»Endlösung« - Götz Aly - E-Book

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Götz Aly

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Beschreibung

Das zentrale Standardwerk ›Endlösung‹ des bekannten Historikers Götz Aly, bei seinem Erscheinen 1995 ein entscheidender Schritt in der Erforschung der Geschichte des Holocaust, liegt jetzt in einer durchgesehenen und aktualisierten Neuausgabe vor. Götz Aly zeigte als Erster, wie sich in einem langen Prozess die Entscheidung herauskristallisierte, die Juden Europas zu ermorden. Es gab keinen »Beschluss«. Zuerst dominierte der Gedanke, »Lebensraum« für das deutsche Volk zu schaffen, man verfiel auf die Idee, alle Juden nach Madagaskar zu verschiffen, dann folgten die Ghettos und Konzentrationslager, schließlich der Vernichtungskrieg und die Gaskammern. In keinem anderen Buch ist die Geschichte dieses Entscheidungsprozesses so ausführlich, zwingend und klar geschildert - ein Meilenstein der Holocaust-Forschung. Die Neuausgabe wurde um ein Vorwort von Raul Hilberg ergänzt.

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Seitenzahl: 589

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Privatdozent Dr. Götz Aly

»Endlösung«

Völkerverschiebungund der Mord an den europäischen Juden

FISCHER E-Books

Inhalt

Vorbemerkung zur NeuausgabeVorwort von Raul HilbergEinleitungDer KriegAnalytischer ZugangQuellenlageDarstellungI Judenpolitik, Krieg und UmsiedlungAbschiebezonen»Ethnische Flurbereinigung«Umsiedlungskommissar HimmlerErmächtigung zum TötenII »Platzschaffen« für VolksdeutscheChronologie: September 1939–April 1940III »Himmler verschiebt die Völker …… nicht immer mit Erfolg«Räumungsbeauftragter EichmannBlockierte NeuordnungGaswagen und UmsiedlungJudenreservat oder GhettoIV Perspektive »Madagaskar«Chronologie: Mai–September 1940V »Heim ins Reich« – ins Lager»Unmöglicher Zustand« IDeutsche aus SüdosteuropaAbschieben, aber wohin?Institutionalisierung des Mordens»Judenaussiedlung – Platz für Polen«VI Scheitern eines großen PlansChronologie: 15. November 1940–15. März 1941VII Ghetto, Arbeit, »Ostraumlösung«Transportsperre für »Barbarossa«»Notsiedlung« statt Germanisierung»Rasche Lösung« – nach dem SiegFußmarsch ins GhettoArbeitsunfähige JudenSumpf, Eismeer, SibirienVIII Vernichtungskrieg und LebensraumChronologie: 1. Mai–31. Juli 1941IX Enttäuschte SiegesgewissheitJuden in Europa und NordafrikaHeydrichs Auftrag»Unterschätzte« Rote ArmeeKonzentration des Volkes»Unmöglicher Zustand« IIX »Die Juden müssen weg«Lokale »Lösungen«Ferne »Endaufnahmeplätze«Disparate DokumenteSchiffeMogilewDnjepr»Vorläufige Rücksichten«Aufbau der VernichtungsmaschinerieEin deutscher KonsensXI Elemente der Entscheidung zum HolocaustÖffentliches GeheimnisTotaler BiologismusDas System HeydrichHistoriker-KontroversenProjektive KonfliktüberwindungXII Nachsätze der MörderRudolf Bilfinger (RSHA) an Erhard Wetzel (Ostministerium)Adolf Eichmann an die Leitstellen der StaatspolizeiUlrich Greifelt (RKF) an Friedrich Wilhelm Krüger (Krakau)Proklamation Adolf Hitlers an die Mitglieder der NSDAPGespräch Adolf Eichmanns mit den Chefs der StaatspolizeistellenNotiz Fritz Reuters über ein Gespräch mit Hans Höfle (beide Lublin)Franz Rademacher (Auswärtiges Amt) an die PersonalabteilungJoseph Goebbels in seinem TagebuchWochenbericht aus dem GeneralgouvernementDer Staatssekretär im ReichsjustizministeriumAbteilung Bevölkerungswesen und Fürsorge (Lublin)Arthur Greiser an Heinrich HimmlerAuswärtiges Amt an den deutschen Botschafter in PressburgDer Amtschef des Distrikts Lublin zu FrankHeinrich Himmler vor seinen SS-GenerälenLagebericht der Staatspolizeistelle LodzViktor Brack an Heinrich HimmlerDer Unterstaatssekretär im Auswärtigen AmtRegierungssitzung in Krakau über ErnährungsfragenVertrauliche Information der ParteikanzleiAlbert Speer an Heinrich HimmlerGespräch zwischen Ulrich Greifelt und Heinrich HimmlerOdilo Globocnik über die »Aktion Reinhard«AnhangAbkürzungenLiteraturNamenregisterOrtsregister

Vorbemerkung zur Neuausgabe

Mithilfe einer Förderung der Volkswagen-Stiftung habe ich dieses Buch in den Jahren 1993/94 am Lehrstuhl von Jürgen Kocka erarbeitet. Das Projekt wurde zunächst von maßgeblichen deutschen Osteuropa-Historikern torpediert, so dass ich es ausschließlich dem Engagement Kockas verdanke, dass es am Ende doch verwirklicht werden konnte – allerdings war es ursprünglich größer angelegt und hieß »›Ethnische Säuberungen‹ in Europa. Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen im 20. Jahrhundert«. Kocka und ich blieben damals an zwei wesentlichen Punkten uneinig. Während mir von Anfang an daran gelegen war, den Holocaust in die gesamteuropäische Darstellung einzubeziehen, wollte Kocka diesen Fall des genozidalen Umsiedelns ausdrücklich nicht in das geplante Vorhaben integriert wissen. Außerdem plädierte er dafür, die Ursachen ethnischer Gewaltpolitik nicht im Aufbruch demokratisierter nationalistischer Massen zu suchen, sondern vor allem in diktatorischen Regimes. Der Dissens führte dazu, dass ich mich entschloss, einen kleinen Aufsatz über die radikalisierenden Wechselwirkungen zwischen der generellen deutschen Umsiedlungs- und der Judenpolitik zwischen 1939 und 1944 zu schreiben. Da ich bald auf eine Vielzahl noch unbeachteter Quellen stieß, entstand aus diesem Nebenaspekt meines Projekts binnen zweier Jahre das vorliegende Buch. Es wurde bald ins Englische, später ins Tschechische und Rumänische übersetzt.

 

Erst jetzt, 25 Jahre später, habe ich das alte Projekt mit dem Buch »Europa gegen die Juden 1880–1945« fortgesetzt und für mich mit dem folgenden Ergebnis abgeschlossen: Der Holocaust ist Teil der ethnischen Gewaltpolitik des 20. Jahrhunderts, und zwar der extremste Fall. Doch bin ich Jürgen Kocka für seine Interventionen in den Jahren 1992/93 außerordentlich dankbar. Denn damals wäre es mir aufgrund der Quellen- und Literaturlage unmöglich gewesen, eine solche Studie zu erarbeiten. So hat der Konflikt, in dem – wie so oft – wohl beide Beteiligte auf ihre Weise recht hatten, am Ende zu Resultaten geführt, die mir produktiv erscheinen.

Inhaltlich musste ich an der Neuausgabe nichts verändern. Die 1995 von mir publizierten Ergebnisse führten zu mehreren regional und institutionell zentrierten bzw. auf einzelne Aspekte fokussierten Spezialstudien. Diese bereicherten das Bild der nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik um wichtige Details, nicht jedoch um prinzipiell Neues. Im Text habe ich kleinere stilistische Änderungen vorgenommen, wenige Passagen gekürzt, vor allem aber den Anmerkungsapparat entschlackt. Einiges davon steht jetzt im Haupttext, manche Quellenverweise sind gestrichen, weil heute über bestimmte seinerzeit noch umstrittene Fragen Konsens besteht. Auch fehlen in der Neuausgabe Anmerkungen, die mir heute als besserwisserisch oder eifernd erscheinen. Wer sie gerne lesen möchte, greife zu den früheren unveränderten Ausgaben, die 22 Jahre lang vom S. Fischer Verlag verkauft wurden.

Im Abschnitt »Disparate Dokumente« des Kapitels X hatte ich 1995 vorgeschlagen, die Frage zu prüfen, ob die SS-Führung im September/Oktober 1941 plante, in der Nähe der im Osten Weißrusslands gelegenen Stadt Mogilew ein riesiges Vernichtungslager zu errichten, um dort Juden aus vielen Teilen Europas zu ermorden. Dafür sprachen die Bestellung von Krematorien und verschiedene Dokumente, die davon handelten, Juden wegen der schwierigen Transportlage per Schiff über den Dnjepr und das bis nach Polen reichende russische Kanalsystem dorthin zu transportieren. Meine hypothetisch vorgetragenen Überlegungen konnte Christian Gerlach zwei Jahre später mit einer Fülle weiterer, dann genügend dichter Quellen bestätigen (Ch. Gerlach: Failure of Plans for an SS Extermination Camp in Mogilëv, Belorussia, in: Holocaust and Genocide Studies, 7(1997), Nr. 1, S. 60–78).

Die Neuausgabe des Buchs »›Endlösung‹« erscheint parallel zu meiner schon genannten Untersuchung »Europa gegen die Juden 1880–1945«, die vom europäischen Antisemitismus und den damit verbundenen Vorstellungen handelt, die jüdischen Minderheiten außer Landes zu drängen oder gewaltsam zu vertreiben. Zusammen mit meiner Studie zum deutschen Antisemitismus »Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933« (Frankfurt a.M. 2011) verstehe ich die genannten Arbeiten als Trilogie, geschrieben mit dem Ziel, die geschichtlichen und politischen Voraussetzungen für den Mord an den europäischen Juden aus unterschiedlichen Perspektiven – jeweils nur teilweise – zu erklären.

 

Berlin, Dezember 2016

Vorwort von Raul Hilberg[1]

Erfassen, Verschieben, Vernichten

Vor elf Jahren begann Götz Aly damit, über die Judenverfolgung zu schreiben. Sein erstes, gemeinsam mit Karl Heinz Roth verfasstes Buch hieß »Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus«. Sofort erkannten Holocaust-Forscher die Ergebnisse als überraschend einleuchtend. Das Thema, wie Registrierungen und Ausweiszwänge gehandhabt wurden, war absolut neu. Ebenso verhielt es sich mit Alys nachfolgenden Arbeiten, hauptsächlich mit der großen Studie »Vordenker der Vernichtung«, in der er zusammen mit Susanne Heim die wissenschaftlich ausformulierten bevölkerungspolitischen Generalpläne der Ökonomen, Bevölkerungspolitiker und Statistiker erhellte.

In dem jetzt vorliegenden dritten Buch »›Endlösung‹. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden« behandelt er weitere von der Forschung übersehene Aspekte der Vernichtung, insbesondere die lange verborgenen Zusammenhänge und Zwischenstationen im Verlauf der Entschlussbildung hin zur »Endlösung der Judenfrage«. Der Versuch, den Holocaust in einem solchen Kontext darzustellen, war längst notwendig geworden. Vor einigen Jahrzehnten noch war die Vernichtung der Juden ein Gegenstand für wenige Spezialisten gewesen, als Thema der Alltagslektüre fast ein Tabu. Spät erst änderte sich dies, und zwar in Form eines Protests gegen die frühere Verdrängung. Doch wurde das Geschehene in den dann folgenden Büchern zunächst isoliert, gleichsam wissenschaftlich ghettoisiert. So erschien der Holocaust als ein außer- und übergeschichtliches Phänomen, von allen anderen Ereignissen separiert. Aly wendet sich konsequent gegen diese Trennung und hat mit dem Buch »Endlösung« die Perspektiven bahnbrechend erweitert.

In dem nun vergrößerten historischen Rahmen macht die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik einen Schwerpunkt aus, beflügelt von Ideen einer Völkerverschiebung, die der »Festigung deutschen Volkstums« dienen sollten. So wurden nach dem Polenfeldzug Verträge mit befreundeten Staaten, einschließlich der Sowjetunion, geschlossen, um Volksdeutschen aus Teilen oder den gesamten Territorien dieser Länder die »Rückkehr« nach Deutschland zu ermöglichen. Umgekehrt wurde in den neu eingegliederten, dem besiegten Polen entrissenen Gebieten die »Aussiedlung« polnischer und jüdischer Menschenmassen vorbereitet und exekutiert, um den Volksdeutschen die »Ansiedlung« zu ermöglichen.

Solche Verfahrensweisen waren weder eine genuine Erfindung Adolf Hitlers, noch sind sie geschichtlich überwunden. Bevölkerungsaustausch, Massenflucht, forcierte Auswanderung, Ausstoßung, Deportation und »ethnische Säuberung« in allen Varianten waren und sind in unserem Jahrhundert immer wiederkehrende Erscheinungen. Auch das massenhafte Sterben entwurzelter Flüchtlinge ist keine Seltenheit. Jedoch prägte ausgesprochen zielbewusstes Handeln die nationalsozialistische Epoche. Im Zweiten Weltkrieg entwickelte Hitler mit seinen Ministern, Staatssekretären, Beratern und Ideengebern Nahpläne, Fernpläne und einen Generalplan Ost. Ihre Vorhaben erwogen und organisierten sie ohne moralische Schranken. Das Verhungern der Opfer war Teil ihrer Pläne; das Töten inszenierten sie nicht zum Zweck der Abschreckung, sondern zum Zweck der »Lösung«.

Nur einige der von Götz Aly gelieferten Beispiele: In Lodz sollte Anfang 1940 für 15000 urbane Baltendeutsche Platz geschaffen werden, indem man Juden in die nördlichen Stadtteile vertrieb, die für das spätere Ghetto vorgesehen waren. Ein ähnliches Unheil erwartete die Polen. Sie mussten die neuen »Ostgaue« räumen, damit die bäuerlichen Wolhyniendeutschen ihre Äcker und Höfe übernehmen konnten. Juden im westlichen Teil des Distrikts Warschau wurden völlig mittellos in das Warschauer Ghetto hineingepfercht, um den Polen, die aus den von Deutschland annektierten Gebieten vertrieben worden waren, Wohnungen zu verschaffen. Für Volksdeutsche, die ihre neue Heimat in der Region Zamość gründen sollten, wurden Polen ausgewiesen, die dann teilweise nach Berlin transportiert wurden, wo sie wiederum jüdische Arbeiter ersetzten, die in Auschwitz ihr Ende fanden.

Auch der finanzielle Kreislauf sollte auf diese Weise in Schwung gehalten werden. Die Staaten, aus denen die Volksdeutschen stammten, verpflichteten sich, für das zurückgelassene Gut der Auswanderer 3315000000 Reichsmark an das Reich zu zahlen. Die volksdeutschen Ansiedler sollten dann polnisches oder jüdisches Eigentum als Naturalrestitution erhalten. Allerdings ging die Rechnung nicht immer so auf wie beabsichtigt. Am 1. April 1941 befanden sich von den 466000 Volksdeutschen, die aus den Baltenländern, aus Wolhynien, Ostgalizien und Rumänien nach »Großdeutschland« geschafft worden waren, noch 246000 in Umsiedlerlagern. Schließlich konnte man nicht alle Polen entfernen. Nur die »Judenfrage« wurde »gelöst«. Die Juden wurden vollständig enteignet und in Ghettos zusammengetrieben. Nachdem dann die unhaltbaren Zustände wie Arbeitslosigkeit und Fleckfieberepidemien unter den Insassen das Gemüt der deutschen Verwalter betrübten, kam es zu einer »Endlösung« in den Gaskammern.

Ganz leicht fiel ihnen diese »Lösung« nicht. Götz Aly weist auf manche Stationen auf dem Weg zur Entscheidung hin: etwa auf den schriftlich festgehaltenen Wunschtraum der Sicherheitspolizei vom Dezember 1940 bezüglich einer »Umsiedlung« von 5,8 Millionen Juden in ein »noch nicht bestimmtes Territorium«; oder auf das Besprechungsprotokoll von General Thomas und Staatssekretär Körner vom 31. Juli 1941 über einen etwaigen Einsatz geschlossener jüdischer Arbeitskolonnen im Osten; des Weiteren zitiert Aly die von Goebbels im September 1941 dokumentierte Überlegung Reinhard Heydrichs, dass die bald zu erobernden kommunistischen Arbeitslager in der Gegend des Eismeers ein geeignetes Ziel für elf Millionen Juden wären. Aly weist darauf hin, dass das SS-Hauptamt Haushalt und Bauten Mitte November 1941 Krematorien mit insgesamt 32 Einäscherungskammern bestellte, die im weißrussischen Mogilew errichtet werden sollten, dann aber für Auschwitz abgezweigt wurden.

Wenn man heute in einem ehemaligen sowjetischen Archiv den Schriftwechsel der deutschen Besatzungsorgane durchsucht, sieht man öfter auf einem beiliegenden Blatt die Unterschrift eines früheren Besuchers: Götz Aly. Diese letzten größeren Aktenberge sind nun zugänglich, und was dort nicht aufgefunden werden kann, wird höchstwahrscheinlich nirgends mehr zum Vorschein kommen. Man kann die Merkmale solcher Grenzen in Alys Schlusskapiteln erkennen. Man erblickt die Fragezeichen und ahnt, dass manche Vermutungen nie in Fakten verankert werden können. Doch es bleibt dieses wichtige Buch, und es besteht Hoffnung auf künftige Einsichten dieses einzigartigen Fragestellers und genialen Autors.

 

Vermont, März 1995

Einleitung

Der Krieg

Das vorliegende Buch enthält eine schwer erträgliche Zumutung: Die Leserinnen und Leser müssen sich auf die Täter einlassen – auf deren Logik, Denken, Kalkulieren und Handeln. Fortlaufend werden auf den folgenden Seiten Einzelheiten erörtert, Zahlen und tagespolitische Winkelzüge, die in Anbetracht des Ergebnisses – des Holocaust – banal und oft genug verwirrend erscheinen. Aber die Zumutung ist notwendig. Denn es gibt keinen anderen Weg, die politischen Prozesse zu untersuchen, die der Entscheidung zur »Endlösung« vorausgingen.

Die Analyse setzt mit dem 1. September 1939 ein und endet mit der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942. So amoralisch und rassistisch die antijüdische Politik schon seit 1933 angelegt war, die wichtigsten Voraussetzungen, die zum Holocaust führten, wurden erst im Krieg geschaffen. Weit über das in den ersten sechs Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft bereits erreichte Maß hinaus beförderte der Krieg die Atmosphäre des Nicht-Öffentlichen, atomisierte die Menschen, zerstörte ihre noch vorhandenen Bindungen an religiöse und juridische Traditionen. Da außenpolitische Rücksichten kaum mehr zählten, entstand eine Situation, die in der Sprache der Täter die »einmalige Gelegenheit« genannt wurde: Es sei erforderlich, »die Aktion« jetzt durchzuführen, so rechtfertigte ein Vertrauter Heydrichs die für das Jahr 1941 geplante Massenabschiebung von einer Million Menschen, »weil sich während des Krieges noch die Möglichkeit« biete, »ohne Rücksicht auf die Stimmung der Weltöffentlichkeit verhältnismäßig rigoros vorzugehen«.[1] Als Hitler zur gleichen Zeit im engsten Kreis über die »Judenfrage« sprach, argumentierte er zwiespältig: Einerseits »würde der Krieg die Lösung dieser Frage beschleunigen, andererseits träten aber auch viele zusätzliche Schwierigkeiten auf«.[2] Schließlich notierte Goebbels im März 1942 zum selben Thema: »Es wird hier ein ziemlich barbarisches, nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. (…) Gott sei Dank haben wir jetzt während des Krieges eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die uns im Frieden verwehrt sind. Die müssen wir ausnützen.«[3]

In den ersten 24 Monaten des Zweiten Weltkriegs wurden die Juden, die unter deutsche Herrschaft gerieten, auch Opfer jener Diskriminierungspolitik, die zuvor schon in Deutschland und Österreich erprobt worden war. Im besetzten Polen, in Holland und Frankreich, in den abhängigen Staaten Slowakei, Rumänien und Ungarn wurden sie nach deutschem Vorbild enteignet und ihrer politischen Rechte beraubt.

Die inhärenten Konsequenzen solcher Marginalisierung hatte einer der energischsten Arisierer, der Reichskommissar für Österreich Josef Bürckel, schon im Herbst 1938 zu Ende gedacht: »Man darf nie vergessen«, so hatte er geschrieben, »will man arisieren und dem Juden seine Existenzgrundlage nehmen, dann muss man die Judenfrage total lösen. Ihn nämlich als Staatsrentner (zu) betrachten, das (…) ist unmöglich. Also muss man die Voraussetzungen schaffen, dass er ins Ausland kommt.«[4]

Den außenpolitisch ohnehin problematischen Weg der Zwangsauswanderung verbaute sich die deutsche Führung mit dem Krieg erst recht. Ebenfalls infolge des Krieges gerieten immer mehr Juden, erst Hunderttausende, dann Millionen unter deutsche Herrschaft: Schon nach der Zerstörung Polens waren es nicht mehr einige hunderttausend, sondern mehr als zweieinhalb Millionen. Außerdem wurde die Situation der Verfolgten deshalb immer bedrohlicher, weil sie vom Oktober 1939 an zusätzlich zu Objekten jener neuen, übergreifenden Politik wurden, die in immer weiteren Teilen des deutsch beherrschten Europa die Um- und Aussiedlung, die »ethnische Entflechtung« vieler Millionen Menschen bezweckte. Dem systematischen Mord an den europäischen Juden waren verschiedene Deportationsprojekte des Reichssicherheitshauptamts vorausgegangen. Sie entstanden unter spezifischen Rahmenbedingungen – und scheiterten aus Gründen, die ich auf den folgenden Seiten darstelle.

Im Herbst 1939 wollten Hitler, Himmler und Heydrich an der ostpolnischen Grenze ein »Judenreservat Lublin« schaffen. Sie legten das Projekt binnen weniger Monate zu den Akten, da sie es mit anderen – militärischen und ökonomischen – Zielsetzungen nicht vereinbaren konnten. Gut dokumentiert ist die Absicht, die Juden nach Madagaskar zu deportieren. Der Plan entsprang der Kontinentalblock-Konzeption Hitlers, die den Sieg über England, den Bestand des Hitler-Stalin-Pakts und die Kollaboration Vichy-Frankreichs voraussetzte. Gedacht war an die Errichtung eines »deutschen Kolonialreichs Mittelafrika« als »wirtschaftlichem Ergänzungsraum«. Im Rückblick erscheint das Vorhaben absurd. Bedenkt man aber, dass die Achsenmächte in Gestalt der italienischen Truppen längst in Addis Abeba und Mogadischu standen, dass Algerien, Marokko und Tunesien zum geschlagenen Frankreich gehörten, dann wird eher verständlich, warum im Sommer 1940 in der Kanzlei Hitlers bereits über künftige Gouverneursposten in »Deutsch-Ostafrika« gesprochen wurde.

Militärisch und außenpolitisch begründete Heydrich das Madagaskarprojekt im Sommer 1940 in folgender Weise: »Die Juden sind uns wegen unseres Rassenstandpunktes feindlich gesinnt. Wir können sie daher nicht im Reich brauchen. Wir müssen sie beseitigen. Eine biologische Vernichtung wäre aber des deutschen Volkes als einer Kulturnation unwürdig. Wir werden daher den Feindmächten nach dem Siege die Auflage erteilen, mit ihrem Schiffsraum die Juden mit ihren Sachen nach Madagaskar oder sonst wohin zu schaffen.«[5] Ich gehe mit H.-G. Adler davon aus, dass mit »Endlösung« – dieses Wort gab es schon – im Sommer 1940 noch nicht Vernichtung im Sinne eines systematischen Massenmords gemeint war.[6]

Erst im Frühjahr 1941 planten Heydrich, Eichmann und andere die »biologische Vernichtung« der Juden. Die Arbeitsunfähigen sollten in Reservaten an Hunger und Entbehrung zugrunde gehen, die Arbeitsfähigen ziellos »nach Osten« deportiert werden, dort Sümpfe trockenlegen und Straßen bauen – »wobei«, so Heydrich später, »zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen« werde. Bald darauf wurde beschlossen, die wehrfähigen jüdischen Männer in den zu besetzenden Territorien der Sowjetunion zu liquidieren. Der Plan fügte sich in das neue imperiale Programm der »Ostraumlösung« ein und enthielt die Absicht, das europäische Judentum in absehbarer Zeit auszurotten: mit sogenannten biologischen, aber – gemessen an der dann folgenden Praxis – noch »konventionellen« Mitteln. In seinen mörderischen Implikationen übertraf das Programm den Madagaskarplan bei weitem, und es enthielt schon alle Merkmale des Völkermords, doch unterschied es sich noch wesentlich von der wenig später favorisierten Vernichtung in den Gaskammern.

Auch das Vorhaben des Frühjahrs 1941 scheiterte im Herbst desselben Jahres an der Roten Armee. Trotz aller Niederlagen setzte sie der deutschen Offensive deutliche Grenzen. Aber die Protagonisten des Dritten Reichs hatten die »Abwanderung« der europäischen Juden längst fest einkalkuliert und die Deportation zur Grundlage ihrer Kriegs- und Nachkriegsplanung gemacht. Im Hinblick auf die »baldige Gesamtlösung« raubten sie den Juden alle Subsistenzmittel, trieben sie in improvisierte Ghettos oder Lager: immer in der Annahme, das geschehe nur für wenige Monate – bis zur endgültigen Abschiebung. Da das Vorläufige zur immer beständigeren »Last« wurde, entstanden Schritt für Schritt gewissermaßen realpolitische Voraussetzungen für die »Endlösung«.

In dem Buch »Vordenker der Vernichtung« haben Susanne Heim und ich den offenkundigen Zusammenhang dargelegt, der zwischen »völkischer Flurbereinigung« und der damit verbundenen »Neuordnung Europas« einerseits sowie der Vernichtung von Minderheiten andererseits bestand. Wir konnten zeigen, wie verschiedene Expertengruppen aus ganz unterschiedlichen Motiven eine Reduktion der (ost-)europäischen Bevölkerung um mehrere Zehnmillionen Menschen in Betracht zogen: Die einen erarbeiteten Konzepte zur »Aussiedlung aller Polen«, um auf diese Weise »Siedlungsraum« zu gewinnen; andere schlugen für breite Landstriche Osteuropas vor, »die Bevölkerungsdichte herabzusetzen«, um damit die Landwirtschaft zu rationalisieren, die infolge fortgesetzter Erbteilung keine Überschüsse für den Markt abwarf; wieder andere wollten 30 Millionen Russen durch eine künstlich ausgelöste Hungersnot umkommen lassen, um dann Kontinentaleuropa mithilfe des ukrainischen Getreides »blockadefest« zu machen. Aus dieser Perspektive war der Mord an den europäischen Juden der unter Kriegsbedingungen vorgezogene und am weitestgehenden verwirklichte Teil noch umfassenderer Vernichtungsabsichten.

Unsere Kritiker wandten seinerzeit ein – und dieser Einwand könnte auch gegen das vorliegende Buch erhoben werden –, es handelte sich um Pläne, die ebenso wirklichkeitsfern wie hypertroph waren und niemals funktioniert hätten. Es mag dahingestellt bleiben, wie und ob diese für eine nahe Zukunft gedachten Projekte ohne die Standfestigkeit Churchills, ohne Anti-Hitler-Koalition und Rote Armee verwirklicht worden wären. Wie aber schon der Turmbau zu Babel gezeigt hat, entfesseln himmelstürmende Großprojekte nicht deshalb zerstörerische Gewalt, weil sie realistisch sind, sondern weil sie für realisierbar gehalten werden.

Analytischer Zugang

Betrachteten wir in den »Vordenkern der Vernichtung« das Geschehen aus der Perspektive einer Planungselite, die in den Kategorien der tabula rasa dachte, so geht es nun – komplementär dazu – um die Reaktionen und Konzepte der Praktiker. Meine Fragestellung lautet: Wie wirkten sich die Schwierigkeiten, die die deutsche Kriegsführung, die Annexions-, Umsiedlungs- und Neuordnungspolitik hervorbrachten, auf die Pläne zur »Lösung der Judenfrage« aus?

In den einschlägigen Dokumenten finden sich dazu zahlreiche Hinweise. Sie springen geradezu ins Auge, wenn Eichmann eine ganze Serie von Judendeportationen unter das bürokratische Kürzel stellte: »Betr.: Freimachung für Litauendeutsche«. Dennoch ist der Zusammenhang zwischen der Umsiedlung der Volksdeutschen und der Ermordung der Juden bisher nicht untersucht worden, und dies, obwohl die Projekte »Siedlungspolitik/Lebensraum« und »Lösung der Judenfrage« die zentralen Ziele des Dritten Reiches waren und institutionell zusammengefasst von ein und derselben Person – von Heinrich Himmler – repräsentiert wurden. Das erschien aus nazistischer Sicht logisch. Es handelte sich um gleichermaßen bevölkerungspolitische Ziele zum demographischen und herrschaftlichen Umbau Europas. Sie setzten die militärische Eroberung voraus und die Einheit von Ansiedlung und Vertreibung. Im theoretischen Modell sollte das alles »Zug um Zug« vonstattengehen. Doch faktisch gerieten die gigantomanischen Projekte zur »ethnischen Flurbereinigung in Europa« einerseits und zur »territorialen Endlösung der Judenfrage« andererseits seit Oktober 1939 miteinander in Konflikt. Sie blockierten sich gegenseitig und stießen an Grenzen, die sich aus der Kriegsführung, die ursprünglich nur Mittel zum Zweck sein sollte, ergaben.

Neben seiner Funktion als Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei erhielt Heinrich Himmler 1939, kurz nach Kriegsbeginn, eine zweite, weniger bekannte Aufgabe: die des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKF). Als solcher bewerkstelligte Himmler in den folgenden Jahren mithilfe mehrerer tausend Mitarbeiter und eines Dutzends neu geschaffener Institutionen das Heim-ins-Reich von rund 500000 ethnischen Deutschen. Sie stammten aus dem Baltikum und aus Südtirol, aus Wolhynien und Bessarabien, aus der Bukowina und Dobrudscha. Ihren dortigen Besitz von etwa drei Milliarden Reichsmark verrechnete der Fiskus des Deutschen Reiches – zum Vorteil der Außenhandelsbilanz – mit der Sowjetunion, mit Rumänien und mit Italien gegen Erdöl- und Lebensmittellieferungen. Die sogenannten volksdeutschen Umsiedler ihrerseits erhielten die Wohnungen, Höfe und Betriebe, das Handwerksgerät, das Vieh und den Hausrat derjenigen Polen oder Juden, die Adolf Eichmann als Organisator der Umwandererzentralstelle Posen/Litzmannstadt (Lodz) vertrieb oder ghettoisierte.

Die Umsiedlungspolitik konzentrierte sich von Anfang an auf das besetzte Polen. Hitler und Stalin hatten das Land zunächst untereinander aufgeteilt; die Deutschen zerlegten ihren Teil in die annektierte westliche, die wirtschaftlich bedeutendste Region (»die eingegliederten Ostgebiete«) und in das Generalgouvernement, die zentralpolnische Region zwischen Warschau, Krakau und Lublin. Dort lebten 1940 etwa zwölf Millionen Polen, darunter anderthalb Millionen Juden; im annektierten Westen lebten acht Millionen, darunter 550000 Juden. Von Letzteren sollten etwa die Hälfte der Polen und alle Juden binnen kurzer Zeit ins Generalgouvernement vertrieben werden, um deutschen Siedlern zu weichen.

Darüber, wie das zu geschehen habe, machten sich auch zeitgenössische deutsche Historiker Gedanken. Getragen von jenem uns Heutigen nicht fremden Selbstverständnis des »rückwärtsgewandten Propheten« (Ranke), arbeiteten sie an der Formulierung der damaligen politischen Zielsetzungen mit: als Fachleute für vergangene Strukturen, die entweder »wiederhergestellt« oder zerstört werden sollten. Beispielsweise schrieb der Breslauer Mediävist und Volkstumsforscher Hermann Aubin am 18. September 1939 an den Historiker für osteuropäische Geschichte Albert Brackmann in Berlin: »Die Volkstumsfragen im Osten sind in ein entscheidendes Stadium gekommen. Nachdem wir in der vergangenen Woche schon die Zusage einer Regelung in dem von uns vorgeschlagenen Sinne von höchster Stelle erhalten hatten, scheint wieder eine Ladehemmung eingetreten zu sein.« Es empfehle sich daher, noch einmal im Innenministerium vorzusprechen, damit »die Volkstumsfragen bei der Neueinrichtung der deutschen Verwaltung in Polen in das richtige Geleise gebracht werden«. »Die Wissenschaft«, schloss Aubin, »kann nicht einfach warten, bis sie gefragt wird, sie muss sich selber zu Worte melden.«[1]

Bereits drei Tage später konferierte Brackmann mit dem Referenten für Volkstumsfragen im Innenministerium, Dr. Werner Essen, der später in Riga am Generalplan Ost arbeitete.[2] In ihrem Vorhaben offenbar ermuntert, trafen sich die wissenschaftlichen Aktivisten am 28. September in Breslau und entwarfen einen Arbeitsplan »für die Denkschrift über die ostdeutsche Reichs- und Volkstumsgrenze«. Sie erörterten »die historischen Voraussetzungen und Gegebenheiten für den Erfolg einer großzügigen Siedlungspolitik in den Ostgebieten«. Mit dem Entwurf der Denkschrift wurde ein ebenfalls anwesender einunddreißigjähriger Assistent beauftragt – Dr. Theodor Schieder. Dieser legte wenig später, am 7. Oktober, einen Entwurf vor. Er hatte darin mögliche Alternativen für den Verlauf der neuen deutschen Ostgrenze entwickelt und bemerkte zur zweiten, weitergehenden Variante: »Die Herstellung eines geschlossenen deutschen Volksbodens in diesen Gebieten macht Bevölkerungsverschiebungen allergrößten Ausmaßes notwendig. Eine solche Entwicklung erfordert nicht ein Programm für wenige Jahre, sondern Pläne auf lange Sicht.« Zu den »Sofortmaßnahmen« rechnete Schieder die Enteignung des Bodens, die Umsiedlung eines Teils der polnischen Bevölkerung, Aufbaukredite für die Volksdeutschen und »die Ansetzung deutscher Menschen«, die aber »unter keinen Umständen einer ungeregelten Entwicklung überlassen werden« dürfe. Blieb das Problem, »wie und wohin der zu erwartende polnische Auswandererstrom (…) zu lenken« sei. Schieder: »Eine stärkere Einwanderung nach Restpolen erscheint unter zwei Voraussetzungen möglich: 1) die Herauslösung des Judentums aus den polnischen Städten, 2) der landwirtschaftlichen Intensivierung, die den Nahrungsspielraum in Polen erhöht und durch eine weitgehende Melioration und Separation die agrarische Überbevölkerung wenigstens herabdrückt.«[3]

In diesem Dokument ist die Einheitlichkeit der Politik des Annektierens und Umsiedelns mit all ihren Implikationen formuliert: die Vertreibung der Polen, ihre Aufnahme in »Restpolen« auf Kosten der dort lebenden Juden und die Schaffung von zusätzlichem »Nahrungsspielraum« mithilfe der Trockenlegung von Sümpfen.

Alle diese Vorschläge sind 1940/41 in Ansätzen verwirklicht worden – und gescheitert. Und eben dieses Scheitern führte, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird, in einem zweiten Schritt zum Bau und Betrieb der Vernichtungslager.

Das Stadium einer ordentlichen »Denkschrift für Adolf Hitler« erreichte der Entwurf Schieders nicht. Da sich die Ereignisse geradezu überschlugen, sandten Schieders Auftraggeber die Ergebnisse ihres Brainstormings neun Tage später, am 16. Oktober, in unfertiger Form »an einige wenige uns persönlich bekannte Sachbearbeiter im Auswärtigen Amt und den Ministerien des Inneren, für Wissenschaft und für Landwirtschaft zum persönlichen Gebrauch«.[4] Das Beispiel zeigt, wie sich die osmotische Ausbreitung und der kapillare Aufstieg der mörderischen Ideen in den Jahren 1939 bis 1942 vollzogen, wie bis heute durchaus renommierte und – betrachtet man ihr Gesamtwerk – auch verdienstvolle Wissenschaftler daran mitarbeiteten, wie es ihnen gelang, die vage nationalsozialistische Weltanschauung als gnadenlos instrumentalisierte Vernunft zu reformulieren und in praxisorientierte Programme zu verwandeln.

Wie schon der Vertreibungsplan Schieders, der nur einer von mehreren war, exemplarisch zeigt, traf die Politik des Umsiedelns die Juden in ihrer Gesamtheit ungleich härter als die Polen: Die Juden wurden sehr schnell fast vollständig enteignet, darüber hinaus mussten sie nicht nur deutschstämmigen Siedlern, sondern auch polnischen Vertriebenen weichen. Wo immer in den folgenden Monaten beim Heim-ins-Reich der Volksdeutschen Schwierigkeiten auftraten, Häuser, Geld, Hausrat und Arbeitsplätze für »rückgesiedelte« Deutsche oder für »abgesiedelte« Polen fehlten oder »ausgetauschte« Rumänen unterzubringen waren, wurden die Angehörigen der jüdischen Minderheit Europas noch schneller beraubt, zusammengepresst, an die Peripherie der jeweiligen Städte und Regionen verjagt.

Da die Neuansiedlung der Deutschen immer mit ökonomischer Rationalisierung verbunden war, mussten für eine deutsche Familie zwei, oft auch drei fremdvölkische – so der Terminus technicus – weichen. Darüber hinaus sollten riesige Truppenübungsplätze angelegt und aus den ländlichen Armutsregionen des Reiches etwa 300000 Kleinbauernfamilien in den Osten »verpflanzt« und dort auf 20-Hektar-Höfen eingesetzt werden. Aus diesen ganz unterschiedlichen Projekten errechnete sich schon im Winter 1940/41 die Gesamtzahl von fünf Millionen Menschen, die kurzfristig vertrieben werden sollten.

Die Mitarbeiter der Vertreibungsbehörden blieben weit dahinter zurück – nach den Angaben Eichmanns hatten sie »in der Zeit vom Oktober 1939 bis März 1941 (…) insgesamt 408525 Polen und Juden aus den eingegliederten Ostgebieten in das Generalgouvernement evakuiert«.[5] Infolgedessen saßen schon im Winter 1940/41 eine Viertelmillion volksdeutscher »Heimkehrer« in 1500 Umsiedlerlagern fest, die in den östlichen und südlichen Regionen des Deutschen Reiches eingerichtet werden mussten. Auch der Vertrag mit Italien, in dem die Umsiedlung von 200000 Südtirolern vereinbart worden war, konnte nur teilweise erfüllt werden. So entstand ein ständig zunehmender – von Himmler und seinen Mitarbeitern selbst verursachter – Druck zur Entwicklung immer umfassenderer Enteignungs- und Deportationspläne.

Für die Praktiker blieb stets offen, wie, wann und wohin deportiert werden sollte. Das führte im September 1941, als es bereits um Massendeportationen in die neu eroberten sowjetischen »Räume« ging, zu der an Eichmann gerichteten, vom Leiter der Umwandererzentralstelle Posen/Litzmannstadt gestellten Frage: »Wesentlich ist dabei, was nun mit diesen ausgesiedelten, für die großdeutschen Siedlungsräume unerwünschten Volksteilen endgültig geschehen soll, ob das Ziel darin besteht, ihnen ein gewisses Leben für dauernd zu sichern, oder ob sie völlig ausgemerzt werden sollen.«[6]

Wie Himmler hatte auch Reinhard Heydrich eine Doppelfunktion. Seine spezielle Zuständigkeit für »die Lösung der Judenfrage« ist bekannt und vielfach beschrieben. Weniger genau sind seine ineinandergreifenden Zuständigkeiten für die ihm unterstehende Einwandererzentralstelle (EWZ) und die Umwandererzentralstelle (UWZ) untersucht. Heydrich wirkte einerseits mit am Heim-ins-Reich der ethnischen Deutschen aus Ost- und Südosteuropa und organisierte andererseits die zu ihrer Ansiedlung erforderlichen »Räumungsmaßnahmen«. Deshalb schuf er im Dezember 1939 Eichmanns Referat IVD4 (später: IVB4). Es war bis zum Sommer 1941 für die Umsiedlung von Polen, dann auch von Serben, Kroaten und Slowenen ebenso zuständig wie für die Deportation der Juden: Das Referat trug 1940 die Bezeichnung »Auswanderungs- und Räumungsangelegenheiten«.

Einem Mann wie Oswald Pohl unterstanden eben nicht nur die gesamte KZ-Verwaltung und ein immer weiter ausuferndes SS-Wirtschaftsimperium; gleichzeitig sah sich Pohl 1940/41 mit den wachsenden Schwierigkeiten der »Platzschaffung« für die in den Umsiedlerlagern internierten, immer unzufriedeneren Volksdeutschen konfrontiert – in seiner Eigenschaft als Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Ansiedlungsgesellschaft. Auch sind es keine biographischen Zufälle, wenn die Personen, die monatelang für die Vertreibung von Polen verantwortlich zeichneten, in den folgenden Jahren den Mord an den europäischen Juden mitorganisierten: Eichmanns Mitarbeiter Dieter Wisliceny, später Judenberater an der Deutschen Botschaft in Bratislava, organisierte im Frühjahr 1940 die Aussiedlung der Polen aus Gnesen im Warthegau. Franz Abromeit, später Judenberater in Zagreb, leitete 1939 bis 1941 die Aussiedlung der Polen aus Danzig-Westpreußen. Der Mitarbeiter der UWZ Lodz, Siegfried Seidl, der sich das ganze Jahr 1940 über mit der »Platzschaffung für Wolhyniendeutsche« beschäftigte, wurde 1942 Kommandant des KZs Theresienstadt. Sein unmittelbarer Vorgesetzter, Hermann Krumey, reiste 1944 zusammen mit Eichmann und Wisliceny nach Budapest, um dort die Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz zu steuern. Herbert Otto, ein anderer Mitarbeiter Krumeys, wurde im Juli 1942 zur Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Prag versetzt.[7] Ende 1941 wurden mehrere Mitarbeiter der UWZ Lodz in das nahe gelegene Vernichtungslager Chełmno (Kulmhof) abgeordnet, wo sie sich unmittelbar an der Ermordung der Juden beteiligten.[8] Seit dem Dezember 1941 gehörte zum »Aufgabenbereich der Umwandererzentralstelle« eben beides: die Umsiedlung der Polen und die »Durchführung von Zweckmaßnahmen gegen Juden und Asoziale«, wie es einer der dort beschäftigten SS-Männer ausdrückte.[9]

Wenn in der deutschen Verwaltung seit dem Herbst 1941 von Judenaussiedlung, -umsiedlung und -evakuierung gesprochen wurde und – jetzt – Mord gemeint war, so ist das nicht allein als Tarnung zu verstehen, sondern auch als Hinweis auf die Genesis des Holocaust.

Quellenlage

Der Zusammenhang blieb lange Zeit auch deshalb verborgen, weil die Tätigkeit Himmlers als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums nicht systematisch untersucht worden ist. Die unbefriedigende Erforschung der Dienststellen und Abteilungen des RKF im Einzelnen sowie ihres Zusammenwirkens untereinander und mit anderen Behörden ist umso verwunderlicher, als die Quellenlage ungewöhnlich gut ist.[1] Außerdem fällt ins Auge, wie nahe die Leiter der Umsiedlungsbehörden und -planungsstäbe den höchsten Verantwortlichen Hitler, Göring und Himmler standen.[2] Wenn zudem feststeht, dass die deutschen Bevölkerungspolitiker die Schwierigkeiten, die ihnen beim Heim-ins-Reich der Volksdeutschen entstanden, auf Kosten der Juden überwinden wollten, dann muss die gesamte Politik der »ethnischen Flurbereinigung« untersucht werden, will man den politischen Prozess nachzeichnen, der schließlich zum Mord an den europäischen Juden führte. Bereits am 17. Januar 1940 benannte Eichmann »die Schwierigkeiten, die aus der Wechselwirkung zwischen Ansetzung der Volksdeutschen und Evakuierung der Polen und Juden entstehen«.

Die Untersuchung jener Wechselwirkung blieb den Historikern – mich eingeschlossen –, die sich dem Thema »Holocaust« widmeten, versperrt, weil wir die aus Osteuropa »heimgeholten« Volksdeutschen zum Milieu der Täter rechneten. Sie galten uns bestenfalls als gedankenlose Profiteure der Geschichte. Die Darstellung ihres Schicksals blieb wenigen Wissenschaftlern, oft eher den Heimatkundlern einzelner Volksgruppen vorbehalten. Fast immer schwiegen sie über die Umstände der Ansiedlung, über die Enteignung und Vertreibung der Alteingesessenen.[3] Umgekehrt erschien allein die Vorstellung abwegig, man könne irgendetwas über die Entscheidungsgeschichte zum Holocaust erfahren, wenn man die Umsiedlung der Volksdeutschen analysiere.

Solche Vorbehalte bewirkten, dass die zahllosen Dokumente, die über die Umsiedlung deutscher Minderheiten erhalten sind, im Hinblick auf den Mord an den europäischen Juden nicht einmal gelesen wurden. Mögen viele der deutschstämmigen Zwangsumsiedler subjektiv noch so sehr mit dem Dritten Reich sympathisiert haben und selbst aktive Nazis gewesen sein, so blieben sie doch Objekte der Machtpolitik. Der einzelne Volksdeutsche wurde nicht gefragt. Seiner »Option für Deutschland« lag keine wirkliche Entscheidungsfreiheit zugrunde. Wenn auch mit völlig unterschiedlichen Methoden und in entgegengesetzte Richtungen, wurden diese Heimkehrer, wie Himmler sie beschönigend nannte, doch auf demselben bevölkerungspolitischen Rangierbahnhof verschoben wie die Auszusiedelnden.

Der Erfolg derjenigen, die im Apparat Himmlers die Ansiedlung der Volksdeutschen zu bewerkstelligen hatten, hing unmittelbar davon ab, wie schnell es Eichmann gelang, die »Fremdvölkischen« abzutransportieren. Bis zum Herbst 1941 konnte er die Deportationsfristen und -quanten nie einhalten, die er in unzähligen gemeinsamen Sitzungen mit seinen Kollegen von der Einwandererzentralstelle und von der Abteilung »Menscheneinsatz« des RKF immer wieder neu festlegen und zugestehen musste. Dabei ging es immer auch um die Juden.

Deshalb erwies es sich als sinnvoll, das umfangreiche Schriftgut, das sich zur Um- und Ansiedlung der Volksdeutschen in den Archiven findet, unter dieser Fragestellung durchzuarbeiten. Zum einen ging es mir dabei um die Rekonstruktion eines sehr konkreten, für die Analyse zwingend notwendigen, ereignisgeschichtlichen Zusammenhangs, zum anderen um ein quellentechnisch begründetes Verfahren. Da die zentrale Aktenregistratur Eichmanns für die Zeit nach 1939 vollständig verbrannt wurde, müssen ohnehin sämtliche Dokumente über die Tätigkeit seiner Abteilung in den Überlieferungen anderer Behörden und Ämter gesucht werden. Es ist nur logisch, sie dort zu suchen, wo diejenigen arbeiteten, die ständig versuchten, die Abschiebung zu beschleunigen. Bei näherem Hinsehen stellte sich zudem heraus: Die Repräsentanten der für die Ansiedlung der Volksdeutschen zuständigen Behörden protokollierten nicht nur, was man im Referat »Auswanderung und Räumung« dachte, sie entwickelten selbst Ideen, wie diese Räumung beschleunigt werden könne.

Trotz ähnlicher Ansätze in Elsass-Lothringen und später im annektierten Teil Sloweniens blieb das besetzte Polen – und dort in erster Linie der Warthegau – das mit Abstand wichtigste, aber auch umstrittenste Exerzierfeld deutscher Umsiedlungspolitik. Deshalb finden sich die aussagekräftigsten Aktenstücke, aus denen sich die Weiterentwicklung der Judenpolitik während des Krieges rekonstruieren lässt, in den Hinterlassenschaften jener Kanzleien und Ämter, die in Posen, Lodz, Warschau und Krakau in unterschiedlicher Weise für die Umsiedlung zuständig waren.

Die wohl wichtigsten Urkunden – etwa tausend Akteneinheiten der Umwandererzentralstelle Posen/Litzmannstadt (Lodz) – sind im Warschauer Archiv der Hauptkommission zur Verfolgung der Hitlerverbrechen verwahrt. Sie enthalten Hunderte von Aktenvermerken, Fernschreiben und Protokolle Eichmanns und seiner Mitarbeiter. Die Akten sind seit Jahrzehnten für jedermann zugänglich. Ausgewertet wurden sie in den 1960er Jahren aus polnischer, betont nichtjüdischer Perspektive. Demgegenüber verzichtete Hans Safrian, Autor des im Übrigen außerordentlich hilfreichen, im Folgenden vielfach zitierten Buches »Die Eichmann-Männer«, aus unerfindlichen Gründen ganz auf die Benutzung dieser für seine Arbeit zentralen Überlieferung. Das bedeutet: Historiker isolierten – aus unterschiedlichen Motiven – einzelne Fragestellungen vom offenkundigen Gesamtzusammenhang und begaben sich damit der Möglichkeit, die Himmler’sche Rassen- und Umsiedlungspolitik in ihrer komplexen Gesamtheit und aus ihrer inneren Logik heraus zu analysieren.

Was für den Quellenfundus in Warschau gilt, trifft prinzipiell auch für die umfangreichen einschlägigen Bestände im Bundesarchiv zu: Es sind diejenigen der Volksdeutschen Mittelstelle, der Einwandererzentralstelle, des Stabshauptamts des RKF und des Deutschen Auslandsinstituts, das Himmler 1940 mit der Dokumentation des gesamten »Siedlungswerks« beauftragte. Hinzu kommen die erst seit 1991 zugänglichen umfangreichen Akten der Deutschen Umsiedlungs-Treuhand-Gesellschaft m.b.H. in der Dienststelle Potsdam des Bundesarchivs. Die Archivverwaltung der DDR hatte sie jahrzehntelang sekretiert, um eventuelle polnische Regressforderungen zu verhindern. Auch diese Akten wurden bestenfalls unter spezifischen volksgruppen- und institutionsgeschichtlichen Fragestellungen gelesen, nicht aber als komplementäre Überlieferung zur Entscheidungsgeschichte des Holocaust begriffen und ausgewertet.[4]

Darstellung

Im Gegensatz zur ideologisierten Sprache der deutschen Ethnokraten bezeichneten sich etwa die »Baltendeutschen« selbst als Deutschbalten. Die »Volksdeutschen« begriffen sich über Jahrhunderte als (loyale) Angehörige der Staaten, in denen sie lebten. Sie verstanden sich bis 1918, so sie in Meran, Lemberg oder Czernowitz wohnten, als Bürger der österreichisch-ungarischen Monarchie – nicht als Angehörige eines »deutschen Volkes«.

Selbstverständlich wurden etwa die Wolhyniendeutschen, die man nun in den Warthegau »verpflanzte«, nicht »rückgesiedelt« oder »repatriiert«. Dennoch übernehme ich solche Begriffe als Termini technici der Zeit und stelle nur gelegentlich – gewissermaßen zur Erinnerung – die notwendige Distanz zum Vokabular der Volkstumspolitiker her. Die Rechtschreibung der vorliegenden überarbeiteten Ausgabe von 2017 folgt den zu dieser Zeit gültigen Regeln – auch in den Zitaten.

Den folgenden Text unterbrechen vier Chronologien, die mir aus mehreren Gründen notwendig erscheinen. Zum einen bin ich davon überzeugt, dass die Vorgeschichte des Holocaust so detailreich wie irgend möglich rekonstruiert werden muss. Zum anderen ist der Ansatz neu. Auch das verpflichtet, das empirische Material umfassend auszubreiten. Zudem machen die Chronologien die Parallelität verschiedener Ereignisse ebenso sichtbar wie die widersprüchlichen, auch parallelen Reaktionen ganz unterschiedlicher Funktionäre des politischen Apparats.

Darüber hinaus ist die chronologische Darstellung des historischen Stoffs im Hinblick auf eine weitere Überlegung sinnvoll: Wenn es sich bei der Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden nicht um einen jähen, voluntaristischen Akt handelte, sondern um einen politischen Entscheidungsprozess, der sich über viele Monate hinzog, an dem sich Personen ganz unterschiedlicher Funktion und hierarchischer Stellung beteiligten, dann ist jedes einzelne Stadium, jedes Argument von Interesse.

Im Winter 1944/45 verbrannten die Täter die meisten Zeugnisse ihres mörderischen Vorgehens. Nur wenige Dienststellen konnten die zentralen Befehle zur Aktenvernichtung nicht mehr befolgen. Immerhin wurde das Protokoll der Wannseekonferenz in einer Auflage von 30 Exemplaren vervielfältigt – nur ein Exemplar blieb zufällig erhalten. Die Existenz etwa einer »Denkschrift zur Aussiedlung aller Polen«, eines im März 1941 schriftlich ausgearbeiteten Plans zur Deportation der europäischen Juden in die zu besetzende Sowjetunion, ist belegt – die Dokumente selbst sind verschwunden. Darüber hinaus ergeben sich aus den Akten vielfältige Hinweise darauf, dass wichtige Angelegenheiten aus Gründen der Geheimhaltung häufig mündlich entschieden und ausdrücklich nicht protokolliert wurden.

Soweit die Tatbeteiligten nach 1945 überhaupt vernommen wurden, hatten sie sich recht erfolgreich auf gemeinsame Strategien der Lüge, des Leugnens und Schweigens verständigt. Dennoch gelang es ihnen nicht, wesentliche, zum Teil winzige Indizien aus der Welt zu schaffen. Richtig interpretiert, erlauben diese Rückschlüsse auf die mehrschichtigen Motive und das arbeitsteilige, durchaus nicht reibungslose Zusammenwirken jener, die sich an den Diskussionen und politischen Entscheidungen beteiligten, die schließlich den Mord an den europäischen Juden zum Ergebnis hatten.

IJudenpolitik, Krieg und Umsiedlung

Abschiebezonen

Bis Kriegsbeginn versuchten die deutschen Behörden, den Auswanderungsdruck auf die deutschen und österreichischen Juden ständig zu erhöhen. Doch wollte die Reichsregierung die Juden nicht nur vertreiben, sondern zuvor enteignen, obwohl sich die ausländischen Regierungen zunehmend weigerten, Flüchtlinge – zumal völlig mittellose – ins Land zu lassen. Damit verbaute sie sich die Wege zur Realisierung ihres Ziels zunehmend selbst,[1] erst recht seit Beginn des deutschen Angriffskriegs gegen Polen.

In dieser Situation schwenkte Heydrich sofort um: Anstelle der Zwangsauswanderung räumte er nun der Abschiebung an den äußersten Rand des deutschen Machtbereichs Priorität ein. Das bedeutete aber, dass die Juden – wie ausgeplündert und erniedrigt sie auch immer waren – nun nicht mehr in den Hoheitsbereich eines anderen Staates gelangen konnten, sondern dem deutschen Zugriff ausgesetzt blieben.

Wenn auch indirekt, so sprach Heydrich in der Richtlinie vom 21. September 1939 deutlich von der geplanten Bildung eines Judenreservats.[2] Er ordnete an, die Juden einer bestimmten Region an der neuen südostpolnischen Grenze von der generellen »Konzentrierung« deshalb auszunehmen, weil dorthin alle Juden und »Zigeuner« in einen »Judenstaat unter deutscher Verwaltung« deportiert werden sollten. Am selben Tag konkretisierte er dann auch vier Ziele: »a) Juden so schnell wie möglich in die Städte, b) Juden aus dem Reich nach Polen, c) die restlichen 30000 Zigeuner auch nach Polen, d) systematische Ausschickung der Juden aus den deutschen (d.h. ehemals polnischen, G.A.) Gebieten mit Güterzügen.«[3] Am 19. September hatten die Mitglieder des Ministerrats für die Reichsverteidigung unter dem Vorsitz Hermann Görings und im Beisein Heydrichs Pläne erörtert, die vermutlich über den Inhalt der zwei Tage später schriftlich fixierten Richtlinien hinausgingen, aber das Missfallen der Militärs hervorgerufen hatten. Im Kurzprotokoll ist »die Frage der Bevölkerung des zukünftigen polnischen Protektoratsgebietes und die Unterbringung in Deutschland lebender Juden« festgehalten.[4] Am selben Tag sprachen Heydrich und der Generalquartiermeister des Heeres, Eduard Wagner, über die Möglichkeit, alle Juden aus Deutschland in eine entlegene Ecke des zerstückelten Polen abzuschieben.[5] Doch schon am 22. September, also einen Tag nach Heydrichs Richtlinien zur künftigen Judenpolitik, verlangte der Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, dass Bevölkerungsverschiebungen vorerst unterbleiben und künftig auch nicht von »zivilen Stellen« wie der SS, sondern »von militärischer Seite gesteuert« werden sollten.[6] Angesichts des ihm bekannten Widerstands der Militärs hatte Heydrich die schriftliche Erörterung seines Plans zurückgestellt, auch die deutschen, österreichischen und tschechischen Juden in eine südöstliche oder östliche Ecke des künftigen Generalgouvernements zu deportieren. Auf Druck von Brauchitschs revidierte Himmler Heydrichs Anordnung vom 21. September am 1. Oktober. Demnach durften die SS-Einsatzgruppen vorerst »nur vorbereitende Maßnahmen« zur Konzentrierung und Deportierung der Juden »auslösen«, mit allem Weiteren mussten sie bis »zu einem späteren Zeitpunkt« warten.[7]

Der Übergang von der Militär- zur Zivilverwaltung im besetzten Polen, offiziell am 26. Oktober 1939 besiegelt, bedeutete für die Juden nichts Gutes. Denn dadurch gewann das – zivile – Reichssicherheitshauptamt erheblichen Handlungsspielraum.[8] In den Worten Goebbels’: »In Polen soll die Militärverwaltung möglichst schnell durch Zivilverwaltung abgelöst werden. Die Militärstellen sind zu weich und zu nachgiebig. Und bei den Polen wirkt nur Gewalt.«[9]

Mit Kriegsbeginn hatte sich die Judenpolitik grundlegend verändert. An die Stelle der Zwangsemigration wurde die Politik der Deportation gesetzt – genauer: der Deportationspläne. Das geschah nicht in erster Linie wegen der etwa 350000 Juden, die damals noch in Deutschland, Österreich, Böhmen und Mähren lebten, sondern weil mit jedem militärischen und wirtschaftlichen Expansionsschritt immer wieder neue Juden in die deutsche Machtsphäre gerieten: nicht mehr Hunderttausende, sondern Millionen.

Zwischen September 1939 und September 1941 erweiterten die Deutschen ihren Herrschaftsbereich viermal: Der Unterwerfung und Aufteilung Polens im September 1939 folgten, abgesehen von der im Zusammenhang dieses Buches nicht wichtigen Besetzung Dänemarks und Norwegens, die Eroberung der Benelux-Staaten und Frankreichs im Frühsommer 1940, dann im Sommer 1940 die »friedliche« Unterwerfung Südosteuropas als »Wirtschaftsraum des deutschen Volkes« (abgesichert im Krieg gegen Jugoslawien und Griechenland im Frühjahr 1941) und schließlich der Krieg gegen die Sowjetunion, der vom Winter 1940/41 an vorbereitet wurde. Alle vier Expansionsschritte beeinflussten unmittelbar die Pläne zur Juden- wie zur Umsiedlungspolitik. Die Besatzungskonzepte für Polen, für Frankreich und später für die Sowjetunion glichen sich – bei aller Unterschiedlichkeit – in ihrer Anfangsphase in einem Punkt: Jedes Mal wurden die eroberten Länder dreigeteilt – in eine annektierte oder doch wenigstens zur Germanisierung vorgesehene Region, in ein Besatzungsgebiet und in eine periphere Zone minderen Interesses. Das geschah zunächst im besetzten Polen in Gestalt der eingegliederten Ostgebiete, des Generalgouvernements und des dort vorgesehenen östlichen Reservats für »Unerwünschte«; desgleichen wurden Teile Frankreichs und Belgiens sofort, wenn auch nicht de jure, von Deutschland annektiert, weitere Teile (etwa Burgund) zur Annexion vorgesehen und neben der besetzten die unbesetzte Zone geschaffen; Ähnliches galt für die Besatzungskonzeption, wie sie im Frühjahr und Sommer 1941 für die Sowjetunion entwickelt wurde.

Die Einwohner der peripheren Zonen sollten – soweit sie nicht zur Zwangsarbeit herangezogen würden – sich selbst überlassen bleiben. Ohne Verantwortung der Deutschen für den Lebensunterhalt, aber doch in dem von der Siegermacht bestimmten militärischen und polizeilichen Rahmen, sollten die Menschen dort ihr Leben unter miserablen Umständen fristen. Zusätzlich wollten die deutschen Bevölkerungspolitiker in jene Zonen minderen Interesses »überzählige«, »lästige« und »unerwünschte« Menschen abschieben. So notierte der frühere Krupp-Direktor Wilhelm Muehlon am 19. Juli 1940 im schweizerischen Exil: »Frankreich sieht mit Schrecken und Befürchtungen das unbesetzte Gebiet, in dem sich Millionen Flüchtlinge und demobilisierte Soldaten nicht in ihre Heimat im besetzten Gebiet begeben können, durch ›eine chinesische Mauer‹ abgeschlossen. Die Deutschen äußern sich sehr ungerührt, dass Frankreich die Folgen seiner Sünden zu tragen habe, und erinnern an die französischen Härten im Hunger leidenden Deutschland nach dem Weltkrieg.«[10]

Konzeptionell war die Peripherie des deutschen Imperiums immer auch als Abschiebeterritorium für Juden vorgesehen. In diesem Sinne war es folgerichtig, dass einige tausend Wiener und Stettiner Juden und mehrere zehntausend westpolnische Juden 1939/40 ins östliche Generalgouvernement abgeschoben, dass die badischen, saarpfälzischen, elsässischen und lothringischen Juden im Herbst 1940 ins unbesetzte Frankreich deportiert wurden. Solche Abschiebungen vollzogen die deutschen Ethnokraten nicht isoliert, sondern parallel zu umfangreicheren Vertreibungen bestimmter Gruppen der polnischen und französischen Bevölkerung.

Doch sowohl für das besetzte Polen als auch für das nicht besetzte Frankreich änderten die deutschen Besatzungsfunktionäre diese Konzeption sehr rasch. Sie taten dies aus ökonomischen Gründen mit dem Ziel, auch diese Regionen für die deutsche Kriegswirtschaft nutzbar zu machen. Sie verringerten so selbst die Möglichkeit zur Abschiebung und versuchten, den Interessenkonflikt – zunächst – mithilfe immer ausgreifenderer Eroberungs- und Deportationspläne zu überwinden.

Bei allem Unterschied zu Auschwitz ist festzuhalten: Jeder der deutschen Deportationspläne der Jahre 1939 bis 1941 schloss das Sterben zehntausender, später hunderttausender Menschen ein. Die Planer der Deportationen wussten sich darin einig, dass viele Juden im Zuge ihrer Umsiedlung, noch dazu unter dem Deckmantel des Krieges, durch Hunger, Zwangsarbeit, mangelhafte medizinische Versorgung und deutsche Polizeiherrschaft elend sterben sollten. Die völlige materielle Entblößung, Wintertransporte zu Fuß oder in ungeheizten Güterwagen, schließlich die Ankunft der Transporte in unkultivierten, unfruchtbaren Regionen sollten Menschenleben erklärtermaßen nicht schonen. Am 20. November 1939 vertrat SS-Brigadeführer Schmidt gelegentlich einer Inspektionsreise des stellvertretenden Generalgouverneurs Arthur Seyß-Inquart die Meinung, ein bestimmtes ostpolnisches Gebiet eigne sich »mit seinem stark sumpfigen Charakter« als Judenreservat, weil man dort »womöglich eine starke Dezimierung der Juden herbeiführen könnte«.[11] Etwa zur selben Zeit bemerkte Himmler über die polnischen Juden: »Es wird höchste Zeit, dass dieses Gesindel zusammengetrieben wird, in Ghettos, und dann schleppt Seuchen hinein und lasst sie krepieren.«[12] Am 25. November 1939 erklärte Hans Frank seinen Mitarbeitern in Radom, wie er sich den vorgesehenen »großen Konzentrationsraum« vorstellte, den er »östlich der Weichsel« einrichten sollte und (damals noch) wollte: »Bei den Juden nicht viel Federlesens. Eine Freude, endlich einmal die jüdische Rasse körperlich angehen zu können. Je mehr sterben, umso besser.«[13]

Im Dezember 1939 berichtete der Referent des Deutschen Auslands-Instituts, Eduard Könekamp, aus dem besetzten Polen an seine Kollegen in Stuttgart: »Viele Deutsche sehen wohl zum ersten Mal in ihrem Leben Juden in solchen Massen. (…) Die Vernichtung dieses Untermenschentums läge im Interesse der ganzen Welt. Diese Vernichtung ist aber eines der schwierigsten Probleme. Mit Erschießung kommt man nicht durch. Auch kann man auf Frauen und Kinder nicht schießen lassen. Da und dort rechnet man mit Verlusten bei den Evakuierungstransporten, und auf dem Transport von 1000 Juden, der von Lublin aus in Marsch gesetzt wurde, seien 450 umgekommen. (…) Sämtliche mit der Judenfrage befassten Stellen sind sich über die Unzulänglichkeit all dieser Maßnahmen im Klaren. Doch ist eine Lösung des komplizierten Problems noch nicht gefunden.«[14]

Bereits am 24. Oktober 1939 hatte die Londoner Times berichtet und realistisch interpretiert: »In well-informed quarters in this country the German Government’s apparent intention to form a Jewish state in Poland is regarded as a remarkable example of political cynicism. (…) Herr Hitler now proposes to concentrate the 3000000 Jews of Poland in a state which is to be cut out of the body of Poland and will have Lublin for its centre. (…) To thrust 3000000 Jews, relatively few of whom are agriculturists, into the Lublin region and to force them to settle there would doom them to famine. That, perhaps, is the intention.«[15]

»Ethnische Flurbereinigung«

Gemessen an den Zielen scheiterten alle Deportationsprojekte. Mehr als Ansätze ihrer Pläne konnten Heydrich und Eichmann nicht verwirklichen: Statt 30000 Sinti und Roma wurden Ende April 19412800 abgeschoben; die Ghettoisierung der Juden gelang in höchst unterschiedlicher Weise;[1] von den 350000 Juden, die als Reichsjuden galten, wurden bis zum Sommer 1941 etwa 15000 deportiert; von den 550000 Juden, die in den eingegliederten Ostgebieten lebten, etwa 110000.

Kaum beschlossen, stieß die im Herbst 1939 vorgesehene Vertreibung der Juden an die deutsch-sowjetische Interessengrenze nicht allein auf erhebliche technische Probleme und den zunehmenden Widerstand der deutschen Zivilverwaltung im Generalgouvernement. Sie konnte vor allem deshalb nicht realisiert werden, weil unvorhergesehene Entwicklungen die ursprüngliche Planung zunichtemachten: Sie ergaben sich aus dem Heim-ins-Reich der ethnischen Deutschen aus Osteuropa und Südtirol, zu dem sich die deutsche Führung 1939 verpflichtet hatte. Gemäß diesem Vertrag und weiterer, ähnlicher Verträge mit der Sowjetunion und Rumänien wurden in den folgenden 15 Monaten eine halbe Million sogenannter Volksdeutscher in das mithilfe von Annexionen erweiterte Großdeutsche Reich umgesiedelt. Von nun an musste für sie »Platz geschaffen werden«. Eine Aufgabe, die Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich und bald auch Adolf Eichmann oblag. In seiner Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939 erklärte und begründete Hitler die neuen Zielsetzungen ethnischer Politik. Auch wenn er sie als eigenständige »wichtigste Aufgabe« propagierte, wird in dem einleitend genannten Begriff »Interessensphäre« doch der machtpolitische Hintergrund deutlich. Die bereits verabredete, aber zu diesem Zeitpunkt öffentlich noch nicht spruchreife Aussiedlung der Südtiroler versteckte Hitler hinter der Formulierung »einer weitschauenden Ordnung des europäischen Lebens«. Wörtlich heißt es in der Rede:

»Die Ziele und Aufgaben, die sich aus dem Zerfall des polnischen Staates ergeben, sind dabei, soweit es sich um die deutsche Interessensphäre handelt, etwa folgende:

die Herstellung einer Reichsgrenze, die den historischen, ethnographischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten gerecht wird;

die Befriedung des gesamten Gebietes im Sinne der Herstellung einer tragbaren Ruhe und Ordnung;

die absolute Gewährleistung der Sicherheit nicht nur des Reichsgebietes, sondern der gesamten Interessenzone;

die Neuordnung, der Neuaufbau des wirtschaftlichen Lebens, des Verkehrs und damit auch der kulturellen und zivilisatorischen Entwicklung;

als wichtigste Aufgabe aber: eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse, das heißt, eine Umsiedlung der Nationalitäten, so dass sich am Abschluss der Entwicklung bessere Trennungslinien ergeben, als es heute der Fall ist.

In diesem Sinne aber handelt es sich nicht nur um ein Problem, das auf den deutschen Raum beschränkt ist, sondern um eine Aufgabe, die viel weiter hinausgreift. Denn der ganze Osten und Südosten Europas ist zum Teil mit nicht haltbaren Splittern[2] des deutschen Volkstums gefüllt. Gerade in ihnen liegt ein Grund fortgesetzter zwischenstaatlicher Störungen. Im Zeitalter des Nationalitätenprinzips und des Rassegedankens ist es utopisch zu glauben, dass man diese Angehörigen eines hochwertigen Volkes ohne Weiteres assimilieren könne. Es gehört daher zu den Aufgaben einer weitschauenden Ordnung des europäischen Lebens, hier Umsiedlungen vorzunehmen, um auf diese Weise wenigstens einen Teil der europäischen Konfliktstoffe zu beseitigen.

Deutschland und die Union der Sowjetrepubliken sind übereingekommen, sich hierbei gegenseitig zu unterstützen.«

Doch schon in dieser ersten Grundsatzerklärung wies Hitler über den Rahmen hinaus, der für ihn mit dem »Zerfall des polnischen Staates« abgesteckt war, und formulierte im zweiten Teil seiner Rede die weitergehenden Absichten für den »Raum«, der nun »westlich der deutsch-sowjetrussischen Demarkationslinie als deutsche Einflusssphäre anerkannt« sei. Dazu gehörten nach Hitler:

»1. Die Schaffung einer Reichsgrenze, die – wie schon betont – den historischen, ethnographischen und wirtschaftlichen Bedingungen entspricht,

2. die Ordnung des gesamten Lebensraums nach Nationalitäten, d.h. eine Lösung jener Minoritätenfragen, die nicht nur diesen Raum berühren, sondern die darüber hinaus fast alle süd- und südosteuropäischen Staaten betreffen.«

Zudem kündigte Hitler an: »In diesem Zusammenhang« sei auch »der Versuch einer Ordnung und Regelung des jüdischen Problems« zu unternehmen.[3]

Am Tag seiner Rede, und zweifelsohne unter dem Eindruck der bereits in die Wege geleiteten Umsiedlung der Baltendeutschen, befahl Hitler ungeachtet der Tatsache, dass die genaue Grenzziehung damals noch nicht feststand, die förmliche Annexion derjenigen westpolnischen Gebiete, die »mit Deutschland vereinigt werden« sollten. Tags darauf übertrug er die praktisch-organisatorische Durchführung der »ethnischen Neuordnung«, die sich zunächst auf die bald annektierten Regionen Westpolens beschränkte, in aller Form auf Heinrich Himmler. Der legte sich den Titel Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) zu und gründete unter derselben Bezeichnung eine Behörde, die die bevölkerungspolitische Aufgabe vorbereiten und in die Tat umsetzen sollte.[4] Zugleich arbeiteten die Diplomaten des Auswärtigen Amts fieberhaft an den Umsiedlungsverträgen mit den nur noch formal selbständigen baltischen Republiken, mit der Sowjetunion und Italien.

Hitlers bevölkerungspolitische Absichtserklärung vom 6. Oktober hatte die Juden- und Volkstumsreferenten des Reichssicherheitshauptamts überrascht. Zwei Tage vor der Unterzeichnung des »Vertraulichen Protokolls« zum deutsch-sowjetischen Vertrag hatte Himmler den Landesleiter der Lettlanddeutschen, Erhard Kroeger, am 26. September empfangen und ihn über das bevorstehende machtpolitische Arrangement zwischen Deutschland und der UDSSR unterrichtet. Zu diesem Zeitpunkt war sicher, dass Lettland und Estland an die Sowjetunion fallen würden. Noch dachte Himmler nicht an eine Aussiedlung aller Baltendeutschen. Er beabsichtigte, lediglich einen Kreis »unmittelbar gefährdeter Deutscher« – aktive Nazis und »Volkstumskämpfer« – in Sicherheit zu bringen. Auch wollte er »gern wehrfähige junge Baltendeutsche in die Waffen-SS übernehmen«. Es war Kroeger, der Himmler ausmalte, wie lebendig die Angst vor dem Bolschewismus in Riga sei, wie gut sich die Deutschen dort an das Massaker vom 22. Mai 1919 erinnerten, »das die abziehenden Bolschewisten noch in letzter Stunde verübt hatten«. Kroeger »schloss mit der Versicherung, dass der allergrößte Teil des baltischen Deutschtums unter bolschewistischer Besatzung im höchsten Maße als bedroht angesehen werden müsse. (…) Keine Volkstumsführung könne es verantworten, einen Teil, wie groß oder wie klein auch immer, als ungefährdet zu bezeichnen und von der Ausreise auszuschließen.«

Himmler versprach, Hitler in der kommenden Nacht zu informieren. Die Entscheidung fiel ad hoc, ohne Vorbereitung so, wie Kroeger sie vorgeschlagen hatte. Allerdings knüpfte Hitler – aus machtpolitischen und militärischen Erwägungen – seine Zustimmung daran, »dass sich die ganze Aktion im Einvernehmen mit der Sowjetregierung vollziehe«. Weiter stand für Himmler bereits an diesem Morgen des 27. September fest: Nach Lage der Dinge komme »nur eine Ansiedlung in den neu zum Reich kommenden Gebieten des bisherigen polnischen Staates in Frage«.[5]

Am nächsten Tag und nach hektischem Telegrammverkehr zwischen dem Auswärtigen Amt und der Deutschen Botschaft in Moskau unterzeichneten von Ribbentrop und Molotow das »Vertrauliche Protokoll« zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag, der am 23. August 1939 abgeschlossen worden war. Die Vereinbarung sah einerseits die »Übersiedlung« der deutschstämmigen Bevölkerung aus der sowjetischen Interessensphäre, also auch aus den formal noch unabhängigen baltischen Republiken vor und andererseits die »entsprechende« Umsiedlung von »Personen ukrainischer und weißrussischer Abstammung« aus Ostpreußen und aus dem deutsch besetzten Teil Polens. Der Wortlaut des Protokolls suggerierte einen »Minderheitenaustausch« zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Machtbereich. Äußerlich sollten also Deutsche, die in den künftigen Grenzen der Sowjetunion lebten, gegen die ukrainischen und weißrussischen Minderheiten diesseits der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie ausgetauscht werden. Tatsächlich verklausulierte der Begriff Minderheitenaustausch die wahren Absichten der Vertragspartner. Denn die deutschen Unterhändler hatten nach einer Formulierung gesucht, »die der Sowjetunion die Auswanderung in schonender, nicht diskriminierender Weise nahebringen könne«. Die Formel hatte »den einzigen Zweck, es der Sowjetunion zu ermöglichen, das Gesicht zu wahren, und damit die Zustimmung zu erlangen. Denn kein Ukrainer oder Weißrusse begehrte die Heimkehr in die Sowjetunion.«[6] Später bemerkte Himmler zur geheimen deutsch-sowjetischen Abmachung: »Es wurden Interessengrenzen zwischen Deutschland und Russland in einem Vertrag reellster politischer Vernunft gezogen, und es wurde klar niedergelegt, dass die Deutschen, die im russischen Gebiet wohnten, nach Deutschland kamen und umgekehrt Russen und Ukrainer, die nach Russland wollten, dorthin zurückgehen können.«[7]

Die in keiner Weise vorbereitete Umsiedlung von 60000 Menschen wurde im Spätherbst 1939 innerhalb von nur acht Wochen durchgepeitscht. Sie musste die bis dahin erwogenen Annexionsabsichten und die vorgesehenen Formen rassistischer Diskriminierung radikalisieren. Exemplarisch gilt das für die Region Lodz, die ursprünglich nicht annektiert werden sollte. Am Vorabend des Krieges lebten in der Stadt Lodz etwa 500000 Polen und mehr als 200000 Juden. Nachdem sich Göring noch in den ersten Novembertagen »mit einem Verbleib von Kutno und Lodz im Generalgouvernement einverstanden« erklärt hatte[8], wurde Lodz dann auf Betreiben von Werner Lorenz, einem der obersten Umsiedlungsfunktionäre Himmlers, dem Warthegau zugeschlagen. Unter dem Datum vom 13. November heißt es dazu im Diensttagebuch Franks: »Reichsminister Seyß-Inquart berichtet über die Grenzziehung: Der Führer habe sich die endgültige Entscheidung vorbehalten. Das Reichsinnenministerium habe daher nur eine vorläufige Verwaltungsgrenze festgelegt. Hinsichtlich Lodz seien der Generalfeldmarschall (d.i. Göring), das OKW und das Reichsinnenministerium für die Einbeziehung in das Generalgouvernement gewesen; dagegen habe sich der SS-Obergruppenführer Lorenz ausgesprochen.«[9] Letzterer leitete die Volksdeutsche Mittelstelle.[1]

Er organisierte zu diesem Zeitpunkt gerade das Heim-ins-Reich der Baltendeutschen. Da ihm Posen zur Ansiedlung der 60000 meist großstädtischen Umsiedler nicht ausreichend erschien, wollte er zusätzlich Lodz ins Deutsche Reich »eingliedern«. Lorenz setzte sich durch.

Aus anderen Motiven und diesmal auf Druck Görings ereignete sich Ähnliches in Oberschlesien. Nach längeren Streitigkeiten mit der Regierung des Generalgouvernements zogen deutsche Ökonomen die Grenze so, dass die Städte Sosnowitz (Sosnowiec), Bendzin (Będzin) und Dombrowa (Dąbrowa Górnicza) wegen der dort gelegenen Kohlegruben ebenfalls zum Deutschen Reich geschlagen wurden. Auch hier lebten 100000 Juden, weit mehr als im ganzen übrigen Oberschlesien.

Auch ein Dreivierteljahr später war noch nicht »endgültig« entschieden, ob Lodz und die Region Dombrowa nun zum Reich gehörten.[10] Die formelle Entscheidung traf Hitler nie. Selbst der mächtige Vertreter Himmlers in Posen, der Höhere SS- und Polizeiführer Wilhelm Koppe, musste im Juli 1940, als er die Abschiebung der Lodzer Juden durchsetzen wollte, gegenüber Hans Frank, dem Chef der Regierung des Generalgouvernements in Krakau, zu folgendem Argument Zuflucht nehmen: »Nachdem der Führer der vormaligen Stadt Lodz den Namen Litzmannstadt erteilt habe, (sei) jeder davon überzeugt, dass diese Stadt endgültig zum Warthegau gehöre und bei ihm bleiben werde.«[11]

Der Vorgang zeigt, wie die damalige deutsche Führung »vorläufige« Entscheidungen traf, wie Hitler reale Interessendivergenzen als, so könnte man sagen, ideeller Gesamtpolykrat zu überwinden suchte, und wie die Folgen solcher »Entscheidungen«, die keine waren, im Fall »Lodz« auf die große jüdische Minderheit der Stadt abgewälzt wurden.

Ähnliches gilt hinsichtlich der Kompetenzen des künftigen Generalgouverneurs Hans Frank, so wie sie Hitler im Herbst 1939 festlegte. Der Erlass des Führers und Reichskanzlers vom 27. September 1939 umfasste neun kurze Paragraphen. In Paragraph 3 deklarierte Hitler, »der Generalgouverneur untersteht mir unmittelbar«; in Paragraph 5 hieß es, der Ministerrat für die Reichsverteidigung und der Beauftragte für den Vierjahresplan »können (neben Frank) durch Verordnung Recht setzen«; in Paragraph 6 erlaubte Hitler allen Obersten Reichsbehörden »Anordnungen, die für die Planung des deutschen Lebens- und Wirtschaftsraumes erforderlich sind, auch für die dem Generalgouverneur unterstellten Gebiete (zu) treffen«; nach Paragraph 7 bedurfte der Haushaltsplan des angeblich Hitler »unmittelbar« unterstehenden Generalgouverneurs »der Genehmigung des Reichsministers der Finanzen«, und schließlich regelte der Paragraph 8: »Zentralstelle für die besetzten polnischen Gebiete ist der Reichsminister des Innern«, er habe »die zur Durchführung und Ergänzung dieses Erlasses erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften« festzulegen.[12]

Der wichtigste Punkt, dass nämlich schon in naher Zukunft hunderttausende »Fremdvölkische«, ausgerüstet nur mit einer Decke und einem Mundvorrat für wenige Tage, ins Generalgouvernement abgeschoben werden sollten, wird in dem Erlass nicht erwähnt. Dabei stand am 27. September 1939, an dem die schnelle Baltenumsiedlung innerhalb von Stunden beschlossen worden war, genau das fest. »Die Entwicklung im ehemaligen Polen«, so erklärte Heydrich, »ist zunächst so gedacht, dass die ehemaligen deutschen Provinzen deutsche Gaue werden und daneben ein Gau mit fremdsprachiger Bevölkerung mit der Hauptstadt Krakau geschaffen wird. (…) Als Siedlungskommissar für den Osten wird RFSS (d.i. Himmler, G.A.) eingesetzt. Die Judendeportation in den fremdsprachigen Gau (d.i. das später so bezeichnete Generalgouvernement, G.A.) ist vom Führer genehmigt. Jedoch soll der ganze Prozess auf die Dauer eines Jahres verteilt werden.« Diese Verzögerung war neu, eine Folge der plötzlichen Entscheidung, die Baltendeutschen umzusiedeln.

Allerdings ging Heydrich zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, er werde etwa 170000 Juden aus den neu annektierten polnischen Gebieten ins Generalgouvernement zu deportieren haben. Nur wenige Wochen später, mit der zusätzlichen Annexion der Regionen Lodz und Dombrowa, waren es – aus Gründen, die nichts mit der Judenpolitik zu tun hatten – 550000 Juden geworden. Die Anzahl der Juden, die aus den »neuen Reichsgebieten« vertrieben werden sollte, hatte sich infolge dieser Entscheidungen binnen sechs Wochen verdreifacht, während das Abschiebeterritorium Generalgouvernement dadurch verkleinert und weit überproportional industriell und landwirtschaftlich geschwächt worden war.

Während die polnische Führungsschicht, nach Heydrich etwa drei Prozent aller Polen, in KZs »unschädlich gemacht werden« sollte, galt für die Mehrzahl der Polen ein noch nicht genau festgelegtes, regional differenziertes Verfahren: »Die Einsatzgruppenleiter«, so Heydrich, »haben Überlegungen anzustellen, wie man einerseits die Arbeitskraft der primitiven Polen in den Arbeitsprozess eingliedert, andererseits sie aber auch gleichzeitig aussiedelt. Ziel ist: Der Pole bleibt der ewige Saison- und Wanderarbeiter, sein fester Wohnsitz muss in der Gegend von Krakau liegen.«[13]

Zwei Tage später vermerkte Heydrich, dass nicht, wie ursprünglich vorgesehen, »südöstlich von Krakau« ein »Judenreservat«, sondern im »Raum hinter Warschau und um Lublin« ein »›Naturschutzgebiet‹ oder ›Reichs-Ghetto‹ geschaffen werden« solle, für »all die polnischen und jüdischen Elemente (…), die aus künftigen deutschen Gauen ausgesiedelt werden müssen«.[14] Bereits am 29. September war also die ursprüngliche Reservatsidee unter den Auspizien der neuen Umsiedlungspolitik in der Weise verändert worden, dass sie nun nicht mehr allein für »jüdische Elemente« galt, sondern auch für auszusiedelnde nichtjüdische Polen. Zunächst sogar bevorzugt für Letztere, denn am 9