Kaperfahrt - Clive Cussler - E-Book

Kaperfahrt E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Juan Cabrillo und die Crew der Oregon erhalten ihren bislang größten Auftrag. Die US-Außenministerin wurde von Terroristen entführt, um die Friedensgespräche im Nahen Osten zu blockieren, und Cabrillo soll sie befreien. Doch was haben eine seit zweihundert Jahren vergangene Seeschlacht und eine jahrhundertealte Schriftrolle mit den Plänen der Terroristen zu tun? Cabrillo bleibt nicht viel Zeit, um es herauszufinden – oder das Pulverfass Naher Osten wird explodieren!

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Clive Cussler

& Jack Du Brul

Kaperfahrt

Roman

Aus dem Englischen von Michael Kubiak

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Corsair« bei Putnam, New York.

1. Auflage

E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2009 by Sandecker, RLLLP

All rights reserved throughout the world.

By arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Jörn Rauser

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15192-8

www.blanvalet.de

»… dass dies in den Gesetzen ihres Propheten begründet läge, dass es in ihrem Koran geschrieben sei, dass alle Nationen, die ihre Autorität nicht anerkennen, Sünder seien, dass es ihr Recht und ihre Pflicht sei, Krieg gegen diese zu führen, wo immer man sie träfe, und auch, aus allen Feinden, die sie fangen konnten, Sklaven zu machen, und dass jeder Muselmann, der in der Schlacht erschlagen würde, sicher sein könne, ins Paradies einzugehen.«

– aus Thomas Jeffersons Bericht an den Kontinentalkongress, in dem er die Rechtfertigung für die Kaperung christlicher Handelsschiffe zitiert, die ihm von dem tripolitanischen Botschafter in England, Sidi Haji Abdul Rahman Adja, übermittelt wurde, 1786

»Wir sollten nichts gegen sie unternehmen, es sei denn, wir entschließen uns, sie ein für alle Mal zu vernichten.«

– John Adams über die Berberpiraten, 1787

Die Bucht von TripolisFebruar 1803

Kaum hatte das Geschwader die wehrhaften Mauern der Barbareskenhauptstadt gesichtet, als plötzlich ein Sturm aufkam, der die Ketsch Intrepid und die größere Brigg Siren zwang, aufs offene Mittelmeer zurückzukehren. Durch sein Fernglas hatte Lieutenant Henry Lafayette, der Erste Offizier der Siren, die hohen Masten der USSPhiladelphia entdeckt. Sie war auch der Grund dafür gewesen, dass sich die beiden amerikanischen Kriegsschiffe überhaupt so nahe an das Piratennest herangewagt hatten.

Ein halbes Jahr zuvor war die mit vierundvierzig Kanonen bewaffnete Philadelphia während der Jagd auf ein Korsarenschiff etwas zu weit in den bekanntermaßen tückischen Hafen von Tripolis eingedrungen und in seinen Untiefen auf Grund gelaufen. Damals hatte der Kapitän der Fregatte, William Baimbridge, alles versucht, um sein Schiff zu retten – er hatte sogar die Kanonen über Bord werfen lassen. Die Philadelphia aber hatte sich festgefahren – und bis zum Höchststand der Flut dauerte es noch Stunden. Bedroht von einem Dutzend feindlicher Kanonenboote hatte Baimbridge keine andere Wahl gehabt, als die Flagge zu streichen und das schwere Kriegsschiff dem Pascha von Tripolis zu übergeben. Aus Briefen des holländischen Konsuls, der damals in der Stadt residierte, ging hervor, dass Baimbridge und seine leitenden Offiziere zwar gut behandelt wurden. Doch die Mannschaft der Philadelphia, wie auch die meisten anderen, die in die Gewalt der Berberpiraten gerieten, erwartete dennoch das Schicksal der Sklaverei.

Die amerikanischen Kommandeure der Mittelmeerflotte waren sich darin vollkommen einig, dass der Versuch, die Philadelphia zurückzuerobern und aus dem Hafen zu segeln, ein hoffnungsloses Unterfangen sei. Daher beschlossen sie kurzerhand, das stolze Schiff zu verbrennen. Was aber das Schicksal ihrer Mannschaft betraf, so ließ der Bey von Tripolis signalisieren, dass er bereit sei, sie gegen ein Lösegeld in Höhe von etwa einer halben Million Dollar freizulassen.

Seit Jahrhunderten hatten die Piraten der Barbareskenstaaten an der Küste Europas ihr Unwesen getrieben und waren dabei bis nach Irland und sogar Island vorgedrungen. Sie hatten ganze Städte geplündert und Scharen von Gefangenen nach Nordafrika verschleppt, wo diese als Galeerensklaven oder Arbeiter und, sofern es sich um besonders schöne Frauen handelte, als Konkubinen in den Harems der verschiedenen Fürsten Frondienste leisten mussten. Die reichsten Gefangenen hatten die Möglichkeit, von ihren Freunden und Angehörigen freigekauft zu werden. Doch diese Armen erwartete ein Leben harter Arbeit und unsäglicher Qual.

Um ihre Handelsschiffe zu schützen, zahlten die führenden Seemächte England, Spanien, Frankreich und Holland den drei wichtigsten Städten der Berberküste exorbitant hohe Schutzgelder, damit die Piraten ihre Schiffe verschonten. Die frischgebackenen Vereinigten Staaten, die bis zu ihrer Unabhängigkeit den Schutz des Union Jack genossen hatten, bezahlten den Potentaten ebenfalls einen Tribut, der etwa ein Zehntel ihres jährlichen Steuereinkommens betrug. All dies änderte sich jedoch, als Thomas Jefferson als dritter Präsident des noch jungen Staatenverbundes die Amtsgeschäfte übernahm und verkündete, dass diese Praxis ab sofort ein Ende habe.

Da sie in dieser Ankündigung einen Bluff der jungen Demokratie vermuteten, erklärten die Barbareskenstaaten Amerika den Krieg.

Jefferson reagierte, indem er eine Armada amerikanischer Schiffe in Marsch setzte.

Allein der Anblick der Fregatte Constitution brachte den Herrscher von Tanger dazu, alle amerikanischen Seeleute, die sich in seiner Gewalt befanden, freizulassen und seine Schutzgeldforderung zu widerrufen. Als Gegenleistung gab ihm Kommodore Edward Preble die beiden Handelsschiffe zurück, die er bereits gekapert hatte.

Der Pascha von Tripolis ließ sich nicht so leicht beeindrucken, erst recht nicht, als seine Matrosen die USSPhiladelphia eroberten und sie in Geschenk Allahs umtauften. Ein bedeutendes amerikanisches Kriegsschiff in seine Gewalt gebracht zu haben machte den Pascha von Tripolis so siegesgewiss, dass er jede Art von Verhandlung ablehnte und auf der sofortigen Zahlung seiner Forderung bestand. Die Amerikaner machten sich nur geringe Sorgen, dass die Berberpiraten es möglicherweise schafften, das rahgetakelte Schiff zu besegeln und als Korsar einzusetzen. Doch allein die Vorstellung, dass eine fremde Fahne an seinem Flaggenmast flattern könnte, reichte schon aus, um auch den jüngsten Matrosen in Rage zu bringen.

Kurz nachdem die Amerikaner die Philadelphia, geschützt von hundertfünfzig Kanonen, im inneren Hafen von Tripolis gesichtet hatten, tobte fünf Tage lang ein Unwetter, wie niemand an Bord von einem der beiden Kriegsschiffe es bisher jemals erlebt hatte. Trotz aller Anstrengungen ihrer Kapitäne wurde das Geschwader getrennt und trieb nun weit nach Osten ab.

So schlimm die Verhältnisse an Bord der Siren auch sein mochten, so konnte sich der Erste Offizier Lafayette doch nicht im Mindesten vorstellen, was die Mannschaft der Intrepid während des Sturms erdulden musste. Mit ihren gerade mal vierundsechzig Bruttoregistertonnen war die Ketsch nämlich nicht nur wesentlich kleiner als sein Schiff, sondern auch bis zum Weihnachtsfest des Vorjahres als Sklavenschiff unter dem Namen Mastico unterwegs gewesen. Sie war von der Constitution aufgebracht worden, und als man ihre Laderäume inspizierte, entdeckten die Amerikaner dort zweiundvierzig mit Ketten gefesselte Schwarzafrikaner. Offenbar stellten sie eine Tributzahlung des Paschas von Tripolis an den Sultan von Istanbul dar.

Auch die stärkste Lauge schaffte es nicht, den Gestank menschlichen Leids zu überdecken.

Am zwölften Februar ließ der Sturm endlich nach, aber es dauerte noch bis zum fünfzehnten, dass die beiden Schiffe auf See wieder zueinanderfanden und nach Tripolis zurücksegelten. An diesem Abend berief Kapitän Stephen Decatur, der Kommandeur des Geschwaders, an Bord der tapferen kleinen Intrepid einen Kriegsrat ein. Zu diesem Zweck ruderte Henry Lafayette zusammen mit acht schwer bewaffneten Matrosen zu ihm auf das andere Schiff hinüber.

»Erst warten Sie in aller Gemütlichkeit ab, bis sich der Sturm legt, und jetzt kommen Sie herüber, weil es eine Menge Ruhm zu ernten gibt«, frozzelte Decatur und reichte Lafayette eine Hand, um ihm beim Überklettern der niedrigen Reling behilflich zu sein. Er war ein gut aussehender, breitschultriger Mann mit kräftigem dunklem Haar und fesselnden braunen Augen, dem die Rolle des Geschwaderkommandeurs wie auf den Leib geschneidert schien.

»Nichts in der Welt könnte mich davon abhalten, Sir«, erwiderte Lafayette. Obwohl die beiden Männer den gleichen Rang bekleideten, im gleichen Alter und seit ihrer Zeit als Seekadetten sogar befreundet waren, erkannte Lafayette Decaturs höhere Position als Geschwaderkommandeur und Kapitän der Intrepid unwidersprochen an.

Henry war ebenso groß wie Decatur, hatte jedoch die schlanke Figur eines meisterlichen Fechters. Seine Augen waren so dunkel, dass sie geradezu schwarz erschienen, und in der einheimischen Tracht, in der er sich gekleidet hatte, sah er genauso verwegen aus wie der legendäre Pirat Suleiman Al-Jama, dem sie eines Tages gegenüberzustehen hofften. In Quebec geboren, war Lafayette, kaum dass er seinen sechzehnten Geburtstag gefeiert hatte, nach Vermont gegangen. Er hatte unbedingt dabei sein wollen, wenn Amerika den Versuch unternahm, die Demokratie als Staatsform einzuführen. Er beherrschte die englische Sprache schon recht gut, daher amerikanisierte er die Schreibweise seines Vornamens Henri und wurde amerikanischer Bürger. Er trat in die Navy ein, nachdem er zehn Jahre lang auf den Holzkähnen des Lake Champlain gearbeitet hatte.

Achtzig Mann drängten sich auf seiner Sechzig-Fuß-Ketsch, von denen sich jedoch nur wenige verkleidet hatten. Die anderen sollten sich hinter der Bordwand verstecken oder im Frachtraum warten, wenn die Intrepid an der gemauerten Mole vorbei in den Haupthafen von Tripolis segelte.

»Henry, ich möchte dich mit Salvador Catalano bekannt machen. Er ist unser Lotse, sobald wir in Hafennähe sein werden.«

Catalano war eine massige und dunkelhäutige Erscheinung mit einem wild wuchernden Bart, der seine halbe Brust bedeckte. Auf dem Kopf trug er einen schmuddeligen Leinenturban, und in seinem Gürtel steckte ein gefährlich gekrümmtes Messer mit einem Halbedelstein im Knauf.

»Ich nehme an, er hat sich nicht freiwillig gemeldet«, flüsterte Lafayette Decatur zu, während er sich anschickte, dem Lotsen die Hand zu schütteln.

»Er kostet uns eine Riesensumme«, erwiderte Decatur.

»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mr. Catalano«, sagte Henry und ergriff die fettige Hand des Maltesers. »Im Namen der Mannschaft der USS Siren möchte ich mich bei Ihnen für Ihre mutigen Dienste bedanken.«

Catalano entblößte seine zahlreichen Zahnlücken mit einem breiten Grinsen. »Die Korsaren des Pascha haben meine Schiffe oft genug gekapert, also dachte ich mir, dass ich mich auf diese Art und Weise angemessen rächen kann.«

»Gut, Sie auf unserer Seite zu haben«, erwiderte Lafayette geistesabwesend. Er war bereits damit beschäftigt, sein vorübergehendes Zuhause in Augenschein zu nehmen.

Die beiden Masten der Intrepid machten zwar einen soliden Eindruck, aber mehrere ihrer Stags hingen durch, und die Segel, die sie dem Wind darbot, waren salzverkrustet und häufig geflickt. Obwohl das Deck mit Lauge und Steinen geschrubbt worden war, stieg ein fauliger Hauch von den Eichenplanken auf. Von dem Gestank tränten Henry die Augen.

Das Schiff war mit nur vier kleinen Karronaden bewaffnet, einer besonderen Art von Schiffskanone, die auf Schienen anstatt auf Rädern nach hinten rutschte, wenn sie abgefeuert wurde. Die Mitglieder des Überfallkommandos lagen auf dem Deck, wo sie gerade Platz gefunden hatten, jeder mit einer Muskete und einem Schwert in Reichweite. Die meisten sahen aus, als litten sie noch unter den Nachwirkungen des Fünf-Tage-Sturms.

Henry grinste Decatur an. »Das ist ja das reinste Teufelskommando, das Sie hier haben, Sir.«

»Aye, aber immerhin ist es meins. Soweit ich weiß, Mr. Lafayette, hat Sie in all den Jahren Ihres Dienstes noch niemand Kapitän genannt.«

»Das ist wohl richtig« – Lafayette salutierte – »Kapitän.«

Ein weiterer Tag verstrich, bis der Wind so weit auffrischte, dass die Intrepid Kurs auf Tripolis nehmen konnte. Durch ein Messingfernrohr beobachteten Decatur und Lafayette, wie die mit einer Mauer gesicherte Stadt allmählich aus der eintönigen, weglosen Wüste aufstieg. Auf der hohen Verteidigungsmauer sowie auf den Zinnen der Burg des Paschas waren mehr als einhundertfünfzig Kanonen verteilt. Wegen des Wellenbrechers, der auch Mole genannt wurde und die Ankerplätze abschirmte, konnten sie nur die Spitzen der drei Masten der Philadelphia sehen.

»Was denken Sie?«, wollte Decatur von Henry wissen, den er für den Angriff zum Ersten Offizier ernannt hatte. Sie standen Schulter an Schulter hinter dem maltesischen Lotsen.

Henry blickte erst zu den gehissten Segeln der Intrepid hinauf und dann auf die Kiellinie, die hinter der kleinen Ketsch zu sehen war. Er schätzte ihre Geschwindigkeit auf vier Knoten. »Ich denke, wenn wir nicht schnellstens langsamer werden, laufen wir lange vor Sonnenuntergang in den Hafen ein.«

»Soll ich das Toppsegel und die Fock reffen lassen, Kapitän?«, fragte Salvador Catalano.

»Da ist das Beste, was wir tun können. Später wird der Mond hell genug sein.«

Die Schatten wurden länger, bis sie miteinander verschmolzen und die letzten Sonnenstrahlen den westlichen Horizont erhellten. Die Ketsch glitt in die Bucht von Tripolis und näherte sich den imposanten Mauern der Barbareskenstadt. Die aufgehende Mondsichel verlieh den Steinen der Mole, der Festung und der Burg des Paschas einen unheimlichen Schimmer, während die schwarzen Geschützstellungen, die sich auf den Befestigungsanlagen verteilten, für eine Atmosphäre drohender Gefahr sorgten. Über die Mauer hinweg war die schlanke Silhouette eines Minaretts zu erkennen, von dem die Männer der Intrepid kurz vor Sonnenuntergang den Ruf zum Abendgebet vernommen hatten.

Und direkt unterhalb der Burg lag die USSPhiladelphia vor Anker. Sie schien sich in einem guten Zustand zu befinden – die Amerikaner konnten erkennen, dass die einst über Bord geworfenen Kanonen geborgen und in ihren jeweiligen Stückpforten wieder aufgestellt worden waren.

Der Anblick des Schiffes erzeugte bei Henry Lafayette widersprüchliche Empfindungen. Zwar war er vom Anblick seiner eleganten Linien und seiner Größe gerührt, doch bei dem Gedanken daran, dass die tripolitanische Flagge über dem Heck flatterte, und dem Wissen, dass die dreihundertsieben Männer ihrer Besatzung als Geiseln im Gefängnis des Paschas saßen, kochte ein ohnmächtiger Zorn in ihm. Ihm wäre nichts lieber gewesen, als dass Decatur seinen Männern den Befehl gegeben hätte, in die Burg einzudringen und die Gefangenen zu befreien. Aber er wusste auch, dass ein solches Unternehmen niemals stattfinden würde. Kommodore Preble, der Kommandant des gesamten Mittelmeer-Geschwaders, hatte unmissverständlich klargemacht, er werde auf keinen Fall das Risiko eingehen, dass weitere amerikanische Gefangene in die Gewalt der Berberpiraten gerieten.

Verteilt im Hafen und festgemacht an der Mole ankerten Dutzende anderer Schiffe, darunter lateinergetakelte Frachtsegler und schnittige Piratenschoner, die vor Kanonen starrten. Als er bei zwanzig Schiffen angelangt war, hörte Lafayette auf zu zählen.

Ein neues Gefühl schnürte seine Brust ein. Furcht.

Wenn die Dinge nicht so liefen wie geplant, dann würde die Intrepid niemals aus dem Hafen hinausgelangen und jedermann an Bord fände den Tod – oder, schlimmer noch, würde gefangen genommen und in die Sklaverei verschleppt werden.

Plötzlich bekam Henry einen trockenen Mund – und die zahllosen Stunden, die er mit seinem Entermesser trainiert hatte, erschienen auch nicht annähernd ausreichend. Die beiden .58er Kaliber Steinschlosspistolen, die er sich hinter die um seinen Leib geschlungene Schärpe geschoben hatte, fühlten sich schwach und wirkungslos an. Dann blickte er auf die Matrosen, die sich hinter der Bordwand der Intrepid versteckten. Bewaffnet mit Äxten, Piken, Schwertern und Dolchen wirkten sie mindestens genauso mordlustig wie jeder arabische Pirat. Sie waren die besten Männer der Welt, allesamt Freiwillige, und er wusste, dass sie den Sieg davontragen würden. Ein Fähnrich war bei ihnen und vergewisserte sich, dass die einzelnen Gruppenführer ihre Lampen angezündet hatten und die auf gleiche Länge zugeschnittenen Waltran-Zündschnur bereithielten.

Er blickte wieder zur Philadelphia hin. Sie waren jetzt nahe genug herangekommen, um ein Wächtertrio zu erkennen, das an der Reling stand. Die gekrümmten Säbel, die die Männer an der Seite trugen, waren deutlich zu sehen. Aber da sich nur ein schwacher Windhauch regte, dauerte es noch weitere zwei Stunden, ehe sie sich dem großen Kriegsschiff auf Rufweite genähert hatten.

Catalano versuchte sein Glück auf Arabisch. »Ahoi, da drüben!«

»Was wollen Sie?«, rief einer zurück.

»Ich bin Salvatore Catalano«, antwortete der maltesische Lotse und hielt sich damit genau an den Plan, den Decatur und Lafayette ausgearbeitet hatten. »Dieses Schiff ist die Mastico. Wir sind unterwegs, um Rinder für die englische Marinebasis auf Malta zu kaufen, sind jedoch in einen Sturm geraten. Unser Anker wurde abgerissen, so dass wir einen sicheren Halt zum Vertäuen brauchen. Gerne würde ich für die Nacht an Ihrem prächtigen Schiff festmachen. Am Morgen würden wir dann an den Kai wechseln und die nötigen Reparaturen ausführen.«

»Das war’s wohl«, bemerkte Decatur im Flüsterton zu Henry. »Wenn sie das jetzt nicht glauben, sitzen wir wirklich in der Klemme.«

»Sie glauben uns. Versetzen Sie sich doch mal ihre Lage. Würden Sie sich wegen dieser kleinen Ketsch Sorgen machen?«

»Nein. Wahrscheinlich nicht.«

Der Wachhauptmann musterte die Intrepid, ehe er antwortete: »Sie dürfen festmachen, aber sobald der Tag anbricht, werden die Leinen gelöst.«

»Habt Dank. Für Euch wird Allah einen ganz besonderen Platz in seinem Herzen reservieren«, rief Catalano. Dann wechselte er ins Englische und meinte flüsternd zu den beiden Offizieren: »Sie sind einverstanden.«

Lafayette stand dicht neben Decatur, während die leichte Brise die Intrepid langsam näher und näher an die Seite der Philadelphia heranschob. Die Kanonen der großen Fregatte wurden ausgefahren und die Schutzdeckel von den Läufen entfernt. Je näher sie kamen, desto größer kamen ihnen die Mündungen vor. Falls die Piraten misstrauisch wurden, würde auf diese kurze Entfernung eine einzige Breitseite ausreichen, um die Ketsch in Brennholz zu verwandeln und ihre achtzig Mann Besatzung zu zerfetzen.

Während der Abstand weiter schrumpfte, drängten sich die Piraten gut fünfzehn Fuß über dem Deck der Intrepid an der Reling. Sie unterhielten sich murmelnd und machten sich gegenseitig auf die Gestalten aufmerksam, die hinter der Bordwand der Ketsch kauerten.

Zehn Fuß trennten die Schiffe noch voneinander, als ein Pirat rief: »Americanos!«

»Befehlen Sie Ihren Männern anzugreifen«, schrie Catalano.

»Es gilt einzig und allein der Befehl des kommandierenden Offiziers«, erwiderte Decatur ruhig.

Über ihnen zückten die Berberpiraten ihre Schwerter, und einer griff nach der Donnerbüchse, die an einem Riemen auf seinem Rücken hing. Lautes Geschrei ertönte, als die eichenen Rümpfe gegeneinanderstießen, und Decatur rief: »Entern!«

Henry Lafayette berührte die Bibel, die er stets bei sich trug, und setzte zu einer offenen Stückpforte hinüber, hakte eine Hand hinter die seitliche Kante der Öffnung und schlang den anderen Arm um den warmen Bronzelauf der Kanone. Mit den Beinen zuerst schwang er sich durch die Lücke zwischen der Kanone und der Schiffswand und kam auf die Füße. Seine Klinge sang, als er sie aus der Scheide zog. Im Licht einer einzelnen Lampe, die von der niedrigen Decke herabhing, gewahrte er zwei Piraten, die von einer anderen Stückpforte zurückwichen, während weitere seiner Männer an Bord kamen. Einer der Piraten wandte sich um und entdeckte ihn. Der breite Krummsäbel des Piraten blitzte plötzlich in seiner Hand auf, während er barfuß auf ihn zurannte. Er begleitete seinen Angriff mit einem schrillen Schrei, was eine höchst wirkungsvolle Technik im Kampf gegen unbewaffnete und unerfahrene Handelsschiffer bedeutete.

Henry ließ sich nicht verwirren. Er hatte zwar erwartet, vor Angst gelähmt zu sein, nun trieb ihn jedoch die kalte Wut vorwärts.

Er ließ den Mann auf sich zukommen – und während der Pirat einen wilden Hieb in Hüfthöhe ausführte, der Henry in der Mitte durchschnitten hätte, machte Henry einen kurzen Schritt vorwärts und rammte dem Mann seine Klinge mitten in die Brust. Die Wucht der Attacke des Piraten bewirkte, dass sich der Stahl durch seine Rippen bohrte und am Rücken wieder austrat. Der schwere Krummsäbel fiel klirrend auf die Decksplanken, während der Korsar gegen Lafayette prallte und zusammensackte. Er musste sein Knie als Hebel benutzen, um die Klinge aus der Brust des Piraten zu ziehen. Henry drehte sich herum, als er in seiner Nähe einen Schatten bemerkte, und duckte sich unter einer geschwungenen Axt weg, die auf seine Schulter zielte. Er erwiderte den Angriff mit seinem Schwert und spürte, wie es durch Kleidung, Haut und Muskeln schnitt. Der Winkel, in dem die Klinge traf, reichte zwar nicht aus, um den Gegner zu vernichten, doch der Blutstrom, der aus der Wunde sprudelte, sagte ihm, dass für den Piraten der Kampf beendet war.

Auf dem Geschützdeck herrschte das reinste Hölleninferno. Dunkle Gestalten schlugen wild aufeinander ein. Das Klirren von Stahl wurde von Schmerzensschreien untermalt, wenn eine Klinge ihr Ziel fand. Die Luft war vom scharfen Geruch des Schießpulvers erfüllt, doch daneben konnte Henry den kupferähnlichen Gestank von Blut wahrnehmen.

Er stürzte sich ins Getümmel. Mit seiner niedrigen Decke war das Geschützdeck kein besonders günstiger Kampfplatz für ein Schwert oder eine Pike, doch die Amerikaner fochten verbissen. Einer von ihnen sank auf die Knie, als er von hinten getroffen wurde. Henry sah, dass der Korsar, der ihn niedergestreckt hatte, alle anderen Kämpfer überragte. Sein Turban berührte fast die Stützbalken. Er griff Henry an, und als dieser den Hieb des Krummsäbels parierte, ließ die Wucht des Schlags seinen Arm taub werden. Der Araber schlug abermals zu, und Lafayette musste seine gesamte Kraft aufbieten, um sein Schwert weit genug zu heben, um den blitzenden Krummsäbel abzuwehren.

Er stolperte zurück, und der Pirat drang auf ihn ein, ließ seine Klinge wild herumwirbeln und zwang Henry so schrittweise zum Rückzug. Decatur hatte während ihrer Planung betont, dass ihr Überfall wegen der umfangreichen Piratenflotte, die im Hafen ankerte, so leise wie möglich erfolgen müsse. Da seine Kräfte jedoch schnell erlahmten, hatte Lafayette keine andere Wahl, als seine Pistole aus der Schärpe um seine Taille zu ziehen. Er betätigte den Abzug, noch ehe er richtig gezielt hatte. Die winzige Pulvermenge in der Pfanne blitzte auf, und während sich die Pistole weiter anhob, detonierte die Treibladung mit lautem Knall. Die Kugel vom Kaliber .58 bohrte sich in die Brust des Piraten.

Der Treffer hätte jeden gewöhnlichen Kämpfer niedergestreckt, ehe er auch nur die Zeit zu einem letzten Blinzeln gehabt hätte. Doch dieser Riese blieb auf den Beinen und kam sogar näher. Henry hatte nur einen winzigen Moment, um sein Schwert hochzureißen, als der Krummsäbel erneut auf ihn zuraste. Seine Klinge verhinderte zwar, dass ihm der Arm abgetrennt wurde, aber der wuchtige Hieb schleuderte ihn quer über das Geschützdeck. Er prallte gegen einen der Achtzehnpfünder der Philadelphia. Mit Decaturs Befehl in den Ohren, jeden unnötigen Lärm zu vermeiden, griff Lafayette nach der brennenden Öllampe, die in einem Lederbeutel an seiner Hüfte hing, und hielt die Flamme an das Zündloch der Bronzekanone. Er konnte die Zündladung riechen, obwohl ihr Knistern bei dem Kampfeslärm auf dem Schiff kaum zu hören war. Er behielt seine Position zwischen der Kanone und dem Angreifer bei und vertraute darauf, dass ihn seine langjährige Erfahrung mit Schiffsgeschützen den richtigen Zeitpunkt finden ließ.

Der Pirat musste glauben, dass die Kraft seines Widersachers zur Gegenwehr erschöpft war, da Lafayette vor ihm stand, als ergebe er sich ins Unvermeidliche. Der Pirat hob sein Sarazenenschwert und holte aus, wobei sich sein Körper in der Erwartung des Widerstands, auf den seine Klinge bei ihrem Schnitt durch Fleisch und Knochen treffen würde, anspannte. Dann sprang der Amerikaner zur Seite. Der Araber war viel zu sehr von seiner Siegesgewissheit geblendet, um die Angriffstaktik zu ändern oder den Rauchfaden wahrzunehmen, der sich aus dem hinteren Ende der Kanone in die Luft kräuselte. Einen winzigen Moment später explodierte die Treibladung in einer Wolke schwefeligen Qualms.

Dicke Hanfseile sollten den Rückschlag auffangen und verhindern, dass die Kanone über das Deck rutschte. Doch sie ließen die Kanone immerhin mehrere Fuß rückwärtsschießen. Das Ende der Kanone traf den Schoß des Piraten, zerriss seinen Bauch, zertrümmerte seine Hüftgelenke und zerbrach beide Oberschenkelknochen wie Zündhölzer. Sein schlaffer Körper wurde gegen einen Stützbalken geschleudert, und so brach er auf dem Deck zusammen, säuberlich nach hinten zusammengefaltet.

Henry nahm sich eine Sekunde Zeit, um einen Blick aus der Stückpforte zu werfen. Die achtzehn Pfund schwere Kanonenkugel war in die Festung auf der anderen Seite des Hafens eingeschlagen – eine Schuttlawine ergoss sich aus dem Loch in der Mauer.

»Zwei Treffer mit einem Schuss. Nicht schlecht, Henry, mon ami, wirklich nicht schlecht.« Das Lob kam von John Jackson, dem massigen Bootsmann.

»Falls Kapitän Decatur fragt, war es einer von diesen Mistkerlen, der die Kanone abgefeuert hat, klar?«

»Ich habe nichts anderes gesehen, Mr. Lafayette.«

Der Kanonenschuss hatte die gleiche Wirkung wie eine abgefeuerte Starterpistole zu Beginn eines Wettrennens. Die arabischen Piraten gaben ihren Verteidigungskampf sogleich auf und rannten zu den Stückpforten, um sich mit einem Sprung in das stille Wasser des Hafens zu retten. Diejenigen, die über die Leitern zum Hauptdeck flohen, wurden dort von Decatur und seinen Männern erwartet.

»Machen wir uns ans Werk.«

Die Männer kehrten zur Steuerbordseite des Schiffes zurück, wo Matrosen an Bord der Intrepid schon bereitstanden, um der Entermannschaft Brennmaterial herüberzureichen. Gefolgt von Jackson und sechs anderen Männern, die Fässer voll Schwarzpulver schleppten, stieg Henry Lafayette eine Leiter hinab und kam an den Quartieren der Mannschaft vorbei, die bis auf mehrere Hängematten völlig leer geräumt worden waren. Sie drangen weiter abwärts vor, bis zum tiefsten Deck der Fregatte, und betraten einen der Frachträume des Schiffes. Die meisten Vorräte und Gerätschaften waren weggeschafft worden, aber für die Männer war noch genügend Material vorhanden, um die Fregatte in Brand zu setzen.

Sie beeilten sich. Henry entschied, wo sie die Brandsätze platzierten, und zündete sie mit seiner Öllampe an, sobald sie sich an Ort und Stelle befanden. Die Flammen züngelten sofort hoch, viel schneller, als sie erwartet hatten. Im Handumdrehen war der gesamte Laderaum mit beißendem Qualm erfüllt. Sie kehrten nach oben zurück, wobei sie sich die Ärmel ihrer Jacken auf die Münder pressten, um atmen zu können. Über ihnen entzündete sich die Decke mit einem dumpfen Knall, der wie ein Kanonenschuss klang. John Jackson wurde umgerissen und wäre sicher von einem herabstürzenden brennenden Balken erschlagen worden, wenn Henry nicht eines seiner Beine gepackt und ihn daran über die rauen Decksplanken geschleift hätte. Er half dem Bootsmann aufzustehen, und sie rannten mit den anderen Männern los, wobei sie dicht hinter ihnen waren. Dabei mussten sie immer wieder mit wilden Sprüngen ausweichen und sich ducken, während brennende Holztrümmer auf sie herabregneten.

Schließlich erreichten sie eine Leiter, Henry wandte sich um und trieb seine Männer nach oben. »Tempo, Tempo, Männer, oder wir sterben noch hier unten!«

Er folgte Jacksons massiger Gestalt, während ein Feuerstrahl durch den engen Korridor raste. Henry rammte eine Schulter gegen Jacksons Hintern und stemmte ihn mit aller Kraft hoch. Die beiden zwängten sich aus der Luke und rollten sich sofort zur Seite, während eine Flammensäule aus dem Laderaum hochschoss, auf die Decke traf und sich wie ein wabernder Baldachin ausbreitete.

Sie wateten durch ein Feuermeer. Die Wände, der Boden und die Decke brannten lichterloh, und der Qualm war so dicht, dass Henrys Augen tränten. Blindlings weiterrennend fanden er und Jackson die nächste Leiter und erreichten das Geschützdeck. Qualm wallte aus den Stückpforten, doch genügend frische Luft drang ein, so dass sie nach fast fünf Minuten endlich wieder einatmen konnten, ohne husten zu müssen.

Eine kleine Explosion schüttelte die Philadelphia durch und warf Henry gegen John Jackson.

»Sehen wir zu, dass wir verschwinden!«

Sie kletterten durch eine der Stückpforten. Männer auf der Intrepid halfen ihnen beim Umsteigen auf die kleine Ketsch. Matrosen klopften Henry mehrmals auf den Rücken. Er glaubte, dass sie ihm zu seiner erfolgreichen Mission gratulierten, doch in Wirklichkeit erstickten sie die Glut, die sein Hemd in Brand zu setzen drohte.

Über ihnen stand Stephen Decatur an der Reling und hatte einen Fuß auf das Schanzkleid gestellt.

»Captain«, rief Lafayette, »die unteren Decks sind versorgt!«

»Sehr gut, Lieutenant.« Er wartete, bis zwei seiner Männer an Seilen herabgeklettert waren, und ließ sich dann auf sein Schiff hinunter.

Die Philadelphia glich einer riesigen Fackel. Flammen schossen aus den Stückpforten und leckten an der Takelage hoch. Nicht mehr lange, und die Hitze würde ausreichen, um die Pulverladungen der Kanonen zu zünden, von denen acht direkt auf die Intrepid zielten.

Die vordere Leine, die die Ketsch mit der Fregatte verband, ließ sich leicht lösen, doch die Heckleine hatte sich verheddert. Henry stieß Männer beiseite und zog sein Schwert. Das Seil war fast ein Zoll dick, und seine Klinge, vom Kampf stumpf geworden, durchtrennte sie trotzdem mit einem einzigen Streich.

Da das Feuer so viel Luft ansog, konnte die Ketsch ihre Segel nicht füllen, und die Fock drohte sich mit der brennenden Takelage der Philadelphia zu verhaken. Die Männer setzten lange Ruder ein, um ihr Schiff von dem schwimmenden Scheiterhaufen wegzudrücken. Doch sobald sie einen kleinen Abstand geschaffen hatten, zog das Feuer sie schon wieder zurück.

Brennende Segelfetzen regneten wie Konfetti vom Hauptmast der Fregatte herab. Das Haar eines Matrosen geriet in Brand.

»Henry«, brüllte Decatur, »lassen Sie das Boot zu Wasser, und schleppen Sie uns frei!«

»Aye, aye.«

Henry, Jackson und vier andere ließen das Beiboot herab. Nachdem eine Leine am Bug der Intrepid befestigt worden war, ruderten sie von der Ketsch weg. Als sich das Seil spannte, stemmten sie sich gegen die Riemen und kämpften um jeden Zoll. Wenn sie die Ruderblätter für den nächsten Zug aus dem Wasser hoben, ließ der Sog des Feuers den gewonnenen Abstand gleich wieder um die Hälfte schrumpfen.

»Pullt, ihr Hundesöhne!«, brüllte Henry. »Pullt!«

Und sie gehorchten. Indem sie sich gegen die vierundsechzig Tonnen Eigengewicht ihres Schiffes und den mächtigen Sog des Feuers stemmten, kämpften die Männer verbissen. Sie zogen an den Riemen, bis ihre Rückenwirbel knackten und die Adern an ihren Hälsen dick hervortraten. Sie schleppten ihr Schiff mitsamt seiner Mannschaft von der Philadelphia weg, bis Decatur die Segel am Hauptmast setzen lassen konnte und diese sich infolge der schwachen Brise, die aus der Wüste herüberwehte, blähten.

Hoch oben auf der Burgmauer leuchtete ganz plötzlich ein heller Lichtblitz auf. Einen kurzen Augenblick später war der dumpfe Donner einer Kanone zu hören. Die Kugel landete weit vor der Ketsch und dem Ruderboot, doch diesem Schuss folgten ein Dutzend weitere. Das Wasser ringsum kräuselte sich zunehmend, hervorgerufen von dem Feuer aus den leichten Waffen der Ausgucker und Wächter, die gerade über die Hafenmole rannten.

An Bord der Intrepid eilten die Männer zu den Riemen und ruderten aus Leibeskräften, während hinter ihnen die Philadelphia plötzlich aufloderte, da ihre restlichen Segel in Flammen aufgingen.

Zwanzig Minuten lang pullten die Männer ohne Pause, während eine Kanonenkugel nach der anderen im Wasser einschlug. Eine Kugel zerstörte das Bramsegel der Intrepid, doch darüber hinaus wurde das Schiff nicht getroffen. Die leichten Waffen verstummten zuerst, und dann befanden sie sich außerhalb der Reichweite der Kanonen des Paschas. Die erschöpften Männer fielen sich lachend und singend in die Arme. Hinter ihnen wurden die Mauern der Festung vom wabernden Schein des brennenden Schiffes beleuchtet.

Henry lenkte das Beiboot wieder zum Schiff und dirigierte es unter die Davits.

»Gut gemacht, mein Freund.« Decatur lächelte, wobei sein Gesicht mindestens genauso hell leuchtete wie der feuerrote Himmel hinter ihnen.

Zu erschöpft, um etwas anderes zu tun, als mühsam nach Luft zu ringen, salutierte Henry schwach.

Alle Augen wandten sich plötzlich dem Hafen zu, als sich die lodernden Säulen, in die sich die Masten der Philadelphia verwandelt hatten, langsam neigten und in einem dichten Funkenregen über die Backbordseite ins Meer stürzten. Und dann, als sollte es ein letzter Gruß sein, gingen ihre Kanonen los und feuerten einige Kugeln teils ins Wasser und teils in die Festungsmauer.

Die Männer brüllten vor Begeisterung über diesen letzten heftigen Schlag gegen die Piraten.

»Was jetzt, Captain?«, fragte Lafayette.

Decatur blickte aufs Meer hinaus und sah Henry gar nicht an, während er die Frage beantwortete. »Diese Sache hier ist noch nicht zu Ende. Ich habe eins der Korsarenschiffe im Hafen wiedererkannt. Es war das von Suleiman Al-Jama. Es trägt den Namen Saqr, was so viel wie Falke heißt. Sie können Ihren letzten Penny darauf setzen, dass er bereits in diesem Augenblick die Segel setzen lässt, um uns zu verfolgen. Der Pascha wird sich wegen unseres Unternehmens nicht an den gefangenen Seeleuten rächen – sie sind viel zu wertvoll für ihn. Aber Al-Jama will nichts als Rache.«

»Er war doch früher ein Geistlicher, nicht wahr?«

»Bis vor ein paar Jahren«, bestätigte Decatur. »Er war das, was die Muslime einen Imam nennen. Das ist so eine Art Priester. Sein Hass auf das Christentum war so groß, dass er entschied, Beten sei nicht genug. Und so erklärte er jedem Schiff, das nicht unter muslimischer Flagge segelt, den Krieg.«

»Ich habe gehört, dass er grundsätzlich keine Gefangenen macht.«

»Ich habe das Gleiche gehört. Der Pascha ist darüber gewiss nicht sehr glücklich, weil Gefangene freigekauft werden können, aber er hat auf Al-Jama nur wenig Einfluss. Der Pascha hat sich auf ein Geschäft mit dem Teufel eingelassen, als er Al-Jama gestattete, gelegentlich von Tripolis aus zu operieren. Ich habe auch gehört, dass er sich kaum vor Freiwilligen retten kann, wenn er auf Kaperfahrt geht. Seine Männer sind ihm so treu ergeben, dass sie jederzeit für ihn sterben würden.

Der gewöhnliche Berberpirat betrachtet das, was er tut, als eine Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dieser Tätigkeit gehen sie schon seit Jahrhunderten nach. Sie haben heute Nacht gesehen, wie die meisten von ihnen von der Philadelphia flüchteten, sobald wir das Schiff geentert haben. Sie wollten ihr Leben auf keinen Fall in einem Kampf verlieren, den sie nicht gewinnen konnten.

Al-Jamas Anhänger allerdings sind aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Dies ist für sie eine heilige Berufung. Sie haben sogar ein Wort dafür: Dschihad. Sie kämpfen bis zum Tod, wenn dies bedeutet, dass sie dabei einen einzigen Ungläubigen ins Jenseits mitnehmen können.«

Henry dachte an den großen Piraten, der ihn unerbittlich verfolgt und den Kampf fortgesetzt hatte, nachdem er von einer Kugel getroffen worden war. Er fragte sich, ob er wohl einer von Al-Jamas Anhängern gewesen war. Er hatte dem Mann nicht in die Augen sehen können, aber bei dem Piraten hatte er den Wahnsinn eines Rasenden verspürt, als wäre ihm das Töten eines Amerikaners wichtiger als zu verhindern, dass die Philadelphia in Brand gesetzt wurde.

»Warum glauben Sie, dass sie uns hassen?«, fragte er.

Decatur musterte ihn eindringlich. »Lieutenant Lafayette, ich habe in meinem ganzen Leben noch keine belanglosere Frage gehört.« Er holte tief Luft. »Aber ich will Ihnen sagen, was ich denke. Sie hassen uns, weil es uns gibt. Sie hassen uns, weil wir anders sind als sie. Und dann, und dies ist wohl der wichtigste Grund, hassen sie uns auch, einfach weil sie glauben, das Recht zu haben, uns zu hassen.«

Henry schwieg eine Zeit lang und versuchte, Decaturs Antwort zu verstehen, aber ein solcher Glaubensansatz war ihm so fremd, dass er ihn nicht begreifen konnte. Er hatte zwar in dieser Nacht einen Mann getötet, und doch hatte er ihn keineswegs gehasst. Er hatte lediglich getan, was man ihm befohlen hatte. Basta. Es war nichts Persönliches gewesen, und er vermochte auch nicht zu verstehen, wie jemand es anders empfinden konnte.

»Wie lauten Ihre Befehle, Captain?«, fragte er schließlich.

»Die Intrepid ist der Saqr in keiner Hinsicht gewachsen, erst recht nicht mit einer so umfangreichen Besatzung. Wir werden wie geplant mit der Siren zusammentreffen, aber anstatt gemeinsam nach Malta zurückzukehren, möchte ich, dass Sie und die Siren hierbleiben und Suleiman Al-Jama klarmachen, dass sich die amerikanische Marine weder vor ihm noch vor seinesgleichen fürchtet. Bestellen Sie Kapitän Stewart, dass er auf keinen Fall versagen darf.«

Henry konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Seit zwei Jahren hatten sie außer der Eroberung der Intrepid und der soeben erfolgten Vernichtung der Philadelphia nur wenig unternommen. Er konnte es kaum erwarten, sich mit den Korsaren im direkten Kampf zu messen.

»Wenn wir ihn gefangen nehmen oder töten«, sagte er, »wird das für unsere Kampfmoral wahre Wunder wirken.«

»Und die der Gegenseite empfindlich schwächen.«

Eine Stunde nach Tagesanbruch rief der Ausguck auf dem Hauptmast der Siren nach unten: »Segel! Segel ho! An fünf Strich steuerbord!«

Henry Lafayette und Lieutenant Charles Stewart, der Kapitän des Schiffes, hatten seit Sonnenaufgang auf diese Meldung gewartet.

»Das wurde auch verdammt noch mal Zeit«, sagte Stewart.

Mit gerade mal fünfundzwanzig Jahren hatte er einen Monat, bevor die Navy offiziell vom Kongress gegründet wurde, sein Offizierspatent erhalten. Er war mit Stephen Decatur aufgewachsen, und genauso wie er, galt er in der Navy als ein aufgehender Stern. Auf dem Schiff wurde davon gesprochen, dass er zum Captain befördert werde, ehe die Flotte in die Vereinigten Staaten zurückkehrte. Er hatte eine schlanke Gestalt und ein längliches Gesicht mit weit auseinanderstehenden, tiefliegenden Augen. Er war ein strenger, aber fairer Vorgesetzter, und jedes Schiff, auf dem er diente, wurde von seiner Mannschaft als vom Glück begünstigt betrachtet.

Zehn Minuten lang rieselte der Sand durchs Stundenglas, ehe sich der Ausguck abermals meldete. »Das Schiff bewegt sich parallel zur Küste.«

Stewart stieß ein unwilliges Knurren aus. »Der Kerl muss uns hier draußen vermuten, Nummer Eins. Er versucht uns zu überholen und dann die Intrepid einzuholen.« Danach wandte er sich an Bootsmann Jackson, der außerdem der Segelmeister des Schiffes war. »Alle Segel setzen.«

Jackson brüllte den Befehl zu den Männern hinauf, die in der Takelage hingen, und nach einer Reihe genau einstudierter gleichzeitiger Manöver entfalteten sich ein Dutzend Segel an den Rahen und blähten sich unter der auffrischenden Brise. Der Vormast und der Hauptmast knarrten von dem Druck, während das Zweihundertvierzig-Tonnen-Schiff mit zunehmender Fahrt durchs Mittelmeer pflügte.

Stewart blickte über die Seitenreling auf das schäumende Wasser, das am Eichenrumpf des Schiffes entlangglitt. Er schätzte ihre Geschwindigkeit auf zehn Knoten und wusste, dass sie bei diesem Wetter noch weitere fünf zulegen würden.

»Sie haben uns entdeckt!«, rief der Ausguck. »Sie setzen weitere Segel!«

»Es gibt in diesen Gewässern kein lateinergetakeltes Schiff, das schneller wäre als wir«, sagte Henry.

»Aye, aber es hat nur halb so viel Tiefgang wie wir. Wenn die da drüben wollen, können sie dicht an der Küste bleiben und sich außerhalb der Reichweite unserer Kanonen und Gewehre halten.«

»Als ich mit Captain Decatur sprach, gewann ich den Eindruck, dass dieser Suleiman Al-Jama keinem Kampf aus dem Weg geht.«

»Glauben Sie, dass er sich herauswagen wird, um sich mit uns anzulegen?«

»Decatur glaubt das.«

»Gut.«

Während der nächsten vierzehn Stunden verfolgte die Siren hartnäckig die Saqr. Mit ihrer größeren Segelfläche war die amerikanische Brigg mehrere Knoten schneller als Al-Jamas Räuberschiff. Doch der arabische Kapitän kannte diese Gewässer besser als jeder andere. Immer wieder lockte er die Siren gefährlich dicht an Untiefen heran und zwang sie, die Jagd zu unterbrechen und tieferes Wasser zu suchen. Auch fand die Saqr so dicht an der Küste stärkeren Wind, Wind, der aus der kochenden Wüste jenseits der Klippen kam, die die Küstenlinie wie ein endloser Schutzwall überragten.

Der Abstand zwischen den Schiffen schmolz deutlich zusammen, als die Sonne unterging und der inlandige Wind abnahm.

»In einer Stunde haben wir ihn eingeholt«, sagte Stewart und ließ sich von seinem Kabinensteward ein Glas lauwarmen Wassers reichen.

Sein Blick wanderte über das offene Geschützdeck. Gruppenweise standen Männer mit erwartungsvoll funkelnden Augen an ihren Kanonen. Schuss- und Zündladungen waren eingefüllt und vorbereitet, allerdings nur in kleinen Mengen und für den Fall, dass eine Kanone direkt getroffen wurde. Pulveraffen – Jungen im Alter von zehn Jahren – hielten sich zur Stelle, um zum Magazin zu rennen und die Kanonen ständig mit Zündladungen und Kartuschbeuteln zu versorgen. Männer turnten in der Takelage herum und warteten darauf, die Besegelung je nach Verlauf des Kampfes zu verändern. Und Scharfschützen begaben sich paarweise zu den Krähennestern auf dem Vormast und dem Hauptmast. Zwei waren Brüder aus den Appalachen, die sich gewöhnlich in einem Dialekt unterhielten, den niemand von der Mannschaft verstand. Dafür konnten sie vier Mal in der Minute laden und schießen und mit jedem der vier Schüsse ins Schwarze treffen.

Zwei weiße Rauchfahnen verhüllten plötzlich den Heckaufbau der Saqr, und nach einem kurzen Augenblick erreichte sie auch das Dröhnen der beiden Schüsse. Eine Kugel verfehlte den Bug der Intrepid um fünfzig Yards, während die andere Kugel weit vor dem Heck ins Wasser fiel.

Stewart und Lafayette sahen einander erschrocken an. Henry fasste ihre gemeinsame Sorge in Worte. »Ihre Heckkanonen können ziemlich weit schießen, mindestens doppelt so weit wie unsere.«

»Mr. Jackson, gehen Sie zehn Grad nach Backbord«, befahl Stewart, um die Kanoniere der Saqr abzuschütteln. »Dauerbefehl für ein ähnliches Manöver bei jedem abgefeuerten Schuss. Orientieren Sie sich stets am nächsten Kugeleinschlag.«

»Und wie lauten Ihre Befehle bei einem Treffer?«, fragte der massige Bootsmann, ehe er sich besann.

Stewart hätte Jackson für eine solche unverschämte Bemerkung auspeitschen lassen können, stattdessen sagte er aber: »Ziehen Sie sich einen Tageslohn ab … und hoffen wir, dass von unserem Schiff am Ende mehr übrig sein wird als von Ihrer Heuer.«

Plötzlich schlief der Wind vor der Küste ein. Die großen dreieckigen Segel der Saqr verloren ihre Spannung und flatterten nutzlos in der Luft, während die Segel der Intrepid weiter gebläht blieben. Sie hielten in schrägem Winkel auf den Bug des Piratenschiffes zu, um nicht ins Visier seiner Heckkanonen zu gelangen. Bei einer Entfernung von hundertfünfzig Yards wurden drei Kanonen der Saqr abgefeuert und erzeugten eine Wand aus Pulverqualm, die das Korsarenschiff vollkommen verhüllte. Zwei Kugeln flogen über die Siren hinweg, während die dritte ihren Rumpf zwar traf, ihn jedoch nicht durchschlug.

Stewart blieb ganz ruhig, während der Abstand zwischen den beiden Schiffen stetig abnahm und die Chancen für einen Treffer mit jedem Fuß stiegen. Er sah, dass sie bisher noch von keiner der anderen Kanonen ins Visier genommen wurden, daher wartete er, bis die Araber die Geschütze, die sie soeben gereinigt und neu geladen hatten, herausschoben.

»Alle Geschütze volles Rohr!«

Vier Karronaden feuerten gleichzeitig und erzeugten auf diese Weise einen dumpfen Knall, der Henry traf, als hätte er einen Tritt vor die Brust erhalten. Der Bug verschwand in einer Qualmwolke, die am Rumpf der Intrepid entlangwanderte, während sie die Saqr angriff. In den Krähennestern bedienten die Soldaten eifrig ihre Musketen und nahmen Piraten auf dem Deck der Saqr aufs Korn, die glaubten, hinter der Reling ihres Schiffes unsichtbar zu sein.

Zwei weitere Kanonen brüllten auf, ehe irgendjemand erkennen konnte, ob ihre erste Salve getroffen hatte. Die Saqr antwortete mit einer vollen Breitseite, die perfekt gezielt war. Eine Kugel zerschmetterte eine Karronade mit brennender Lunte und warf die Waffe um, während sie feuerte. Die Kugel traf die benachbarte Geschützmannschaft, tötete zwei Männer und verstümmelte einen dritten. Pulversäcke brannten wie Leuchtfeuer. Eine weitere Kugel der Saqr zerschmetterte den Hauptmast der Intrepid, allerdings nicht gründlich genug, um ihn ins Wanken zu bringen und umzukippen, während andere Kugeln nadelspitze Splitter mit ausreichend Wucht aus dem Schanzkleid rissen, um einen Mann zu durchbohren.

»Mr. Jackson«, verschaffte sich Stewart über dem Kampfeslärm Gehör, »reffen Sie einige Segel am Hauptmast, ehe wir ihn ganz verlieren. Mr. Lafayette, übernehmen Sie das Kommando am Bug. Löschen Sie die Feuer, und bringen Sie die Karronaden wieder in Position.«

»Aye, aye, Sir.« Henry salutierte knapp und rannte zum Bug, während das Musketenfeuer von der Saqr die Decks beharkte.

Er schaute über das Wasser und sah, dass auf dem Berberschiff ein heftiger Brand ausgebrochen war. Die Intrepid feuerte aus allen Rohren. Er konnte eine Gestalt erkennen, die Befehle erteilte, allerdings nicht aufgeregt und hektisch, sondern mit einer Ruhe, die der herrschenden Lage in keiner Weise entsprach. Der Mann trug ein leuchtend weißes Gewand und hatte einen tiefschwarzen Vollbart mit zwei weißen Schnurrbartsträhnen in den Mundwinkeln. Seine Nase war so groß und gebogen, dass die Spitze fast die Oberlippe berührte.

Suleiman Al-Jama musste den Blick gespürt haben, denn er wählte ausgerechnet diesen Moment, um zu dem amerikanischen Schiff hinüberzusehen. Auf hundert Yards Entfernung konnte Henry den Hass spüren, den der Mann ausstrahlte. Eine weitere Kanonensalve machte den Piratenkapitän für einen Augenblick unsichtbar – und Henry musste sich ducken, während die Reling hinter ihm zertrümmert wurde. Als er wieder hochsah, starrte Al-Jama noch immer zum ihm herüber.

Henry löste den Blick von ihm.

Er erreichte den Bug und organisierte sofort eine Eimerkette, um die Flammen zu löschen. Die eine Karronade, die einen Treffer abbekommen hatte, war völlig zerstört, doch die Kanone daneben schien noch intakt zu sein. Henry übernahm das Kommando darüber. Der halbwüchsige Fähnrich, dem diese Geschützgruppe unterstanden hatte, war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Henry richtete die geladene Kanone auf ihr Ziel aus und entzündete die Lunte mit einem langen Glimmstab. Die Kanone bellte kurz und glitt dann auf ihren Führungsschienen zurück. Lafayette ließ die Männer den Lauf kühlen, ehe er zur Saqr hinüberschaute, um festzustellen, welche Wirkung der Schuss gehabt hatte. Die Kugel war dicht neben einer Stückpforte eingeschlagen – und durch das Loch, das sie in den Schiffsrumpf gerissen hatte, konnte er erkennen, dass Männer getroffen worden waren und sich nun auf den Decksplanken in ihrem Blut wälzten.

»Nachladen!«

Auf kürzeste Entfernung beschossen sich die Schiffe gegenseitig – wie Preisboxer, die ohne nachzudenken wild aufeinander einprügeln. Allmählich setzte die Dunkelheit ein, aber sie waren einander so nah, dass sich die Männer an dem immer wieder aufblitzenden Mündungsfeuer der Kanonen orientieren konnten.

Die Salven, die von der Saqr kamen, wurden nach und nach spärlicher. Die Amerikaner zerstörten eine Kanone nach der anderen. Und als von dem tripolitanischen Schiff fast eine Minute lang nicht zurückgeschossen wurde, befahl Henry, die Siren näher an die Saqr heranzulenken.

»Entermannschaften in Position!«

Matrosen hielten Enterhaken bereit, um die beiden Schiffe aneinanderzubinden, während andere Piken, Äxte und Schwerter austeilten. Henry überprüfte die Zündpfannen der beiden Pistolen in seinem Gürtel und zückte sein Entermesser.

Eine Welle weiß schäumenden Wassers vor sich her schiebend stürmte die Siren wie ein Stier auf die Saqr zu, und als die Schiffe nur noch ein Dutzend Fuß voneinander getrennt waren, flogen die Enterhaken durch die Luft. In dem Augenblick, da die Schiffsrümpfe gegeneinanderprallten, setzte Henry mit einem kühnen Sprung auf das andere Schiff hinüber.

Kaum hatten seine Füße das feindliche Deck berührt, als eine Reihe von Explosionen über die gesamte Länge des Piratenschiffes ertönte. Die Kanonen waren keineswegs ausgeschaltet worden. Sie hatten nur geschwiegen, um die Siren heranzulocken. Zwölf Kanonen jagten ihre Kugeln in die amerikanische Brigg und fegten die Männer an ihrer Reling hinweg. Stewart musste schnellstens abdrehen. Matrosen hackten mit Schwertern und Äxten verzweifelt auf die Enterseile ein, um von dem anderen Schiff freizukommen.

Miterleben zu müssen, wie seine Schiffskameraden niedergemäht wurden, schmerzte Henry so sehr, als werde gerade sein eigenes Fleisch zerfetzt. Doch er hatte nicht mehr die Zeit, noch kehrtzumachen, ehe der Abstand zwischen seinem Schiff und dem Piratenschiff auf zwanzig Fuß angewachsen war. Er war auf der Saqr gefangen. Musketenkugeln der Soldaten pfiffen über seinen Kopf hinweg.

Die Araber, die die Kanonen der Saqr bedienten, hatten nichts von seinem Sprung bemerkt. Die einzige Möglichkeit, die Henry nun noch blieb, war ins Meer zu springen und zu hoffen, ein ausreichend guter Schwimmer zu sein, um das ferne Ufer erreichen zu können. Also kroch er zur Reling und hatte sie schon beinahe erreicht, als plötzlich eine Gestalt vor ihm aufragte.

Er griff instinktiv an, ehe der Mann richtig begreifen konnte, wen er vor sich hatte. Henry zog mit der linken Hand eine seiner Pistolen und feuerte los, kurz bevor seine Schulter gegen die Brust des Mannes prallte.

Während sie über die Reling stürzten, gewahrte er die charakteristischen weißen Strähnen im Bart des anderen Mannes: Suleiman Al-Jama.

Sich gegenseitig umschlingend tauchten sie ins lauwarme Wasser ein. Henry kam zuerst wieder hoch und entdeckte Al-Jama, der mühsam nach Luft schnappte, dicht neben sich. Er schlug wild um sich, schien dabei aber seltsam unkontrolliert. In diesem Augenblick entdeckte Henry den dunklen Fleck auf dem weißen Gewand. Seine Pistolenkugel hatte das Schultergelenk des Mannes getroffen, so dass er diesen Arm nicht mehr benutzen konnte.

Ein schneller Blick verriet ihm, dass die Saqr mittlerweile an die fünfzig Fuß weit entfernt war und eine Breitseite nach der anderen mit der Siren austauschte. Niemand auf den Schiffen würde ihn hören, wenn Henry um Hilfe rief, daher versuchte er es gar nicht.

Al-Jamas Bemühungen, den Kopf über Wasser zu halten, wurden zusehends matter. Er schaffte es noch immer nicht, seine Lungen mit Luft zu füllen, und seine schweren Gewänder zogen ihn unwiderstehlich nach unten. Henry war zeit seines Lebens ein guter Schwimmer gewesen, der Araber aber schien dies ganz sicher nicht zu sein. Sein Kopf verschwand für einen Moment unter der Wasseroberfläche und tauchte dann hustend und spuckend wieder auf. Aber nicht ein einziger Hilferuf drang über seine Lippen.

Er ging abermals unter, diesmal erheblich länger, und als er dann wieder auftauchte, brachte er es kaum fertig, die Lippen aus dem Wasser zu heben. Henry streifte seine schweren Stiefel ab und benutzte seinen Dolch, um Al-Jamas Gewand aufzuschlitzen. Der Mantel trieb davon, aber Al-Jama würde sich keine Minute mehr über Wasser halten.

Die Küste war mindestens drei Meilen weit entfernt, und Henry Lafayette war sich nicht sicher, ob er es allein bis dorthin schaffen würden, geschweige denn mit dem Piraten im Schlepptau. Aber Suleiman Al-Jamas Leben lag jetzt in seinen Händen, und er musste alles in seiner Macht Stehende tun, um ihn zu retten.

Er legte einen Arm um Al-Jamas nackte Brust. Der Piratenkapitän schlug um sich, um ihn abzuwehren.

Henry sagte jedoch: »Als wir vom Schiff ins Meer gestürzt sind, hörten Sie auf, mein Feind zu sein, aber ich schwöre bei Gott, wenn Sie sich wehren, lasse ich Sie ertrinken.«

»Das ist mir alle Mal lieber«, erwiderte Suleiman in schwerfälligem Englisch.

»Wie Sie wollen.« Damit zog Henry seine zweite Pistole und schmetterte sie gegen Al-Jamas Schläfe. Indem er den nun bewusstlosen Mann mit einem Arm packte, schwamm er in Richtung Küste weiter.

1

Washington, D. C.

St. Julian Perlmutter verlagerte seine beträchtliche Körpermasse auf dem Rücksitz seines 1955er Rolls-Royce Silver Dawn. Er nahm ein tulpenförmiges Glas erlesenen Champagners von dem Klapptisch, der vor ihm stand, trank genussvoll einen Schluck und setzte seine Lektüre fort. Neben dem Champagner und einem Teller mit Kanapees lag ein Stapel Fotokopien von Briefen, die Admiral Charles Stewart im Laufe seiner unglaublichen Karriere erhalten hatte. Stewart hatte jedem Präsidenten von John Adams bis Abraham Lincoln gedient und war mit mehr Kommandos belohnt worden als jeder andere Offizier in der amerikanischen Geschichte. Die Originale der Briefe waren sicher im Kofferraum des Rolls deponiert worden.

Als wahrscheinlich führender Schifffahrtshistoriker der Welt missbilligte Perlmutter die Tatsache, dass irgendein Banause die Briefe der verheerenden Arbeitsweise eines Fotokopiergerätes ausgesetzt hatte – Licht beschädigt Papier und lässt Tinte verblassen. Doch er hielt es nicht für unter seiner Würde, die Vorteile dieses Fauxpas dennoch zu nutzen, und begann nun die Kopien zu lesen, sobald er die Rückfahrt von Cherry Hill, New Jersey, angetreten hatte.

Seit Jahren war er hinter dieser Sammlung hergejagt, und sein beachtlicher Charme und ein ziemlich hoher Barscheck waren nötig gewesen, um dafür zu sorgen, dass sie nicht der Regierung übergeben und an irgendeinem obskuren Ort eingelagert wurde. Falls sich diese Briefe allerdings als uninteressant erweisen sollten, hatte er bereits geplant, die Kopien zur weiteren Verwendung als mögliche historische Quellen zu behalten und die Originale als steuerlich absetzbare Spende abzugeben.

Er sah aus dem Fenster. Der Verkehr, der in die Hauptstadt der Nation strömte, war wie üblich mörderisch, doch Hugo Mullholland, sein langjähriger Chauffeur und Assistent, schien damit ganz gut zurechtzukommen. Der Rolls schwebte über die I-95, als sei er das einzige Automobil auf der Straße.

Die Sammlung befand sich seit zahlreichen Generationen im Besitz der Stewart-Familie, doch der Zweig, der sie zurzeit verwaltete, starb allmählich aus. Das einzige Kind von Mary Stewart Kilpatrick, deren Reihenhaus Perlmutter soeben verlassen hatte, zeigte kein Interesse an der Sammlung, und ihr einziges Enkelkind litt unter schwerem Autismus. St. Julian bedauerte keineswegs, einen so hohen Preis bezahlt zu haben, wusste er doch, dass das Geld dem behinderten Jungen zugutekäme.

Der Brief, den er gerade las, war an den Verteidigungsminister Joel Roberts Poinsett gerichtet. Er war geschrieben worden, als Stewart von 1838 bis 1841 zum ersten Mal die Marinewerft in Philadelphia geleitet hatte. Der Inhalt des Briefes schien ihm ziemlich langweilig zu sein: Listen von angeforderten Vorratsgütern, Angaben zum Stand der Reparaturarbeiten an einer Fregatte, Bemerkungen über die Qualität der Segel, die geliefert worden waren. Obwohl er seinen Dienstauftrag mit Sorgfalt erfüllte, ging aus dem Schreiben deutlich hervor, dass Stewart viel lieber Kapitän eines Schiffes gewesen wäre, anstatt lediglich die Werft zu leiten.

Perlmutter legte den Brief beiseite, schob sich ein Kanapee in den Mund und spülte es mit einem zweiten Schluck Champagner hinunter. Er blätterte ein paar weitere Briefe durch und blieb an einem hängen, der Stewart von einem Bootsmann geschickt worden war, der während der Barbareskenkriege unter seinem Kommando gedient hatte. Die Schrift war kaum noch lesbar, und der Autor, ein gewisser Joe Jackson, schien nur über eine geringe Schuldbildung verfügt zu haben. Er erging sich in Erinnerungen an eine Mission mit dem Ziel, die USSPhiladelphia in Brand zu setzen, und sprach dann von der anschließenden Seeschlacht mit einem Piratenschiff namens Saqr.

St. Julian war mit diesen Heldentaten durchaus vertraut. Er hatte Captain Decaturs eigenen Bericht über die Vernichtung der amerikanischen Fregatte gelesen, wohingegen über den Kampf gegen die Saqr nicht mehr bekannt war, als Stewart in seinem eigenen Bericht an das Verteidigungsministerium hatte verlauten lassen.

Während er den Brief las, konnte St. Julian beinahe den Pulverqualm riechen und die Schreie der Verwundeten hören, die es gegeben hatte, nachdem die Saqr die Siren durch eine List an sich herangelockt und dann eine überraschende Breitseite abgefeuert hatte.

In dem Brief erkundigte sich Jackson beim Admiral nach dem Schicksal des stellvertretenden Kommandeurs der Brigg, Henry Lafayette. Perlmutter erinnerte sich, dass der junge Lieutenant auf das tripolitanische Schiff hinübergesprungen war, kurz bevor seine Kanonen abgefeuert wurden, und dass er dabei wahrscheinlich auch den Tod gefunden hatte, da für seine Rückkehr niemals ein Lösegeld gefordert worden war.

Er las weiter und musste zu seinem Missfallen feststellen, dass er sich geirrt hatte. Jackson hatte gesehen, wie Lafayette mit dem Kapitän der Saqr gekämpft hatte und beide über die Backbordreling gestürzt waren. »Der Junge fiel zusammen mit dem Feind (geschrieben Veind) Suleiman Al-Jama ins Meer.«

Dieser Name elektrisierte Perlmutter regelrecht. Es war nicht der historische Kontext, der ihn dabei überraschte – er konnte sich schwach an den Namen des Kapitäns der Saqr erinnern. Sondern es war eher die aktuelle Verwendung des Namens, die ihn aufmerken ließ: Suleiman Al-Jama war nämlich der Spitzname eines Terroristen, der beinahe ebenso dringend gesucht wurde wie Osama bin Laden.

Der moderne Al-Jama hatte sich in verschiedenen Hinrichtungsvideos nachhaltig in Szene gesetzt und war die geistige Inspiration für zahllose Selbstmordattentäter im Nahen Osten sowie in Pakistan und Afghanistan. Der bisherige Höhepunkt seiner Aktivitäten wurde durch die Planung und Ausführung eines Überfalls auf einen abgelegenen pakistanischen Armeeposten gesetzt, bei dem mehr als hundert Soldaten ums Leben gekommen waren.

St. Julian blätterte die Briefe durch, um in Erfahrung zu bringen, ob Stewart geantwortet und eine Kopie aufbewahrt hatte, wie er es stets zu tun pflegte. Und tatsächlich, der nächste Brief in dem Stapel war an John Jackson adressiert. Er las ihn einmal, überflog ihn dabei aber eher staunend, und las ihn dann ein zweites Mal, diesmal um einiges langsamer. Er lehnte sich so zurück, dass der Ledersitz unter seinem Gewicht ächzte. Er fragte sich, ob es irgendwelche aktuellen Bezüge zu dem geben mochte, was er soeben erfahren hatte, und entschied, dass dies wohl nicht der Fall war.

Er war schon im Begriff, sich einem anderen Brief zuzuwenden, als er innehielt und noch einmal nachdachte. Was wäre, wenn die Regierung von dieser Information Gebrauch machen könnte? Was würde es ihr nützen? Höchstwahrscheinlich gar nichts. Doch er fand, dass diese Entscheidung nicht bei ihm lag.

Wenn er im Zuge seiner Forschungen auf etwas Interessantes stieß, gab er es normalerweise an seinen guten Freund Dirk Pitt weiter, den Direktor der National Underwater and Marine Agency, aber er war sich nicht sicher, ob diese Information überhaupt den Einflussbereich der NUMA betraf. Perlmutter war ein erfahrener Washington-Kenner und pflegte überall in der Stadt seine Kontakte. Er wusste ganz genau, wen er anrufen musste.

Das Autotelefon verfügte über einen Bakelithörer und eine Wählscheibe. Perlmutter hasste Mobiltelefone und hatte auch niemals ein solches bei sich. Seine dicken Finger passten zwar kaum in die kleinen Löcher der Wählscheibe, aber er schaffte es trotzdem, die Verbindung herzustellen.

»Hallo«, meldete sich eine Frau.

St. Julian hatte sie auf ihrer direkten Leitung angewählt und vermieden, von einem Assistenten zum nächsten verbunden zu werden.

»Hi, Christie, hier ist St. Julian Perlmutter.«

»St. Julian!«, rief Christie Valero. »Es ist ja eine Ewigkeit her! Wie geht es Ihnen?«

Perlmutter rieb sich seinen voluminösen Bauch. »Sie kennen mich. Ich entwickle mich mehr und mehr zu einem Schatten meiner selbst.«

»Ich hatte auch nichts anderes vermutet.« Sie lachte. »Haben Sie eigentlich schon die Jakobsmuscheln meiner Mutter zubereitet, seit Sie mir ihr Geheimrezept aus dem Kreuz geleiert haben?«

Abgesehen von seinem umfassenden Wissen über Schiffe und Schifffahrt war Perlmutter ein legendärer Vielfraß und Lebemann.

»Dieses Gericht gehört mittlerweile zu meinem gängigen Repertoire«, versicherte er ihr. »Wann immer Sie Lust haben, können Sie mich anrufen, und dann bereite ich diese Köstlichkeit für Sie zu.«

»Ich nehme Sie beim Wort. Sie wissen doch, Kochanweisungen, die über den Hinweis ›Entfernen Sie die äußere Verpackung, stellen Sie die Schale in einen Mikrowellenherd und decken Sie sie mit einer Plastikhaube zu‹ hinausgehen, überfordern mich vollkommen. Aber ist dies jetzt nur ein freundschaftlicher Anruf, oder haben Sie ein besonderes Anliegen? Ich bin hier nämlich ziemlich im Stress. Bis zur Konferenz dauert es noch einige Monate, aber die Drachenlady gibt keine Ruhe und lässt uns rotieren – bis zum Umfallen.«

»Das ist aber nicht besonders nett, sie so zu nennen«, äußerte er einen milden Tadel.

»Soll das ein Witz sein? Fiona liebt es.«

»Ich glaub es Ihnen aufs Wort.«

»Also, was ist los?«

»Ich bin soeben auf etwas ziemlich Interessantes gestoßen und dachte, Sie würden es vielleicht gern als Erste erfahren.« Nun berichtete er ihr, was er in dem Brief Charles Stewarts an seinen ehemaligen Schiffskameraden gelesen hatte.

Als er damit zu Ende war, kam von Christie Valero nur eine Frage: »Wie schnell können Sie in meinem Büro sein?«

»Hugo«, sagte St. Julian, nachdem er den Telefonhörer auf die Gabel gelegt hatte, »es gibt eine kleine Änderung unserer Pläne. Unser neues Ziel ist Foggy Bottom. Unsere Unterstaatssekretärin für nahöstliche Angelegenheiten möchte sich gerne mit mir unterhalten.«

2

Vor der Küste von SomaliaVier Monate später

Der Indische Ozean war ein funkelndes Juwel, absolut klar und blau. Aber auf seiner Oberfläche befand sich ein Makel, und zwar in Gestalt eines fünfhundertsechzig Fuß langen Frachtschiffes. Dieses Schiff machte kaum nennenswerte Fahrt, obgleich sein einziger Schornstein ausgiebige Mengen stinkenden schwarzen Qualms ausstieß. Es war klar, dass das Schiff die Meere weit jenseits seiner bestimmungsmäßigen Lebenserwartung befuhr.

Es lag so tief im Wasser, dass es nach Mumbai gezwungen war, eine umständliche Route zu wählen, um jeden möglichen Sturm zu meiden, da bereits Wellen, nicht viel höher als vier Fuß, sein Deck überspülen würden. An Backbord mochte das Schiff sogar noch eher Wasser von niedrigeren Wellen aufnehmen, da es dort eine leichte Schlagseite hatte. Der Rumpf war in einem hässlichen Grün gestrichen, unterbrochen von kleinen Flächen in anderen Farben, wo der Mannschaft die ursprüngliche Farbe ausgegangen war. Roststreifen leckten wie braune Zungen von den Speigatts nach unten, und große Stahlplatten waren auf den Rumpf geschweißt, um altersbedingte Schwachstellen zu verstärken.

Die Aufbauten befanden sich, leicht nach achtern versetzt, etwa in der Mitte des Schiffes, wodurch es über drei Ladeluken auf dem Vorderdeck und zwei auf dem Achterdeck verfügte. Die drei Kräne, die vom Oberdeck aufragten, schienen mit einer dicken Rostschicht bedeckt, und die Seile waren ausgefranst. Die Decks selbst waren mit undichten Fässern, schadhaften Maschinenteilen und Gerümpel übersät. An den Stellen, wo die Reling dem Rost zum Opfer gefallen war, hatte die Mannschaft längere Kettenstücke eingehängt.

Den Männern, die ihn von einem Fischerboot aus betrachteten, das in der Nähe lag, bot der Frachter kein besonders einladendes Bild. Aber sie konnten es sich nicht leisten, die Gelegenheit zu ignorieren, die der Frachter in diesem Augenblick darstellte.

Der somalische Kapitän war ein drahtiger Mann mit scharfen Gesichtszügen, dem in der Mitte seines Mundes ein Zahn fehlte. Die anderen Zähne rechts und links der Lücke befanden sich in einem üblen Zustand, und sein Zahnfleisch war schwarz von Fäulnis. Er beriet sich mit den drei anderen Männern auf der engen Kommandobrücke, ehe er ein Handmikrofon vom Funksprechgerät nahm und mit dem Daumen auf einen Knopf drückte. »Ahoi, ich rufe den Frachter voraus.« Sein Englisch hatte zwar einen starken Akzent, schien aber dennoch ganz passabel.

Einen Moment später drang eine blecherne Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. »Kommt dieser Ruf von dem Fischerboot auf unserer Backbordseite?«

»Ja. Wir brauchen einen Arzt«, sagte der Kapitän. »Vier meiner Männer sind sehr krank. Können Sie uns helfen?«

»Ein Mitglied unserer Mannschaft war Sanitäter bei der Navy. Welches sind die Symptome bei Ihren Männern?«

»Ich kenne das Wort simm-tome nicht.«

»Wie krank sind sie denn?«, fragte der Funker auf dem Frachter.

»Sie müssen sich seit Tagen ständig übergeben. Ich tippe auf verdorbene Lebensmittel.«

»Okay. Ich glaube, das können wir in den Griff kriegen. Kommen Sie querschiffs auf uns zu und halten Sie sich knapp vor den Aufbauten. Wir drosseln die Fahrt so weit wie möglich, aber wir können jetzt nicht anhalten. Haben Sie verstanden?«

»Ja, ja. Ich verstehe. Sie stoppen nicht. Ist okay.« Er zeigte seinen Kameraden ein wölfisches Grinsen und sagte in seiner Muttersprache: »Sie glauben mir. Sie werden nicht stoppen, wahrscheinlich weil dann die Maschinen nicht mehr anspringen, aber das ist kein Problem. Abdi, übernimm das Ruder, bring uns in der Nähe der Aufbauten längsseits, und pass dich ihrer Geschwindigkeit an.«

»Jawohl, Hakeem.«

»Und wir sollten jetzt an Deck gehen«, sagte der Kapitän zu den anderen beiden.