Piranha - Clive Cussler - E-Book

Piranha E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Der 10. Juan-Cabrillo-Roman – und die Spannung lässt nie nach!

1902: Der Mount Pelée bricht aus, tötet 30.000 Menschen und lässt das Schiff eines deutschen Wissenschaftlers sinken. Heute: Nach einem Angriff täuscht Juan Cabrillo die Vernichtung der Oregon vor. Doch beinahe zu spät erkennt er, dass sein Gegner ihm immer noch einen Schritt voraus ist. Ein verräterischer Waffenentwickler hat die Arbeit des vor dem Mount Pelée gestorbenen Wissenschaftlers vollendet. Durch eine unschlagbare Waffe bedroht, muss die Crew der Oregon alles daransetzen, ihren Gegner aufzuspüren – bevor er die vernichtende Wirkung der Waffe erneut entfesselt!

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Autoren

Clive Cussler konnte bereits dreißig aufeinanderfolgende »New-York-Times«-Bestseller landen, seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, und ist auch auf der deutschen Spiegel-Bestsellerliste ein Dauergast. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Boyd Morrison arbeitete als Ingenieur für die NASA und Microsoft, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Außerdem ist er professioneller Schauspieler und Jeopardy!-Meister. Er lebt mit seiner Frau in Seattle.

Die Juan-Cabrillo-Romane von Clive Cussler:

1. Der goldene Buddha

2. Der Todesschrein

3. Todesfracht

4. Schlangenjagd

5. Seuchenschiff

6. Kaperfahrt

7. Teuflischer Sog

8. Killerwelle

9. Tarnfahrt

10. Piranha

Weitere Bände in Vorbereitung

Clive Cussler

& Boyd Morrison

Piranha

Ein Juan-Cabrillo-Roman

Aus dem Englischen von Michael Kubiak

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem

Titel »Piranha« bei G.P. Putnam’s Sons, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text

enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © 2015 by Sandecker, RLLLP

By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc., 551 Fifth Avenue,

Suite 1613, New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by

Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Jörn Rauser

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com

HK · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-18408-7V001

www.blanvalet.de

PROLOG

MARTINIQUE

8. MAI 1902

Die SSRoraima dampfte geradewegs ins Verderben.

First Officer Ellery Scott stand auf der Kommandobrücke des kanadischen Fracht- und Passagierschiffes und starrte in ein graues Schneetreiben, das schmutziger war als alles, was er je während eines verrußten Londoner Winters gesehen hatte. Obwohl es bereits 6:30 Uhr morgens war, konnten die Strahlen der aufgehenden Sonne nicht die Aschewolke durchdringen, die über dem Hafen von Saint-Pierre lag. Die Umrisse des »Klein-Paris der Karibischen Inseln«, wie das wirtschaftliche Zentrum Martiniques gern genannt wurde, ließen kaum auf eine pulsierende Stadt mit dreißigtausend Einwohnern schließen. Viel eher erinnerten sie an eines dieser verschwommenen impressionistischen Aquarelle, wie sie zurzeit in der Namensgeberin der karibischen Stadt in Mode waren.

Gedankenverloren strich sich Scott über seinen silbergrauen Schnurrbart, während er sich zum Mont Pelée umdrehte, dem Vulkan, der über dem Hafen thronte. Gewöhnlich gut gelaunt und nie um ein freundliches Wort verlegen, weshalb er sich bei den Offizieren, der Mannschaft und den Passagieren großer Beliebtheit erfreute, spiegelte seine Miene an diesem Tag doch tiefe Besorgnis wider. Er war seit zwanzig Jahren Seemann, kannte zwar jede Art von Frachtschiff und die Ozeane mit ihren mörderischen Stürmen und den alles niederwalzenden Monsterwellen, aber der erfahrene alte Seebär hatte noch nie zuvor etwas derart Unheimliches und Bedrohliches gesehen wie diesen Berg dort im Norden – in nur fünf Kilometern Entfernung.

Grollender Donner drang wie ein regelmäßiger Pulsschlag aus der Tiefe, als lauere in seinem Innern ein riesiges Raubtier. Seine Spitze wurde von den letzten Resten nächtlicher Dunkelheit verhüllt, und beißender Schwefelgestank verpestete die Luft. Scott kam es ganz so vor, als habe Satan persönlich diesen Ort als Behausung ausgewählt.

»Was halten Sie vom Wetter, Sir?«, fragte Scott betont beiläufig in der Hoffnung, dass ihm seine Besorgnis nicht anzumerken war.

Kapitän George Muggah, das Gesicht nach Jahren in salziger Luft und glühender Sonne zerfurcht und die Oberlippe unter einem buschigen Schnurrbart verborgen, schaute vom Logbuch hoch und warf einen kurzen blinzelnden Blick auf die gespenstische Szenerie.

»Machen Sie weiter wie gehabt, Mr. Scott«, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Solange wir nichts Gegenteiliges vom Hafenmeister hören, werfen wir Anker.«

»Diese Asche könnte unseren Maschinen schaden. Möglicherweise wird es heute Abend nicht möglich sein, die Fahrt fortzusetzen.«

»Dann überlasse ich es Ihnen, dafür zu sorgen, dass die Mannschaft Reinschiff macht und unsere Maschinen sauber hält. Im Hafen liegen achtzehn Schiffe. Wäre es dort nicht sicher, hätten sie längst die Anker gelichtet.«

Die dicke Ascheschicht, die auf dem Wasser trieb, erzeugte den Eindruck, als lägen die Schiffe auf beiden Seiten auf dem Trockenen. Auch auf die Gefahr hin, penetrant zu erscheinen, hakte Scott nach. »Und was ist mit der Explosion vor zwei Tagen?«

Sie hatten achtzig Kilometer weiter nördlich vor Dominica geankert, als eine Explosion gegen vier Uhr morgens das Schiff derart heftig durchgeschüttelt hatte, dass Tassen und Teller aus den Schränken fielen und auf dem Boden zerschellten.

Kapitän Muggah fuhr mit seinen Eintragungen ins Logbuch fort. »Ich halte mich an das, was der Telegraphist aus Portsmouth übermittelt hat, dass sich nämlich durch die Explosion lediglich der Druck im Vulkan verringert hat. Wahrscheinlich wird der Berg mal wieder husten, aber mehr passiert ganz bestimmt nicht.«

Scott war sich dessen nicht so sicher, aber er verkniff sich einen Einwand.

Nachdem sie ihren Liegeplatz gefunden und Anker geworfen hatten, kamen der Hafenmeister und der Hafenarzt an Bord, um das Schiff zu überprüfen und auszuschließen, dass niemand von der Mannschaft und den Passagieren unter einer ansteckenden Krankheit litt und diese bei einem Landgang auf die Insel einschleppte. Beide verharmlosten die anhaltende vulkanische Aktivität und bestätigten Muggahs Annahme, dass von dem dumpfen Grollen im Innern des Vulkans keinerlei Gefahr ausging. Was sie hörten, seien lediglich die letzten Atemzüge des verlöschenden Berges.

Es war Christi Himmelfahrt, und alle Hafenarbeiter nahmen an dem morgendlichen Gottesdienst teil, daher traten Scott und Muggah in die Offiziersmesse, um zu frühstücken. Sie unterhielten sich über den Verladeplan des Tages – Bauholz und Kalium aus New Brunswick musste gelöscht und Rum und Zucker, die für Boston bestimmt waren, geladen werden. Der Vulkan jedoch wurde mit keiner Silbe erwähnt, wenn sein ständiges Rumpeln auch unmöglich zu überhören war.

Nach dem Frühstück begab sich Scott an Deck, um den Frachtagenten zu begrüßen, der die Schauerleute beim Löschen der Ladung beaufsichtigen würde.

Das einhundertvier Meter lange Passagierschiff verfügte über Frachträume vor und hinter der mittschiffs gelegenen Kommandobrücke, die von einem einzelnen Schornstein überragt wurde. Mastkräne an beiden Enden des Schiffes dienten dem Laden und Entladen der schweren Fracht. Jeder Quadratzentimeter war mit dem Ausstoß aus dem Schlund des Pelée bestäubt. Als Scott das Schiffsdeck überquerte, hinterließ er deutliche Fußspuren.

Passagiere drängten sich an der Reling, um einen Blick auf Saint-Pierre mit seiner bedrohlichen Kulisse zu werfen. Einige füllten Vulkanasche als Souvenir in Briefumschläge und Tabaksdosen. Zwei Frauen spannten Sonnenschirme auf, um ihre Kleider vor Verschmutzung zu schützen.

Einer der männlichen Passagiere – ein schmächtiger Deutscher namens Günther Lutzen – baute sogar ein Stativ auf, um das ungewöhnliche Panorama zu fotografieren.

»Einmaliges Motiv, Mr. Lutzen«, sagte Scott.

»Ja, es ist wirklich sehr interessant«, erwiderte Lutzen in holprigem Englisch.

»Gehört das auch zu Ihrer wissenschaftlichen Exkursion?«

»Nein, die ist abgeschlossen. Aber ich möchte dieses Foto für meine …« Er hielt inne und holte ein Deutsch-Englisches Wörterbuch aus der Tasche. »Ach, wie lautet das Wort für Sammlung?« Er blätterte in dem Buch.

»Kollektion?«, half ihm Scott auf die Sprünge.

Lutzen lächelte dankbar und nickte heftig. »Ja, natürlich. ›Kollektion‹. Diese Sprache ist ein ganz und gar neues Gebiet für mich. Ich lerne noch. Meine Schwester in New York hat mir ein paar Kinderbücher mitgegeben, in denen ich fleißig lese.«

Scott klopfte ihm auf die Schulter. »Sie machen gute Fortschritte. Ihr Englisch ist schon besser als mein Deutsch.«

Lutzen lachte und steckte das Wörterbuch ein, um die neue Vokabel in sein allgegenwärtiges Notizbuch einzutragen. Scott setzte seinen Weg fort, wobei er die Passagiere, die ihm entgegenkamen, mit einem Kopfnicken grüßte.

Als er das Vorderdeck betrat, sah er Monsieur Plessoneau, den örtlichen Frachtagenten, die Gangway heraufkommen, die zu seinem Boot herabgelassen worden war. Plessoneau, ein hagerer Mann in weißem Anzug, mit einem Panamahut auf dem Kopf, ergriff Scotts ausgestreckte Hand.

»Schön, Sie wiederzusehen, Monsieur«, sagte Scott. »Offenbar hat Ihr grollender Berg das Geschäft bisher nicht beeinträchtigt.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf die anderen Schiffe, die im halbmondförmigen Hafenbecken ankerten.

Der Franzose blähte die Wangen auf, spitzte die Lippen und blies zischend die Luft aus. »Oui, wir hoffen natürlich, dass das Schlimmste vorüber ist.«

Scott runzelte die Stirn. »Was ist geschehen?«

Bei dem Agenten löste diese Frage ein betrübtes Lächeln aus. »Seit über einem Monat gibt Pelée keine Ruhe. Angefangen haben unsere Probleme mit den Ameisen und den Tausendfüßlern in der Zuckerfabrik Guerin.«

»Ameisen und Tausendfüßler?«

Plessoneau verzog das Gesicht. »Wenn ich wieder in Frankreich bin, werde ich sie nicht vermissen. Wir nennen die Ameisen fourmis-fous – rasende Ameisen. Sie stürzen sich auf alles und beißen wie im Rausch. Die Tausendfüßler sind noch schlimmer. Dreißig Zentimeter lang und schwarz, ein paar Bisse können einen Menschen töten. Alle Arbeiter waren nötig, um die Pferde zu retten. Und dann kamen auch noch die Schlangen.«

Scott erschrak. Insekten waren schon schlimm genug, aber Schlangen machten ihm wirklich Angst.

Plessoneau nickte bekräftigend. »Hunderte fer-de-lances – Grubenottern – kamen vor vier Tagen aus dem Wald nördlich von Saint-Pierre. Fünfzig Menschen und hunderte Tiere wurden gebissen und starben. Einen Tag später zerstörte eine Schlammlawine, die sich vom Berg herabwälzte, die Fabrik. Glücklicherweise geschah es bei Nacht, aber trotzdem fanden viele Männer den Tod.«

Für Scott verstärkte sich der Eindruck einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe, den er bereits bei der Einfahrt in den Hafen gehabt hatte.

»Vielleicht sollten wir lieber umkehren und stattdessen auf der Rückfahrt hier Halt machen«, sagte er.

Plessoneau zuckte die Achseln. »Genau das wollte ich Ihnen vorschlagen, da heute Feiertag ist und viele Männer gar nicht arbeiten werden. Sie könnten nach Fort-de-France weiterfahren und morgen zurückkehren. Allerdings brauchen Sie die Erlaubnis des Hafenmeisters, und die gibt er Ihnen vielleicht gar nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Weil der Gouverneur Soldaten aufmarschieren ließ, die die Menschen davon abhalten sollen, die Stadt zu verlassen. In drei Tagen findet hier eine Kommunalwahl statt, und er befürchtet, dass sie abgesagt werden muss, wenn sich jeder aus dem Staub macht. Einige Leute haben bereits das Weite gesucht, aber von den Farmen an den Berghängen kommen die Farmer und Landarbeiter nach Saint-Pierre, daher herrscht dort ein Gedränge, wie ich es noch nie erlebt habe.«

»Meinen Sie, wir sollten trotzdem wieder auslaufen?«

»Bisher hat nur ein Schiff den Anker gelichtet, ein italienischer Dreimaster namens Orsolina, der gestern lediglich die Hälfte seiner Zuckerfracht geladen hat. Der Hafenmeister hat die Erlaubnis zum Ablegen verweigert, ehe die gesamte Ladung an Bord ist, und dem Kapitän, Marino Leboffe, mit Arrest gedroht. Angeblich soll Leboffe, der aus Neapel kommt, dem Hafenmeister erwidert haben: ›Ich weiß zwar nichts über den Mont Pelée, aber wenn der Vesuv so aussähe wie euer Berg heute Morgen, würde ich Neapel sofort verlassen. Darum verschwinde ich von hier.‹«

»Möglicherweise war das genau das Richtige.«

»Ihr Kapitän muss wissen, was er tut, aber wenn ein weiteres Schiff den Hafen vorzeitig verlässt, könnte es bei den anderen eine Panik auslösen. Soeben ist in Fort-de-France die Suchet eingetroffen, ein französischer Kreuzer. Durchaus möglich, dass sie zu Hilfe gerufen wird, um Sie aufzuhalten.«

»Mal hören, was Kapitän Muggah denkt«, sagte Scott und ging mit Plessoneau zur Kommandobrücke hinüber.

Der Kapitän hörte sich den Bericht des Agenten an, ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Er wedelte mit einer Ausgabe der Les Colonies, der städtischen Zeitung, die ihm der Arzt überlassen hatte.

»Im Leitartikel heißt es, vom Berg drohe keine Gefahr. Und das reicht mir. Ich denke, wir sollten schnellstens mit dem Löschen der Ladung beginnen.«

Der Kapitän wollte keinen Einwand gelten lassen. Seine Entscheidung war endgültig. Scott beugte sich den Anweisungen mit einem knappen »Aye, Käpt’n« und geleitete Plessoneau zur Gangway.

Scott verabschiedete sich von ihm und verfolgte für einige Sekunden, wie er zu seiner Barkasse hinabstieg, dann kehrte er zum Achterdeck zurück, wo er den dritten Maat antraf, der wie gebannt auf die Stadt blickte.

»Mr. Havers«, sagte Scott, »was ist denn da so interessant?«

»Na ja, ein friedlicher Anblick, nicht wahr, Mr. Scott? Zwar grau, aber von der Sonne beschienen.«

Scott stimmte widerstrebend zu, dass der Anblick seinen ganz eigenen Reiz hatte. Aber »friedlich« war keineswegs die Beschreibung, die er gewählt hätte. Er empfand das Stadtpanorama mit dem Berg im Hintergrund immer noch als bedrohlich. »Wir haben eine Menge Arbeit vor uns. Der Kapitän möchte, dass dieses Deck vor Sauberkeit blitzt, wenn wir wieder ablegen.«

»Aye, Sir. Aber darf ich vorher noch schnell ein Foto machen? Ich muss nur die Kamera aus meiner Koje holen.«

Scott holte seine Taschenuhr hervor. 7:49. Da die meisten Hafenarbeiter noch beim Gottesdienst waren, blieben ihnen ein paar Minuten Zeit.

Er nickte lächelnd. »Aber beeilen Sie sich.«

»Danke, Sir«, sagte Havers strahlend und entfernte sich im Laufschritt zu den Mannschaftsquartieren.

Scott hatte nur zwei Schritte in Richtung Kommandobrücke zurückgelegt, da schien es ihm, als sei die Sonne schlagartig erloschen. Erschrocken schaute er zum Mont Pelée hinauf. Der Anblick, der sich seinen Augen bot, ließ ihn stocksteif verharren, als wären seine Füße in Zement eingegossen.

Wie der Mündungsqualm einer Schlachtschiffkanone schoss eine mächtige Wolke aus schwarzem Rauch und Asche senkrecht in den Himmel hinauf. Eine Seite des Berges wurde weggesprengt, und eine zweite Aschewolke wälzte sich wie eine glühende Walze überhitzten Gases die steilen Hänge des Pelée herab. Die tödliche Lawine bewegte sich direkt auf Saint-Pierre zu. Bei dem Tempo, mit dem sie zu Tal raste, würde sie die Stadt in weniger als einer Minute zudecken.

Trotzdem konnte sich Scott nicht rühren. Von dem entsetzlichen Anblick war er wie hypnotisiert. Für einen kurzen Moment herrschte eine gespenstische Stille, dann hatte die betäubende Schockwelle das Schiff erreicht und schleuderte den Schiffsoffizier nach hinten. Gestoppt wurde diese Bewegung von einer stählernen Wand, an die gepresst er von der tödlichen Wolke eingehüllt worden wäre, hätte ihn dieser unheimliche Laut nicht zur Besinnung kommen lassen. Sein erster Gedanke galt der Sicherheit des Schiffes, daher rannte er zum Bug.

Mittschiffs traf Scott auf Kapitän Muggah, der ihm im Laufschritt entgegenkam. Er musste den gleichen Gedanken gehabt haben wie Scott.

»Anker hoch, Mr. Scott!«, brüllte der Kapitän, während er an ihm vorbei zur Kommandobrücke eilte.

»Anker wird gelichtet, aye!«, antwortete Scott. Der dritte Maat, der seinen Fotoapparat geholt hatte, folgte dem Kapitän auf die Kommandobrücke und befahl, die Kessel unter Dampf zu setzen.

Scott erreichte die Ankerklüse und schaltete die dampfgetriebene Winde ein, um die schwere Kette einzuholen und den Anker hochzuhieven. Passagiere in seiner Nähe stießen Entsetzensschreie aus und rannten kopflos hin und her, um vor dem drohenden Feuerregen verzweifelt Schutz zu suchen. Dem größten Teil der Mannschaft ging es keinen Deut besser, und trotz Scotts lauten Rufen kam ihm niemand zu Hilfe.

Er zählte fünfzehn Faden Kette, die die Winde aufgewickelt hatte, als die tödliche Aschewolke den nördlichen Rand von Saint-Pierre erreichte und alles in Brand setzte, was sie berührte. Steinhäuser explodierten und gingen in Flammen auf, als wären sie aus Sperrholz erbaut.

Die Wolke wälzte sich über den Hafen und traf auf die Grappler, einen Kabelleger, der gerade im Hafen ankerte. Sie blieb nur darum von dem Feuer verschont, weil sie sofort von einer Wasserwand überschüttet wurde und kenterte. Die Riesenwelle rollte weiter und zertrümmerte ein Schiff nach dem anderen.

Da noch fünfzehn Faden Ankerkette eingeholt werden mussten, zerschlug sich für Scott jede Hoffnung, die Roraima rechtzeitig aus dem Hafen manövrieren zu können. Gehetzt sah er sich nach einer Deckungsmöglichkeit um. Da ihm nur noch Sekunden blieben, bis ihn das Feuer erreichte, konnte er nichts anderes tun, als eine Persenning von einem der Belüftungsschächte herunterzureißen, sie mehrmals zusammenzufalten und sich über den Kopf zu ziehen. So warf er sich auf das Deck, verkroch sich unter der Plane und ließ nur eine winzige Öffnung frei, um seine Umgebung beobachten zu können. Er sah Kapitän Muggah auf der Kommandobrücke und hörte ihn Befehle brüllen, während er gegen alle Vernunft versuchte, sein todgeweihtes Schiff zu retten.

Scott spürte die Hitze noch vor der Druckwelle. Die Luft begann zu sieden, sodass er für einen Moment glaubte, im Innern eines der Dampfkessel des Schiffes werde es unbedingt kühler sein. Die mehrlagige Persenning lenkte die Hitze weitgehend ab. Scott wusste, dass er ohne diesen Schutz niemals überlebt hätte. Diese Erkenntnis erhielt ihre Bestätigung, als er mitansehen musste, wie der Schnurrbart, das Haar und die Kleidung des Kapitäns in Flammen aufgingen. Der Mann schrie in namenloser Qual auf, und Scott wurde das tödliche Finale des grässlichen Schauspiels erspart, als Muggah zusammenbrach und außer Sicht geriet.

Glühende Steine und kochender Schlamm prasselten auf die Schutzplane, teils waren die Bestandteile kleiner als Bleischrot, teils so groß wie Taubeneier. Scott war unter seinem notdürftigen Schutzzelt sicher, daher verhielt er sich ruhig und lauschte dem vielfältigen Zischen, als sich der glühende Trümmerregen rings um das Schiff ins Hafenbecken ergoss.

Wenige Lidschläge später erreichte die Druckwelle die Roraima und riss Scott beinahe die Persenning aus den Händen. Beide Mastkräne wurden einen halben Meter über dem Deck so sauber gekappt, als wären sie mit einer gigantischen Säge gefällt worden, und der Schornstein zerbarst in zwei Hälften. Die Flutwelle prallte breitseits gegen das Schiff, sodass es sich zuerst nach Backbord neigte und dann ruckartig aufrichtete und so weit nach Steuerbord zurückkippte, dass die Reling für einen kurzen Moment ins Wasser eintauchte.

Scott schrie vor Angst, ins Hafenbecken geworfen zu werden, laut auf und suchte mit wild rudernden Armen nach einem Halt. Er rutschte, immer noch weitgehend von der Persenning beschützt, über das mit Asche bedeckte Deck, bis seine Füße gegen eine Ladeluke stießen. Für einen kurzen Moment glaubte er, dass das Schiff ebenso kentern werde wie die Grappler, aber das alte Mädchen schüttelte sich zwar und richtete sich wieder auf, wobei es deutlich Schlagseite behielt.

Scott warf einen Blick durch die Lücke in der Schutzplane, um sich zu orientieren, und erkannte, dass er sich dicht vor dem vorderen Deckaufbau befand. Er machte Anstalten, sich aufzurichten und sich in seinen Schutz zu begeben, als die Tür weit aufschwang und zwei Matrosen, Taylor und Quashey, ihn hereinzogen.

Sie schlugen die Tür sofort wieder zu und bedeckten die Bullaugen mit Matratzen, Kissen, Koffern, schlichtweg mit allem, was sie finden konnten. Danach kauerten sie sich unter die Persenning und mehrere Schlafdecken, um auf das Ende zu warten – entweder das des Feuersturms oder ihr eigenes.

Nach einer Zeitspanne, die ihnen zwar wie eine Stunde vorkam, jedoch nicht länger als zehn Minuten dauerte, spürte Scott, wie die Hitze nachließ. In der Hoffnung, dass das Schlimmste nun vorüber war, stand er auf und öffnete die Tür.

Mit einem Blick erkannte er, dass das Schlimmste soeben erst begann.

Das Deck war mit verkohlten Leichen übersät. Männer, Frauen und Kinder waren grässlich verbrannt oder so reichlich mit Asche bedeckt, dass es schien, als seien sie zu Zement erstarrt. Er konnte Passagiere und Mannschaft nicht voneinander unterscheiden.

Vorsichtig ging er zwischen ihnen herum und hielt nach irgendwelchen Lebenszeichen Ausschau, bis er jemanden fand, der auf dem Bauch lag und dessen Kleidung auf seinem Rücken verbrannt war. Das bedauernswerte Opfer stöhnte vor Schmerzen. Scott drehte die Person behutsam auf den Rücken und wich entsetzt zurück, als er das grauenhafte Gesicht erblickte.

Das Haar des Mannes war vollständig verbrannt, die Haut war geschwärzt, und seine Nase und Ohren waren vollkommen verformt und mit dem Gesicht verschmolzen. Dass Scott einen Mann und keine Frau vor sich hatte, erkannte er an den Stoffresten des Mantels und der Krawatte, die unter den verschränkten Armen völlig unversehrt geblieben waren. Die untere Körperhälfte war nahezu vollständig verkohlt. Scott vermutete, dass der Mann bereits bäuchlings auf dem Deck gelegen hatte, als die Feuerwalze ihn überrollte.

»Helfen Sie mir, Mr. Scott«, ächzte er mit zerfetzten Lippen.

Scott musterte ihn verwirrt. »Wer sind Sie, Sir?«

»Kennen Sie mich nicht, Mr. Scott?«, krächzte er, wobei ihm jedes einzelne Wort unendliche Mühe bereitete. »Ich bin Lutzen.«

Scott starrte Günther Lutzen an. Nein, den Deutschen hätte er niemals erkannt.

Zitternd hob der Mann einen Arm und streckte ihn Scott entgegen, der annahm, dass sein Gegenüber auf diese Weise um Hilfe bat. Stattdessen hielt er Scott sein wertvolles Notizbuch hin. Jetzt erst erkannte der Offizier, dass Lutzen sich offenbar auf das Notizbuch geworfen hatte, um es vor den Flammen zu bewahren.

»Ich werde sterben. Geben Sie dies meiner Schwester.«

Scott wollte sich nicht mit dem Todesurteil für den Mann abfinden, daher hielt er verzweifelt Ausschau nach Hilfe. Ein Frachtschiff, das er als die Roddam identifizierte, drehte gerade nach Backbord, um den Hafen zu verlassen, und er konnte erkennen, dass ihr gesamtes Heck in Flammen stand.

»Bitte, Mr. Scott«, sagte Lutzen und zog Scotts Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Ingrid Lutzen, New York City.«

Scott erkannte, dass er nichts mehr für den Mann tun konnte, nickte also, nahm das Notizbuch an sich und schob es in seinen Hosenbund. »Natürlich, Mr. Lutzen. Ich kümmere mich darum.«

Lutzen brachte nicht einmal den Anflug eines Lächelns zustande, aber er nickte dankbar. »Sagen Sie ihr, dass ich dort war«, keuchte er mühsam. »Ich habe den Durchbruch geschafft. Alles wird sich verändern. Sie schimmerten wie Smaragde, groß wie Baumstämme.«

Ein krampfhafter Husten schüttelte seinen Körper durch. Scott machte Anstalten, sich aufzurichten und Wasser zu suchen, um die Lippen des Sterbenden zu benetzen, aber Lutzen hielt Scott am Ärmel fest und zog ihn so dicht zu sich heran, dass seine versengten Lippen fast die Ohren des Schiffsoffiziers berührten. Lutzen flüsterte noch vier Worte, dann sank seine Hand von Scotts Arm herab, und er entspannte sich, endlich von seinen unmenschlichen Schmerzen erlöst.

Scott verharrte einige Sekunden länger auf den Knien, verwirrt von dem, was er soeben gehört hatte. Weitere Schmerzlaute drangen an seine Ohren, und er richtete sich auf. Da der Kapitän tot oder wenigstens tödlich verletzt war, hatte er jetzt das Kommando über das Schiff.

Scott sammelte alle Überlebenden um sich, die er finden konnte – insgesamt waren es nur dreißig von den achtundsechzig Personen an Bord, und die Hälfte von ihnen würde die Nacht nicht überstehen. Er selbst und drei andere Mannschaftsangehörige waren die Einzigen, die keine schweren Verletzungen erlitten hatten. Sie begannen, aus den Überresten eines Rettungsboots ein primitives Floß zusammenzuzimmern, aber ihre Bemühungen erwiesen sich als überflüssig, als der französische Kreuzer Suchet am Nachmittag in den Hafen einlief, sie an Bord aufnahm und die Roraima, die dem Untergang geweiht war, ihrem Schicksal überließ. Der Offizier, der die Überlebenden mit Kaffee versorgte, berichtete ihm, dass vermutlich kein Bewohner von Saint-Pierre die Katastrophe überlebt habe.

Da er und seine wenigen Schutzbefohlenen sich in Sicherheit befanden, zog Scott das Notizbuch Günther Lutzens aus dem Hosenbund und blätterte darin. Wie er bereits vermutet hatte, verstand er kein Wort von den Eintragungen. Nicht nur war jede Seite mit Notizen in deutscher Sprache gefüllt, sondern der größte Teil der Aufzeichnungen bestand auch noch aus mathematischen Gleichungen und wissenschaftlichem Kauderwelsch. Scott konnte nur hoffen, dass Lutzens Schwester etwas damit anzufangen wusste, und schwor sich, sein Versprechen um jeden Preis einzulösen und ihr das Notizbuch zukommen zu lassen.

Scott überlegte, was er ihr nach seiner Ankunft in New York erzählen und ob er ihr eine Schilderung des Leidens ihres Bruders ersparen solle. Er entschied, dass sie es verdiene, die ganze Wahrheit zu erfahren – inklusive Lutzens letzter Botschaft an sie.

Er wollte sichergehen, dass er während der Reise nach Norden, die einige Tage dauern würde, nichts von dem vergaß, was er gehört hatte. Daher borgte er sich von einem der Matrosen der Suchet einen Schreibstift und blätterte im Notizbuch weiter bis zu der ersten leeren Seite. Dort notierte Scott die rätselhaften Worte Lutzens, dessen raue Stimme er noch immer in den Ohren hatte.

Sagen Sie ihr, dass ich dort war. Ich habe den Durchbruch geschafft. Alles wird sich verändern. Sie schimmerten wie Smaragde, groß wie Baumstämme.

Scott hielt inne, immer noch unsicher, ob er Lutzen richtig verstanden hatte. Er zuckte die Achseln und schrieb die seltsame Nachricht wortgetreu auf.

Ich habe Oz gefunden.

EINS

CHESAPEAKE BAY

VOR NEUN MONATEN

Nur Minuten von ihrem Ziel achtzig Meilen nordwestlich des Chesapeake-Bay-Bridge-Tunnels entfernt, beschrieb der Prototyp der Kampfdrohne X-47B einen weiten Bogen. Frederick Weddell justierte den Frequenzwechselalgorithmus des Störimpulses. Er hatte die Aufgabe, das Steuersignal des Drohnenpiloten in der Ventura County Naval Base in Kalifornien zu blockieren und das bordinterne Navigationssystem neu zu kodieren, sodass der Flugkörper mitsamt seinen eintausend Pfund Treibstoff in einen baufälligen Frachter einschlug.

Sogar ohne die beiden intelligenten Bomben, mit denen sie ausgerüstet werden konnte, war die Drohne in der Lage, einen tödlichen Terrorangriff auf die USA auszuführen.

Weddell fand Gefallen an dieser Herausforderung. »Wir schaffen das«, sagte er zu niemand Bestimmtem, obgleich sich noch zwei weitere Männer in dem kleinen Raum befanden, der bis in den letzten Winkel mit elektronischen Apparaturen und Monitoren vollgestopft war. Das achtzig Fuß lange Kommunikationsschiff, das unweit der Mündung des Potomac ankerte, war bis auf seinen Kapitän, der sich auf der Kommandobrücke aufhielt, unbemannt. Weddell rückte seine Drahtbrille zurecht und blickte auf den größten Monitor, auf den die Bilder einer Kamera an Deck übertragen wurden. Die Drohne vollzog ihre erste Kursänderung nach dem Start und war lediglich als kleiner weißer Balken vor dem orangefarbenen Leuchten der untergehenden Sonne zu erkennen.

Um die geplante Mission erfolgreich auszuführen, reichte es nicht aus, das Steuersignal zu stören. Wurde der Kontakt der Drohne mit ihrem Piloten unterbrochen, schaltete sie augenblicklich auf den autonomen Modus um und kehrte zu ihrer Basis, der Naval Air Station Patuxent River zurück, dem in Maryland gelegenen Flugzentrum, das als Testeinrichtung für die Luftwaffensysteme der Navy diente. Es kam darauf an, eine neue Kontrollbefugnis zu installieren, damit die Koordinaten für eine alternative Zielposition geladen werden konnten. In diesem Fall erhielte der unbemannte Flugkörper den Befehl, sich mit fünfhundert Meilen in der Stunde in den Frachter zu bohren.

Dieser Angriff war für das Pentagon das Worst-Case-Szenario. Niemand – nicht die Drohnenkonstrukteure und auch nicht die Joint Chiefs – glaubte, dass die bordeigenen Systeme gehackt werden konnten. Aber seitdem eine als top secret eingestufte RQ-170-Sentinel-Aufklärungsdrohne im Iran eine Bruchlandung hingelegt hatte, verlangten die hohen Tiere, dass die Air Force und die Navy den Nachweis erbrachten, dass ihre Kommunikationsprotokolle unknackbar seien. Abgesehen von dem Verlust einer Drohne, deren Entwicklung und Bau einige hundert Millionen verschlungen hatte, ermöglichte der Absturz dem Iran einen ungehinderten Blick auf eines der höchstentwickelten technologischen Produkte Amerikas. Wenn die Iraner es schafften, es vom Himmel zu holen, dann wären sie vielleicht auch in der Lage, dem Piloten einer Drohne die Kontrolle über sein Fluggerät zu entreißen. Das Militär pumpte wahre Geldströme in ein Programm, um zu gewährleisten, dass etwas Derartiges niemals geschah.

Dies war der Grund für dieses simulierte Drohnen-Hijacking.

Gesucht wurden die hellsten und fähigsten Köpfe in der Drohnenszene, um ein Team zu bilden, das als feindliches Infiltrationskommando auftrat. Als ausgebildeter Elektroingenieur und zurzeit führender Kommunikationsexperte der Air Force hatte Weddell die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Als Spezialist in allen Methoden der Signalübertragung, -verschlüsselung und -störung wurde er ausgewählt, um die Signal-Abfang-Mission zu leiten. Sein Team bestand aus zwei weiteren erstklassigen Wissenschaftlern.

Lawrence Kensit, ein unscheinbarer Mann mit schleppendem Gang und aknenarbigem Gesicht, war Computerwissenschaftler und Physiker, der bereits mit zwanzig Jahren am Caltech promoviert hatte. Er neigte dazu, jeden, den er als intellektuell nicht ebenbürtig betrachtete, als »rettungslos dämlich« zu bezeichnen – wozu auch die Offiziere gehörten, die auf seine Arbeit angewiesen waren. Und trotzdem stieg er in den Rang des genialsten Entwicklers für Drohnensoftware auf. Er saß rechts neben Weddell und bearbeitete eine Tastatur, die vor drei Bildschirmen lag, über die endlose Datenkolonnen flimmerten.

Der zweite Mann war Douglas Pearson, ein Konstrukteur, der für die Technologie sorgte, die in den höchstentwickelten Drohnen des militärischen Arsenals zum Einsatz kam. Er war ein Bär von einem Mann, dessen dröhnende Stimme und enorme Leibesfülle auf jemanden hinwiesen, der sich selbst nicht viel versagte und gewohnheitsmäßig nicht auf fremde Ratschläge hörte. Er verteidigte seinen Arbeitsbereich mit eiserner Faust und stritt sich lautstark mit jedem, der seinen Standpunkt nicht teilte. Er saß links neben Weddell, die Füße auf dem Arbeitstisch, in der einen Hand ein Tablet und in der anderen einen Kaffeebecher.

Wenn diese drei es nicht schafften, ins Lenksystem der Drohne einzudringen, dann würde es niemand sonst auf der ganzen Welt schaffen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich die Drohne tatsächlich auf einem Abfangkurs in Richtung des Frachters befand, beabsichtigte Weddell, sie von ihrem Kurs ein wenig abweichen und über Patuxent in einer Art Abschiedsgruß mit den Tragflächen wackeln zu lassen, bevor sie zum Kontrollzentrum in Ventura zurückkehrte.

Pearson schlürfte seinen Kaffee, ehe er den Becher absetzte und mit seinem Tablet gegen die Tischkante klopfte. »Was ist los, Larry? Ich hab bisher noch keine Verbindung.«

»Dr. Weddell«, sagte Kensit, ohne den Blick von seinen Monitoren zu lösen, »bitte erinnern Sie Dr. Pearson daran, dass ich auf diesen Spitznamen nicht reagiere. Ich ziehe ›Dr. Kensit‹ vor, bin aber auch mit ›Lawrence‹ einverstanden, obgleich dieses Privileg gewöhnlich nur Leuten vorbehalten ist, die man als gleichrangig betrachten kann.« Er legte eine kurze Pause ein, ehe er fortfuhr: »Wenn ihm das nicht klarzumachen ist, betrachte ich ihn schon mal nicht als gleichrangig.«

»Gleichrangig in welcher Hinsicht, Dr. Kensit?«, fragte Pearson mit einem spöttischen Grinsen. »Wir beide sind ganz sicher nicht gleich groß.«

»Oder gleich schwer.«

Pearson schnaubte. »Warum nenne ich Sie nicht einfach Shorty? Oder wie wär es mit Winzling?«

»Meine Körpergröße ist im Vergleich mit der Ihren zwar geringer, bewegt sich aber immer noch im durchschnittlichen Bereich«, erwiderte Kensit in sachlichem Tonfall. »Genauso wie Ihr IQ.«

»Das reicht«, sagte Weddell, der von ihren ständigen Kabbeleien die Nase voll hatte. »Nicht schon wieder dieses Spiel, und vor allem nicht jetzt.« Er hatte mindestens die Hälfte des vergangenen Halbjahrs damit zugebracht, den Schiedsrichter zwischen ihnen zu spielen.

»Wir werden dieses Duell gewinnen«, fuhr er fort, »versuchen Sie darum, sich einigermaßen zivilisiert zu verhalten, bis wir fertig sind. Uns bleiben nur noch zwei Minuten direkte Sichtverbindung. Wie sieht es bei Ihnen aus, Lawrence?«

Kensit drückte mit einer abschließenden Geste auf eine letzte Taste. »Wenn Dr. Pearsons Hardwaredaten korrekt sind und sobald Sie das Steuersignal von Ventura übernehmen, kann ich die bordeigenen Navigationsprotokolle neu konfigurieren.«

Weddell nickte und setzte den Prozess zum Blockieren der Funkverbindung in Gang. Die GPS-Navigation zu manipulieren würde nicht funktionieren, da alle amerikanischen Drohnen mit einem inertialen Navigationssystem gesteuert wurden, um einen solchen Eingriff zu verhindern. Er musste weitaus kreativer vorgehen. Indem er sich einer Antenne bediente, die eigens für diesen Zweck von ihm konstruiert und auf dem Schiffsdeck installiert worden war, bombardierte er den Empfänger mit einem Überlastimpuls, der die bordeigenen Systeme für einen kurzen Moment lahmlegte. Der sensible Teil der Operation bestand darin, diese Wirkung so lange aufrechtzuerhalten, dass der Empfänger augenblicklich wieder in den Suchmodus umschaltete, aber gleichzeitig so kurz, dass er nicht erkannte, dass jemand seine Protokolle zu manipulieren versuchte, und nicht dazu gebracht wurde, den autonomen Modus zu aktivieren.

»Halten Sie sich bereit, Lawrence«, sagte Weddell. »Denken Sie daran, dass Sie nur zwanzig Sekunden haben, um das Signal zu übernehmen.«

»Ich weiß.«

Natürlich weiß er es.

Weddell wandte sich zu Pearson um. Er hatte die Aufgabe, die automatische Selbstzerstörungssequenz der Drohne, die wirksam wurde, wenn die Sensoren der Drohne ein nicht autorisiertes Steuersignal aufspürten, lahmzulegen. »Doug, sind Sie bereit?«

»Los geht’s«, gab Pearson zurück und rieb sich die Hände.

»Okay. Auf die Plätze. Fertig. Los.«

Weddell drückte auf die Enter-Taste, und der Impuls wurde auf die Drohne abgefeuert. Auf seinem Kontrollschirm erschien die Bestätigung, dass er einen Volltreffer gelandet hatte.

»Los, Lawrence!«

Kensit begann wie wild seine Tastatur zu bearbeiten. Die Sekunden verrannten. Weddell konnte in diesem Moment nichts anderes tun, als tatenlos zuzuschauen. Er behielt den oberen Monitor im Auge, und die Drohne blieb bei ihrem bisherigen Kurs.

»Status, Lawrence.« Der Countdown-Timer, den er auf seinem Laptop aufgerufen hatte, gewährte ihnen zehn weitere Sekunden.

»Ich isoliere die Unterroutinen der Steuerung«, sagte Kensit, was an Information alles war, was Weddell von ihm hören würde.

Weitere Sekunden verstrichen. Das Warten zerrte an den Nerven. Zum ersten Mal während des gesamten Projekts war Weddell vollkommen machtlos.

»Fünf Sekunden, Lawrence.«

Tasten klapperten hektisch.

»Sie schaffen es, Kensit«, sagte Pearson.

Kensits Finger flogen über das Keyboard, und dann hob er sie hoch wie ein Konzertpianist nach dem Schlussakkord.

»Ich weiß«, sagte er. »Jetzt haben wir sie unter Kontrolle.« Er blickte vielsagend zu Pearson hinüber. »Versuchen Sie nachher lieber nicht, meine Brillanz herunterzuspielen.«

Obgleich die Drohne gar nicht explodieren würde, wenn Pearson den Selbstzerstörungsmodus nicht hätte verhindern können, wurde für den Fall, dass die Selbstzerstörungssequenz nicht abgebrochen wurde, im Innern der X-47B ein Schalter betätigt. Die Inspektoren, die die Drohne später untersuchten, würden erkennen, dass die Hijacking-Mission fehlgeschlagen war. Es würde keine individuellen Leistungsbewertungen geben.

Pearson benutzte sein Tablet genauso versiert, wie Kensit seine Tastatur bearbeitet hatte. Weddell konzentrierte sich darauf, neue Zielkoordinaten ins Navigationssystem zu übertragen. Er beendete diesen Vorgang im selben Moment, als Pearson triumphierend in die Runde schaute. »Nimm dies, Uncle Sam! Wir haben uns deine Drohne geschnappt!«

Weddell und Pearson applaudierten und schlugen die Handflächen gegeneinander. Alles, was Kensit zum Siegestaumel beisteuerte, war eine hochgezogene Augenbraue und ein Achselzucken, als könnte er sich unmöglich über etwas freuen, von dem er von Anfang an gewusst hatte, dass es am Ende eintreten würde.

Das Freudenfest fand ein abruptes Ende, als Weddell bemerkte, dass die X-47B auf dem Monitor einen Richtungsschwenk ausführte. Eigentlich hätte sie sich mit Kurs auf den Frachter von ihnen entfernen müssen. Stattdessen flog sie direkt auf sie zu.

Und sie ging in den Sinkflug.

»Was zum Teufel hat das zu bedeuten, Lawrence?«

Kensit schüttelte verwirrt den Kopf. »Das kann nicht sein.«

Pearson nahm die Füße vom Tisch und starrte Kensit an. »Was haben Sie getan, Larry?«

»Ich habe nichts getan, was dies bewirkt hat.«

»Was bewirkt?«, fragte Weddell.

»Die Drohne orientiert sich an dem Signal, das wir senden.«

»Wie bitte?« Weddell versuchte das Signal auszuschalten, das sie sendeten, aber der Computer reagierte nicht. »Wie ist das möglich?«

»Ich … ich habe keine Ahnung.«

Weddell schaute zum Monitor. Die X-47B wurde auf dem Bildschirm mit jeder Sekunde größer. Sie hatten weniger als eine Minute, ehe die Drohne und ihre Treibstoffladung ihren Kamikazeangriff abschloss und das Schiff zertrümmerte. »Können Sie die Drohne umprogrammieren?«

Kensit starrte nur auf den Bildschirm, völlig perplex und stumm.

Wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben stieß er die Worte »ich weiß es nicht« hervor.

»Sie müssen es versuchen, sonst sind wir alle tot.« Er wirbelte herum und deutete auf Pearson. »Versuchen Sie, die Selbstzerstörungssequenz zu starten.«

Pearson nickte heftig und beugte sich über das Tablet. Weddell rannte zu der Tür, die sich an der Stirnseite des Raums befand.

»Wohin wollen Sie?«, fragte Kensit.

»Wenn Sie beide es nicht schaffen, wieder die Steuerung zu übernehmen, kann ich zumindest dafür sorgen, dass unsere Antenne nicht mehr sendet.«

Er riss die Tür auf und rannte zur Kommandobrücke hinauf, wo der Kapitän irritiert auf die Drohne starrte, die auf sie zuraste.

»Bringen Sie uns von hier weg – sofort!«, rief Weddell.

Der Kapitän brauchte keine weitere Erklärung und ließ die Maschine hochlaufen.

Weddell kletterte weiter auf das oberste Deck über der Kommandobrücke, auf dem sich die Antenne befand. Wenn er die Stromzufuhr kappte, würde der Sendestrahl sofort zusammenbrechen. Selbst wenn die Drohne ihre Anfangsposition gespeichert hatte, würde das Manöver des Schiffes sie aus ihrer Flugbahn bringen.

Er erreichte die Antenne und wollte das Stromkabel ergreifen, als das Schiff einen Ruck vorwärts ausführte. Er verlor das Gleichgewicht, wurde nach hinten geworfen, stolperte und knallte mit dem Kopf gegen eine Wand.

Für ein paar Sekunden sah er Sterne vor den Augen und schüttelte heftig den Kopf, um seinen Blick zu klären, ehe er auf allen vieren in Richtung Antenne kroch. Das schwarze Kabel, das zu der Schüssel führte, lag offen auf dem weißen Deck.

Er schaute hoch und sah den weißen keilförmigen Nurflügler auf sie herabstoßen, wobei der schwarze Lufteinlassschlitz der Drohne wie der Schlund eines Mantelrochens aufklaffte. Das schrille Heulen des Jetantriebs prophezeite eine vernichtende Feuersbrunst, wenn er es nicht schaffte, den Sendestrahl zu stoppen. Es sah so aus, als ob weder Kensit noch Pearson mit ihren Bemühungen Erfolg gehabt hätten.

Weddell ergriff das Stromkabel mit beiden Händen und zog mit einem kräftigen Ruck daran. Das Kabel gab nicht nach. Er stemmte beide Füße gegen den Drehteller der Antennenschüssel und setzte seine gesamte Kraft ein, wogegen seine Muskeln mit einem brennenden Schmerz protestierten.

Mit einem Knall peitschte das Kabel, begleitet von einem Funkenregen, über das Deck und ließ Weddell auf den Rücken kippen.

Er raffte sich auf und sah, dass sich das Kabel jetzt von der Antenne gelöst hatte. Sie konnte kein Signal mehr aussenden.

Die weißen Schaumkronen der wachsenden Bugwelle zeigten an, dass das Schiff mittlerweile gut zwanzig Knoten Fahrt machte. Wenn die Drohne einschlug und ihre Treibstoffladung explodierte, befänden sie sich in sicherer Entfernung von diesem Punkt.

Weddell richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Drohne, damit er den Unfallermittlern später genau beschreiben könnte, wo sie ins Meer getaucht war. Aber zu seinem Schrecken korrigierte die Drohne ständig aufs Neue ihren Kurs.

Sie steuerte noch immer genau auf sie zu und war nicht mehr als nur noch fünf Sekunden entfernt.

Er kämpfte sich auf die Füße, um über Bord zu springen, aber es war bereits viel zu spät. Die Zeit schien stillzustehen, als sich die Drohne ins Schiff bohrte und explodierte.

Sein letzter Gedanke, ehe der Feuerball ihn verschlang, galt nicht seiner Frau oder Bandit, seinem Deutschen Schäferhund. Er beschäftigte sich mit der Tatsache, dass dies kein Unfall war. Frederick Weddell nutzte die letzten Impulse seines Gehirns, um sich zu fragen, wer es sein mochte, der ihn tötete.

ZWEI

PUERTO LA CRUZ, VENEZUELA

GEGENWART

Hafenmeister Manuel Lozada schüttelte ungläubig den Kopf, während sich sein Boot dem rostigen Frachter näherte, den er inspizieren wollte, ehe er seine Ladung am La-Guanta-Kai löschte. Er schirmte die Augen vor der untergehenden Sonne ab, um sich einen besseren Eindruck verschaffen zu können. Von weitem erschien das Muster fleckiger grüner Farbe auf dem Schiffsrumpf wie ein Tarnanstrich für eine Dschungelkreuzfahrt, aber aus der Nähe betrachtet entpuppte es sich als nachlässige Anstreicherarbeit mit verschiedenen Schattierungen aus Kotzegrün, mit denen rostige Stellen auf dem Rumpf hatten verdeckt werden sollen. Aber sogar die frisch aufgetragene Farbe begann bereits abzublättern.

Als sein Boot das Heck passierte, konnte Lozada den Namen Dolos auf dem Hecküberhang erkennen. Er war mit seiner geschwungenen Form, die an eine Champagnerschale erinnerte, das einzige halbwegs elegante Element an einem sonst abgrundtief hässlichen Schiff. Wie am Göschstock zu erkennen war, fuhr das Schiff unter liberianischer Flagge, was den Informationen entsprach, die er sich vorab verschafft hatte.

Das Schiff war zwar groß – etwa einhundertneunzig Meter lang –, jedoch nicht mit den riesigen Supertankern zu vergleichen, die am Pamatacual-Ölterminal, nur fünf Meilen entfernt, lagen. Die Dolos war kein Containerschiff, sondern eher ein betagter Trampdampfer, der so gut wie jede Fracht, die sich anbot, zwischen den weniger bedeutenden Häfen der Welt hin und her transportierte. Dieser Eimer im Besonderen sah aus, als hätte er eigentlich schon im vorangegangenen Jahrhundert verschrottet werden sollen. Falls dieses alte Mädchen jemals auch nur in einen kleineren Sturm geriet, hätte es Lozada nicht gewundert, wenn es in der Mitte durchbrach und sank.

Zwei der fünf Mastkräne waren so stark korrodiert, dass sie unmöglich noch funktionsfähig sein konnten. Abfall und defekte Maschinenteile waren auf dem Deck verstreut. Zwei Schornsteine stießen dicke Wolken schwarzen Qualms aus. Der schmutzig weiße Deckaufbau befand sich zwischen den sechs vorderen und zwei hinteren Frachträumen, und zwei Brückennocks ragten auf beiden Seiten weit hinaus. Die Fenster des Steuerhauses waren derart verdreckt, dass Lozada deutlich erkennen konnte, wo der Steuermann sie gesäubert hatte, um während der fünf Meilen langen Fahrt in den Hafen hinausblicken zu können.

Lozada hatte zwanzig Jahre lang aktiv in der venezolanischen Marine gedient und war Reservist geblieben, seit er den Posten des Hafenmeisters bekleidete. Er wäre kielgeholt worden, wenn er zugelassen hätte, dass ein Schiff unter seinem Kommando einen solchen Zustand der Verwahrlosung erreichte. Nur die billigsten oder um Aufträge verlegensten Spediteure wären bereit, ihre Fracht einem Schiff wie diesem anzuvertrauen.

Er gab dem Steuermann des Bootes ein Zeichen, an die Gangway heranzumanövrieren, die am Rumpf der Dolos herabhing, und wandte sich zu dem Mann um, der hinter ihm saß, einem ehemaligen chinesischen Marinesoldaten namens Gao Wangshu. Mit seinem Kurzhaarschnitt und seiner schlanken, drahtigen Figur sah Gao aus, als befände er sich noch immer im aktiven militärischen Dienst.

»Und?«, fragte Lozada auf Englisch, der Sprache, in der sie gewöhnlich miteinander kommunizierten. Der Admiral hatte speziell Lozada für diese Aufgabe ausgesucht und wünschte eine klare Antwort.

»Ich weiß es noch nicht«, erwiderte Gao.

»Ich kann dem Admiral keinen Bericht erstatten, ehe Sie sich vollkommen sicher sind. Davon ist auch Ihr Honorar abhängig.«

»Ich kann aber kein abschließendes Urteil abgeben, ehe ich an Bord gewesen bin.«

»Sie sollten sich in jedem Fall ganz sicher sein.«

»Ist das eine Drohung?«

»Eher eine Warnung. Admiral Ruiz mag es überhaupt nicht, am Ende blamiert dazustehen.«

Gao warf einen kurzen Blick auf Lozadas Pistole im Gürtelholster und nickte langsam. »Ich werde Sie ausführlich informieren, wenn ich wegen der Identität des Schiffes irgendwelche Zweifel habe.«

»Das sollten Sie auch besser tun. Denken Sie daran, dass Sie die Rolle eines Praktikanten spielen, was bedeutet, dass Sie den Mund zu halten haben.«

»Ich verstehe.«

Sobald das Boot an der Dolos vertäut war, stiegen die beiden Männer die Gangway hinauf und wurden von einem schmuddeligen Mannschaftsangehörigen mit zerbeultem Cowboyhut auf dem Kopf empfangen. Strähniges braunes Haar kräuselte sich unter der Krempe hervor, und Essensreste klebten im Schnurrbart unter seiner Knollennase. Das khakifarbene Hemd des Matrosen war mit Kaffee- und Schweißflecken übersät und spannte sich fast bis zum Zerreißen über einem voluminösen Bierbauch.

»¿Habla Español?«, fragte Lozada.

»Nee«, erwiderte der Mann mit einem Akzent, den Lozada nicht einordnen konnte. »Ich hoffe, Sie sprechen Englisch.«

»Mein Name ist Manuel Lozada. Ich bin der Hafenmeister von La Guanta. Bitte führen Sie mich zu Ihrem Kapitän.«

Ein breites Grinsen entblößte die nikotinbraunen Zähne des Mannes. »Er steht vor Ihnen. Buck Holland lautet der Name. Willkommen auf der Dolos.« Er griff zu und schüttelte heftig Lozadas Hand.

Lozada konnte kaum seine Überraschung darüber verbergen, dass dieser schlampige Typ der Herr des Schiffes sein sollte, aber er fing sich schnell und stellte Gao als seinen Lehrling Fernando Wang vor. Er rechnete nicht damit, dass Gaos Abstammung Verdacht erregte, da in Venezuela zahlreiche chinesische Einwanderer lebten.

»Ich muss Ihre Mannschafts- und Ladelisten überprüfen und einen Blick auf Ihre Registrierung und die Frachtpapiere werfen.«

»Sollen Sie«, sagte Holland. »Sie befinden sich oben in der Kommandobrücke. Folgen Sie mir. Aber passen Sie auf, wo Sie hintreten. Wir müssen dringend ein paar Decksplatten reparieren.«

Lozada musste über diese Untertreibung beinahe lachen. Rost hatte sich so gründlich in die verbogenen Decksplatten gefressen, dass es einem Wunder gleichkam, dass sie das Schiff ungeachtet des Wetters überhaupt noch zusammenhielten. Aufgespannte Ketten überbrückten die Lücken in der Reling, und der Deckaufbau war aus der Nähe betrachtet eine einzige Katastrophe. Verrottete Sperrholzbretter verdeckten Löcher in den Stahlwänden, und ein Drittel aller Fenster der Kommandobrücke waren geborsten.

Trotz seiner Informationen über den Kapitän hätte er niemals mit einem solchen Grad an Vernachlässigung gerechnet, und zwar nicht nur im Hinblick auf sein Schiff, sondern auch auf ihn selbst. Obgleich Hollands Alter mit vierzig Jahren angegeben war, hatten Sonnenbrand und Alkohol seinem Gesicht weitere fünfzehn Jahre hinzugefügt. Laut seiner Personalakte war der Kapitän ein ehemaliger Alkoholiker, der in der Nähe von Singapur ein Containerschiff auf Grund gesetzt hatte. Das einzige Kommando, das er nach diesem Vorfall ergattern konnte, war dieser baufällige Trampdampfer, und so wie es aussah, scherte sich Holland nicht mehr im Mindesten um seinen Ruf.

Sie betraten einen engen Korridor, und Lozada wurde von einem fauligen Gestank überfallen. Es war eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, Dieselöl und Klärgrube. Er würgte regelrecht.

»Ja«, sagte Holland mitfühlend. »Ich muss mich für den Geruch entschuldigen. Die Toilette ist schon wieder verstopft, daher hoffe ich auch, dass Sie sie nicht benutzen müssen. Meine Jungs arbeiten dran. Wissen Sie, vor zwei Wochen, als wir mitten im Atlantik waren, mussten wir uns mit Eimern begnügen.« Anstatt peinlich berührt zu sein, lachte er schallend.

Lozada unterdrückte den Impuls, sich die Nase zuzuhalten, und folgte dem Kapitän ins Schiffsinnere. Gao hielt sich neben ihm und registrierte den bedauernswerten Zustand der Räumlichkeiten. Rissiges Linoleum quietschte unter Lozadas Gummisohlen, und er achtete sorgfältig darauf, mit seiner sauberen Uniform nicht mit den schmuddeligen kahlen Stahlwänden in Berührung zu kommen. Die Neonröhren an der Decke des Korridors flackerten heftig genug, um epileptische Anfälle auszulösen.

Sie gelangten zum Büro des Kapitäns, wo der stechende Geruch sogar noch stärker war. Der rechteckige Raum hatte ein einziges mit Salzkristallen verklebtes Bullauge, und gespenstische traurige Clowns in grellen Neonfarben starrten aus schwarz-samtenen Gemälden an den Wänden auf die Besucher herab.

Das Büro verfügte über zwei Türen, die beide offen standen. Die erste gehörte zur Kabine des Kapitäns, deren Möblierung aus nicht mehr bestand als einer mit der Kabinenwand verschraubten Kommode, einem Spiegel, der so völlig verbogen war, als hätte ihm jemand einen Faustschlag versetzt, und einem ungemachten stählernen Bett mit fleckigen Laken und einer zerschlissenen Wolldecke.

Die zweite Tür führte zu einem engen Badezimmer, in dem es aussah, als wäre es seit dem Stapellauf des Schiffes nicht mehr gereinigt worden. Der Gestank, der aus der Toilette aufstieg, war überwältigend.

Holland trat hinter seinen Schreibtisch und ließ sich in einen Sessel fallen, der protestierend ächzte. Lozada verfolgte staunend, wie der Kapitän nackte Drähte einer Schreibtischlampe in die Wand steckte, die Hand dann blitzartig zurückzog und fluchte, als die unvermeidlichen Funken aus der Steckdose hervorzuckten. Flackernd begann die Lampe zu leuchten.

»Machen Sie es sich bequem«, sagte Holland und deutete auf zwei Stühle auf der anderen Seite des Schreibtisches. Lozada ließ sich vorsichtig auf die Kante seines Stuhls nieder, um sicheren Abstand zu einem glänzenden Fleck zweifelhafter Herkunft zu wahren. Gao imitierte seine unbequeme Haltung.

Ehe sie mit den Formalitäten begannen, platzte ein athletisch gebauter Schwarzer in den Raum. In der Hand hielt er den Schwanz einer riesigen toten Ratte, vor der Lozada und Gao erschreckt zurückwichen.

»Ich hab sie gefunden, Käpt’n!«, brüllte der Mann triumphierend.

»Hat diese Bestie etwa den Abfluss verstopft?«

Der Matrose nickte. »Die Toiletten müssten jetzt wieder funktionieren.«

»Sorgen Sie dafür, dass weitere Fallen besorgt werden, während wir hier im Hafen liegen. Wir verbrauchen sie schneller, als wir sie aufstellen können.« Während Holland von der Ratte abgelenkt wurde, schoss Lozada mit seiner Smartphone-Kamera ein Bild nach dem anderen.

»Aye, Sir.« Der Matrose verschwand so schnell im Korridor, wie er aufgetaucht war.

»Wenigstens eine Sache funktioniert auf diesem Schiff ordnungsgemäß«, sagte Holland, während er in den Schreibtischschubladen herumwühlte. Er holte zwei Schnellhefter hervor. Einer enthielt die Ladeliste und die Frachtpapiere, der andere die Registrierungsdokumente und die Mannschaftsliste.

Zuerst blätterte Lozada die Ladeliste durch.

»Hier steht, dass Sie Kunstdünger transportieren«, sagte er.

Holland nickte, angelte einen Zahnstocher vom Schreibtisch und klemmte ihn zwischen die Lippen.

»Das ist richtig. Fünftausend Tonnen aus Houston. Nur tausend Tonnen sind für Venezuela bestimmt. Der Rest geht nach Kolumbien. Wir übernehmen hier auch noch eine Ladung Bauholz.«

»Sie sind aber neu in Puerto La Cruz. Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«

»Ich bin immer da, wohin mich meine Fracht führt. Die meiste Zeit schippere ich in der nördlichen Karibik herum, aber ich freue mich, dass ich zur Abwechslung mal Ihr schönes Land besuchen kann.«

Zufrieden, dass die Ladeliste in Ordnung war, überprüfte Lozada das Mannschaftsverzeichnis. Er fand nichts Auffälliges. Sie enthielt die persönlichen Angaben der üblichen Mischung. Filipinos und Nigerianer. Die liberianische Registrierung war ebenfalls nicht zu beanstanden.

»Wie sieht es aus?«, fragte Holland.

»Ich fürchte, unsere Schauerleute sind heute ziemlich beschäftigt«, sagte Lozada. »Ich weiß nicht, ob sie Zeit finden, Ihnen vor dem morgigen Tag beim Löschen der Ladung zu helfen.«

Holland grinste. »Daran kann ich vielleicht etwas ändern.« Er zog eine Schublade auf, holte einen Briefumschlag heraus und reichte ihn Lozada über den Tisch. »Das müsste für die Überstunden ausreichen.«

Lozada blätterte die Geldscheine im Umschlag durch und zählte fünfhundert amerikanische Dollar. Auch wenn er hier eine spezielle Mission zu erfüllen hatte, ergab es doch keinen Sinn, diese Gelegenheit, ein ansehnliches Schmiergeld einzusacken, ungenutzt verstreichen zu lassen.

»Alles okay?«, fragte Holland.

Lozada blickte zu Gao hinüber. »Haben Sie gesehen, was Sie ansehen mussten?«

Gao nickte kurz.

Lozada steckte den Umschlag in die Tasche und erhob sich. »Alles scheint in Ordnung zu sein, Kapitän Holland. Sie können sofort mit dem Entladen anfangen.«

»Das ist riesig nett von Ihnen, Mr. Lozada. Ich bring Sie hinaus.«

Sie kehrten zur Gangway zurück.

»Es war ein Vergnügen, Geschäfte mit Ihnen zu machen«, sagte Holland und tippte mit der Fingerspitze gegen seine Hutkrempe. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. Ich warte schon seit Stunden darauf, unsere sanitären Anlagen zu benutzen, wenn Sie wissen, was ich meine. Adiós.«

Lozada konnte es kaum erwarten, dieses stinkende Durcheinander hinter sich zu lassen. Er lächelte matt und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Als sie auf seiner Barkasse standen und er wieder frische Luft atmen konnte, sah er Gao mit einem Achselzucken an, während der Steuermann das Boot von der Dolos weglenkte.

»Wenigstens wissen wir jetzt, dass wir auf der falschen Fährte waren«, sagte er.

»Sie irren sich«, sagte Gao. »Dies ist das Schiff, das Sie suchen.«

Lozada sah erst Gao verblüfft an und warf dann einen Blick auf den abstoßenden Kapitän, der zu seiner Kabine zurückkehrte. »Das ist doch ein Witz! Dieser Rosteimer taugt nicht mal als Müllschiff.«

»Alles ist nur eine raffinierte Tarnung. Ich war schon früher einmal auf dem Schiff.«

»Sehen Sie, wir alle haben diese Gerüchte des Öfteren schon gehört. Ein völlig normal aussehendes Frachtschiff, vollgestopft mit Waffen, das rund um den Erdball andere Länder ausspioniert. Die einen meinen, es sei britischer Nationalität, andere sagen, es sei amerikanisch oder russisch. Niemand kennt seinen Namen. Keiner kann genau beschreiben, wie es aussieht. Alles, was wir kennen, sind vage Berichte über regelrechte Seeschlachten dieses Schiffes mit chinesischen Zerstörern, iranischen U-Booten und burmesischen Kanonenbooten. Angeblich verfügt es über Raketen, Torpedos und Laserwaffen, besitzt eine einen Meter dicke Panzerung und übersteht jeden Angriff, solange es keine Atombombe ist. Sieht diese schwimmende Peinlichkeit in Ihren Augen wie ein Kriegsschiff aus?«

Gaos Miene blieb todernst. »Ich habe keine Torpedos oder Laserkanonen gesehen, aber ich bin auf dem Zerstörer Chengdo stationiert gewesen und habe zu der Einheit Marineinfanteristen gehört, die das Schiff kapern sollte. Wir wurden von einer bestens ausgebildeten Streitmacht zurückgeschlagen, ausgerüstet mit den modernsten Waffen.«

Lozada lachte. »Ich könnte ohne Probleme mit zwei Polizisten das Kommando über dieses Schiff an mich reißen.«

»Ich rate Ihnen davon ab. Ihr Admiral verfügt über Informationen, die Sie nicht haben. Ich schlage vor, Sie rufen an und geben meine Schlussfolgerungen weiter.«

Lozada kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und musterte Gao herausfordernd. »Nennen Sie mir einen Grund, weshalb ich Ihnen glauben soll.«

»Der Name des Schiffes – Dolos. Wissen Sie, was dieses Wort bedeutet?«

»Natürlich. Ein ›Dolos‹ ist ein gegossener Betonklotz. Sie werden zu Wellenbrechern aufeinandergestapelt.«

»Es gibt noch eine andere Bedeutung. Ich habe das Wort während der Fahrt hierher auf meinem Mobiltelefon gegoogelt. Dolos ist der griechische Gott der Täuschung. Sie sollen glauben, dass das Schiff harmlos ist.«

Lozada suchte den Begriff mit seinem eigenen Smartphone und erhielt das gleiche Ergebnis. Er runzelte die Stirn. Es war nur ein vages Indiz, aber er konnte sich in ernste Schwierigkeiten bringen, wenn er diese Erkenntnis nicht an Admiral Ruiz weitergab und sich anschließend herausstellen sollte, dass er sich geirrt hatte.

»In Ordnung«, sagte er und wählte die Nummer, die man ihm gegeben hatte. Er verlangte Admiral Ruiz und wurde sofort weiterverbunden. In der Leitung ertönte ein charakteristisches Zischen, ehe er ein Klicken hörte.

»Hier ist Admiral Dayana Ruiz«, meldete sich eine weibliche Stimme auf Spanisch. »Wer ist da?«

»Admiral, hier ist Commander Manuel Lozada«, antwortete er nervös. »Señor Gao bestätigt, dass es das gesuchte Spionageschiff ist.«

»Was denken Sie?«

»Ich meine, dass es nicht mehr als ein ordinäres Frachtschiff kurz vor dem Abwracken sein kann.«

»Haben Sie es fotografiert, wie ich es angeordnet hatte?«

»Ja, Admiral.«

»Schicken Sie mir das Bild.«

Lozada übermittelte das Foto per MMS.

Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Das ist er. Holland ist derselbe Mann wie der auf meinem Foto. Unser Geheimdienst hat ihn als Kapitän des Spionageschiffes identifiziert.«

Lozada verspürte einen Adrenalinschub. Admiral Ruiz war die mächtigste Frau in der venezolanischen Marine und unterstand direkt dem Verteidigungsminister. Er könnte sich einen Orden verdienen, wenn er einen feindlichen Spion aus dem Verkehr zog. »Ich lasse die gesamte Mannschaft sofort verhaften.«

Ihre Stimme stach wie ein Eispickel durch die Leitung in sein Ohr. »Sie werden gar nichts tun, Commander. Ich befinde mich an Bord der Fregatte Mariscal Sucre. Wir sind dreieinhalb Stunden von Puerto La Cruz entfernt. Wenn die Gerüchte zutreffen, brauchen wir sämtliche Feuerkraft, die mir zur Verfügung steht. Ich werde das Schiff eigenhändig aufbringen.«

Bei dem eisigen Klang ihrer Stimme schluckte Lozada krampfhaft. »Ich muss Sie warnen, Admiral, die Dolos hat viertausend Tonnen Kunstdünger geladen. Ammoniumnitrat ist eine hochexplosive Substanz. Wenn durch Kanonenbeschuss ein Feuer ausbricht, könnte die Ladung explodieren und den gesamten Hafen zerstören.«

»Wie viel Zeit bleibt uns, bis das Schiff ablegt?«

»Vier Stunden.«

»Dann legen wir uns vor dem Hafen auf die Lauer. Die Dolos soll wie vorgesehen ihre Ladung aufnehmen und ablegen. Wir stoppen sie auf offener See.«

»Und wenn sie all diese sagenhaften Waffen tatsächlich an Bord hat?«

»Das macht nichts. Die Mariscal Sucre ist in jeder Hinsicht fähig, sie zu versenken.«

DREI