage wurde er im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg sehr viel ungünstiger finanziert. Während vom September 1939 bis zum September 1944 an die 50 Prozent der Kosten aus laufenden Einnahmen gedeckt werden konnten – man sprach von einer goldenen Deckungsquote –, waren es 1914–18 nur 13,1 Prozent gewesen. 24,8 Prozent mussten damals als »schwebende Schulden« – genauer: durch das Drucken von Geld – bezahlt, der Rest von 62,1 Prozent musste mittels langfristiger, vom deutschen Bürgertum zu zeichnender Anleihen aufgebracht werden. Die neun Kriegsanleihen zwischen 1914 und 1918 erbrachten 98,2 Milliarden Mark. Demgegenüber bestritt Großbritannien den Ersten Weltkrieg schon zu immerhin 28 Prozent aus laufenden Steuereinnahmen.[52]

Die geringe deutsche Steuerkraft in den Jahren 1914–18 ging nicht einfach auf ein Versagen der Politiker zurück. Sie resultierte in erster Linie aus der noch bestehenden Steuerhoheit der einzelnen Bundesstaaten. Dem Reich fehlte eine eigene Finanzverwaltung. Bei einem Volkseinkommen von 40 Milliarden Mark verfügte es 1913 über ordentliche Einnahmen von nur 2,3 Milliarden. Davon beanspruchte das Militär 75 Prozent. Im Vergleich zu heute muss die Staatsquote als lächerlich gering bezeichnet werden. Von einem zentralistisch organisierten wilhelminischen Machtkoloss kann insoweit nicht gesprochen werden.[53]

Der politische Burgfrieden, den die Parteien des Reichstages 1914 schlossen, verhinderte in den folgenden vier Jahren jede ernsthafte Debatte über eine Verbesserung der Steuergrundlage. Allein die Sozialdemokraten forderten erfolglos, Kriegsgewinne abzuschöpfen. Deshalb blieb nur der Weg der langfristigen Verschuldung – in Form der Kriegsanleihe. Erst die Republik schuf mit der Finanzreform von Matthias Erzberger das heute vertraute zentralstaatliche Steuersystem, erst sie erhöhte seit 1919 – kontinuierlich und mit langsamem Eingewöhnen verbunden – den Staatsanteil am Bruttosozialprodukt. Der Republik verdankte sich die Grundlage, auf der Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg Steuern in einem Ausmaß erheben konnte, das 1914 als »völlig untragbar angesprochen worden wäre«.[54]

Neben den im Haushalt bilanzierten Ausgaben verschlissen beide Kriege zu einem erheblichen Teil auch die wirtschaftliche Sachsubstanz: Die Vorratslager wurden aufgebraucht, die Maschinen, Gebäude, Industrieanlagen, Verkehrsmittel und die gesamte Infrastruktur vernutzt, die Wälder und Felder auf das eben noch erträgliche Maß heruntergewirtschaftet.

1914–18 sank der deutsche Lebensstandard um durchschnittlich fast 65 Prozent, und die Mehrheit der Bevölkerung geriet an den Rand des Existenzminimums. Die Finanzstrategen des Dritten Reiches analysierten dies als »sehr bedenklich«. So schrieb ein junger Finanzwissenschaftler 1941: »Wie die Tatsachen denn auch lehren, scheint damit allerdings die Grenze der noch tragbaren Einschränkungen damals bereits überschritten worden zu sein. Der Zusammenbruch der inneren Front war der Preis für diese unmittelbare Stärkung der äußeren Front.« Demgegenüber sei im Dritten Reich ein derartiges »Abgleiten des Lebensniveaus nicht zu befürchten«.[55]

Hinweise zur Lektüre

Fragestellungen

Im Folgenden geht es um die einfach gestellte, noch immer unbeantwortete Frage: Wie konnte das geschehen? Wie konnten die Deutschen aus ihrer Mitte heraus beispiellose Massenverbrechen zulassen und begehen – insbesondere den Mord an den europäischen Juden? Der staatlich forcierte Hass gegen alles »Minderwertige«, gegen »Polacken«, »Bolschewiken« und »Juden« gehörte gewiss zu den Voraussetzungen. Doch ergibt sich daraus keine Antwort. Die Deutschen waren in den Jahrzehnten vor der Regierung Hitler nicht ressentimentbeladener als die übrigen Europäer, ihr Nationalismus nicht rassistischer als der anderer Nationen. Es gab keinen deutschen Sonderweg, der sich in eine plausible Beziehung zu Auschwitz setzen ließe. Der Meinung, in Deutschland habe sich ein spezieller, ein exterminatorischer Antisemitismus und Fremdenhass früh entwickelt, fehlt jede empirische Basis. Es ist irrig anzunehmen, für eine besonders folgenschwere Fehlentwicklung müssten sich spezielle, langfristig angelegte Gründe finden. Die NSDAP eroberte und konsolidierte ihre Macht aufgrund der situativen Konstellationen. Die wichtigsten Faktoren dafür finden sich in den Jahren nach 1914, nicht davor.

 

Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht das Spannungsverhältnis zwischen Volk und Führung im Nationalsozialismus. Dass das Herrschaftsgebäude Hitlers vom ersten Tag an höchst labil gefügt war, ist bewiesen. Zu fragen ist, wie es stabilisiert wurde – notdürftig zwar, doch ausreichend für zwölf fulminante, zerstörerische Jahre. Deswegen fasse ich die eingangs gestellte allgemeine Frage »Wie konnte das geschehen?«, präziser: Wie konnte ein im Nachhinein so offenkundig betrügerisches, größenwahnsinniges und verbrecherisches Unternehmen wie der Nationalsozialismus ein derart hohes, den Heutigen kaum erklärbares Maß an innenpolitischer Integration erreichen?

Um zu einer überzeugenden Antwort beizutragen, betrachte ich die NS-Herrschaft aus einem Blickwinkel, der sie als Gefälligkeitsdiktatur zeigt. Die insoweit wichtigen Fragen lassen sich am besten für die Zeit des Krieges beantworten, in der auch die anderen Charakteristika des Nationalsozialismus besonders deutlich hervortreten. Hitler, die Gauleiter der NSDAP, ein Gutteil der Minister, Staatssekretäre und Berater agierten als klassische Stimmungspolitiker. Sie fragten sich fast stündlich, wie sie die allgemeine Zufriedenheit sicherstellen und verbessern könnten. Sie erkauften sich den öffentlichen Zuspruch oder wenigstens die Gleichgültigkeit jeden Tag neu. Auf der Basis von Geben und Nehmen errichteten sie eine jederzeit mehrheitsfähige Zustimmungsdiktatur. Die kritischen Punkte, an denen sich ihre Politik der volksnahen Wohltaten zu bewähren hatte, ergaben sich aus der Analyse des inneren Zusammenbruchs am Ende des Ersten Weltkriegs.

Folglich versuchte die NS-Führung im Zweiten Weltkrieg, erstens die Lebensmittel möglichst so zu verteilen, dass die Vergabe namentlich von den einfachen Leuten als gerecht empfunden wurde. Zweitens tat sie alles, um die Reichsmark wenigstens äußerlich stabil zu halten. So sollte skeptischen Hinweisen auf die Kriegsinflation von 1914 bis 1918 wie auf den Zusammenbruch der deutschen Währung im Jahr 1923 der Boden entzogen werden. Drittens ging es darum, die Familien der Soldaten – im klaren Gegensatz zum Ersten Weltkrieg – mit genug Geld zu versorgen. Sie erhielten an die 85 Prozent dessen, was der eingezogene Soldat zuletzt netto verdient hatte. Die entsprechenden britischen und amerikanischen Familien bekamen im Vergleich weniger als die Hälfte. Die Ehefrauen und die Familien deutscher Soldaten verfügten nicht selten über mehr Geld als im Frieden, sie freuten sich über die nicht nur ausnahmsweise zentnerschweren Mitbringsel der Heimaturlauber und über die Feldpostpäckchen aus den besetzten Ländern.

Um die Illusion von einem gesicherten, allenfalls noch zu verbessernden Besitzstand weiter zu stärken, erwirkte Hitler, dass weder die Bauern noch die Arbeiter, noch die kleinen und mittleren Angestellten und Beamten in nennenswertem Maß mit Kriegssteuern belastet wurden. Auch das bildete einen wesentlichen Unterschied zu Großbritannien und den USA. Parallel zur Schonung der großen Mehrheit der deutschen Steuerzahler stieg jedoch die Steuerlast für den gut und sehr gut verdienenden Teil der deutschen Gesellschaft erheblich. Ein markantes Beispiel für die vom Dritten Reich betriebene und zur Schau gestellte Politik der sozialen Gerechtigkeit findet sich in der einmaligen Steuerzahlung von acht Milliarden Reichsmark, die die deutschen Hausbesitzer Ende 1942 zu entrichten hatten. Ein entgegengesetztes Beispiel kann in der Steuerfreiheit für Zuschläge auf Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit gesehen werden, die nach dem Sieg über Frankreich verfügt wurde und den Deutschen bis in die jüngste Zeit als soziale Errungenschaft erhalten blieb.

So rigoros die NS-Führung im Fall von Juden, so genannten Minderwertigen oder Fremdvölkischen vom Rassenstandpunkt aus entschied, so klassenbewusst verteilte sie innenpolitisch die Lasten zum Vorteil der sozial Schwächeren. Davon handelt Teil I des Buches.

Selbstverständlich konnten die Wohlhabenden – damals verdienten vier Prozent aller deutschen Steuerzahler mehr als 6000 Reichsmark im Jahr – nicht die für den Zweiten Weltkrieg notwendigen Gelder aus ihren Steuern aufbringen. Wie aber wurde der kostspieligste Krieg der Weltgeschichte bezahlt, wenn die Mehrheit davon so wenig wie nur möglich spüren sollte? Die Antwort liegt auf der Hand: Hitler schonte den Durchschnittsarier auf Kosten der Lebensgrundlagen anderer. Um das eigene Volk bei Laune zu halten, ruinierte die Reichsregierung die Währungen Europas, indem sie ständig höhere Kontributionen erzwang. Zur Sicherung des nationalen Lebensstandards ließ sie viele Millionen Tonnen Lebensmittel zur Versorgung deutscher Soldaten rauben und das dann noch Greifbare nach Deutschland verfrachten. So wie sich die deutschen Armeen aus dem besetzten Land ernähren sollten und weitgehend ernährten, so sollten sie ihre laufenden Kosten mit dem jeweils landeseigenen Geld begleichen. Auch das gelang weitgehend.

Die im Ausland eingesetzten deutschen Soldaten, also fast alle, und sämtliche im Ausland erbrachten Dienstleistungen für die Wehrmacht, im Ausland aufgekauften Rohstoffe, Industrieprodukte und Lebensmittel, die an die Wehrmacht oder nach Deutschland gingen, wurden in nicht-deutscher Währung bezahlt. Die Verantwortlichen handelten ausdrücklich nach den Maximen: Wenn in diesem Krieg jemand hungert, dann die anderen; wenn sich die Kriegsinflation schon nicht vermeiden lässt, dann soll sie überall stattfinden, nur nicht in Deutschland. Von den Techniken, die dafür ersonnen wurden, handelt Teil II. In die deutsche Kriegskasse flossen auch die Milliardenbeträge, die aus der Enteignung der Juden Europas gewonnen wurden. Davon handelt Teil III.

Im Folgenden wird also gezeigt, wie Juden zuerst in Deutschland enteignet wurden, später in Staaten, die mit Deutschland verbündet waren, und in solchen, die von der Wehrmacht besetzt wurden. Das geschieht in exemplarischer, nicht in enzyklopädischer Weise. Ebenso verfahre ich in den Kapiteln, in denen die Methoden beschrieben werden, die Deutsche im Zweiten Weltkrieg einsetzten, um andere auszurauben. Auch hier konzentriere ich mich auf das jeweils Spezifische oder beispielhaft auf das auch andernorts Typische.

Auf der Basis eines umfassenden Raub- und Rassenkrieges sorgte der nationale Sozialismus für ein in Deutschland bis dahin nicht gekanntes Maß an Gleichheit und sozialer Aufwärtsmobilisierung. Das machte ihn populär und verbrecherisch. Das materiell üppige Sein, der indirekte, nicht persönlich verantwortete, doch gern genommene Vorteil aus den Großverbrechen bestimmte das Bewusstsein der meisten Deutschen von der Fürsorglichkeit ihres Regimes. Umgekehrt bezog die Politik der Vernichtung daraus ihre Energie: Sie orientierte sich am Volkswohl. Das Ausbleiben eines nennenswerten inneren Widerstands und der Mangel an späterem Schuldbewusstsein erklärt sich aus derselben historischen Konstellation. Davon handelt Teil IV.

 

Eine solche Antwort auf die Frage »Wie konnte das geschehen?« versperrt sich der nationalpädagogischen Reduktion auf einfache antifaschistische Merksätze. Sie lässt sich schwer auf Ausstellungswände kleben und kaum von den volksgemeinschaftlichen Nachgeschichten der Deutschen in der DDR, in der Bundesrepublik und in Österreich scheiden. Doch erscheint es notwendig, die NS-Herrschaft als nationalen Sozialismus in den Blick zu nehmen, um die immer neu sich belebende Projektion der Schuld auf einzelne Personen und genau umrissene Gruppen wenigstens zu stören: Mal werden als Hauptverantwortliche der wahnsinnige, gar kranke, angeblich charismatische Diktator und seine Paladine gebrandmarkt, mal die Rassenideologen (einer kurzlebigen Mode zufolge möglichst solche aus einer ähnlich sozialisierten Alterskohorte), für andere sind es – wahlweise oder in Kombination – Bankmanager, Konzernherren, Generäle oder dem Blutrausch ergebene Killereinheiten. In der DDR, in Österreich und in der Bundesrepublik pflegte man die unterschiedlichsten Abwehrstrategien. Doch bewirkten sie stets das Gleiche: Sie verschafften der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung eine ungestörte Gegenwart und ein ruhiges Gewissen.

Historisches Material

Die vorhandene Literatur zu den hier aufgeworfenen Fragen ist begrenzt. Zu nennen ist die grundlegende Arbeit von Marie-Luise Recker »Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg« (1985). Als hilfreich erwiesen sich empirisch vorbildlich gearbeitete sozialgeschichtliche Untersuchungen wie die von Birthe Kundrus »Kriegerfrauen« (1995) und Christoph Rass »›Menschenmaterial‹« (2003). Über den Hungerkrieg gegen die Sowjetunion liegen eine Reihe älterer Untersuchungen vor. Daher waren für das Kapitel »Otto Normalverbraucher«, auch wenn sich einige neue Quellen fanden, keine wesentlichen Forschungsanstrengungen notwendig. Es stützt sich auf das von Susanne Heim und mir verfasste Buch »Vordenker der Vernichtung« (1991) und in einigen Punkten auf die Studien von Christian Gerlach »Krieg, Ernährung, Völkermord« (1998) und »Kalkulierte Morde« (2000). Für zahlreiche Einzelfragen bildet das vielbändige, von Elke Fröhlich sorgfältig edierte Goebbels-Tagebuch ein unentbehrliches Dokument aus dem Zentrum nationalsozialistischer Macht.

Während das rücksichtslose, dem deutschen Volkswohl verpflichtete Lebensmittelmanagement im Zweiten Weltkrieg einigermaßen bekannt ist, lässt sich das für die Methoden, mit denen der Geldwert stabilisiert und die Kriegsgewinne begrenzt wurden, nicht sagen. Hitler, seine Berater und Mitarbeiter befürchteten mit Recht das Aufkommen unliebsamer Erinnerungen an die Jahre 1914–18. So bemerkte Goebbels im September 1941: »Eine neue Inflation würden wir ja nur sehr schwer überstehen können.«[56] In diesen Kontext gehört auch die Enteignung der Juden.

Ich bin auf diesen Zusammenhang von antiinflationärer Politik, Arisierung und deutschem Volkswohl gestoßen, als ich gemeinsam mit Christian Gerlach an der Studie über den Mord an den ungarischen Juden arbeitete. An dem zeitlich späten Beispiel Ungarn ließ sich erkennen, wie das Eigentum der dortigen Juden magyarisiert wurde. Das hieß konkret, die Schlafzimmereinrichtung einer deportierten jüdischen Familie wurde von magyarischen Nachbarn gekauft. Der Geldertrag aus solchen, in den letzten Kriegsmonaten hunderttausendfach durchgeführten Geschäften, zudem die Bankguthaben, Aktien und Depositen wanderten in den ungarischen Staatshaushalt und von dort in den Etat, aus dem die Besatzungskosten für die Wehrmacht, sämtliche Lieferungen nach Deutschland und der Sold jedes einzelnen deutschen Soldaten bezahlt wurden. Es handelte sich um einen Fall groß angelegter staatlicher Geldwäsche, in dem die Ungarn den schmutzigen Teil zu übernehmen hatten. Diese Erkenntnis bildete den Ausgangspunkt für die vorliegende Studie: Ich wollte wissen, ob das für Ungarn Entdeckte auch im übrigen besetzten Europa praktiziert wurde. Deshalb mussten die zivilen Finanzverwaltungen und die Nationalbanken in Deutschland, in den verbündeten und besetzten Ländern untersucht werden. Ferner galt es, die Tätigkeit derjenigen zu erkunden, die in der Wehrmacht für die Kriegsfinanzierung verantwortlich zeichneten. Schließlich folgte die Analyse, wie das Eigentum von Juden zu Geld gemacht wurde, wie sich dieses Geld mit anderen Geldströmen mischte und wohin es zuletzt gelenkt wurde.

In diese Richtung dachte früh der niederländische Gelehrte A.J. van der Leeuw. Seine Gutachten für deutsche Gerichte analysierten schon in den 1950er-Jahren den Zusammenhang zwischen Kriegsvorbereitung, Krieg und Verstaatlichung des Vermögens der Juden. Was die »unbürokratische Soforthilfe« für deutsche Bombenopfer mit Hilfe des Wohnungsinventars vertriebener und deportierter Juden angeht, so sind in letzter Zeit einige wichtige Studien erschienen. Hervorgehoben werden muss die Pionierarbeit von Wolfgang Dreßen »Betrifft ›Aktion 3‹. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn« (1998).

Die Untersuchungen über die deutschen Besatzungsregime in Serbien (Schlarp, 1986), in Italien (Klinkhammer, 1996) oder in Norwegen (Bohn, 2000) sind gründlich gearbeitet, verlieren sich jedoch im Lokalen, in der angeblichen oder tatsächlichen Dienststellenkonkurrenz. Da die militärischen und administrativen Herrschaftsleistungen in den genannten Arbeiten vorzugsweise unter den Gesichtspunkten »Reibungsverluste«, »Ämterkonkurrenz«, »Ineffizienz« und »Scheitern« analytisch gefasst werden, fragt sich der Leser am Ende verwirrt: Warum konnte sich das verfluchte Nazi-Regime dennoch so lange halten? Spezieller angelegte Studien, wie die von Gerhard Aalders über die deutschen Raubzüge in den Niederlanden oder die von Jean-Marc Dreyfus über die Ausplünderung der französischen Juden (Pillages sur ordonnance), vermeiden das akademisch-selbstgenügsame Herumgestochere in gewöhnlichen Institutionskonflikten.

Zum zentralen Thema, der Kriegsfinanzpolitik des Deutschen Reiches zwischen 1939 und 1945, fehlen zureichende Untersuchungen. Die ältere Arbeit von Fritz Federau kann als affirmativ beiseite gelegt werden. Der Autor wusste aus der Nazizeit, wovon er sprach und was er verdeckte. Die oft umfangreichen neueren Studien zu einzelnen Industrieunternehmen, Banken und Versicherungen sind im günstigsten Fall hochspezialisiert, zur historischen Kontextualisierung tragen sie wenig bei. Die Studie von Manfred Oertel in Eichholtz’ großer Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft gibt einige wichtige Einblicke, ebenso seine Rostocker Dissertation über die Reichsbank. Doch reduziert sich der mögliche Ertrag der beiden thematisch interessant angelegten Arbeiten, weil Oertel in der Faschismusinterpretation der DDR befangen bleibt und dort scheitert, wo sich die Frage nach den Nutznießern der finanzwirtschaftlichen Ausbeutung Europas stellt.

Demgegenüber lehnt es die Forschungsgruppe, die im Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr mittlerweile seit Jahrzehnten an dem vielbändigen, mit vielen Millionen geförderten und immer steriler gewordenen Werk »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg« arbeitet, rundweg ab, die Finanzierung des Krieges zum Thema eines Bandes oder eines größeren Abschnitts zu machen. Wichtige Ausbeutungsinstrumente wie zum Beispiel der Reichskreditkassenschein gelten deutschen Militärhistorikern als zu kompliziert. Auch den umfangreichen Apparat der Wehrmachtfinanzoffiziere (»Intendanten«) lassen sie im Dunkel der deutschen Kriegsgeschichte verschwinden. Die für das Verständnis von Hitlers Volksstaat wichtige Auflösung des angeblich schwierigen Rätsels Reichskreditkassenschein findet sich in Teil II dieses Buches unter den Kapitelüberschriften »Individuelles Bezahlen« und »Kollektives Enteignen«.

Zu der Erfahrung mit den Kollegen vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt passt eine Episode, die ich wenig später im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg erlebte. Nachdem ich dort die (höchst mangelhafte) Findkartei für den Bestand »RW7, OKW/Wehrmachtintendant z.b.V.« bestellt hatte, rief mich der zuständige Archivar im Lesesaal an und meinte: »Herr Aly, Sie kennen sich doch aus, aber Sie scheinen sich geirrt zu haben, diese Akten bestellt normalerweise niemand.« Die Intendanten waren die Finanzoffiziere der Wehrmacht, die meisten Dokumente über ihre Tätigkeit verschwanden spurlos. Das wenige Erhaltene wird offenbar nicht fachgerecht erschlossen und nicht zur Benutzung vorgeschlagen. In der gedruckten Bestandsübersicht sind die hochinteressanten Quellen irreführend beschrieben («… hauptsächlich listenmäßige Zusammenstellungen und Buchungen«); in der Bestandsübersicht, die das Bundesarchiv im Internet bereithält, fehlt jeder Hinweis auf den Wehrmachtintendanten z.b.V. Dort, wo die Akten über Finanz- und Währungsangelegenheiten vorhanden sind, wurden sie in die einschlägigen Dokumentationen oft nicht aufgenommen.

Als Beispiel dafür steht die Aktenedition »Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939–1945«, die Werner Präg und Wolfgang Jacobmeyer 1975 im Auftrag des Münchner Instituts für Zeitgeschichte herausgaben. Die in den Quellen umfangreich protokollierte Tätigkeit des Reichsbankdirektors und Chefs der Emissionsbank im besetzten Polen, Fritz Paersch, wurde dort fast regelmäßig in die Kurzregesten (»Bankfragen u.a.«) verbannt. An derselben Blindheit gegenüber finanz- und währungspolitischen Fragen krankt das aus der Endphase der DDR stammende editorische Großprojekt »Europa unterm Hakenkreuz«.

Als außerordentlich hilfreich erwies es sich, dass das Bundesarchiv die umfangreichen Personalakten der Reichsbank und eine Fülle anderer personenbezogener Unterlagen, die bis 1990 im Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR versteckt wurden, inzwischen über eine Datei erschlossen hat. In die Reihe derartiger Erschließungsfortschritte gehört das vor kurzem vollendete – vom Bundesarchiv, den Archives Nationales und dem Deutschen Historischen Institut Paris gemeinsam erarbeitete – zweibändige Findhilfsmittel für die Bestände »Militärbefehlshaber in Frankreich« und »Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich«. Von dem Bestand »Archiv für Wiedergutmachung beim Landgericht Berlin« (B Rep. 032), der im Landesarchiv Berlin seit einigen Jahren zugänglich ist, profitierte die vorliegende Arbeit erheblich. Er enthält, nach Ländern geordnet, kopierte Quellen aus den Archiven vieler europäischer Staaten, ebenso Urkunden, die Überlebende den Gerichten vorlegten. Aus dem Schriftgut des Reichsfinanzministeriums erhielten sich zwar viele Zehntausend Akten, doch sind dazu weder in dem großen Bestand der alten Bundesrepublik noch in dem ebenfalls umfangreichen Bestand der einstigen DDR zureichende Findhilfsmittel angelegt worden. Erst im Jahr 2004, fast 60 Jahre nach Kriegsende, erschien der erste Band eines auf zehn Bände angelegten Repertoriums für die erhaltenen Akten des Reichsfinanzministeriums.

Dennoch bilden diese Unterlagen die wichtigste Stütze meiner Studie. Mit Hilfe grober Orientierungen anhand alter Karteien und dank der zuständigen Archivreferentin Karola Wagner gelang es, viele bisher niemals in der wissenschaftlichen Literatur zitierte Quellen aufzuspüren. Dabei zeigte sich, dass jene Unterlagen, die in großer Zahl über den außerordentlichen Kriegshaushalt des Deutschen Reiches angelegt und in denen einst die meisten Einnahmen in den besetzten Ländern minutiös verbucht wurden, mit offenkundigem Vorsatz vernichtet wurden. Das gilt auch für Akten, die Auskunft über die Verwertung von feindlichem und jüdischem Vermögen hätten geben können, und für Unterlagen, mit deren Hilfe sich der exorbitant anwachsende Haushaltsposten »Allgemeine Verwaltungseinnahmen« genauer hätte aufschlüsseln lassen. Die dort verbuchten Milliardenbeträge stammten in erster Linie aus Quellen, über die geschwiegen werden sollte. Dennoch versuche ich im Teil IV, anhand der erhaltenen Aktensplitter, die Kriegseinnahmen des Deutschen Reiches in ihrer Grundstruktur zu rekonstruieren. Dabei akzentuiere ich zum einen, wie sich die Lasten zwischen den sozialen Klassen in Deutschland verteilten. Zum anderen untersuche ich den bis 1944 ständig wachsenden Anteil des Kriegskostenhaushalts, der dem besetzten (und verbündeten) Ausland abgepresst und aus dem Eigentum wie der Arbeitskraft besonders verfolgter Menschengruppen beigetrieben wurde.