Höllenjagd - Clive Cussler - E-Book

Höllenjagd E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Isaac Bell, der erfolgreichste Kopfgeldjäger der USA, heftet sich an die Fersen eines brutalen Bankräubers, dessen Weg von Leichen gepflastert ist. Die Presse nennt diesen Verbrecher, der nie einen Zeugen am Leben lässt, den „Schlächter“. Kompromisslos setzt sich Bell auf die Spur seiner Beute, immer näher rückt er dem „Schlächter“ – bis dieser plötzlich den Spieß umdreht und aus dem Jäger der Gejagte wird ...

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Clive Cussler

Höllenjagd

Roman

Aus dem Englischen von Bernhard Kempen

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Chase« bei Putnam, New York.

1. Auflage

E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © 2007 by Sandecker, RLLLP

All rights reserved by the Proprietor throughout the world

By arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Peter Thannisch

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15190-4

www.blanvalet.de

Für Teri, Dirk und Dana

Für die liebevollsten Kinder, mit denen ein Vater gesegnet sein kann

Geist aus der Vergangenheit

15. April 1950

Flathead Lake, Montana

Es stieg aus der Tiefe empor wie ein böses Monster aus einem Ozean des Mesozoikums. Ein Vorhang aus grünem Schleim verhüllte das Führerhaus und den Kessel. Graubrauner Schlamm vom Grund des Sees glitt von den zwei Meter hohen Rädern und platschte in das kalte Wasser. Während sie langsam an die Oberfläche kam, hing die alte Dampflokomotive für einen Moment an den Seilen eines riesigen Krans, der auf einem Holzschiff montiert war. Durch den tropfenden Schmutz war unterhalb des offenen Seitenfensters im Führerhaus immer noch die Nummer 3025 sichtbar.

Die 3025, von den Baldwin Locomotive Works in Philadelphia gebaut, war am 10. April 1904 aus der Fabrik gerollt. Die »Pacific«-Klasse war ein weit verbreitetes Dampflokmodell mit großen Antriebsrädern, die zehn Personenwagen mit einer Geschwindigkeit von über einhundertvierzig Stundenkilometern ziehen konnte. Sie war auch als 4-6-2 bekannt, wegen ihres vierrädrigen Drehgestells direkt hinter dem Gleisräumer, den sechs Antriebsrädern unterhalb des Kessels und den zwei kleineren hinter dem Führerhaus.

Die Schiffscrew beobachtete ehrfürchtig, wie der Kranführer die Hebel betätigte und die alte 3025, deren Gewicht das Boot zehn Zentimeter tiefer ins Wasser drückte, sanft auf das Hauptdeck absetzte. Sie stand fast eine Minute lang da, bevor die sechs Männer ihr Erstaunen abschüttelten und die Seile lösten.

»Dafür, dass sie gut fünfzig Jahre unter Wasser gelegen hat, ist sie in bemerkenswert gutem Zustand«, stellte der Bergungsleiter des heruntergekommenen Schiffs fest, das beinahe so alt war wie die Lokomotive. Seit den zwanziger Jahren war es für Baggerarbeiten auf dem See und den umliegenden Flüssen im Einsatz.

Bob Kaufman war ein großer, freundlicher Mann, der stets zum Lachen aufgelegt war. Sein Gesicht war von zahllosen Stunden in der Sonne gerötet, und er arbeitete bereits seit siebenundzwanzig Jahren auf dem Schiff. Mit siebenundfünfzig hätte er längst in Pension gehen können, aber solange ihn die Baggerfirma behalten wollte, arbeitete er weiter. Zu Hause zu sitzen und Puzzles zusammenzusetzen war nicht seine Vorstellung von einem guten Leben.

Er betrachtete den Mann, der neben ihm stand und nach seiner Einschätzung etwas älter war als er.

»Was denken Sie?«, fragte Kaufman.

Der Mann, der groß und trotz seiner Ende siebzig noch schlank war und volles silbernes Haar hatte, wandte sich zu ihm. Sein Gesicht war wettergegerbt wie Hirschleder. Er betrachtete die Lokomotive nachdenklich mit blauen Augen, die in einem leichten Lavendelton leuchteten und immer noch keine Brille nötig hatten. Sein langer silberner Schnauzbart passte zu seinen Augenbrauen, die im Alter buschig geworden waren. Er lüftete einen teuren Panamahut und tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab.

Dann ging er zu der geborgenen Lokomotive, die jetzt fest auf dem Deck stand, und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Führerhaus. Wasser und Schlamm rannen die Stufen hinab und verteilten sich auf dem Schiffsdeck.

»Trotz des Schmutzes«, sagte er schließlich, »ist sie noch immer ein Augenschmaus. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein Eisenbahnmuseum das Geld zusammengekratzt hat, um sie als Ausstellungsstück zu restaurieren.«

»Zum Glück hat ein Fischer aus der Gegend seinen Außenborder verloren und den Grund danach abgesucht, sonst hätte die Lokomotive vielleicht noch ein halbes Jahrhundert dort unten gelegen.«

»Ja, ein echter Glücksfall«, sagte der große, silberhaarige Mann langsam.

Kaufman trat näher und strich mit der Hand über eins der großen Räder. Ein sentimentaler Ausdruck trat auf sein Gesicht: »Mein Vater war Lokführer bei der Union Pacific«, sagte er leise. »Er hat immer gesagt, dass das ›Pacific‹-Modell die beste Lokomotive war, die er je gefahren hatte. Er ließ mich häufig im Führerhaus sitzen, wenn er einen Zug auf den Rangierbahnhof brachte. Die ›Pacific‹-Klasse wurde meistens eingesetzt, um Personenwagen zu ziehen, weil sie so schnell war.«

Ein Taucherteam in gummibeschichteten Leinenanzügen stand auf einer Plattform, die an die Wasseroberfläche gehievt wurde. Sie trugen Mark-V-Tauchhelme aus Messing, große Gewichtsgürtel um die Brust und Tauchstiefel mit Leinenüberzug, Messingkappen und Bleisohlen, die achtzehn Kilo wogen. Insgesamt trugen die Taucher fünfundsiebzig Kilo Ausrüstung. Sie zogen an ihrer Nabelschnur, die zu der mit Frischluft gespeisten Taucherluftpumpe führte, als die Plattform hochgezogen und auf das Deck geschwungen wurde. Sie waren kaum an Bord, als bereits ein anderes Team die Leitern hinabkletterte und sich auf die Plattform stellte, die in das vom langen Winter in Montana immer noch eisige Wasser glitt.

Der große Mann sah schweigend zu. Er wirkte fehl am Platz unter den Männern der Schiffscrew in ihrer schmutzstarrenden Arbeitskleidung und den Overalls. Er trug scharf gebügelte braune Hosen und einen teuren Kaschmirpullover unter einer Kaschmirjacke. Seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert und hatten inmitten rostiger Drahtseile auf dem ölverdreckten Deck erstaunlicherweise ihren Glanz nicht verloren.

Er betrachtete die dicken Schlammschichten auf den Stufen zum Führerhaus und drehte sich zu Kaufman um. »Lassen Sie eine Leiter bringen, damit wir in das Führerhaus klettern können.«

Kaufman gab einem Crewmitglied in der Nähe einen Befehl, und sogleich wurde eine Leiter an die Kante hinter dem Sitz des Lokomotivführers gelehnt. Der Bergungsleiter stieg zuerst hinauf, gefolgt von dem älteren Gast. Wasser rann in breitem Schwall vom Dach, während sich aufgelöste Kohle mit dem Matsch vermengte, der durch die offene Tür aus der Feuerkammer auf den Stahlboden floss.

Zuerst sah es so aus, als wäre das Führerhaus leer. Das Gewirr aus Ventilen, Rohrleitungen und Hebeln über dem Heizkessel war überzogen von Schlammschichten und grünem Seegras. Der Schlick auf dem Boden war knöcheltief, doch der große, schweigsame Beobachter schien nicht zu merken, wie er oben in seine Schuhe hineinlief. Er ging in die Hocke und begutachtete drei Erhebungen, die wie kleine Hügel aus dem Schlamm aufragten.

»Der Lokführer und der Heizer«, verkündete er.

»Sind Sie sich sicher?«

Er nickte. »Ganz sicher. Der Lokführer war Leigh Hunt. Er hatte eine Frau und zwei Kinder, die jetzt im mittleren Alter sind. Der Heizer war Robert Carr. Er wollte nach der Fahrt heiraten.«

»Wer ist der dritte Mann?«

»Sein Name war Abner Weed. Ein harter Hund. Er zwang Hunt und Carr mit einer Pistole im Rücken, die Lok zu bedienen.«

»Sie sehen nicht gerade hübsch aus«, murmelte Kaufman, den der Anblick ekelte. »Ich bin überrascht, dass nicht nur die Skelette übrig sind.«

»Es wäre gar nichts von ihnen übrig, wenn sie in Salzwasser gestorben wären, aber das kalte Wasser des Flathead Lake hat sie erhalten. Was Sie hier sehen, ist das Fettgewebe. Es löst sich mit der Zeit auf, wenn es unter Wasser liegt, und gibt den Leichen dieses wächserne Aussehen, das man als Verseifung bezeichnet.«

»Wir müssen den Sheriff informieren und einen Leichenbeschauer herbestellen.«

»Wird das die Bergung verzögern?«, fragte der Fremde.

Kaufman schüttelte den Kopf. »Nein, das sollte die Aktion nicht behindern. Sobald das zweite Tauchteam die Hebeseile angebracht hat, können wir den Kohlentender heraufholen.«

»Ich muss unbedingt sehen, was in dem angehängten Waggon ist.«

»Das werden Sie.« Kaufman blickte den Mann an und versuchte vergeblich, seine Gedanken zu lesen. »Wir sollten uns lieber zuerst um den Tender kümmern, das macht es einfacher. Es könnte sich als unheilvoll erweisen, wenn wir erst den Waggon heben, bevor er vom Tender abgekoppelt wurde. Er ist vielleicht nicht so schwer wie die Lokomotive, aber wenn wir nicht vorsichtig sind, könnte er auseinanderbrechen. Es ist eine viel schwierigere Aktion. Außerdem ist das vordere Ende des Gepäckwagens teilweise unter dem Tender eingeklemmt.«

»Das ist kein Gepäckwagen, sondern ein Güterwaggon.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

Der Beobachter ignorierte die Frage. »Holen Sie den Kohlentender ruhig zuerst rauf. Sie sind hier schließlich der Boss.«

Kaufman starrte hinunter auf die hässlichen Klumpen, die einmal Menschen gewesen waren. »Wie sind sie nur hierhergekommen? Wie kann ein Zug über so lange Zeit in einem See verschwinden?«

Der Mann ließ den Blick über die ruhige blaue Wasseroberfläche schweifen. »Vor vierundvierzig Jahren gab es hier eine Fähre, die mit Holz beladene Güterwaggons über den See transportierte.«

»Schon seltsam«, sagte Kaufmann langsam. »Die Zeitungen und Vertreter von Southern Pacific behaupteten damals, dass der Zug gestohlen wurde. Wenn ich mich richtig erinnere, war es im 21. April 1906.«

Der alte Mann lächelte. »Eine Vertuschungsaktion der Firma. Der Zug wurde nicht gestohlen. Ein Fahrdienstleiter wurde bestochen, damit er die Lok herausrückt.«

»Muss eine wertvolle Ladung in dem Güterwaggon gewesen sein, dass man dafür tötet«, sagte Kaufman. »So etwas wie ein Goldtransport.«

Der alte Mann nickte. »Es gab Gerüchte, dass der Zug Gold geladen hätte. Wenn meine Vermutung stimmt, war es nicht Gold, sondern Bargeld.«

»Vierundvierzig Jahre«, sagte Kaufman lahm. »Eine lange Zeit für einen vermissten Zug. Eventuell ist das Geld noch immer in dem Waggon.«

»Vielleicht«, sagte der große Mann und blickte in Richtung Horizont auf etwas, das nur er sehen konnte. »Vielleicht finden wir die Antworten, wenn wir hineinkommen.«

Der Schlächter

1

1905

Bisbee, Arizona

Jeder, der an diesem Nachmittag einen alten, heruntergekommenen Säufer langsam die Moon Avenue in Bisbee entlangtorkeln sah, hätte ihn für etwas gehalten, das er nicht war, ein vorzeitig gealterter Mann, der in den Minen gearbeitet hatte, die durch die mineralreichen Berge unter der Stadt führten. Sein Hemd war schmutzig, und er roch ungewaschen. Ein einzelner Hosenträger hielt zerrissene und zerlumpte Hosen, die in abgewetzten und löchrigen Stiefeln steckten, die längst in der Abfallgrube hinter der Stadt hätten entsorgt werden müssen.

Wirres fettiges Haar fiel auf seine Schultern und vermengte sich mit einem ungestutzten Bart, der halb bis zu seinem vorstehenden Bauch hinabhing. Seine Augen waren so dunkel, dass sie schwarz wirkten. Kein Ausdruck lag darin; sie wirkten kalt und beinahe böse. Seine Hände, die nie eine Schaufel oder einen Pickel gehalten hatten, steckten in Arbeitshandschuhen.

Unter einem Arm trug er einen alten Jutesack, der offenbar leer war. Auf das Sackleinen war mit Buchstabenschablonen der Schriftzug DOUGLAS FEED & GRAIN COMPANY, OMAHA NEBRASKA aufgemalt worden.

Der alte Mann setzte sich für einen Moment auf eine Bank an der Ecke Moon Avenue und Tombstone Canyon Road. Hinter ihm befand sich ein fast leerer Saloon, da es mitten am Tag war und die Stammgäste in den Minen schufteten. Die Leute, die durch die Bergbaustadt liefen und Einkäufe erledigten, warfen ihm lediglich kurze, angewiderte Blicke zu. Sobald jemand vorbeiging, zog er eine Whiskeyflasche aus der Hosentasche und nahm einen großen Schluck, bevor er sie wieder verstöpselte und zurücksteckte. Keiner hätte geahnt, dass es nicht Whiskey, sondern Tee war.

Für Juni war es warm; er schätzte, dass es um die fünfunddreißig Grad waren. Er lehnte sich zurück und beobachtete die Straße, während eine Straßenbahn vorbeifuhr, vor die ein alter Gaul gespannt war. Elektrische Straßenbahnen gab es in Bisbee noch nicht. Die meisten Fahrzeuge und Einspänner wurden noch immer von Pferden gezogen. In der Stadt gab es nur eine Handvoll Automobile und Lieferwagen, von denen im Moment nichts zu sehen war.

Er wusste, dass die Stadt im Jahr 1880 gegründet und nach dem Richter DeWitt Bisbee, einem der Investoren der Copper-Queen-Mine, benannt worden war. Mit ihren zwanzigtausend Einwohnern war sie die größte Stadt zwischen San Francisco und St. Louis. Neben den vielen Bergarbeiterfamilien, die in bescheidenen kleinen Holzhäusern lebten, wurde der meiste Umsatz mit den Saloons und einer kleinen Armee leichter Mädchen gemacht.

Der Kopf des Mannes fiel ihm auf die Brust; er sah wie ein Betrunkener aus, der weggedöst war. Doch das war nur Schauspielerei. Er nahm jede Bewegung um sich herum wahr. Hin und wieder spähte er auf die andere Straßenseite zur Bisbee National Bank. Aufmerksam beobachtete er durch halb geschlossene Lider, wie ein Lastwagen mit Kettengetriebe und Vollgummireifen zur Bank tuckerte. Es gab nur einen Wachmann, der aus dem Lastwagen stieg und eine große Tasche mit frisch gedruckten Geldscheinen hineintrug. Ein paar Minuten später half ihm ein Bankangestellter dabei, eine schwere Kiste durch die Tür zu tragen und in den Lastwagen zu wuchten.

Der Mann wusste, dass es sich um einen Goldtransport handelte, einen Teil der drei Millionen Unzen, die in den umliegenden Minen geschürft worden waren. Doch es war nicht das Gold, für das er sich interessierte. Es war zu schwer und zu riskant für einen einzelnen Mann, es zu stehlen. Es war das Bargeld, das ihn nach Bisbee geführt hatte, und nicht das wertvolle gelbe Metall.

Er sah, wie der Lastwagen wegfuhr und zwei Männer, die er als Sicherheitsbedienstete der einflussreichen Phelps Dodge Mining Company erkannte, aus der Bank kamen. Sie hatten das Bargeld abgeliefert, mit dem am nächsten Tag die Gehälter der Bergbaugesellschaft bezahlt werden sollten. Er schmunzelte in sich hinein, denn er wusste, dass die Bestände der Bisbee National Bank noch nie so groß gewesen waren.

Er hatte die Leute, die die Bank besuchten, fast zwei Wochen lang beobachtet, bis er jeden vom Sehen kannte. Er hatte sich ebenfalls die Zeiten notiert, zu denen sie kamen und gingen. Nun, da außer einem Kassierer und dem Direktor niemand mehr in der Bank war, blickte er zufrieden auf seine Uhr und nickte.

Der alte Penner erhob sich gemächlich, streckte sich und schlenderte mit dem leeren Jutesack auf der Schulter über die befestigte Straße und die Straßenbahnschienen zur Bank. Als er gerade eintreten wollte, kam unerwartet eine Frau vorbei. Sie warf ihm einen angewiderten Blick zu, ging um ihn herum und betrat die Bank. Das entsprach nicht seinem Plan, doch er wollte nicht länger warten. Er warf noch einen Blick die Straße hinunter und folgte ihr dann in das Gebäude.

Er schloss die Tür. Der Kassierer war im Tresorraum, und die Frau wartete darauf, dass er zurückkam. Der Penner zog eine Colt-Automatik Kaliber 38, Modell 1902 aus dem Stiefel, schlug der Frau mit dem Lauf ins Genick und beobachtete aufmerksam, wie sie langsam auf den Holzboden sank. Es geschah so unvermittelt und in aller Stille, dass der Bankdirektor von seinem Büro aus weder etwas sah noch hörte.

Dann wurde aus dem betrunkenen Minenarbeiter auf einmal ein Bankräuber, der schwungvoll über den Tresen sprang, in das Büro des Direktors eindrang und ihm die Mündung seines Schießeisens an den Kopf hielt. »Keine Bewegung, oder es knallt«, sagte er leise, aber bestimmt. »Rufen Sie Ihren Mitarbeiter her.«

Der glatzköpfige, dicke Bankdirektor sah ihn schockiert und angstvoll aus aufgerissenen braunen Augen an. Widerspruchslos rief er: »Roy, kommen Sie mal!«

»Augenblick, Mr. Castle!«, rief Roy aus dem Tresorraum zurück.

»Sagen Sie ihm, er soll den Tresor nicht zumachen«, befahl der Bankräuber in ruhigem, aber scharfem Tonfall.

»Lassen Sie die Tresortür offen, Roy«, befolgte Castle den Befehl, während er einen schielenden Blick bekam, als er die Augen auf die Waffe richtete, die gegen seine Stirn gedrückt wurde.

Roy trat mit einem Kontenbuch unter dem Arm aus dem Tresorraum. Die bewusstlose Frau hinter dem Schalter konnte er nicht sehen. Arglos betrat er Castles Büro und erstarrte, als er den Bankräuber sah, der seinem Boss die Mündung des Schießeisens an den Kopf hielt. Der Bankräuber nahm den Pistolenlauf von Castles Kopf und deutete mit der Mündung zum Tresor.

»Sie beide«, sagte er ruhig, »in den Tresor.«

Widerstand war zwecklos. Castle erhob sich von seinem Schreibtisch und ging voraus, während der Bankräuber kurz ans Fenster trat, um zu überprüfen, ob irgendjemand auf dem Weg zur Bank war. Bis auf ein paar Frauen, die einkaufen gingen, und einen vorbeifahrenden Bierwagen war die Straße leer.

Der Tresorraum wurde von einer Edison-Messinglampe, die von der Stahldecke hing, hell erleuchtet. Neben der Kiste mit dem Gold stapelten sich Banknoten, hauptsächlich die Löhne der Bergbaugesellschaften, in den Regalen. Der Bankräuber warf dem Angestellten den Jutesack entgegen. »Okay, Roy, packen Sie sämtliche Dollarnoten da rein.«

Roy tat, wie ihm geheißen. Mit zitternden Händen schob er die Stapel mit Banknoten verschiedener Nennwerte in den Sack. Als er damit fertig war, spannte sich das Leinen und schien der Größe eines gutgefüllten Wäschesacks zu entsprechen.

»Und jetzt auf den Boden!«, befahl der Bankräuber.

Castle und Roy, die glaubten, dass sich der Räuber nun aus dem Staub machen würde, legten sich, die Hände am Hinterkopf, flach hin. Der Bankräuber zog ein dickes, wollenes Halstuch aus einer Tasche und wickelte es um die Mündung seiner Automatik. Dann schoss er nacheinander den beiden Männern in den Kopf. Es klang eher wie dumpfe Schläge als das scharfe Knallen von Schüssen. Ohne einen Moment zu zögern, lud er sich den Sack auf die Schulter und verließ den Tresor.

Unglücklicherweise war er noch nicht fertig. Die Frau vor dem Schalter stützte sich stöhnend auf die Ellbogen. Mit völliger Teilnahmslosigkeit beugte er sich zu ihr hinunter, richtete die Pistole auf sie und schoss ihr in den Kopf, wie er es mit dem Bankdirektor und dem Angestellten getan hatte. Es gab kein Erbarmen und nicht das kleinste Anzeichen von Mitgefühl. Es kümmerte ihn nicht, ob jemand von ihnen eine Familie hinterließ. Er hatte drei wehrlose Menschen getötet, kaltblütig und mit derselben Anteilnahme, als wäre er auf eine Ameisenkolonne getreten.

Er blieb stehen, um sich nach einer Patronenhülse umzusehen, die, wie er meinte, aus dem um die Pistole gewickelten Tuch zu Boden gefallen war, doch er konnte sie nirgends entdecken. Er gab es auf, spazierte aus der Bank und stellte zufrieden fest, dass niemand die gedämpften Schüsse gehört hatte.

Mit dem prall gefüllten Jutesack über der Schulter ging er durch die Gasse hinter der Bank. Nachdem er in eine kleine Nische unter einer Treppe getreten war, wo ihn niemand sehen konnte, zog er die schmutzigen Sachen aus, nahm die graue Perücke und den grauen Bart ab und legte alles in einen kleinen Handkoffer. Ein teurer Maßanzug kam zum Vorschein, und er setzte sich keck eine Melone auf die ordentlich frisierten roten Haare. Dann band er sich eine Krawatte um, bevor er auch die abgelatschten Stiefel in den Koffer warf. Er war in Wirklichkeit ein kleiner Mann; die Sohlen und Absätze der Stiefel hatten ihn knapp fünf Zentimeter größer gemacht. Als Nächstes zog er sich englische Lederschuhe mit Absätzen an, die ihn größer erscheinen ließen, bevor er sich einem Lederkoffer widmete, den er gemeinsam mit einer Harley-Davidson unter einem Segeltuch versteckt hatte. Während er alle paar Sekunden einen Blick in die Gasse warf, packte er das viele Bargeld aus dem Jutesack in den Koffer, den er auf einen Gepäckträger über dem Hinterrad des Motorrads schnallte. Den Handkoffer, der seine Verkleidung enthielt, band er auf den vorderen Gepäckträger.

Auf einmal ertönten Rufe aus der Tombstone Canyon Road. Jemand hatte die Leichen in der Bisbee National Bank entdeckt. Sorglos schob der Rothaarige das Motorrad in die Gasse und startete den Einzylindermotor mit sechzig Kubikzentimeter und drei PS. Er warf ein Bein über den Sitz und rollte durch verlassene Seitenstraßen zum Rangierbahnhof. Unbemerkt fuhr er an einem Nebengleis entlang, auf dem ein Güterzug stand, um Wasser aufzunehmen.

Sein Zeitplan war perfekt.

In fünf Minuten würde der Güterzug auf das Hauptgleis zurückfahren und sich auf den Weg nach Tucson machen. Ohne dass der Lokführer und Bremser ihn bemerkten, als sie das Fallrohr von dem Holztank über den Wasserkessel zogen, nahm der Mann einen Schlüssel aus der Westentasche und öffnete das Vorhängeschloss an der Tür eines verschlossenen Güterwaggons, an dem ein gemaltes Schild befestigt war: O’BRIAN FURNITURE COMPANY, DENVER, stand darauf zu lesen. Er schob die Tür auf den Rollen zurück. Dass der Güterwaggon um diese Zeit hier stand, war kein Zufall. Der Rothaarige war als Vertreter der nicht existierenden O’Brian Furniture Company aufgetreten und hatte bar dafür bezahlt, dass der Waggon an den Güterzug, der durch Bisbee fuhr und auf dem Weg von El Paso, Texas, nach Tucson, Arizona, war, angehängt wurde.

Er nahm eine breite Bohle, die seitlich mit Halterungen an dem Güterwaggon befestigt war, und benutzte sie als Rampe, um die Harley-Davidson in den Zug zu schieben. Dann schloss er rasch die Schiebetür und fasste durch eine schmale Klappe, um das Schloss wieder zu befestigen, während die Dampfpfeife ertönte und der Zug sich langsam vom Nebengleis zum Hauptgleis zurückbewegte.

Von außen sah der Güterwaggon genauso aus wie jeder andere, der bereits mehrere Jahre in Gebrauch war. Die Farbe war verblasst, und die hölzernen Seiten waren voller Kerben und Schrammen. Doch der Schein trog. Selbst das Türschloss war nicht echt und ließ den Wagen nur so aussehen, als wäre er fest verschlossen. Allerdings war die Innenausstattung das Irreführendste daran. Anstatt eines leeren oder mit Möbeln vollgepackten Innenraums war dieser luxuriös ausgebaut und so prunkvoll möbliert, wie es dem Präsidenten einer Eisenbahngesellschaft gebührt hätte. Wände und Decken waren mit Mahagoni getäfelt. Auf dem Boden lag ein dicker Teppich. Dekor und Möbel waren von extravagantem Prunk. Es gab einen opulenten Salon, ein palastartiges Schlafzimmer und eine moderne Küche mit den jüngsten Neuerungen, um Gourmetgerichte zuzubereiten.

Doch es gab weder Bedienstete noch Schaffner oder Köche.

Der Mann arbeitete allein, ohne Komplizen, die womöglich seinen wahren Namen und Beruf verraten hätten. Niemand wusste von seinen heimlichen Aktionen als Bankräuber und Mörder. Selbst der Güterwaggon war in Kanada gebaut und ausgestattet worden, bevor er heimlich über die Grenze in die Vereinigten Staaten gebracht worden war.

Der Bankräuber ließ sich auf ein üppiges Ledersofa sinken, entkorkte eine Flasche 1884er Château La Houringue Bordeaux und schenkte sich ein Glas ein.

Er wusste, dass der Sheriff von Bisbee schnell einen Suchtrupp zusammenstellen würde. Doch man würde nach einem alten, verwahrlosten Bergarbeiter Ausschau halten, der in betrunkenem Zustand getötet hatte. In der Überzeugung, dass er zu arm war, um ein Pferd zu besitzen, würde der Trupp ausschwärmen und die Stadt durchkämmen. Keiner der Einwohner hatte ihn je auf einem Pferderücken kommen oder wegreiten oder eine Straßenbahn benutzen sehen.

Höchst zufrieden mit sich selbst nippte er aus einem Kristallglas an dem Wein und betrachtete die Lederkoffer. War das sein fünfzehnter oder sechzehnter erfolgreicher Banküberfall gewesen? Er verschwendete keinen einzigen Gedanken an die achtunddreißig Männer und Frauen und zwei Kinder, die er dabei getötet hatte. Er schätzte die Summe der Bergarbeiterlöhne auf 325 000 bis 330 000 Dollar.

Die meisten Bankräuber hätten die Summe in dem Koffer niemals schätzen können. Doch für ihn war es einfach, weil er selbst Bankier war.

Der Sheriff, seine Deputys und der Suchtrupp würden den mordenden Bankräuber niemals finden. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Niemand kam jemals auf die Idee, ihn mit dem gepflegten Mann in Verbindung zu bringen, der auf einem Motorrad durch die Stadt gefahren war.

Das abscheuliche Verbrechen sollte eines von Bisbees großen Rätseln werden.

2

Mississippi River,

unterhalb von Hannibal, Missouri

Schon bald nach Beginn des 20. Jahrhunderts verschwand die Dampfschifffahrt nach und nach auf dem Mississippi. Es gab nur noch wenige Passagierdampfschiffe im alten Stil. Die Saint Peter war eines der letzten, das den Siegeszug der Eisenbahnen überlebt hatte. Mit knapp achtzig Metern Länge und zweiundzwanzig Metern Breite war es ein exzellentes Beispiel für palastartige Eleganz, mit seitlich geschwungenen Treppen, luxuriösen Kabinen und einem prunkvollen Hauptspeisesaal mit der besten Gourmetküche weit und breit. Prächtige Salons standen den Damen zur Verfügung, während die Männer in hübschen, mit Spiegeln und Gemälden ausgestatteten Räumen Zigarren rauchten und Karten spielten.

Die Spielrunden auf den Dampfschiffen, die den Fluss befuhren, waren berühmt für ihre Falschspieler. Viele Passagiere verließen das Dampfschiff ärmer, als sie an Bord gegangen waren. An einem Tisch im Spielzimmer der Saint Peter vergnügten sich in einer ruhigen Ecke und weit weg vom allgemeinen Trubel zwei Männer mit einer Runde Five-Stud-Poker.

Auf den ersten Blick glich die Szene den anderen im Raum, doch bei näherem Hinsehen fiel auf, dass keine Chips auf dem grünen Filz lagen.

Joseph Van Dorn betrachtete in aller Ruhe sein Blatt, bevor er zwei Karten ablegte. »Gut, dass wir nicht um Geld spielen«, sagte er lächelnd, »sonst würde ich Ihnen 8000 Dollar schulden.«

Colonel Henry Danzler, Direktor des United States Criminal Investigation Department, erwiderte das Lächeln. »Wenn Sie wie ich betrügen würden, hätten wir Gleichstand.«

Van Dorn war ein sympathischer Mann Anfang vierzig. Auf Wangen und Kinn trug er einen üppigen roten Bart, der farblich mit dem Haarkranz übereinstimmte, der seine Glatze umgab. Sein Gesicht wurde von einer römischen Nase dominiert, und seine braunen Augen blickten schwermütig. Doch sein Aussehen und sein Gebaren täuschten.

Er war irischer Abstammung und trug einen Namen, der im ganzen Land für die Zähigkeit berühmt und geachtet war, mit der er Mörder, Diebe und andere Schurken aufspürte. Die kriminelle Unterwelt dieser Zeit wusste, dass er sie bis ans Ende der Welt jagen würde. Als Gründer und Chef der angesehenen Van Dorn Detective Agency hatten er und seine Mitarbeiter politische Morde verhindert, viele der im Westen am meisten gefürchteten Banditen zur Strecke gebracht und mitgeholfen, den ersten Geheimdienst des Landes aufzubauen.

»Sie haben sich selbst mehr Asse zugeschanzt als mir«, sagte er freundlich.

Danzler war ein riesiger Kerl von beachtlichem Leibesumfang; er wog etwas über einhundertfünfzig Kilo, bewegte sich allerdings mühelos wie ein Tiger. Sein graumeliertes Haar war makellos frisiert und gebürstet und schimmerte im Licht, das durch die großen Fenster hereinfiel. Seine blaugrünen Augen leuchteten sanft, obwohl sie alles, was um ihn herum vorging, zu analysieren und sich einzuprägen schienen.

Als Veteran des Spanisch-Amerikanischen Krieges hatte er mit Captain John Pershing und seinen schwarzen »Büffelsoldaten« von der Zehnten Kavallerie San Juan Hill eingenommen und mit Auszeichnung auf den Philippinen gegen die Moros gekämpft. Als die Einrichtung des staatlichen Criminal Investigation Department vom Kongress genehmigt wurde, bat ihn Präsident Roosevelt, der erste Direktor zu werden.

Danzler klappte den Deckel einer großen Taschenuhr auf und betrachtete die Zeiger. »Ihr Mitarbeiter ist fünf Minuten zu spät.«

»Isaac Bell ist mein bester Agent. Er kriegt seinen Mann immer – manchmal auch eine Frau. Wenn er zu spät kommt, gibt es dafür einen guten Grund.«

»Sagten Sie nicht, dass er es war, der den Attentäter Roman Kelly schnappte, bevor der Präsident Roosevelt erschießen konnte?«

Van Dorn nickte. »Er hat auch die Barton-Bande in Missouri zerschlagen. Drei von ihnen hat er erschossen, bevor sich die beiden anderen ergaben.«

Danzler blickte den berühmten Ermittler an. »Und Sie glauben, dass er der Mann ist, der unseren Massenmörder und Bankräuber stoppen kann?«

»Wenn jemand den Killer kriegt, dann Isaac.«

»Wie ist sein familiärer Hintergrund?«

»Sehr wohlhabend«, antwortete Van Dorn. »Vater und Großvater waren Bankiers. Haben Sie von der American States Bank in Boston gehört?«

Danzler nickte. »In der Tat. Ich habe selbst ein Konto dort.«

»Isaac ist reich. Sein Großvater hat ihm fünf Millionen Dollar vermacht, weil er dachte, dass Isaac eines Tages seinen Platz als Direktor der Bank übernehmen würde. Das ist nie geschehen. Isaac zog die Ermittlungsarbeit der Tätigkeit in einer Bank vor. Es ist ein großes Glück, dass ich ihn habe.«

Danzler bemerkte einen Schatten auf seinem Arm. Er hob den Blick und sah in zwei hellblaue Augen mit einem leichten Stich ins Violett, Augen, die über Horizonte hinausgeschaut hatten, um zu sehen, was dahinter war. Die Wirkung war beinahe hypnotisierend, so als würden sie sich tief in Danzlers Gedanken versenken.

Danzler konnte einen Mann so genau einschätzen wie ein Pferd. Der Mann war groß und schlank, maß gut einen Meter achtzig und wog nicht mehr als 85 Kilo. Er hatte einen buschigen, flachsblonden Schnurrbart, der mit dem vollen, ordentlich geschnittenen blonden Haar harmonierte. Seine Hände und Finger waren lang und schmal, und seine Arme hingen locker herab. Er strahlte eine offene Art aus. Der Colonel vermutete, dass es sich um einen Mann handelte, der schnell zur Sache kam und weder Dummköpfe noch belangloses oder aufgesetztes Getue duldete. Er wirkte entschlossen, obwohl seine Lippen zu einem breiten Lächeln verzogen waren. Danzler schätzte ihn um die dreißig.

Er war in einen makellosen weißen Leinenanzug gekleidet. Eine schwere Goldkette hing aus seiner linken Westentasche, die mit einer Golduhr in der rechten Tasche verbunden war. Er trug einen flachen Hut mit breiter Krempe. Danzler hätte ihn vielleicht für einen Dandy gehalten, aber sein elegantes Aussehen wurde von den abgetragenen Stiefeln konterkariert, die viele Stunden in Steigbügeln gesteckt hatten. Bell hatte einen schmalen Koffer dabei, den er neben dem Tisch abstellte.

»Colonel Danzler«, sagte Van Dorn, »das ist der Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe – Isaac Bell.«

Danzler reichte ihm die Hand, erhob sich aber nicht vom Stuhl. »Joe hat mir erzählt, dass Sie Ihren Mann immer kriegen.«

»Ich fürchte, Mr. Van Dorn übertreibt. Ich war zehn Minuten zu spät dran, als Butch Cassidy und Harry Longbaugh vor drei Jahren von New York aus nach Argentinien in See stachen. Ihr Schiff legte vom Kai ab, bevor ich sie festnehmen konnte.«

»Wie viele Agenten oder Gesetzeshüter hatten Sie denn bei sich?«

Bell zuckte mit den Schultern. »Ich wollte die Sache auf eigene Faust erledigen.«

»War Longbaugh nicht Sundance Kid?«, fragte Danzler.

Bell nickte. »Den Spitznamen bekam er, als er versuchte, in Sundance, Wyoming, ein Pferd zu stehlen. Er wurde geschnappt und verbrachte achtzehn Monate im Gefängnis.«

»Bestimmt haben Sie nicht erwartet, sie kampflos zu überwältigen.«

»Man kann wohl davon ausgehen, dass sie sich gewehrt hätten«, sagte Bell, ohne zu erklären, wie er die Mitglieder der berüchtigten Wild Bunch allein hatte dingfest machen wollen.

Van Dorn lehnte sich kommentarlos zurück und blickte den Colonel selbstzufrieden an.

»Warum setzen Sie sich nicht, Mr. Bell, und spielen eine Runde mit?«

Bell blickte zweifelnd erst auf den leeren Tisch und dann zu Danzler. »Sie haben anscheinend keine Chips.«

»Nur ein kleines Freundschaftsspiel«, sagte Van Dorn, schob die Spielkarten zusammen und teilte aus. »Bisher schulde ich dem Colonel 8000 Dollar.«

Bell setzte sich, und sein zweifelnder Blick verschwand, als er begriff, dass das Spiel nur zum Schein gespielt wurde. Sein Chef und der Colonel saßen in der Ecke, weit weg von den anderen Spielern, und taten so, als wäre es ein ernsthaftes Spiel. Bell legte den Hut in seinen Schoß, nahm die Karten auf und erweckte den Eindruck, als wäre er tief in Gedanken versunken.

»Sind Sie mit der Serie von Banküberfällen und Morden vertraut, die sich in den letzten zwei Jahren in den Weststaaten ereigneten?«, wollte Danzler wissen.

»Nur aus Gesprächen«, antwortete Bell. »Mr. Van Dorn hatte mich mit anderen Aufgaben betraut.«

»Was wissen Sie also über die Verbrechen?«

»Dass der Bankräuber jeden in der Bank umbringt, der anwesend ist, wie ein Geist verschwindet und keine Spuren hinterlässt, die zu ihm führen könnten.«

»Noch etwas?« Danzler stellte ihn auf die Probe.

»Wer er auch immer ist«, antwortete Bell, »er ist wirklich gut. Es hat bisher keinerlei Fortschritte bei den Ermittlungen gegeben.« Er machte eine Pause und blickte Van Dorn an. »Ist das der Grund dafür, dass man mich hierher gebeten hat?«

Van Dorn nickte. »Ich möchte, dass Sie die Sache als Chefermittler übernehmen.«

Bell legte eine Karte ab, nahm die Karte auf, die Danzler ausgespielt hatte, und steckte sie in sein Blatt, das er in der Linken hielt.

»Sind Sie Linkshänder, Mr. Bell?«, fragte Danzler neugierig.

»Nein. Eigentlich bin ich Rechtshänder.«

Van Dorn lachte leise. »Isaac kann die Derringer, die er unter seinem Hut versteckt, schneller ziehen, entsichern und abfeuern, als Sie blinzeln können.«

Danzlers Respekt für Bell wuchs immer mehr. Er schlug seinen Mantel zurück und zeigte eine Colt-Automatik Kaliber 38, Modell 1903. »Ich glaube Joe aufs Wort, doch es wäre interessant, es auszutesten …«

Danzler hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als er plötzlich in den Doppellauf der Derringer starrte.

»Das Alter hat Sie langsam gemacht, Henry«, sagte Van Dorn. »Entweder das, oder Sie waren mit den Gedanken nicht bei der Sache.«

»Ich muss sagen, das war wirklich sehr schnell«, sagte Danzler sichtlich beeindruckt.

»Von welchem Büro aus soll ich arbeiten?«, fragte Bell seinen Chef, als er die Derringer zurück unter den Hut steckte, in den eine passende Tasche eingearbeitet war.

»Die Verbrechen ereigneten sich von Placerville, Kalifornien, im Westen bis Terlingua, Texas, im Osten«, erwiderte Van Dorn, »und von Bisbee, Arizona, im Süden bis Bozeman, Montana, im Norden. Ich denke, es ist am besten, wenn Sie von der Mitte aus operieren.«

»Das wäre Denver.«

Van Dorn nickte. »Wie Sie wissen, haben wir dort ein Büro mit sechs erfahrenen Agenten.«

»Vor drei Jahren habe ich mit zwei von ihnen zusammengearbeitet«, sagte Bell. »Curtis und Irvine sind gute Leute.«

»Stimmt, das hatte ich ganz vergessen«, erinnerte sich Van Dorn. »Ich muss vielleicht noch hinzufügen, Colonel, dass Isaac für die Verhaftung von Jack Ketchum verantwortlich war, der für zwei Morde bei einem Zugraub gehängt wurde.« Er machte eine Pause, griff unter den Tisch und holte einen identischen Koffer wie den hervor, den Bell in den Spielsalon mitgebracht hatte. Daraufhin reichte Bell seinen leeren Koffer Van Dorn. »Hier drin finden Sie die Berichte über sämtliche Banküberfälle. Jede Spur hat bisher ins Nirgendwo geführt.«

»Wann soll ich anfangen?«

»An der nächsten Anlegestelle, Clarksville, gehen Sie von Bord und nehmen den ersten Zug nach Independence. Dort erhalten Sie eine Fahrkarte für den Union-Pacific-Express nach Denver. Sie können sich die wenigen Anhaltspunkte und Hinweise zu Gemüte führen, die wir gesammelt haben. Sobald Sie da sind, nehmen Sie die Verfolgung dieses skrupellosen Abschaums auf.« Ein Ausdruck von Wut und Enttäuschung lag in Van Dorns braunen Augen. »Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht einmal die Gelegenheit gegeben habe, ein paar Sachen zu packen, bevor Sie Chicago verlassen haben, aber ich wollte, dass Sie so schnell wie möglich anfangen.«

»Keine Sorge, Sir«, sagte Bell lächelnd. »Glücklicherweise hatte ich bereits zwei Koffer gepackt.«

Van Dorn hob die Augenbrauen. »Sie wussten es?«

»Sagen wir, ich hatte einen wohlbegründeten Verdacht.«

»Halten Sie uns über die Ermittlungen auf dem Laufenden«, bat Danzler. »Wenn Sie Hilfe von der Regierung brauchen, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um Sie zu unterstützen.«

»Danke, Sir«, sagte Bell. »Ich setze mich mit Ihnen in Verbindung, sobald ich mir einen Überblick verschafft habe.«

»Ich arbeite im Büro von Chicago«, sagte Van Dorn. »Da der transkontinentale Telefondienst immer noch von St. Louis durch die Prärie nach Denver und weiter nach Kalifornien führt, müssen Sie mir Ihre Fortschritte telegrafisch mitteilen.«

»Sofern es welche gibt«, murmelte Danzler sarkastisch. »Sie nehmen es mit dem besten kriminellen Kopf auf, den das Land jemals erdulden musste.«

»Ich verspreche, dass ich nicht eher ruhen werde, bis ich den Mann gefunden habe, der für diese abscheulichen Verbrechen verantwortlich ist.«

»Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte Van Dorn aufrichtig.

»Apropos Glück«, sagte Danzler zufrieden, als er sein Blatt auf den grünen Filz legte. »Ich habe drei Damen.«

Van Dorn zuckte mit den Schultern und warf seine Karten auf den Tisch. »Ich passe.«

»Und Sie, Mr. Bell?« fragte Danzler mit einem listigen Grinsen.

Isaac Bell legte nacheinander seine Karten auf den Tisch. »Ein Straight Flush«, stellte er nüchtern fest. Dann erhob er sich und verließ wortlos den Salon.

3

Am späten Vormittag fuhr ein Mann mit einem alten Karren, vor den zwei Esel gespannt waren, am Friedhof vor der Stadtgrenze von Rhyolite, Nevada, vorbei. Schlichte Holzzäune standen um die Gräber, an denen hölzerne Schilder hingen; in die waren die Namen der Verstorbenen eingeritzt. Viele davon waren Kinder, die, bereits geschwächt vom harten Leben in einer Bergbaustadt, an Typhus oder Cholera gestorben waren.

Die Julihitze in der Mojavewüste unter der brennenden Sonne war unerträglich. Der Kutscher auf dem Karren saß unter einem zerfetzten, am Sitz befestigten Regenschirm. Schwarzes Haar fiel ihm über den Nacken knapp bis zu den Schultern, und sein Kopf wurde von einem fleckigen mexikanischen Sombrero geschützt. Seine unsichtbaren Augen spähten durch das blau getönte Brillenglas, und ein Handtuch war um die untere Gesichtshälfte geschlungen, um den Staub abzuhalten, den die Eselshufe aufwirbelten. Die Art und Weise, wie er sich zusammenkauerte, machte es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, seine Statur zu erahnen.

Im Vorbeifahren blickte er neugierig auf ein Haus, das ein Minenarbeiter aus Tausenden von weggeworfenen Saloon-Bierflaschen und Lehm gebaut hatte. Die Flaschenböden zeigten nach außen, die Öffnungen nach innen, wodurch das grüne Glas den Innenraum in ein unheimliches Licht tauchte.

Er erreichte eine Bahnlinie und lenkte die Esel auf die Straße, die in der Nähe verlief. Die Gleise glänzten wie schmale Doppelspiegel in der gleißenden Sonne. Es waren die Gleise der Las Vegas & Tonopah Railroad, die sich mitten durch das Wohnviertel der Stadt wanden.

Der Karren rollte langsam an über achtzig Güterwaggons auf einem Abstellgleis vorbei. Sie waren bereits entladen und wurden jetzt mit Erz für die Walzwerke gefüllt. Der Kutscher warf einen kurzen Blick auf den letzten Güterwaggon, der an einen anderen Güterzug gekoppelt war. Der Schriftzug an der Seite lautete O’BRIAN FURNITURE COMPANY, DENVER. Er blickte auf das Zifferblatt seiner billigen Taschenuhr – sonst trug er nichts bei sich, womit man ihn hätte identifizieren können – und stellte fest, dass der Zug erst in vierundvierzig Minuten fahrplanmäßig nach Las Vegas aufbrechen würde.

Einen knappen halben Kilometer weiter erreichte er den Bahnhof von Rhyolite. Das riesige Gebäude war eine Mischung aus gotischem und frühem spanischem Stil. Der verzierte Bahnhof war aus Stein, der in Las Vegas gewonnen worden war. Am Bahnsteig stand ein Personenzug, der aus San Francisco gekommen war. Die Fahrgäste waren ausgestiegen, die Sitze von den Schaffnern gereinigt worden, und der Zug füllte sich bereits wieder mit Menschen, die zur Küste zurückfuhren.

Der Kutscher erreichte das Stadtzentrum, wo ein reges Treiben auf den Straßen herrschte. Er blickte sich zu einer großen Warenhandlung um, das Geschäft von HD & LD PORTER. Unter dem Schild stand ein Werbespruch auf einer Tafel, die über dem Haupteingang hing. Er lautete: Wir handeln mit allem außer Whiskey.

Der Goldrausch von 1904 hatte eine wohlhabende kleine Stadt mit solide errichteten Gebäuden, die lange überdauern sollten, hervorgebracht. 1905 war Rhyolite bereits eine florierende Gemeinde mit über sechstausend Einwohnern. Sie hatte sich rasch von einer geschäftigen Zeltsiedlung in eine bedeutende Stadt verwandelt, die es auch in ferner Zukunft noch geben sollte.

Die Hauptgebäude waren aus Stein und Zement gefertigt und machten die kleine Metropole Rhyolite zur größten Stadt im südlichen Nevada. Eine viergeschossige Bank kam in Sicht, ein elegantes Bauwerk, das einen erfolgreichen und vermögenden Eindruck erweckte. Einen halben Block entfernt stand ein dreigeschossiges Bürogebäude.

Es gab ein Postamt, ein Opernhaus, ein Krankenhaus mit zwanzig Betten, komfortable Hotels, zwei Kirchen, drei Banken und eine große Schule. Rhyolite rühmte sich eines hochmodernen Telefonsystems und eines eigenen Elektrizitätswerks. Es hatte auch einen boomenden Rotlichtbezirk, vierzig Saloons und achtzig Tanzsäle.

Der Mann, der den Karren fuhr, war an nichts anderem in der Stadt interessiert als dem Vermögen der John S. Cook-Bank. Er wusste, dass ihr Tresor über eine Million Dollar in Silbermünzen enthielt. Doch es war viel einfacher, das Bargeld aus den Lohnzahlungen der Minen mitgehen zu lassen, und er würde nur ein einziges Silber- oder Goldstück mitnehmen. Bei fünfundachtzig Unternehmen, die in den umliegenden Hügeln im Minengeschäft tätig waren, mussten die Lohnzahlungen beachtlich sein.

Wie gewöhnlich hatte er sich gut vorbereitet, hatte in einer Pension für Bergarbeiter gewohnt, wobei er häufig die Cook-Bank besucht hatte, um kleinere Summen auf ein Konto einzuzahlen, das er unter falschem Namen eröffnet hatte. Eine flüchtige Bekanntschaft mit dem Bankdirektor war zustande gekommen, den er in dem Glauben ließ, der Neuankömmling wäre ein Bergbauingenieur. Das Äußere des Mannes wurde diesmal von einer schwarzen Perücke, einem Schnurrbart und einem Vandyke-Bart bestimmt. Außerdem hinkte er und behauptete, dass dies von einem Minenunfall herrührte. Es erwies sich als perfekte Tarnung, um die Gewohnheiten der Bankbesucher zu studieren und herauszufinden, wann in der Bank am wenigsten los war.

Als er mit dem Eselskarren in die Stadt hinein Richtung Bank fuhr, hatte sich seine Erscheinung von einem Bergbauingenieur zu einem der kleinen Fuhrmänner gewandelt, die den Sommer über in der kochenden Hitze ihren Lebensunterhalt zu verdienen versuchten. Er hielt den Karren auf der Rückseite eines Stalls an. Als er sich überzeugt hatte, dass ihn niemand beobachtete, hob er eine Puppe auf den Sitz, die genauso aussah wie er selbst, und band sie fest. Dann lenkte er die Esel zurück zum Broadway, der Hauptstraße, die durch die Stadt führte. Kurz bevor er den betonierten Gehsteig vor dem Bankeingang erreichte, schlug er den Eseln auf das Hinterteil, worauf sie den Karren die Straße hinunter durch das Zentrum der Stadt zogen, während die Puppe aufrecht auf dem Sitz saß und die Zügel hielt.

Er überprüfte, ob sich Kunden der Bank näherten. Doch keiner der Passanten schien in diese Richtung unterwegs zu sein. Er blickte zu dem viergeschossigen Gebäude hinauf und betrachtete die Goldschrift an den Fenstern des ersten Stocks, die für einen Zahnarzt und einen Arzt warben. Ein weiteres Schild, auf dem eine Hand nach unten zeigte, verwies auf das Postamt im Erdgeschoss.

Er schlenderte in die Bank hinein und blickte sich in der Halle um. Sie war leer bis auf einen Mann, der Geld abheben wollte. Der Kunde nahm das Geld vom Kassierer entgegen, drehte sich um und ging hinaus, ohne Notiz von dem Fremden zu nehmen.

Der Mann hatte wirklich Glück gehabt, dachte der Räuber.

Hätte ihm der Kunde Beachtung geschenkt, wäre er erschossen worden. Der Räuber ließ nie jemanden zurück, der auch nur das kleinste Detail von ihm hätte beschreiben können. Schließlich bestand immer die – wenn auch geringe – Möglichkeit, dass irgendjemand seine Verkleidung durchschaute. Aus Gesprächen in den benachbarten Saloons hatte er erfahren, dass die Bank von einem Direktor im Auftrag einer Gruppe von Männern geführt wurde, die Besitzer der ertragreichsten Minen in der Region waren; das war vor allem die Montgomery-Shoshone-Mine, deren ursprüngliches Grubenfeld zwei Millionen Dollar eingebracht hatte.

So weit, so gut, dachte der Bankräuber, als er sich über den Schalter schwang und mit den Füßen direkt neben dem erschrockenen Kassierer landete. Er zog die Colt-Pistole aus dem Stiefel und hielt dem Bankangestellten den Lauf an den Kopf.

»Keine Bewegung, und kommen Sie nicht auf die Idee, den Alarmknopf unter dem Schalter zu drücken, sonst puste ich Ihnen das Hirn weg.«

Der Bankangestellte konnte nicht glauben, was geschah. »Ist das wirklich ein Überfall?«, stammelte er.

»Ganz recht«, erwiderte der Räuber. »Jetzt gehen Sie schön langsam in das Büro des Direktors und tun so, als wäre nichts passiert.«

Der verängstigte Kassierer ging auf ein Büro zu, dessen Tür geschlossen war. Die geätzte Glasscheibe machte es schwer hindurchzusehen. Er klopfte an.

»Ja, herein«, war eine Stimme von drinnen zu hören.

Der Kassierer öffnete die Tür und wurde grob hineingestoßen. Er verlor das Gleichgewicht und fiel quer über den Schreibtisch des Direktors. Das Namensschild auf dem Tisch mit der Aufschrift HERBERT WILKINS fiel zu Boden. Wilkins erfasste die Situation sofort und griff nach einem Revolver unter seinem Schreibtisch. Seine Reaktion kam fünf Sekunden zu spät. Der Bankräuber hatte durch den Direktor persönlich von der Waffe erfahren, als sie sich im nahegelegenen Saloon unterhalten hatten.

»Lassen Sie die Waffe, wo sie ist!«, bellte er, als hätte er übersinnliche Fähigkeiten.

Wilkins war nicht so leicht einzuschüchtern. Er starrte den Bankräuber an und nahm jeden Zentimeter von ihm in sich auf. »Sie werden das Geld nicht kriegen«, sagte er verächtlich.

Der Bankräuber sprach mit kalter, monotoner Stimme. »Ich habe es vorher getan und werde es wieder tun.« Er bewegte sich auf den imposanten Safe zu, der fast zweieinhalb Meter hoch aufragte. »Öffnen Sie ihn!«

Wilkins blickte dem Bankräuber direkt in die Augen. »Nein, ich denke gar nicht daran.«

Der Bankräuber fackelte nicht lange. Er wickelte den Lauf der Pistole in ein dickes Handtuch und schoss dem Kassierer zwischen die Augen. Dann wandte er sich wieder an Wilkins. »Mag sein, dass ich hier ohne einen Cent rausgehe, aber das werden Sie nicht mehr erleben.«

Wilkins stand entsetzt da und starrte auf die größer werdende Blutlache um den Kopf des Erschossenen. Dann blickte er auf die verkohlte Stelle des Handtuchs, wo die Kugel durchgegangen war, und er wusste, dass wahrscheinlich niemand im Gebäude den Schuss gehört hatte. Wie in Trance ging er zum Safe und drehte am Kombinationsschloss. Nach einer halben Minute drückte er den Hebel hinunter, und die massive Stahltür schwang auf.

»Nimm es und fahr damit zur Hölle!«, zischte er.

Der Bankräuber lächelte nur und schoss Wilkins in die Schläfe. Kaum war der Direktor zu Boden gegangen, als der Bankräuber eilig zur Vordertür lief, sie absperrte, ein GESCHLOSSEN-Schild ins Fenster hängte und die Rollläden herabließ. Dann nahm er systematisch sämtliche Banknoten aus dem Safe und beförderte sie in einen Wäschesack, den er sich unter seinem Hemd um die Taille gebunden hatte. Als der Sack so voll war, dass sich die Nähte spannten, stopfte er die restlichen Geldscheine in seine Hosentaschen und Stiefel. Nachdem er fein säuberlich das gesamte Geld aus dem Safe geräumt hatte, blickte er kurz auf die Gold- und Silbermünzen und nahm lediglich eine in Gold als Andenken mit.

Es gab eine schwere, stählerne Hintertür, die auf eine schmale Straße führte. Der Bankräuber öffnete den Riegel auf der Innenseite, stieß die Tür auf und überprüfte die Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite reihten sich Wohnhäuser aneinander.

Einen Block von der Bank entfernt spielten ein paar Jungen Baseball. Nicht gut. Damit hatte der Bankräuber nicht gerechnet. In den vielen Stunden, in denen er die Straßen rund um die Bank beobachtet hatte, hatte er nie Kinder auf der Straße hinter der Bank spielen sehen. Er musste sich an einen Zeitplan halten und den Güterbahnhof und seinen getarnten Waggon innerhalb von zwölf Minuten erreichen. Er schulterte den Sack so, dass seine rechte Gesichtshälfte abgeschirmt wurde, und ging dann um das Ballspiel herum und weiter die Straße entlang, bis er in einer Gasse verschwand.

Die Jungen ignorierten ihn fast die ganze Zeit. Nur einer von ihnen blickte zu dem ärmlich gekleideten Mann hinüber, der einen großen Sack auf der rechten Schulter trug. Was dem Jungen auffiel, war, dass der Mann einen mexikanischen Hut trug, was in der Gegend um Rhyolite ein seltenes Kleidungsstück war. Die meisten Männer in der Stadt trugen Fedoras, Derbys oder Bergarbeitermützen. Und da war noch etwas an dem zerlumpten Mann … Da rief ihn ein anderer Junge, und er wandte sich wieder dem Spiel zu, gerade noch rechtzeitig, um einen Flyball zu fangen.

Der Bankräuber band sich den Sack über die Schultern, sodass er ihn auf dem Rücken trug. Das Fahrrad, das er zuvor hinter der Zahnarztpraxis abgestellt hatte, stand hinter einem Fass, das Regenwasser aus der Dachrinne auffangen sollte. Er stieg auf und radelte die Armagosa Street entlang, vorbei am Rotlichtbezirk, bis er den Rangierbahnhof erreichte.

Ein Bremser ging am Gleis entlang in Richtung Zugende, wo sich der Dienstwagen befand. Der Bankräuber konnte sein Pech nicht fassen. Trotz seiner akribischen Planung spielte ihm das Schicksal einen bösen Streich. Im Gegensatz zu seinen anderen Banküberfällen und Morden war er diesmal von einem dummen Jungen bemerkt worden. Und jetzt auch noch der Bremser. Noch nie war er so vielen Augen begegnet, die ihn womöglich auf seiner Flucht beobachteten. Ihm bleib nichts anderes übrig, als die Sache weiter durchzuziehen.

Glücklicherweise schaute der Bremser nicht in die Richtung des Bankräubers. Er ging von Waggon zu Waggon und überprüfte die Schmierung an den Achslagern der Drehgestelle und Räder. Wenn die Messingmuffen, die sich in den Drehgestellen befanden, nicht ausreichend geschmiert wurden, konnte sich das Achsende durch die Reibung gefährlich überhitzen. Dann konnte die Achse unter dem Gewicht des Waggons brechen, was eine Katastrophe zur Folge haben würde.

Als der Bankräuber vorbeiradelte, schaute der Bremser nicht einmal auf. Stattdessen kümmerte er sich um seine Arbeit, um die Inspektion zu beenden, bevor der Zug nach Tonopah aufbrach, von wo es weiter nach Sacramento ging.

Der Lokführer war bereits mit seinen Messinstrumenten beschäftigt und vergewisserte sich, dass er genug Dampf hatte, um den schweren Zug in Fahrt zu bringen. Der Bankräuber hoffte, dass der Bremser nicht zurückkam und Zeuge wurde, wie er in seinen privaten Güterwaggon stieg. Schnell öffnete er das Schloss und schob die Tür zurück. Er warf das Fahrrad hinein, kletterte eine schmale Leiter zur Türöffnung hinauf und zog den schweren Geldsack über die Schwelle.

Sobald er im Waggon war, spähte der Bankräuber am Zug entlang. Der Bremser kletterte gerade in den Dienstwagen, in dem die Zugmannschaft untergebracht war. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass er den Bankräuber in seinen Waggon hatte steigen sehen.

Als der Bankräuber sicher in seinem palastartigen Waggon war, ruhte er sich aus und las den Rhyolite Herald. Er fragte sich, was die Zeitung wohl am folgenden Tag über den Banküberfall und den ermordeten Direktor und Kassierer schreiben würde. Wie schon so oft zuvor hatte er keine Gewissensbisse. Die Toten beschäftigten ihn nicht weiter.

Neben der Frage, wie der Bankräuber und Mörder spurlos verschwinden konnte, gab ein Karren, der außerhalb der Stadt auf der Straße nach Bullfrog gefunden wurde, den Ermittlern Rätsel auf. Der Karren war leer und anscheinend von einer Puppe gelenkt worden. Der Suchtrupp, der ihn fand, war verwirrt.

Sheriff Josh Miller zählte zwei und zwei zusammen, doch sein Verdacht brachte ihn nicht weiter. Nichts ergab irgendeinen Sinn. Der Täter hatte keine Spuren hinterlassen.

Der Bankraub und die Morde in Rhyolite waren ein weiteres ungelöstes Rätsel.

4

Der Himmel war wolkenlos, und ein lebhaftes Blau breitete sich wie eine Decke über die Stadt Denver, Colorado. Die Temperatur lag bei angenehmen fünfundzwanzig Grad.

Isaac Bell schloss die Tür seines Prunkgemachs und verließ den Zug über die Plattform am Heck des Pullmanwagens. Er blieb stehen und blickte auf den Glockenturm der im gotischen Stil erbauten Union Station. Das imposante zweigeschossige Gebäude war vierhundert Meter lang und aus Gestein der Rockys errichtet.

Die mit Pfeilspitzen besetzten Zeiger der großen Uhr standen auf zwanzig vor zwölf. Bell zog seine Golduhr aus der Westentasche seines maßgeschneiderten Leinenanzugs und blickte hinauf zu den Zeigern, die auf römische Ziffern zeigten. Bei ihm war es 11 Uhr 43. Er lächelte zufrieden, weil er genau wusste, dass die große Turmuhr drei Minuten nachging.

Er ging in Richtung Gepäckwagen den gemauerten Bahnsteig entlang, fand seine Koffer und winkte einem Gepäckträger. »Mein Name ist Bell. Könnten Sie dafür sorgen, dass meine Koffer ins Brown Palace Hotel gebracht werden?«

Der Mann grinste breit, als Bell ihm eine Goldmünze in die Hand drückte, und rieb sie beinahe ehrfürchtig. »Ja, Sir, ich bringe sie persönlich hin.«

»Ich erwarte außerdem eine große Holzkiste, die mit einem späteren Zug kommt. Können Sie dafür sorgen, dass sie ins Depot der Union Pacific gebracht wird?«

»Ja, Sir, ich kümmere mich darum.« Der Gepäckträger grinste noch immer, während er die Goldmünze rieb.

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen.«

»Darf ich Ihnen das abnehmen?«, fragte der Mann und zeigte mit einem Nicken auf den Koffer in Bells Hand.

»Danke, den trage ich selbst.«

»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«

»Das wird nicht nötig sein. Ich nehme die Straßenbahn.«

Bell schlenderte durch das hohe Bahnhofsfoyer mit den majestätischen Kronleuchtern, vorbei an Reihen hochlehniger Wartebänke aus Eichenholz und hinaus durch den Haupteingang, der von griechischen Zwillingssäulen flankiert wurde. Er überquerte die Wyncoop Street in Richtung 17th Street und ging unter dem neu errichteten Mizpah Arch hindurch, einem torartigen Bogen, auf dem zwei amerikanische Flaggen wehten und der errichtet worden war, um Zugreisende willkommen zu heißen oder ihnen eine gute Fahrt zu wünschen. Bell wusste, dass Mizpah auf Althebräisch Wachturm bedeutete.

Zwei Damen in leichten Sommerkleidern und mit Handschuhen und blumengeschmückten Hüten fuhren in einem batteriebetriebenen Elektrofahrzeug vorbei. Bell zog den Hut, und sie quittierten die aufmerksame Geste des attraktiven Mannes mit Lächeln und Nicken, während sie die 17th Street in Richtung Regierungssitz weiterfuhren.

Pferdewagen und Kutschen waren den wenigen Automobilen, die über die Straßen tuckerten, zahlenmäßig immer noch überlegen. Ein Straßenbahnwagen der Denver Tramway Company kam ratternd aus der Wazee Street und fuhr bis zum Ende des Blocks, wo er stehen blieb, um Fahrgäste ein- und aussteigen zu lassen. Die von Pferden gezogenen Wagen gehörten der Vergangenheit an, und elektrische Straßenbahnen, die in jedes Viertel von Denver führten, beherrschten das Straßenbild.

Bell erklomm die Stufen und gab dem Schaffner zehn Cent. Die Glocke ertönte, und der große rote Straßenbahnwagen rumpelte die 17th Street entlang. Die nächsten vierzehn Blocks bestanden aus drei- und viergeschossigen Backsteingebäuden. Die Gehsteige waren mit den Menschen eines typischen Werktags bevölkert. Die Männer trugen schwarze oder graue Anzüge und Krawatten, während die Frauen in langen Kleidern daherkamen, deren Röcke bis zu den Knöcheln reichten. Die meisten Damen trugen prächtige Hüte und hatten einen Regenschirm dabei.

Interessiert betrachtete er ein Geschäft, das Automobile von Cadillac verkaufte. Die Markisen waren ausgefahren, beschatteten die Schaufenster und ermöglichten so einen Blick auf die Fahrzeuge im Innern. Er warf einen Blick auf die Straßenschilder, um den Laden später wiederzufinden. Er war ein Autonarr und besaß einen Locomobile-Rennwagen, der 1905 beim Vanderbilt Cup auf Long Island, New York, von John Tracy gefahren werden sollte. Bell hatte ihn zu einem Straßenfahrzeug umgerüstet, indem er Stoßstangen und Scheinwerfer angebracht hatte.

Außerdem besaß er ein leuchtend rotes Motorrad. Es war das neueste Rennmodell, ein 2-V-Zylindermotor mit dreieinhalb PS. Es hatte einen modernen Handgashebel, wog nur sechzig Kilo und sauste mit knapp neunzig Kilometern pro Stunde über die Straßen.

Als die Straßenbahn auf eine Haltestelle an der California und 17th Street zuratterte, sprang Bell auf die Fahrbahn und schlenderte hinüber zum Gehsteig. Es war drei Jahre her, seit er das letzte Mal in Denver gewesen war. Fast an jeder Ecke standen hohe Gebäude, und der Bauboom nahm kein Ende. Er ging einen Block zu Fuß zum Colorado Building, einem Sandsteingebäude, das an der Ecke 16th und California Street mit acht Stockwerken emporragte.

Die Fenster waren hoch und von Markisen im selben Farbton wie das Braun der Außenwände abgeschirmt. Die Auskragung über dem Dachgeschoss ragte fast drei Meter über den weit unten liegenden Gehsteig hinaus. Hedgecock & Jones und die Braman Clothing Company belegten das Erdgeschoss. Darüber waren diverse Firmen untergebracht, einschließlich der Fireman’s Fund Insurance Company und der Van Dorn Detective Company.

Bell begab sich ins Foyer und schlängelte sich durch eine Gruppe von Büroangestellten, die während der Mittagspause aus dem Gebäude strömten. Fußboden, Wände und Decke bestanden aus wunderschön gearbeitetem jadefarbenem italienischem Marmor. Er stieg hinter zwei hübschen jungen Damen in einen Otis-Aufzug und trat an die Rückseite der Kabine, während der Aufzugführer die Tür schloss. Wie es Sitte war, spielte Bell den Gentleman und nahm den breitkrempigen Hut ab.

Der Aufzugführer schwenkte den Griff des gebogenen Fahrhebels und beförderte den Aufzug in gemächlichem Tempo in die oberen Stockwerke. Die Frauen stiegen im fünften Stock munter plaudernd aus. Beide drehten sich um und warfen Bell einen schüchternen Blick zu, bevor sie über den Flur verschwanden.

Wieder waltete der Aufzugführer seines Amtes und verkündete beim nächsten Halt vergnügt: »Achter Stock – und einen angenehmen Nachmittag, Sir.«

»Ebenfalls«, erwiderte Bell.

Er trat auf einen Flur, dessen Wände in gedecktem mexikanischem Rot gestrichen waren und deren untere Hälfte man mit einer Walnussholzvertäfelung versehen hatte. Er wandte sich nach rechts und erreichte eine Tür mit geätzten Lettern in der oberen Glasscheibe: THE VAN DORN DETECTIVE AGENCY. Darunter stand das Motto des Unternehmens: Wir geben niemals auf, niemals.

Das Vorzimmer war weiß gestrichen, mit zwei gepolsterten Stühlen und einem Schreibtisch, hinter dem eine Frau steif auf einem Drehstuhl saß. Van Dorn war kein Mann, der Geld für eine prunkvolle Ausstattung verschwendete. Die einzige Dekoration war ein Foto des Chefs, das hinter der Sekretärin an der Wand hing.

Sie blickte auf und lächelte charmant, während sie den gut gekleideten Mann bewundernd ansah. Sie war eine hübsche Frau mit sanften braunen Augen und schmalen Schultern. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

»Ja. Ich möchte zu Arthur Curtis und Glenn Irvine.«

»Werden Sie erwartet?«

»Bitte sagen Sie ihnen, dass Isaac Bell hier ist.«

Sie sog den Atem ein. »Oh, Mr. Bell! Ich hätte es wissen müssen. Mr. Curtis und Mr. Irvine haben Sie nicht vor morgen erwartet.«

»Ich habe in Independence, Missouri, einen früheren Zug erwischt.« Bell blickte auf das Schild auf ihrem Schreibtisch. »Sie sind Miss Agnes Murphy?«

Sie hob die linke Hand, an der ein Ehering steckte. »Mrs. Murphy.«

Bell setzte sein charmantestes Lächeln auf. »Ich hoffe, ich darf Sie Agnes nennen, da ich eine Weile hier arbeiten werde.«

»Selbstverständlich.«

Sie erhob sich hinter ihrem Schreibtisch, und er konnte sehen, dass sie zu ihrer flauschigen weißen Bluse einen blauen Plisseerock trug. Ihr Haar war im Stil des Gibson-Girl, der zu jener Zeit sehr in Mode war, auf ihrem Kopf aufgetürmt. Ihre Unterröcke raschelten, als sie zu den innenliegenden Büros lief.

Neugierig, wie er war, ging Bell um den Schreibtisch herum und blickte auf den Brief, den Mrs. Murphy auf einer Remington-Schreibmaschine getippt hatte. Er war an Van Dorn gerichtet und brachte das Missfallen des Büroleiters der Weststaaten darüber zum Ausdruck, dass Bell den ungelösten Fall übernehmen sollte. Bell war Nicholas Alexander, der das Büro in Denver leitete, nie begegnet, doch er war entschlossen, trotz möglicher Widerstände zuvorkommend und höflich zu bleiben.

Bell trat von Mrs. Murphys Schreibtisch zurück und blickte aus dem Fenster über die Dächer der Stadt, als Alexander den Vorraum betrat. Er sah eher wie der Buchhalter eines Bestattungsunternehmens aus als der Chefermittler, der viele Verbrechen aufgeklärt und die Täter ihrer gerechten Strafe zugeführt hatte. Er war ein kleiner Mann, der Bell kaum bis zu den Schultern reichte. Er trug einen zu langen Mantel und ausgebeulte Hosen. Der Stehkragen seines Hemds war abgewetzt und hatte Schweißränder. Bis auf Schläfen und Hinterkopf war sein Kopf beinahe kahl. Seine Augenbrauen waren genauso ordentlich frisiert wie sein Haar. Ein Kneifer war auf seinem Nasenrücken vor leicht trübsinnig dreinblickenden graugrünen Augen festgeklemmt.

Alexander streckte die Hand aus, während sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen, das keinerlei Humor verriet. »Mr. Bell, es ist mir eine Ehre, Van Dorns besten Agenten kennenzulernen.«

Bell kaufte ihm dieses Kompliment nicht ab, da nicht eine Spur von Wärme darin lag. »Die Ehre ist ganz meinerseits«, antwortete Bell und biss sich dabei fast auf die Zunge. Es war offensichtlich, dass Alexander ihn lediglich als Eindringling in seinem privaten Territorium ansah.

»Bitte kommen Sie mit nach hinten. Bevor ich Ihnen Ihr neues Büro zeige, müssen wir uns unterhalten.«

Alexander drehte sich brüsk um und marschierte steif durch die Tür zu den innenliegenden Büroräumen. Mrs. Murphy trat beiseite und lächelte, als sie vorbeigingen.

Alexanders Büro befand sich im einzigen Eckzimmer mit Panoramablick über die Berge; die anderen Büros waren klein und fensterlos. Bell bemerkte, dass sie außerdem keine Türen hatten und keinerlei Privatsphäre boten. Alexanders Reich war ausgestattet mit kuhfellbezogenen Sofas und Stühlen. Sein Espenholzschreibtisch war groß und aufgeräumt. Obwohl Alexanders Anzug schlecht saß und zerknittert war, war er penibel, was seine Arbeitsumgebung betraf.

Er ließ sich auf einem hochlehnigen Stuhl hinter seinem Schreibtisch nieder und machte Bell ein Zeichen, sich auf einen ungepolsterten Holzstuhl vor dem Schreibtisch zu setzen. Das Einzige, was zur Einschüchterung noch fehlte, dachte Bell, wäre ein Podest unter Alexanders Arbeitsplatz, damit er wie ein kleiner Gott auf dem Olymp zu seinen Angestellten und Besuchern herabschauen konnte.

»Nein, danke«, sagte Bell gelassen. »Nachdem ich zwei Tage im Zug gesessen habe, ziehe ich eine weichere Sitzgelegenheit vor.« Er ließ seine langen Gliedmaßen auf einem der Sofas nieder.

»Wie Sie wünschen«, sagte Alexander, dem Bells überhebliches Benehmen missfiel.

»Sie waren noch nicht hier, als ich vor drei Jahren in Denver an einem Fall gearbeitet habe.«

»Nein, ich bin ein halbes Jahr später auf Empfehlung unseres Büros in Seattle gekommen.«

»Mr. Van Dorn hat Sie in höchsten Tönen gelobt«, log Bell. Van Dorn hatte ihn überhaupt nicht erwähnt.

Alexander faltete die Hände und lehnte sich über die leere Ödnis seines Schreibtisches. »Ich gehe davon aus, dass er Sie über den Mörder und seine Raubzüge informiert hat.«

»Nicht mündlich.« Bell machte eine Pause und hob den Koffer. »Aber er hat mir mehrere Berichte gegeben, die ich während der Fahrt gelesen habe. Mir ist klar, warum der Verbrecher, der für die Banküberfälle und Morde verantwortlich ist, so schwer festzunageln ist. Er plant seine kriminellen Machenschaften mit äußerster Sorgfalt, und seine Vorgehensweise scheint fehlerlos.«

»Genau die Gründe, weshalb er noch nicht erwischt wurde.«

»Nachdem ich das Material gesichtet habe, glaube ich, dass ihm genau diese Detailversessenheit das Genick brechen wird«, sagte Bell nachdenklich.

Alexander sah ihn misstrauisch an. »Was, wenn ich fragen darf, bringt Sie zu diesem Schluss?«

»Seine Aktionen sind zu perfekt, zu ausgeklügelt. Eine winzige Fehlkalkulation könnte sich als fatal erweisen.«

»Ich hoffe, wir werden eng zusammenarbeiten«, sagte Alexander mit unterschwelliger Feindseligkeit.