Unbestechlich - Clive Cussler - E-Book

Unbestechlich E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

40 Jahre SPIEGEL-Bestsellergarantie.

1921. Isaac Bells Freund und Mentor Joseph Van Dorn wird von einem Schmuggler angeschossen und schwer verwundet. Bell wird nicht ruhen, bis er den Täter gestellt hat. Doch da wird der wichtigste Zeuge ebenso brutal wie effizient ermordet. Bell dringt immer tiefer in das Netz der Schmuggler vor und stößt auf eine Organisation, deren Ambitionen weit über schnelles Geld hinausgehen. Nicht weniger als die Destabilisierung der Vereinigten Staaten ist ihr Ziel – und Bell ist der Einzige, der sie aufhalten kann.

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Autoren

Seit Clive Cussler 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist er auch auf der deutschen Spiegel-Bestsellerliste ein Dauergast. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Justin Scott ist ein Bestsellerautor von Thrillern, Krimis und historischen Romanen. Er wurde für seine Krimis bereits mehrmals für den renommierten Edgar-Allan-Poe-Preis nominiert. Er lebt mit seiner Frau Amber in Connecticut, USA.

Liste der lieferbaren Isaac-Bell-Romane:

1. Höllenjagd (37057)

2. Sabotage (37684)

3. Blutnetz (37964)

4. Todesrennen (38167)

5. Meeresdonner (38364)

6. Die Gnadenlosen (0144)

7.Unbestechlich (0320)

Clive Cussler& Justin Scott

UNBESTECHLICH

Ein Isaac-Bell-Roman

Aus dem Englischen von Michael Kubiak

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Bootlegger« bei G.P. Putnam’s Sons, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Oktober 2016 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2014 by Sandecker, RLLLP

by arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

350 Fifth Avenue, Suite 5300

New York, NY 10118 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com

Redaktion: Jörn Rauser

HK ∙ Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-18407-0V001www.blanvalet.de

Für Janet

BUCH EINS

RUMROW

1921

1

Zwei Männer in teuren Anzügen, ein Bootlegger und sein Leibwächter, ließen einen Pagen über die Dachbrüstung des Gotham Hotels baumeln.

Der Leibwächter hielt ihn an den Füßen fest, neunzehn Stockwerke über der 55th Street. Es war Nacht. Niemand sah etwas, und die Hilfeschreie des Jungen gingen im Lärm der Busse auf der Fifth Avenue, im Rattern der Elevated über der Sixth und im Scheppern der Straßenbahnglocken auf der Madison unter.

Der Bootlegger rief zu ihm hinab: »Jeder Page im Hotel verkauft mein Zeug. Welche Probleme hast du?«

Kirchtürme und Hauskamine ragten ihm wie gierige Zähne entgegen.

»Das hier ist deine letzte Chance, Sonny.«

Ein großer Mann in einem leichten Sommeranzug huschte lautlos über das Dach. Er zog eine Browning Automatic aus der Manteltasche und ein Wurfmesser aus dem Stiefelschaft, dann schwang er sich auf die Brüstung und drückte die Pistolenmündung gegen die Schläfe des Leibwächters.

»Halt ihn gut fest.«

Der Leibwächter erstarrte. Der Bootlegger zuckte zusammen, als die Spitze seinen Hals berührte.

»Wer zum …«

»Isaac Bell. Van Dorn Agency. Bei Zwei ist er wieder auf festem Boden.«

»Wenn Sie schießen, lassen wir ihn fallen.«

»Ehe er das achtzehnte Stockwerk passiert, hat jeder von euch ein Loch im Kopf … Ich zähle: Eins! Zieh ihn hoch. Zwei! Über die Brüstung … Leg ihn aufs Dach … Bist du okay, mein Sohn?«

Der Page hatte Tränen in den Augen, nickte aber. Dabei wackelte sein Kopf wie der einer Puppe.

»Geh nach unten«, sagte Isaac Bell zu ihm, schob das Messer in seinen Stiefel und wechselte die Automatik in die linke Hand. »Bestell deinem Boss von Chefermittler Bell, dass er dir dafür, dass du dich nicht von Bootleggern hast kaufen lassen, eine Woche Urlaub und einen Fünfzig-Dollar-Bonus spendieren soll.«

Der Leibwächter hatte nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Als sich der große Detektiv bückte, um dem Pagen auf die Beine zu helfen, schlug er mit einer schweren, dicht beringten Hand zu. Gekonnt und mit der geballten Kraft des massigen Schlägers auf die Reise geschickt, wurde die Faust gestoppt, ehe sie auch nur zehn Zentimeter zurückgelegt hatte.

Ein Knochen brechender Konter schüttelte den Mann durch. Seine Knie gaben nach, und er sackte auf die Teerpappe. Blitzartig streckte der Bootlegger seine leeren Hände zum Nachthimmel. »Okay, okay.«

Die Van Dorn Agency – ein Unternehmen mit Geschäftsstellen in jeder größeren Stadt des Landes und zahlreichen Städten in Übersee – unterhielt freundschaftliche Beziehungen zur Polizei. Doch als er das Reviergebäude in der 54th Street betrat, witterte Isaac Bell Ärger.

Der diensthabende Polizist konnte ihm nicht in die Augen blicken.

Bell reichte trotzdem über das Empfangspult, um ihm die Hand zu schütteln. Der Vater dieses Polizisten, der ehemalige Streifenpolizist Paddy O’Riordan, besserte sich seine Pension als Teilzeitnachtwächter bei den Van Dorn Protective Services auf.

»Wie geht es Ihrem Dad?«

Paddy sei wohlauf, sagte der andere.

»Besteht eine Chance, mit dem Bootlegger, den wir im Gotham geschnappt haben, zu reden?«

»Der große Kerl ist im Krankenhaus, wo sie ihm den Unterkiefer verdrahten.«

»Mich interessiert aber der kleine, der Boss.«

»Die Kautionsagentur hat für ihn gebürgt.«

Bell traute seinen Ohren nicht. »Er wurde auf Kaution freigelassen? Bei Mordversuch?«

»Sie erwarten nun mal, dass sie den Schutz kriegen, für den sie bezahlt haben«, sagte Sergeant O’Riordan, ohne die Miene zu verziehen. »An Ihrer Stelle, Mr. Bell, würde ich die Kerle sofort in den Fluss werfen, anstatt uns zu rufen.«

Aufmerksam beobachtete Bell den Cop, als er erwiderte: »Ich nehme an, dann würde die Küstenwache sie rausfischen.«

O’Riordan pflichtete ihm mit einem schicksalsergebenen »Yeah« bei und bestätigte damit die Gerüchte, dass sogar einige Beamte der United States Coast Guard – der Abteilung des Schatzamtes, die für die Einhaltung der Prohibitionsvorschriften auf See sorgen sollte – von den Bootleggern fürs Wegschauen bezahlt wurden.

Ab heute Nachmittag, dachte Bell, würden die Van Dorns alles tun, um dem einen Riegel vorzuschieben.

Eine starke Hand am Gashebel seiner Loening-S-1-Flying-Yacht, die andere auf dem Handrad des Seitenruders, raste Isaac Bell den East River hinunter, um das Flugzeug in die Luft zu bekommen. Er wich einem Eisenbahnprahm aus und nahm direkten Kurs auf eine sich zügig verengende Lücke zwischen einem Schlepper, der einen Verband Kohleleichter vor sich herschob, und einem anderen Schleppschiff, das einen signalroten, mit Dynamit beladenen Leichter am Haken hatte. Joseph Van Dorn, der stattliche und dank seines feuerroten Backenbarts unverwechselbare Gründer der Detektei, saß in Gedanken versunken neben ihm im offenen Cockpit des Wasserflugzeugs.

Die Greenpoint-Fähre legte vom Terminal am Ende der 23rd Street ab und schob sich ihnen direkt in den Weg. Der Anblick des massigen Schiffsrumpfs, der plötzlich ihre Windschutzscheibe ausfüllte, bewirkte, dass sich Joseph Van Dorn ruckartig kerzengerade aufrichtete. Unerschrocken und durch kaum etwas aus der Ruhe zu bringen, fragte er: »Können wir noch rechtzeitig anhalten?«

Bell gab Vollgas.

Der Lärm des Liberty-Motors, der in Pusher-Konfiguration hinter ihnen auf der Tragfläche montiert war, steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen.

Bell riss das Handrad mit einem heftigen Ruck herum.

Die Loening S-1 hielt den aktuellen Geschwindigkeits- und Höhenrekord, war jedoch dafür berüchtigt, nur äußerst träge auf die Steuerimpulse zu reagieren. In der Hoffnung, die Wendigkeit der Maschine zu verbessern, hatte Bell den Steuerknüppel und die Pedale durch ein von Louis Blériot entwickeltes kombiniertes Seiten- und Höhenruderhandrad ersetzt.

Passagiere auf der Greenpoint-Fähre zogen die Köpfe ein und wichen von der Reling zurück.

Bell drehte das Rad bis zum Anschlag weiter.

Die Flying Yacht hob von der Wasseroberfläche ab und schwang sich mit nicht mehr als dreißig Zentimetern Abstand über die Fähre hinweg.

»Ihre Art zu fliegen sollte verboten werden«, sagte Van Dorn.

Bell flog unter der Williams Bridge und zwischen den Ausguckmasten eines Kriegsschiffes hindurch, das an einem Pier des Brooklyn Navy Yards lag. »Tut mir leid, Sie aus Ihren Gedanken gerissen zu haben.«

»Wenn Sie so weitermachen, reißen Sie uns noch beide ins Verderben.«

Bell zischte mit hundertachtzig Stundenkilometern über das dicht begrünte Brooklyn hinweg.

Van Dorn grübelte weiterhin darüber nach, wie sich die augenblickliche Krise am besten überstehen ließ.

Der Weltkrieg hatte der Agentur heftig zugesetzt. Einige seiner besten Detektive waren in den Schützengräben Europas umgekommen. Andere waren erschreckend jung von der Grippeepidemie dahingerafft worden. Eine Nachkriegsrezession in der Geschäftswelt hatte zahlreiche Klienten in den Bankrott getrieben. Und gestern erst hatte Isaac Bell hautnah erfahren müssen, dass Bootlegger, die sich durch Bestechung von Polizisten und Politikern an der Prohibition bereichert hatten, zwei seiner besten Hausdetektive des Gotham Hotels auf ihrer Lohnliste führten.

Bell stieg auf dreitausend Fuß, ehe sie die Rockaways erreichten. Dort, wo sich der Sandstrand wie ein Häutungsmesser in den Ozean schob, machte er kehrt und folgte der Kette vorgelagerter Inseln, die Long Island vor der zerstörerischen Wucht des Atlantiks schützten, nach Osten. Ein Paradies aus versteckten Buchten und Marschen, Wasserläufen, Tümpeln und Kanälen – wie für Alkoholschmuggler geschaffen – erstreckte sich im Windschatten dieser Inseln, so weit sein Auge reichte.

Dreißig Meilen von New York entfernt lenkte er die Maschine aufs offene Meer hinaus und ging in den Sinkflug über.

»Darf ich mit auf die Barkasse, Chief?«

Seaman Third Class Asa Somers, der jüngste Matrose auf dem Coast-Guard-Kutter CG-9, war vollkommen aus dem Häuschen. Endlich befand er sich wirklich auf See, dazu noch auf einem Schiff mit Kanone und Maschinengewehren, das vor der Küste von Fire Island Jagd auf Alkoholschmuggler machte. Und in diesem Augenblick schwebte das schnellste Flugboot der Welt – ein von einem Druckpropeller angetriebener Hochdecker – in weitem Bogen vom Himmel herab. Und als wäre das Dröhnen seines Vierhundert-PS-Motors nicht schon aufregend genug, saß in der Maschine auch noch ein berühmter Kämpfer gegen das Verbrechen, von dem er bereits einiges in Boy’s Life und der Police Gazette gelesen hatte – Mr. Joseph Van Dorn, dessen Armee von Privatdetektiven als Leitsatz auf ihre Fahnen geschrieben hatte: »Wir geben nicht auf! Niemals!«

»Weshalb so aufgeregt?«, knurrte der weißhaarige Hauptbootsmann.

»Ich möchte Mr. Van Dorn begrüßen, wenn er gelandet ist.«

»Er wird aber nicht landen.«

»Weshalb nicht?«

»Mach die Augen auf, Junge. Siehst du den Seegang? Anderthalb Meter hohe Wellen würden das Flugboot sofort zum Kentern bringen.«

»Vielleicht versucht er es trotzdem«, sagte Somers ohne viel Hoffnung. Im Flight Magazine wurde die Geschwindigkeit der S-1 weitaus mehr gelobt als ihre Manövrierbarkeit.

»Wenn er es tut«, erwiderte der Chief, »kannst du auf der Barkasse mitkommen, um die Leichen aufzufischen.«

Oben auf der Brückennock äußerte der Skipper von CG-9 die gleiche Einschätzung.

»Enterhaken bereithalten.«

Das Flugboot blieb im Sinkflug und beschrieb einen engen Kreis. Als es in geringer Entfernung das Küstenwachboot passierte und dabei die Wellenkämme zu berühren schien, erkannte Somers sein Idol, Joseph Van Dorn, der neben dem Piloten in dem rundum verglasten und oben offenen Cockpit saß, und zwar sah er den roten Backenbart, der im Flugwind flatterte.

Das Getöse des großen Zwölfzylindermotors sank zu einem Flüstern herab.

»Völlig verrückt«, brummte der Chief.

Aber der junge Somers beobachtete die Querruder des Flugboots. Die Landeklappen flatterten schneller, als das Auge sehen konnte, während der Pilot sich bemühte, die Maschine ruhig zu halten. Die Höhenruder des Schwanzleitwerks senkten sich in den Luftstrom, und die Maschine kam so gleichmäßig und glatt herunter wie eine Lokomotive auf Schienen. Der lange V-förmige Rumpf setzte auf dem Wasser auf und wirbelte einen hauchfeinen Gischtschleier auf. Die Schwimmer unter den Tragflächen tauchten leicht in die Dünung ein, und die Maschine kam zur Ruhe.

»Somers! Fass die Bugleine!«

Der Junge sprang in die kleine Barkasse, und dann überwanden sie die hundert Meter, die den Kutter vom Flugboot trennten, in zügiger Fahrt. Der riesige vierflügelige Propeller hinter der Tragfläche stoppte, und der Pilot, der die nahezu unmögliche Landung so kinderleicht hatte aussehen lassen, kletterte aus dem Cockpit auf das Laufbrett hinunter, das vor dem Cockpit über den schwankenden Rumpf hinausragte. Er war groß, schlank, hellblond, und sein attraktives Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck. Seine golden schimmernde Haarmähne und der buschige Schnurrbart waren vollendet gestutzt. Der maßgeschneiderte Anzug und der breitkrempige Hut, den er auf dem Kopf trug, strahlten weiß.

Somers ließ die Bugleine fallen.

»Was zum Teufel fällt dir ein?«, bellte der Chief.

»Ich wette, das ist Isaac Bell!«

»Ist mir vollkommen egal, und wenn es Mary Pickford persönlich wäre! Kümmer dich gefälligst um die Leine!«

Der Junge bückte sich und ordnete das dünne Seil, wobei er den Piloten nicht aus den Augen ließ. Er musste es sein. Keine Zeitung brachte ein Bild von ihm, aber in Reportagen über die Van Dorn Agency wurde stets der weiße Anzug des Chefermittlers erwähnt, und Somers begriff schlagartig, dass sich der kamerascheue Detektiv, wenn er seine Kleidung wechselte, im Handumdrehen unsichtbar machen konnte.

»Wirf eine Leine, mein Sohn!«, rief er jetzt. »Mach schon, du schaffst es – schnell, schnell!«

Somers ließ die Leine durch seine Hand gleiten, so wie der Chief es ihm beigebracht hatte. Zu seiner unendlichen Erleichterung landete das dünne Seil in Bells Hand.

»Guter Wurf!« Er zog an der Leine, sodass Flugzeug und Boot aufeinander zuglitten.

Somers brannte nur eine einzige Frage auf der Zunge. »Sind Sie Isaac Bell?«

»Ich bin sein Butler. Nicht weitersagen – Bell schläft gerade in einem Speakeasy seinen Rausch aus. Und jetzt sollten wir Mr. Van Dorn in dein Boot schaffen, ohne ihn in den Bach fallen zu lassen. Bist du bereit?«

Bell streckte die Hand aus, um Van Dorn behilflich zu sein. Immerhin war er ein gewichtiger Mann Mitte fünfzig, mit ausgeprägter römischer Nase und schweren Augenlidern. Van Dorn ignorierte Bells Hand. Bell ergriff seinen Ellbogen und dirigierte ihn mit einem verschwörerischen Lächeln in Somers’ Richtung.

»Halt ihn gut fest, mein Sohn, er ist nicht so rüstig, wie er aussieht.«

Hinter seinem Lächeln wirkten Bells blaue Augen kalt und hart. Er beobachtete wachsam, wie der ältere Mann auf das heftig schwankende Boot umstieg, und entspannte sich erst, als Somers ihn sicher an Bord geholt hatte.

»Wie heißen Sie, Seemann?«, fragte Van Dorn mit einem kaum wahrnehmbaren irischen Akzent.

»Seaman Third Class Asa Somers, Sir.«

»Sie haben auf die Frage nach Ihrem Alter gelogen, nicht wahr?«

»Woher wissen Sie das?«, flüsterte Somers erschrocken.

»Ich habe damals das Gleiche gemacht, um zur Marine zu kommen.« Er blickte zum Heck und gab mit dem Daumen das Okay-Zeichen. »Alle an Bord, Chief. Zurück zum Schiff.«

»Aye, Sir.«

Das Boot entfernte sich vom Wasserflugzeug.

Van Dorn winkte Bell zu. »Halten Sie im Gotham die Augen offen. Vergessen Sie nicht, dass diese dreisten Hurensöhne das Messer für Sie geschliffen haben.«

Wenn ein Berglöwe lachen könnte, dachte Asa Somers, er würde so lachen wie Isaac Bell, als dieser erwiderte: »Vergessen? Niemals.«

Mit skeptischem Blick betrachtete Joseph Van Dorn das Küstenwachboot mit der Dienstbezeichnung CG-9, einen außer Dienst gestellten U-Bootjäger, den die US Navy der Küstenwache für ihre Patrouillenfahrten zur Abwehr von Alkoholschmugglern untergejubelt hatte. Mit einem Krähennest über einer Brückennock, Sechszylindermotoren zum Antrieb von drei Propellern und einer 3”/23 Kaliber Poole Gun auf dem Vorderdeck war das Schiff gebaut worden, um vergleichsweise langsame deutsche Unterseeboote zu orten, zu verfolgen und zu versenken – und keine schnellen Rumrunner.

Der Kutter war während des Krieges stark beansprucht und seitdem nur unzureichend gewartet worden. Das ständige unterschwellige Brummen von Pumpen verriet ihm, dass in dem Holzrumpf zahlreiche Leckagen klafften. Selbst bei halber Kraft klapperten die Ventile der Motoren tatsächlich beängstigend laut. Mit der Poole Gun auf dem Vorderdeck und zwei Kaliber .30-06-Lewis-Maschinengewehren auf den Brückennocks konnte das Patrouillenboot noch immer kräftig zuschlagen. Aber selbst wenn der Kutter es schaffen sollte, sich bis auf Schussweite einem Rumrunner zu nähern, wer auf dem Schiff war denn entsprechend ausgebildet, um die Waffen zu bedienen?

Der Skipper des Küstenwachboots war bereits in vorgerücktem Alter, hatte dicke Tränensäcke unter den Augen, und seine rote Nase ließ vermuten, dass er mit dem, was die Boote, die er aufhalten sollte, transportierten, eine enge freundschaftliche Beziehung pflegte. Der ebenfalls schon ältere Hauptbootsmann sah wie ein Veteran des Spanisch-Amerikanischen Krieges aus. Und die Mannschaft – mit Ausnahme des jungen Asa Somers, der diensteifrig am Mast zu seinem Ausguckposten im Krähennest hinaufgeklettert war, sobald die Barkasse an Bord gehievt worden war – hatte etwa die Klasse, die Van Dorn von Rekruten erwartete, deren Sold nicht mehr als die obligatorischen einundzwanzig Dollar im Monat betrug.

Der Skipper begrüßte ihn reserviert.

Van Dorn vertrieb sein offensichtliches Misstrauen mit einem entwaffnenden Lächeln, das bewirkt hatte, dass sich so mancher Kriminelle während seiner Fahrt zum nächsten Gefängnis den Kopf über die Frage zermarterte, weshalb er es zugelassen hatte, dass ihm dieser freundliche Herr dicht genug auf die Pelle rückte, um ihn mit stählernem Griff beim Schlafittchen zu nehmen. Ein fröhliches Augenzwinkern und der entspannte Tonfall unterstrichen den Eindruck eines absolut friedlichen und wohlwollenden Zeitgenossen.

»Ich nehme an, Ihr Oberkommando hat Sie davon in Kenntnis gesetzt, dass das Schatzamt meine Detektei engagiert hat, um seine ausführenden Organe bei ihrem Kampf gegen den illegalen Schnapshandel zu beraten. Aber ich wette, da sind Gerüchte im Umlauf, wir würden untersuchen, wer mit den Bootleggern unter einer Decke steckt und geschmiert wird, um wegzuschauen.«

»Sie brauchen uns nicht zu schmieren. Sie hängen uns ab, und sie sind in der Überzahl. Oder irgendjemand – ich sage nicht wer, weil ich es nicht weiß – versorgt sie mit Tipps, wo wir unsere Patrouillenfahrten machen. Oder sie senden per Funk falsche Notrufe. Da wir Leben retten sollen, dampfen wir los, um zu helfen, und verlassen unsere vorgeschriebene Position, sodass sie sich frei bewegen können. Und wenn wir sie tatsächlich schnappen, dann lassen die Gerichte sie wieder laufen, und sie holen sich bei der nächsten amtlichen Versteigerung ihre Schnellboote zurück.«

Van Dorn betrachtete den Skipper auf einmal mit anderen Augen. Vielleicht hatte er seine rote Nase nur einer Erkältung zu verdanken. Doch egal ob Trinker oder nicht, er klang aufrichtig verärgert und bedient. Und wer konnte es ihm übel nehmen?

In den Jahren seit Beginn der Prohibition – dem Verbot, Alkohol zu verkaufen, verfügt durch den achtzehnten Zusatz zu der Verfassung und den Volstead Act – schien es, als habe sich die halbe Nation darauf geeinigt, das Gesetz zu brechen. Wenn man nicht gerade Öl oder Gold in seinem eigenen Garten fand, gab es keine Möglichkeit, schneller reich zu werden als mit dem Verkauf von Fusel. Alles, was man brauchte, war ein Boot, um ein paar Meilen aufs Meer hinauszufahren, um zu einer Flotte ausländischer Frachter und Schoner zu kommen, die außerhalb des amerikanischen Hoheitsgebiets in internationalen Gewässern vor Anker lagen. In diesem Zusammenhang hatten die Zeitungen Bill McCoy, Kapitän eines Schoners, der unter der Flagge der British Bahama Islands fuhr, in den Rang eines Helden erhoben. Er hatte als Erster die Idee gehabt, wie man das Gesetz umgehen konnte, wodurch jeder Versuch, das allgemeine Alkoholverbot durchzusetzen, zu einer Farce wurde.

»Wie es in dem Song heißt« – zitierte Van Dorn eine Textzeile aus dem letzten Gassenhauer von Irving Berlin – »›You cannot make your shimmy shake on tea.‹ Wie schnell sind die Taxis?«

Während Fischer und Jachtbesitzer zur Rumflotte hinausfuhren, um ein paar Flaschen zu kaufen, wurde das große Geschäft mit »Taxis« oder »Kontaktschiffen« betrieben. Diese waren mit Hochleistungsmotoren ausgestattete flachkielige Boote, in denen professionelle Rumrunner bei jeder Tour mehrere hundert Kisten Alkohol an Bootlegger auf dem Festland lieferten, die dafür fürstlich bezahlten.

»Sie bauen von Tag zu Tag schnellere Boote.«

Van Dorn schüttelte den Kopf und mimte den Bestürzten. Isaac Bell hatte ihn bereits davon überzeugt, dem Schatzamt zu empfehlen, die Küste mit Flugbooten zu überwachen, wobei allerdings in den Sternen stand, wer die Kosten dafür übernehmen würde. Der Kongress machte sich zwar für das Alkoholverbot stark, zeigte jedoch wenig Bereitschaft, auch das Geld zur Verfügung zu stellen, um das Verbot durchzusetzen.

»Taxi!«

Alle Augen blickten zum Krähennest hinauf.

Joseph Van Dorn zauberte einen Feldstecher aus seinem weiten Mantel und schaute damit in die Richtung, die Asa Somers mit seinem Teleskop anpeilte. Tief im Wasser liegend und so grau gestrichen wie das Meer und der Himmel, war das Schnapsboot in etwa eintausend Metern Entfernung kaum zu erkennen.

»Volle Kraft!«, befahl der Skipper und stürmte die Leiter zur Brückennock über dem Ruderhaus hinauf. Van Dorn kletterte schwerfällig hinter ihm her.

Die Maschinen brachten das gesamte Schiff zum Vibrieren. Das Klappern der Ventile wurde lauter. Der U-Boot-Jäger tauchte mit dem Heck tiefer ins Wasser und erzeugte eine schäumende Heckwelle. »Fünfzehn Knoten«, verkündete der Kapitän.

U-Boot-Jäger schafften gewöhnlich mindestens achtzehn Knoten, aber der fette blaue Qualm, der aus den Auspuffrohren herauswallte, machte Van Dorn schmerzlich klar, dass die ausgeleierten Maschinen bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit belastet wurden. Ihre Jagdbeute überlud ihr Gefährt derart, dass die Seitendecks beinahe überspült wurden, aber sie stampfte weiterhin mit siebzehn oder achtzehn Knoten durch die Wellen und wurde in der Ferne immer kleiner.

»Verpasst den Mistkerlen einen Schuss vor den Bug«, rief der Kapitän den Matrosen zu, die das Geschütz auf dem Vorderdeck bedienten.

Die Poole Gun bellte und ließ das Deck erzittern. Durch Van Dorns starkes Fernglas war nicht zu erkennen, wo genau das Geschoss landete, aber ganz sicher nicht in Bugnähe des Schnapstransporters. Das zweite Geschoss schlug näher ein. Van Dorn sah die Wasserfontäne unweit des Rumpfs, aber das Boot setzte seine Fahrt unbeirrt fort und vergrößerte den Vorsprung stetig.

Plötzlich, als der Rumrunner schon im Begriff schien, von der abendlichen Dunkelheit verschluckt zu werden, ergab sich ein Lichtblick für die Verfolger. Das Taxi wurde langsamer. Offenbar war es auf ein Unterwasserhindernis aufgelaufen, vermutete der Skipper, oder ein Propeller war abgebrochen oder ein Zylinder geplatzt. Ganz gleich, was dem schwer beladenen Schmuggelschiff zugestoßen war, es hatte zur Folge, dass der U-Boot-Jäger allmählich aufholte.

»Sie trennen sich von dem Schnaps und machen sich aus dem Staub«, sagte der Skipper.

Van Dorn justierte das Fernglas. Aber er konnte keine hektisch agierenden Gestalten entdecken, die Schmuggelgut über Bord warfen. Das Boot setzte seine Flucht in die Nacht fort.

»Achtung an der Kanone! Schickt ihnen noch eine Ladung vor den Bug.«

Die Poole Gun erschütterte abermals das Deck, und ein Projektil klatschte dicht vor dem Rumrunner in den Ozean. »Jetzt werden sie wohl anhalten.«

Der Warnschuss hatte jedoch keinerlei Wirkung, und der Rumrunner blieb weiterhin auf seinem Fluchtkurs.

Van Dorn zählte schnell die Whiskykartons, die auf dem Deck gestapelt waren, schätzte die Menge, die möglicherweise unter Deck Platz fand, und errechnete eine Fracht von mindestens fünfhundert Kartons. Wenn die Flaschen den wahren Jakob enthielten – also echten Scotch, der nicht gestreckt oder mit billigem Kornbranntwein verschnitten worden war –, dann hatte die Ladung des Bootes einen Wert von dreißigtausend Dollar. Für die Mannschaft des Schnapstransporters, die vor der Prohibition mit dem Fischfang kaum ihren Lebensunterhalt hatte bestreiten können, war es ein Vermögen, das sie eher tollkühn anstatt vernünftig handeln ließ. Für dreißigtausend Dollar konnten sich sechs Bootlegger einen Cadillac oder einen Rolls-Royce, einen Marmon oder einen Minerva kaufen. Für die Familien der Fischer bedeutete diese Einnahme ein gemütliches Häuschen und regelmäßig etwas zu essen auf dem Tisch.

Der Kapitän schaltete eine elektrische Sirene ein. CG-9 kreischte wie eine tollwütige Furie. Das Schnapsboot machte auch weiterhin keinerlei Anstalten anzuhalten. »Die sind verrückt. Feuert noch einmal!«, rief der Kapitän zu dem Schützenteam auf dem Vorderdeck hinunter. »Macht sie nass!«

Und die Granate landete tatsächlich nahe genug beim Schiff, sodass dessen Mannschaft durch die Explosion mit Meerwasser überschüttet wurde. Das Schnapsboot stoppte abrupt und wendete, um den U-Boot-Jäger zu erwarten, der in einer blauen Abgaswolke heranrauschte.

»Achtung bei den Lewis-Gewehren.«

Grinsende Soldaten der Küstenwache kauerten hinter den aus Tellermagazinen gespeisten Maschinengewehren, die auf drehbaren Lafetten rechts und links neben dem Ruderhaus platziert waren. Van Dorn rechnete damit, dass der gesunde Menschenverstand am Ende siegen würde. Das Lewis-Gewehr war eine perfekte Waffe – schnell feuernd, nahezu störungsfrei und extrem präzise. Man konnte davon ausgehen, dass Alkoholschmuggler bereits die Hände hoben, ehe sich die Entfernung weiter verringerte, und es ihren Anwälten überließen, sie freizubekommen. Stattdessen begannen sie, als sich der Kutter bis auf einhundert Meter genähert hatte, aus allen Rohren zu schießen.

Überraschte Warnrufe hallten über das Deck des Küstenwachboots.

Eine Gewehrkugel sirrte nur dreißig Zentimeter von Van Dorns Kopf entfernt am Beobachtungsmast vorbei. Eine andere prallte gegen ein Lüftergehäuse, traf als Querschläger die Kanone auf dem Vorderdeck und zwang das Schützenteam, sich flach auf die Decksplanken zu werfen und schnellstens Deckung zu suchen. Van Dorn zog seinen Colt .45 aus der Manteltasche, stemmte sich mit der Schulter gegen den Mast, um die Rollbewegungen des Kutters auszugleichen, und suchte sich ein Ziel für einen Pistolenweitschuss. Im selben Moment, als er den Gewehrschützen auf dem Schnapsboot fest im Visier hatte, traf eine dritte Gewehrkugel den Soldaten hinter dem Steuerbordgewehr und warf ihn nach hinten, sodass er über das hintere Geländer der Brückennock aufs Hauptdeck hinabstürzte.

So schnell er konnte, kletterte der massige Detektiv die Leiter hinunter und bewegte sich geduckt auf die Brückennock hinaus. Mit der linken Hand zog er den Spannhebel des Maschinengewehrs zurück und löste mit der rechten eine Dreier-Salve aus. Dem Schützen auf dem Taxi flogen Holzsplitter der Kabinenwand – die sich hinter ihm befand – um die Ohren. Ein weiterer Feuerstoß, und ihm wurde das Gewehr aus den Händen geprellt.

»Zweites Taxi!«, erklang Asa Somers’ helle Stimme aus dem Krähennest. »Es kommt von achtern!«

Van Dorn konzentrierte sich darauf, das Cockpit des Rumrunnerboots zu evakuieren. Er lenkte eine Salve Kaliber .30-6-Projektile mitten ins Ziel, sodass der Rudergänger gezwungen war, das Ruder fahren zu lassen und schnellstens auf Tauchstation zu gehen.

Somers meldete sich wieder. »Das Taxi ist dicht hinter uns!«

Der ängstliche Unterton in Somers’ Stimme ließ Van Dorn herumfahren.

Ein langes schwarzes Boot holte zügig zu ihnen auf. Van Dorn hatte noch nie ein derart schnelles Boot gesehen. Es war mit mindestens vierzig Knoten unterwegs, was fünfzig Meilen in der Stunde entsprach. Ein kehliges Röhren drang aus den vielfach gekrümmten Auspuffrohren. Aus drei Dutzend geraden Endrohren züngelten orangefarbene Flammen zum abendlichen Himmel empor. Drei Liberty-Motoren, in einer Reihe angeordnet und jeder einzelne so stark wie der turboaufgeladene L-12 von Isaac Bells Flugboot, erzeugten den gebündelten Feuerschweif.

Die Geschützmannschaft auf dem Vorderdeck konnte von dem Boot nichts sehen.

Von hinten heranrasend, dabei die Wellen mit seinem messerscharfen Bug zerschneidend, imitierte das schwarze Boot jedes Manöver des U-Boot-Jägers und hielt sich auf diese Weise im toten Winkel der Bordkanone. Der an Backbord postierte Maschinengewehrschütze konnte das Boot ebenfalls nicht sehen, weil ihm das Ruderhaus die Sicht versperrte. Aber Joseph Van Dorn hatte den Verfolger deutlich vor sich. Er drehte das Lewis-Gewehr auf seiner Lafette und eröffnete das Feuer.

Das Schiff fuhr Schlangenlinien. Geschickt und schnell wie eine Libelle wich es mit scharfen Kurswechseln nach rechts und links aus.

Van Dorns Gesicht verzog sich zu einem kalten Lächeln.

»Okay, Leute. Wenn ihr es nicht anders wollt.« Er zielte mit dem Lewis-Maschinengewehr auf die Mittelachse des Schlängelkurses, feuerte kurze Salven ab und überschüttete das schwarze Boot innerhalb von zehn Sekunden mit gut einhundert Geschossen. Fast die Hälfte der Kugeln traf das Ziel. Aber zu van Dorns Verblüffung prallten sie ab, und er begriff zu spät, dass das Gefährt ihres Gegners mit Stahlplatten gepanzert war.

Er beharkte die Windschutzscheibe, hinter welcher der Rudergänger kauerte. Ein dichtes Netz von Sprüngen durchzog das Glas, aber es zerschellte nicht. Kugelsicher. Diese Leute waren auf alles vorbereitet. Dann schoss das schwarze Boot zurück.

Es war ebenfalls mit einem Lewis-Maschinengewehr ausgerüstet. Unter Deck verborgen, fuhr es auf seiner Drehlafette hoch, und Van Dorn erkannte auf Anhieb, dass der Bursche, der es bediente, sein Geschäft verstand. Serienweise durchbohrten Gewehrkugeln den Holzrumpf des U-Boot-Jägers direkt unterhalb der Position, die er mit seinem Gewehr einnahm, und zerfetzten die brusthohe Segeltuchverkleidung, die die Brückennock vor Wind und Gischt schützte. Van Dorn antwortete mit langen Feuerstößen. Dabei wunderte sich ein analytischer, leidenschaftsloser Teil seines Gehirns, dass er von dem vernichtenden Gewehrfeuer ihres Verfolgers nicht getroffen worden war.

Etwas schlug so hart wie ein geworfener Pflasterstein gegen seine Brust.

Plötzlich rollte er über das Geländer der Brückennock und stürzte auf das Hauptdeck hinab. Der analytische Teil seines Gehirns registrierte, dass sich das Taxi, hinter dem sie herjagten, im Feuerschutz des schwarzen Bootes entfernte und dass das Küstenwachschiff, während er stürzte, drehte, um die Poole Gun einsetzen zu können. Als das Schiff für einen kurzen Moment parallel zu den Wellen lag, wurde es seitlich von einem Brecher getroffen und legte sich so weit nach Steuerbord, dass er, als er schließlich landete, nicht auf dem schmalen Deck aufschlug, sondern auf der Sicherheitsreling, die es umsäumte. Das straff gespannte stählerne Geländerseil bremste seinen Sturz und schleuderte ihn über Bord in das bitterkalte Wasser. Das Letzte, was er hörte, war Asa Somers’ schriller Schrei »Mr. Van Dorn!«

2

»Besprechung auf dem Hof. Hancock, Sie sorgen dafür, dass wir ungestört sind.«

Isaac Bell schlenderte scheinbar lässig und ohne ein bestimmtes Ziel durch das luxuriöse Foyer des Gotham Hotels. Vier elegant gekleidete Hausdetektive folgten ihm unauffällig – ein geräuschloser Exodus, von dem die zahlenden Gäste nichts mitbekamen. Als sich die fünf Männer in der schmalen dunklen Gasse hinter der Hotelküche versammelt hatten, sprach Bell zwei von ihnen mit Namen an.

»Clayton. Ellis.«

Tom Clayton und Tom Ellis waren typische Hausdetektive der Van Dorn Protective Services – baumlange, breitschultrige Schwergewichte, vielleicht nicht ganz so clever wie vollwertige Detektive, aber jeder so gut aussehend wie das männliche Modell der Arrow-Hemdkragen-Werbung. Ausstaffiert mit korrektem Anzug, sauberem weißem Oberhemd, auf Hochglanz polierten Schuhen und Krawatte mit Four-in-hand-Knoten wirkte keiner der ehemaligen Eisenbahndetektive der Southern Pacific Railroad in einem eleganten Hotel fehl am Platz. Aber Taschen- und Gelegenheitsdiebe sowie Trickbetrüger erkannten sie auf Anhieb und hielten sich von ihnen fern.

»Was gibt’s, Mr. Bell?«

»Sie sind gefeuert.«

»Weshalb?«, wollte Clayton wissen.

»Sie haben den Namen der Van Dorn Agency in den Dreck gezogen.«

»In den Dreck gezogen?« Clayton sah seinen Kollegen feixend an. »In den Dreck gezogen?«

Ellis nickte. »Stimmt. Würd ich auch gern wissen. Was heißt, ›in den Dreck gezogen‹?«

Bell unterdrückte den Impuls, beide zu Boden zu strecken. Die anderen Angehörigen ihrer Truppe hatten sich nicht bestechen lassen. Stets um den guten Ruf der Agentur besorgt, nutzte er die Gelegenheit, um die ehrlichen Angestellten daran zu erinnern, was auf dem Spiel stand, und sie darin zu bestärken, jeden Bestechungsversuch zurückzuweisen. Daher beantwortete er die spöttische Frage ruhig und sachlich.

»Mr. Van Dorn hat ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut, das den gesamten Kontinent überspannt. Wir haben in jeder Stadt Büros, die durch private Telegrafen- und Telefonfernleitungen miteinander verbunden sind. Hunderte erstklassige Detektive – fähige Männer, die ihr Geschäft beherrschen – und Tausende von Angehörigen der Protective Services beschützen Banken und Juwelierläden, begleiten Werttransporte und halten in den exklusivsten Hotels Wache. Aber die Firma ist keinen Cent wert, wenn sich die Kunden nicht auf unseren guten Ruf verlassen können. Van Dorns nehmen keine Schmiergelder an. Was Sie jedoch getan haben. Sie haben unseren guten Namen beschmutzt. Und nicht nur ein Mal. Deshalb werden Sie gefeuert.«

»Hören Sie, Mr. Bell, es liegt in der menschlichen Natur, Gewinne zu teilen. Und die Bootlegger scheffeln das Geld.«

Ellis ergriff das Wort. »Die Pagen kriegen ihren Schnitt dafür, dass sie den Gästen die Flaschen aufs Zimmer bringen. Da ist es doch nur fair, wenn wir dafür bezahlt werden, den Schnaps ins Haus zu lassen.«

»Nicht jeder Page.«

Clayton und Ellis wechselten einen vielsagenden Blick. Sie wussten, was geschehen war.

»Der Bootlegger, von dem Sie sich haben schmieren lassen, wollte in der vergangenen Nacht einen Pagen vom Dach werfen. Der Arbeitgeber des Jungen, das Gotham Hotel, bezahlt dafür, dass wir sein Eigentum, die Gäste und die Angestellten beschützen. Sie beide haben den Jungen jedoch im Stich gelassen. Lassen Sie sich nie wieder in der Nähe dieses Hotels blicken.«

»Soll das eine Drohung sein?«

»Sie haben es erfasst, Mister. Verschwinden Sie.«

Clayton und Ellis kamen näher. Sie bewegten sich für Männer ihrer Größe erstaunlich geschmeidig. Die ehrlichen Hausdetektive sahen einander fragend an. Sie überlegten, ob sie dem Chefermittler zu Hilfe kommen sollten. Bell hielt sie mit einer knappen Geste auf. Ein kaum wahrnehmbares Zucken seiner Schulter kündigte einen rechten Schwinger an, der die Auseinandersetzung abbrechen sollte, ehe sie richtig begonnen hatte.

Clayton sah ihn kommen. Er machte einen federnden Schritt nach rechts. Dieses lehrbuchmäßige Ausweichmanöver hatte die unerwartete Folge, dass sein Kinn genau in die Bahn von Bells linkem Haken geriet, der aus Kniehöhe hochkam wie eine Abrissbirne und den Hoteldetektiv nach hinten schleuderte.

Ellis machte bereits weiteren Druck und feuerte mit der Linken einen blitzschnellen Schwinger ab, den Bell nicht mehr vollständig abblocken konnte. Er lenkte ihn über die Schulter ab und konterte mit einer geraden Rechten, die Ellis rechts am Kopf erwischte und ihn quer über die Gasse gegen Clayton warf, der noch immer benommen an der gegenüberliegenden Hauswand klebte.

Seine Wut im Zaum haltend, sagte Isaac Bell mit gefährlich ruhiger Stimme: »Wenn ich einem von euch hier in New York jemals wieder begegnen sollte, werfe ich ihn in den Hudson River.«

»Mr. Bell! Mr. Bell!«

Ein Van-Dorn-Lehrling – ein Bürschlein von achtzehn Jahren – kam durch die Küchentür herausgestürzt. »Mr. Bell! Auf Mr. Van Dorn wurde geschossen!«

»Wie bitte?«

Isaac Bell fuhr entsetzt zu der schrillen Stimme herum. Er war derart erschrocken, dass er den warnenden Ausdruck in den Augen des Jungen, als er eine plötzliche Bewegung wahrnahm, nicht registrierte.

Ellis hatte sich von dem Treffer erholt und griff nun mit einem mächtigen rechten Haken an. Bell schaffte es so zurückzupendeln, dass die Faust ihn lediglich streifte, ihn jedoch trotzdem von den Füßen holte. Er landete auf dem fettigen Zementboden. Wie ein Kicker beim Football nahm Clayton Anlauf und zielte mit dem Stiefel nach Bells Kopf. Bell versuchte, den Tritt mit der Hand abzuwehren, aber die Hand wurde beiseitegewischt, und der Fuß raste direkt auf sein Gesicht zu. Bell erwischte Claytons Knöchel mit der anderen Hand, packte mit aller Kraft zu und kam mit einer fließenden Bewegung, angetrieben von Wut und äußerster Not, auf die Füße.

Er stemmte Claytons Bein bis über Schulterhöhe, stieß ihn rückwärts zu Boden und wirbelte zu Ellis herum, dessen Linke wie eine Dampframme auf sein Kinn zuraste. Bell duckte sich instinktiv, und Ellis Knöchel rasierten über seinen Schädel. Bell ging leicht in die Knie, riss ihn an seiner Jacke herum, nutzte den Schwung des deutlich schwereren Mannes aus und lenkte ihn in Claytons Richtung, der soeben im Begriff war, sich aufzurichten. Die Gesichter der Hoteldetektive kollidierten Nase gegen Nase. Knorpel wurde zerquetscht, und Knochen brachen. Bell ließ Ellis los, der wimmernd zusammensank, und packte die Schulter des Lehrlings mit stählernem Griff.

»Wo ist er?«

»Im Bellevue.«

Bell machte einen tiefen Atemzug und wappnete sich für das Schlimmste. »Krankenhaus? Oder Leichenschauhaus?«

»Krankenhaus.«

»Dann nichts wie hin! Die anderen zurück an die Arbeit. Bestellen Sie Hancock, dass er das Kommando hat.«

Der Junge war so schlau gewesen, bereits ein Taxi zu rufen.

Bell löcherte ihn mit Fragen, während sie durch Midtown rasten. Aber alles, was man bisher wusste, war, dass Joseph Van Dorn, kurz nachdem Isaac Bell ihn zum Kutter der Küstenwache gebracht hatte, während einer Schießerei mit Alkoholschmugglern verwundet worden war. Bell kam kurz in den Sinn, dass er wahrscheinlich gerade damit beschäftigt gewesen war, seine Loening auf dem Air Service Terminal an der 31st Street zu vertäuen, als es geschah.

»Wie konnten sie ihn so schnell an Land bringen?«

Gerettet hatte ihn das, was Joe das Glück der Iren genannt hätte. Ein aufmerksamer Funker auf dem Festland hatte die Meldung der Küstenwache zum New York Police Department weitergeleitet, und die Harbor Squad hatte eine schnelle Barkasse alarmiert, die bereits vor Sandy Hook patrouillierte und nach Schnapsbooten Ausschau hielt. Sie war mit dem erheblich langsameren Kutter zusammengetroffen, hatte Van Dorn aufgenommen und ihn den East River hinauf zum Bellevue Hospital gebracht. Bell wäre eine Klinik mit besseren Ärzten zwar lieber gewesen als das überlastete, unterbesetzte städtische Krankenhaus, aber die Hafenpolizisten hatten sich für die Notaufnahme entschieden, die dem Fluss am nächsten war.

»Sobald du mich abgesetzt hast, kehrst du mit dem Taxi zum Büro zurück. Bestell Detective McKinney von mir, er soll dafür sorgen, dass die gesamte Truppe Jagd auf die Kerle macht, die Mr. Van Dorn angegriffen haben.« Darren McKinney war ein vielversprechender junger Agent, den Van Dorn aus Washington abgezogen und mit der Leitung des New Yorker Außenbüros betraut hatte.

»Sag ihm außerdem, sie sollen sich jeden Bootlegger in der Stadt, der uns etwas schuldig ist, vorknöpfen und ihm auf die Zehen treten; einer von ihnen wird sicher irgendwo aufschnappen, wer es getan hat. Unsere Leute sollen nach Schnapsbooten mit Einschusslöchern Ausschau halten. Außerdem sollen sie sich in den Krankenhäusern nach Personen mit frischen Schusswunden erkundigen.«

Das Taxi bremste quietschend und mit qualmenden Reifen.

»Und ab mit dir! Schnell, schnell!«

Bell stürmte in die Eingangshalle des Krankenhauses.

Am Empfangspult informierte man ihn, dass Joseph Van Dorn auf dem Operationstisch lag.

»Wie schlimm ist es?«

»Drei unserer besten Chirurgen kümmern sich gerade um ihn.«

Bell durchfuhr nicht nur ein Schreck, sondern Panik keimte in ihm auf. Drei? Wie schwer mussten die Verletzungen sein, dass gleich drei Ärzte nötig waren? »Wurde seine Frau benachrichtigt?«

»Mrs. Van Dorn sitzt im Wartezimmer. Wollen Sie zu ihr?«

»Natürlich.«

Eine Empfangsdame geleitete Bell mit ernster Miene zu einem privaten Warteraum.

Dorothy Van Dorn sprang auf und ließ sich an Bells Brust sinken. »Oh Isaac. Das kann alles doch nicht möglich sein.«

Beträchtlich jünger als Joe, war die wohlerzogene und gebildete schwarzhaarige Schönheit die Tochter des legendären Schiffsgeschützbauers Arthur Langner, der über die Grenzen des Navy Yard in Washington hinaus berühmt war, und die Witwe des Schiffsbauingenieurs Farley Kent. Dorothy hatte zusammen mit Joes erster Ehefrau, die an einer Lungenentzündung gestorben war, das Smith College besucht. Bell hatte voller Freude verfolgt, wie eine aus praktischen Erwägungen geschlossene Freundschaft zwischen verwitweten Eltern halbwüchsiger Kinder aufblühte und in eine Hochzeit mündete, die das Leben des eher steifen und gelegentlich überkorrekten Joe Van Dorn mit unerwarteter Leidenschaft füllte und der lebhaften und unternehmungslustigen Dorothy Stabilität und Beständigkeit bescherte.

»Isaac, was hat ein Mann in seinem Alter bei einer Schießerei zu suchen?«

Darauf gab es mehrere Antworten, aber keine wäre jetzt hilfreich. Es hätte wenig Sinn, seiner entsetzten Ehefrau zu versichern, dass Joe Van Dorn im Fall einer Schießerei einer der zuverlässigsten Kämpfer war, stets eiskalt, wachsam und hochgefährlich. Außerdem erachtete Bell es in dieser Situation als zwecklos zu erwähnen, dass er, als er ihn zu dem mit zwei Maschinengewehren und einem Geschütz bewaffneten Kutter der United States Coast Guard brachte, schlimmstenfalls ein unfallbedingtes Sinken für möglich gehalten hatte. Nun hingegen wünschte er sich, darauf bestanden zu haben, dass Joe sich von einem seiner Agenten begleiten ließ. In der Kabine der Loening wäre für einen dritten Passagier ausreichend Platz vorhanden. Er hätte sogar einen vierten Mann mitnehmen können.

»Noch weiß ich nicht, was geschehen ist.«

»Wer hat auf ihn geschossen?«

»Das untersuchen wir bereits. In Kürze wissen wir sicher mehr.«

Er drückte die Frau kurz an sich, dann ließ er sie los, um Joes ältestem Freund, der Dorothy ins Krankenhaus begleitet hatte, die Hand zu schütteln. Kapitän Dave Novicki, massig und stabil wie ein Vertäupoller, war ein pensionierter Seefahrer. Er hatte Joe Jahre zuvor unter seine Fittiche genommen, als er als junger Offizier auf einem Einwandererschiff gedient hatte, mit dem Van Dorn als Halbwüchsiger nach Amerika gekommen war. Bell war mit Novicki des Öfteren anlässlich traditioneller Thanksgiving-Dinner im Stadthaus der Van Dorns in Murray Hill zusammengetroffen. Joe schrieb einen Großteil seines Erfolgs dem ständigen Einfluss des bärbeißigen alten Seemanns zu, so wie Bell seinem Boss Van Dorn für dessen Unterstützung dankbar sein konnte.

»Danke, dass Sie gleich hergekommen sind«, sagte er zu Bell.

Bell winkte Novicki beiseite und fragte mit leiser Stimme: »Wie schlimm steht es?«

»Er ist auf der Kippe. In einer Stunde will der Chefarzt einen Zwischenbericht abgeben. Das hat er vor zwei Stunden angekündigt.«

Eine sorgenvolle Stunde verstrich. Alle schauten hoch, als eine Krankenschwester hereinkam. Sie teilte Isaac Bell im Flüsterton mit, dass in der Eingangshalle ein Telefongespräch auf ihn warte. Als er zum Empfangspult kam, wurde ihm der Hörer gereicht. »McKinney?«

»Am Apparat, Mr. Bell.«

»Was haben wir?«

»Ed Tobin hat das Boot gefunden, das die Männer der Küstenwache verfolgt haben. Halb abgesoffen in der Nähe der Chelsea Piers. Das ist aber nicht das Boot, von dem aus auf ihn geschossen wurde. Sondern das Taxi, hinter dem sie zuerst her waren.«

Tobin war ein Veteran der Gang Squad des New Yorker Büros. Er stammte aus einer der Familien von Staten-Island-Fährleuten und Kohlepiraten. Daher kannte Ed Tobin den Hafen besser als die Harbor Squad.

»Von dem Schnaps war kaum noch was da. Sieht so aus, als hätten sie ihn in kleinere Boote umgeladen. Ed meint, die Polizei habe eins der Boote im East River geschnappt.«

»Hat sich jemand mit einer Schusswunde in einem Krankenhaus gemeldet?«

»Wir überwachen jedes Hospital von Bay Shore, Long Island, bis nach Brooklyn, nach Staten Island, nach Manhattan. Bisher aber Fehlanzeige.«

»Nirgendwo eine Schusswunde?«

»Jedenfalls keine ohne einleuchtende Begründung.«

»Erzählen Sie mal.«

»Zwei Typen haben sich gegenseitig eins auf den Pelz gebrannt, als sie sich stritten, wer den Speakeasys in Bensonhurst Bier verkaufen darf. Ein Bursche in einer Spelunke am Herald Square wurde von seiner Freundin aufs Korn genommen, weil er fremdging. Und im Roosevelt Hospital liegt jemand, den es an der Elevated erwischt hat. Das ist bis jetzt alles, aber die Nacht ist ja noch jung.«

»Wer hat auf den Kerl an der Elevated geschossen?«

»Der Schütze konnte verschwinden. Der Verletzte war allein, als die Cops ihn fanden.«

»An welcher El? In der Ninth Avenue?«

»Genau. Die Cops brachten ihn ins nächste Krankenhaus.«

»Die Cops? Warum kein Krankenwagen?«

»Er konnte aus eigener Kraft gehen. Die Cops entdeckten ihn, als er die Treppe von der Haltestelle Saint Paul’s Church herunterstolperte. An der 59th.«

»Ich weiß, wo das ist.«

Die Ninth Avenue Elevated Line, die am Roosevelt Hospital vorbeiführte, begann an der South Ferry am Rand des Hafens und verlief quer durch Chelsea. Ein verletzter Schnapsschmuggler konnte durchaus an einem der Punkte an Land gegangen und bis zur Hochbahn gelangt sein.

McKinney sagte: »Ich schick die Jungs zurück zum Roosevelt.«

»Nein. Ich fahre hin.« Es war nur eine vage Chance. Aber es war besser, als untätig herumzusitzen und nichts für Van Dorn zu tun.

»Wie geht es dem Boss?«, fragte McKinney.

»Das weiß ich noch nicht. Sie operieren noch.«

»So was völlig … Verrücktes.«

»Was meinen Sie?«

»Dass Mr. Van Dorn sich ausgerechnet während einer Patrouillenfahrt auf diesem Kutter aufhielt. Wie viele Bootlegger würden es denn wagen, sich auf eine Schießerei mit der Küstenwache einzulassen? Jeder mit einem letzten Rest Hirn im Schädel weiß doch, dass es sicherer ist, zu kapitulieren und es seinem Anwalt zu überlassen, einen freizubekommen.«

»Interessante Frage«, sagte Bell. Er kehrte eilig ins Wartezimmer zurück und dachte, dass Joe tatsächlich unwahrscheinliches Pech gehabt hatte. Wie McKinney angedeutet hatte, wussten die meisten Schnapsschmuggler, dass es sich nicht lohnte, sein Leben in einem Feuergefecht mit der Coast Guard zu riskieren.

Die Ärzte hatten noch immer nichts verlauten lassen. »Kommen Sie einigermaßen zurecht?«, wollte Bell von Dorothy wissen. »Ich muss etwas Wichtiges nachprüfen.« Sie war totenblass, und er konnte sehen, dass sie fast am Ende ihrer Kräfte war.

Kapitän Novicki legte einen starken Arm um ihre Schultern und brummte: »Schnappen Sie sich das Ungeziefer, das auf ihn geschossen hat, Isaac. Ich kümmere mich um Dorothy und Joe wie eine Bärenmutter um ihre Jungen.«

Isaac Bell hielt ein Taxi an und fuhr quer durch die Stadt. Dank des nur spärlichen Nachtverkehrs brauchte er keine Viertelstunde vom Bellevue bis zum Roosevelt Hospital, einem imposanten roten Klinkerbau mit dreihundertfünfzig Betten. Das Krankenhaus und die festungsgleiche katholische Apostel-Paulus-Kirche standen zwischen den vorwiegend von Iren und Schwarzen bewohnten Slums von Hell’s Kitchen im Süden und San Juan Hill im Norden. Sogenannte »Blind Pigs«, fensterlose illegale Schnapskaschemmen, verdunkelten die Erdgeschosse zahlreicher Mietskasernen. Ein Zug ratterte über die Gleise über seinem Kopf, während er zwischen den Pfeilern der Elevated hindurch und ins Krankenhaus rannte. Er gestattete dem Mann am Empfang einen kurzen Blick auf seine Dienstmarke, die ihn als Chefermittler der Van Dorn Agency auswies, schob diskret einen Fünfdollarschein über das Empfangspult und fragte nach dem soeben aufgenommenen Patienten mit der Schusswunde.

»Oberste Etage«, erklärte der Krankenhausangestellte. »Das letzte Zimmer am Ende des Flurs. Ein Polizist hält vor der Tür Wache.«

»Wie schlimm ist seine Verletzung?«

»Er kam aus eigener Kraft herein.«

Im Fahrstuhl faltete Bell einen Zehndollarschein für den Cop zusammen.

Als sich die Fahrstuhlkabine öffnete, drang der seifige Geruch eines frisch gewischten Fußbodens herein. Der Flur war menschenleer, die Bodenfliesen glänzten feucht.

Bell eilte durch den Korridor. Hinter ihm schloss sich klirrend das Scherengitter der Liftkabine.

Vor ihm, am Ende des Flurs, erklang der scharfe Knall einer kleinkalibrigen Pistole.

Er sprintete los, angelte seine Browning aus dem Schulterhalfter und bog um die Ecke des Ganges. Links von ihm führte eine Tür ins Treppenhaus. Die Zimmertür zu seiner Rechten stand halb offen. Er hörte ein lautes Stöhnen und sah auf dem Fußboden blaue Hosenbeine und abgewetzte schwarze Arbeitsschuhe. Polizistenschuhe. Er trat über die Schwelle. Ein Beamter des New York Police Department lag auf dem Rücken, hielt sich den Kopf und hatte die Augen geschlossen. Er stöhnte wieder. »Diese Schmerzen!«

Auf dem Bett entdeckte Bell einen Mann mit blondem Haar in einem Krankenhausnachthemd. Er lag auf der Seite, zusammengerollt wie ein Fötus, das Kinn fast auf dem Brustbein. Der Schuss, den Bell gehört hatte, war aus kürzester Entfernung abgefeuert worden. Ein kleines rundes Loch, halb so groß wie ein Zehncentstück und mit blutigem Rand, klaffte in seinem Nacken.

3

Das Fenster stand offen.

Bell streckte den Kopf hinaus. Die rechteckige Spitze des Südturms von St. Paul befand sich auf der anderen Straßenseite in Augenhöhe. Unter dem Fenster fiel die Fassade des Krankenhauses zwölf Stockwerke zur Straße ab.

Er rannte zum Treppenhaus, riss die Feuerschutztür auf und lauschte auf Schritte. Stille. Hatte der Killer einige Etagen tiefer angehalten? Unmöglich konnte er bereits das Erdgeschoss erreicht haben. War er aus dem Treppenhaus in einen der unteren Korridore geflohen? Oder war er die Stufen bis zum Dach hinaufgestürmt?

Mit der Pistole in der Hand rannte Bell die schmale Treppe hinauf und gelangte durch eine Tür auf das teergedeckte Dach. Ein bewölkter Himmel und vereinzelte Rauchschwaden reflektierten das matte Licht der Straßen in der Nachbarschaft. Aufzugmaschinenhäuser, Treppenhauszugänge und Schornsteine lauerten als mögliche Verstecke in der Dunkelheit. Durch Oberlichter drang elektrisches Licht aus den darunterliegenden Räumen und bildete helle Inseln. Er strengte den Gehörsinn an. Tief unten in der Straßenschlucht ratterte ein weiterer Zug der Elevated vorbei. Ein Schatten bewegte sich durch den Lichtschein eines Oberlichts, und Bell startete durch.

Er rannte schweigend und verursachte auf dem weichen Teerbelag kaum ein wahrnehmbares Geräusch. Dann sah er, wie der Schatten das nächste Oberlicht passierte und sein Tempo steigerte. Er hatte sich dem Flüchtenden bis auf gut fünf Meter genähert, als die Gestalt abrupt anhielt und sich umdrehte.

Bell katapultierte sich vorwärts, zog die Schultern hoch, während er durch die Luft segelte, presste die Pistole an seine Brust und rollte sich ab, sobald er das Teerdach berührte. Zwei Schüsse fielen in schneller Folge, und Blei flog durch den Raum, den er noch Sekundenbruchteile zuvor ausgefüllt hatte.

Der Killer kauerte hinter einem Fahrstuhlmaschinenhaus.

Bell sprintete auf der anderen Seite um den Dachaufbau herum. Für einen kurzen Moment gewahrte er einen hellen Lichtschein. Eine Treppenhaustür schwang weit genug auf, um einen Mann durch den Spalt schlüpfen zu lassen. Bell feuerte einen Schuss auf die kräftige, sich schlangengleich bewegende Silhouette ab, aber sie verschwand mit einer eleganten Körperdrehung und zog die Tür hinter sich zu.

Bell war mit wenigen Schritten an der Tür und riss sie auf. Er hörte die Schuhe des Mannes die Stufen hinunterpoltern und folgte ihm zwei Treppenfluchten hinab. Eine etwa dreißig Zentimeter lange Messingdüse flog ihm entgegen. Sie hing am Ende eines mit Textil umhüllten Löschschlauchs, der wie ein Lasso geschwungen wurde. Bell tauchte darunter hinweg. Die Düse prallte mit lautem Klirren gegen das Stahlgeländer der Treppe und federte zurück. Bell konnte sich im letzten Moment zur Seite drehen, ehe die schwere Düse sein Gesicht traf, verlor dabei jedoch seinen sicheren Stand und sackte auf ein Knie. Für einen kurzen Moment desorientiert, spürte er, wie der Mann an ihm vorbeihuschte. Zwei Schüsse fielen im engen Treppenschacht und hallten aufs Dach hinaus und bis in den Keller hinab. Zwei Kugeln schlugen dicht neben seinem Kopf in den Wandverputz.

Bell kam auf die Füße und blieb dem Killer auf den Fersen.

Plötzlich hatte er ein freies Schussfeld. Für einen ausreichend langen, unbezahlbaren Moment blickte er direkt auf die Schlägermütze des Mannes hinab. Er brachte seine modifizierte Browning No. 2, die er seit Jahren bei sich trug, in Anschlag. Auf diese Distanz konnte er unmöglich sein Ziel verfehlen. Dabei drehte er sich langsam, um den Killer im Visier zu behalten. Sanft, fast genussvoll legte er den Finger um den Abzug. Während er sich weiter drehte und dem Fliehenden mit der Laufmündung folgte, schob sich ein schneeweißes Gebilde in sein Sichtfeld.

Es war eine hohe, ausladende Haube aus gefälteltem weißem Leinen. Die Frau, die sie auf dem Kopf trug, war eine Krankenschwester in makellos weißer Tracht und Schürze. Er riss die Waffe hoch und ließ den Abzug los, eine Haaresbreite davon entfernt, ein unschuldiges Leben auszulöschen. Zwei unschuldige Leben, erkannte er, als er die Treppe hinunterhetzte: das Leben der Krankenschwester und das Leben des Arztes, der sie im lauschigen Halbdämmer des Treppenhauses umarmte und nun mit seinem Körper abschirmte.