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Juan Cabrillo und die Crew der Oregon entdecken ein führerlos treibendes Kreuzfahrtschiff. Hunderte Leichen liegen an Deck. Sofort setzt Cabrillo alles daran, die skrupellosen Hintermänner des Massenmords ausfindig zu machen, doch ihre finsteren Pläne scheinen bereits unaufhaltbar zu sein – wenn die Oregon-Crew nicht schnell genug ist …
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Seitenzahl: 784
Clive Cussler
& Jack Du Brul
Seuchenschiff
Roman
Aus dem Englischen von Michael Kubiak
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Plague Ship« bei Putnam, New York.
1. Auflage
E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
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Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Redaktion: Jörn Rauser
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-15199-7
www.blanvalet.de
Der in der Geschichte der Menschheit wohl bedeutendste Transfer von Vermögen fand statt, als die Pest Europa heimsuchte und ein Drittel seiner Bevölkerung den Tod fand. Ländereien wurden zusammengelegt, was einen erhöhten Lebensstandard nicht nur für die Eigentümer, sondern auch für die dort beschäftigten Arbeitskräfte zur Folge hatte. Dieses Ereignis mit all seinen sozialen und demographischen Auswirkungen schuf die Grundlagen für das Aufleben der Renaissance und verhalf Europa zu seiner beherrschenden Rolle in der Welt.
Wir vermehren uns zu Tode:Wie Überbevölkerung die Zivilisation vernichtet,
Dr. Lydell Cooper, 1981
1
BarentsseeNördlich von Norwegen29. April 1943
Ein bleicher Vollmond stand so über dem Horizont, dass sein Licht vom eisigen Ozean glitzernd reflektiert wurde. Da der Winter dem Frühling noch nicht Platz gemacht hatte, musste die Sonne in diesem Jahr erst noch aufgehen. Stattdessen versteckte sie sich hinter der Erdkrümmung und war nicht mehr als eine schwach leuchtende Verheißung entlang der Linie, wo der Himmel auf das Meer traf, während der Planet um seine geneigte Achse rotierte. Es würde noch einen weiteren Monat dauern, ehe sie sich in voller Größe zeigte, und dann würde sie bis zum Herbst nicht mehr verschwinden. So sah der seltsame Tag- und Nachtrhythmus oberhalb des Polarkreises aus.
Eigentlich sollten die in den extremen nördlichen Breitengraden gelegenen Gewässer der Barentssee die meiste Zeit des Jahres über gefroren und unpassierbar sein. Doch das Meer war mit warmem Wasser gesegnet, das vom Golfstrom aus den Tropen herangeführt wurde. Diese mächtige Strömung war es auch, die Schottland und die nördlichen Regionen Norwegens bewohnbar machte und die Barentssee selbst in den strengsten Wintern eisfrei und befahrbar hielt. Aus diesem Grund stellte sie den wichtigsten Transportweg für Kriegsmaterial dar, das von den unermüdlich produzierenden Fabriken Amerikas in die kampfbereite Sowjetunion befördert wurde. Und wie so viele ähnlich genutzte Seefahrtsrouten – der Ärmelkanal oder die Straße von Gibraltar zum Beispiel – stellte auch die Barentssee einen Engpass dar und war damit zu einem ergiebigen Jagdrevier für die Wolfsrudel der Kriegsmarine und der landgestützten Schnellboote, jener auf Blitzattacken spezialisierten Torpedoboote, geworden.
Alles andere als willkürlich wurde der Einsatz von U-Booten mit der Weitsicht eines Schachgroßmeisters geplant, der über seine nächsten Züge entscheidet.
Jede noch so kleine Information über die Schlagkraft, Geschwindigkeit und den Bestimmungsort von Schiffen, die den Nordatlantik befuhren, wurde gesammelt, um U-Boote in günstige Angriffspositionen zu bringen.
Von Luftwaffenstützpunkten in Norwegen und Dänemark aus starteten regelmäßig Aufklärungsflugzeuge, suchten das Meer nach Handelsschiffkonvois ab und gaben deren Positionen per Funk an Marinekommandozentren weiter, damit sich U-Boote rechtzeitig auf die Lauer legen konnten. Während der ersten Kriegsjahre erfreuten sich die U-Boote einer nahezu umfassenden Vorherrschaft auf allen Meeren: unzählige Millionen Tonnen Fracht waren gnadenlos versenkt worden. Selbst unter dem massiven Schutz von Kreuzern und Zerstörern konnten die Alliierten nichts anderes tun, als sich damit abzufinden, dass sie für neunundneunzig Schiffe, die die Passage unversehrt durchliefen, mindestens eins als Verlust verbuchen mussten. Indem sie diesem Risiko immer wieder aufs Neue ausgesetzt wurde, zahlte die Handelsmarine einen ebenso hohen Preis an Gefallenen wie die Frontkampfverbände.
Das sollte sich in dieser Nacht ändern.
Die viermotorige Focke-Wulf Fw 200 Condor war ein gewaltiges Flugzeug – dreiundzwanzig Meter lang mit einer Spannweite von fast vierunddreißig Metern. Vor dem Krieg als Passagierflugzeug für die Lufthansa konstruiert, wurde die Maschine schnell in den Militärdienst übernommen und sowohl als Transport- wie auch als Langstreckenaufklärungsflugzeug eingesetzt. Ihre Reichweite von zweieinhalbtausend Meilen gestattete der Condor, stundenlang in der Luft zu bleiben und weit vor der Küste nach Schiffen der Alliierten Ausschau zu halten.
1941 häufig als Bomber eingesetzt und mit vier fünfhundert Pfund schweren Bomben unter ihren Tragflächen bestückt, hatte die Condor schwere Verluste hinnehmen müssen und wurde nun ausschließlich als Aufklärungsflugzeug eingesetzt, zumal sie auf Grund ihrer extremen Flughöhe außerhalb der Reichweite alliierter Flugabwehrkanonen operieren konnte.
Der Pilot der Maschine, Franz Lichtermann, ärgerte sich über die eintönigen Stunden, die er damit verbringen musste, die endlosen Weiten des Meeres abzusuchen. Er sehnte sich danach, zu einem Jagdgeschwader zu gehören, echte Kampfeinsätze zu fliegen und nicht Tausende Fuß über eisigem Nichts herumzulungern, immer nur in der Hoffnung, Schiffe der Alliierten zu sichten, damit jemand anders sie versenken konnte. In der Basis achtete Lichtermann streng auf die Einhaltung militärischer Etikette und erwartete das Gleiche auch von seinen Männern. Wenn sie sich jedoch auf Patrouillenflug befanden und die Minuten sich wie Gummi dehnten, gestattete er seiner fünfköpfigen Mannschaft einen lässigeren Umgangston.
»Das dürfte eine Hilfe sein«, sagte er über die Bordsprechanlage und deutete mit einem Kopfnicken auf den funkelnden Vollmond.
»Oder die Reflexe überdecken die Kiellinie eines Konvois«, erwiderte Max Ebelhardt, sein Kopilot, in seinem gewohnt pessimistischen Tonfall.
»Bei derart ruhiger See entdecken wir sie sogar, wenn sie angehalten haben, um sich nach dem Weg zu erkundigen.«
»Wissen wir denn, ob hier überhaupt jemand unterwegs ist?« Die Frage kam von Ernst Kessler, dem jüngsten Mitglied der Crew. Kessler war der Heckschütze der Condor und hockte zusammengekrümmt im hinteren Teil der Gondel, die einen Teil der Rumpfunterseite des Flugzeugs bildete. Durch seine Plexiglasscheibe und über den Lauf eines einzigen MG-15-Maschinengewehrs konnte er nichts anderes sehen als das, was die Condor bereits überflogen hatte.
»Der Geschwaderkommandant hat mir versichert, dass ein U-Boot, das gerade von einer Patrouillenfahrt zurückkehrte, vor zwei Tagen mindestens hundert Schiffe in Höhe der Färöerinseln gesichtet hat«, erklärte Lichtermann seinen Männern. »Die Schiffe waren auf nördlichem Kurs unterwegs und müssten daher hier irgendwo herumschleichen.«
»Ich glaube eher, dass der U-Boot-Kommandant irgendeine Meldung machen wollte, nachdem er mit all seinen Torpedos überhaupt nichts getroffen hatte«, nörgelte Ebelhardt und verzog nach einem Schluck lauwarmen Ersatzkaffees angewidert das Gesicht.
»Ich würde sie lieber nur finden, anstatt sie zu versenken«, sagte Ernst Kessler. Der sanftmütige junge Bursche war gerade achtzehn Jahre alt und hatte davon geträumt, Arzt zu werden, ehe er eingezogen worden war. Weil er aus einer armen bäuerlichen Familie in Bayern kam, hatte er kaum eine Chance auf eine höhere Ausbildung. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich während seiner Freizeit in medizinische Journale und Bücher zu vertiefen.
»Das ist nicht gerade die richtige Einstellung für einen deutschen Soldaten«, meinte Lichtermann mit leichtem Tadel in der Stimme. Er war froh, dass sie bisher noch keine Feindberührung gehabt hatten. Er bezweifelte nämlich, dass Kessler große Lust hatte, mit seinem Maschinengewehr das Feuer zu eröffnen. Aber der Junge war das einzige Mitglied seiner Mannschaft, das stundenlang entgegen der Flugrichtung im Flugzeugheck hocken konnte, ohne dass ihm irgendwann schlecht davon wurde.
Er dachte voller Ingrimm an all die Männer, die an der Ostfront starben, und daran, dass die Panzer und die Flugzeuge, die zu den Russen geschafft wurden, die unweigerliche Kapitulation Moskaus nur unnötig verzögerten. Lichtermann wäre mehr als glücklich gewesen, hätte er selbst ein paar Schiffe versenken können.
Eine weitere endlos erscheinende Stunde verstrich, in der die Männer in die Nacht starrten und inständig hofften, den Konvoi zu orten. Ebelhardt tippte Lichtermann auf die Schulter und deutete auf sein Logbuch. Obwohl der Bugschütze, der im vorderen Teil der Gondel unter dem Flugzeugrumpf hockte, der offizielle Navigator der Mannschaft war, hatte in Wirklichkeit Ebelhardt ihre Flugzeit und ihren Kurs berechnet und wies jetzt darauf hin, dass es Zeit wurde umzukehren und einen anderen Teil des offenen Meeres abzusuchen.
Lichtermann betätigte das Seitenruder und flog einen weiten Bogen nach Backbord. Dabei behielt er den Horizont ständig im Auge, während der Mond über den Himmel zu wandern schien.
Ernst Kessler war stolz darauf, die schärfsten Augen an Bord des Flugzeugs zu besitzen. Als er noch die Schule besuchte, sezierte er mit besonderer Vorliebe Tiere, die er in der Umgebung des Bauernhofs seiner Eltern fand. Er studierte ihre Anatomie, indem er seine Beobachtungen mit dem verglich, was er in seinen Büchern zu diesem Thema finden konnte. Er wusste, dass er dank seiner scharfen Augen und seiner ruhigen Hände ein hervorragender Arzt sein würde. Sein Gesichtssinn eignete sich jedoch mindestens genauso dazu, einen feindlichen Konvoi auszumachen.
Auf Grund seiner Position, die ihm ausschließlich eine ungehinderte Sicht nach hinten gestattete, hätte eigentlich nicht er es sein dürfen, der den Konvoi entdeckte. Doch am Ende war tatsächlich er es, der ihn sichtete. Während sich das Flugzeug auf die Seite legte, erregte ein ungewöhnliches Glitzern seine Aufmerksamkeit. Es war ein weißes Aufleuchten, weit entfernt von den Reflexionen des Mondlichts auf dem Wasser.
»Herr Hauptmann!«, rief Kessler über den Bordfunk. »An Steuerbord, etwa bei drei Uhr.«
»Was haben Sie gesehen?« Das aufflackernde Jagdfieber ließ Lichtermanns Stimme vibrieren.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, Herr Hauptmann. Irgendetwas. Es war so etwas wie ein heller Schimmer.«
Lichtermann und Ebelhardt starrten dorthin in die Dunkelheit, wohin der junge Kessler gedeutet hatte. Aber da war nichts zu sehen.
»Sind Sie sicher?«, fragte der Pilot.
»Das bin ich«, erwiderte Kessler und verlieh seiner Stimme einen forschen, selbstsicheren Klang. »Ich sah es, als wir wendeten. Der Winkel veränderte sich, und ich bin sicher, dass ich etwas gesehen habe.«
»Etwa den Konvoi?«, fragte Ebelhardt unfreundlich.
»Das kann ich nicht genau sagen«, gab Ernst Kessler zu.
»Vogel, werfen Sie das Funkgerät an«, sagte Lichtermann und schickte den Bugschützen Josef Vogel auf seinen Zusatzposten, während er die Maschine abermals in die Kurve legte. Der Pilot schob die Gashebel nach vorn, und das Dröhnen der BMW-Sternmotoren wurde deutlich lauter, als die Drehzahl der Propeller zunahm.
Max Ebelhardt presste ein Fernglas gegen die Augen und suchte die schwarze See ab. Mit gut dreihundert Stundenkilometern einem möglichen Kontakt entgegenrasend, sollte der Konvoi eigentlich jeden Moment in sein Blickfeld geraten. Doch als sich die Sekunden zu Minuten addierten und nichts zu sehen war, ließ er das Fernglas wieder sinken. »Es muss wohl eine Welle gewesen sein«, sagte er, ohne das Mikrofon des Bordfunks einzuschalten, so dass nur Lichtermann ihn hören konnte.
»Schauen Sie noch mal nach«, erwiderte Lichtermann. »Kessler kann auch im Dunkeln sehen, wie eine verdammte Katze.«
Die Alliierten hatten bemerkenswerte Arbeit geleistet, indem sie ihre Frachtschiffe und Tanker mit einem vollendeten Tarnanstrich versehen hatten, um die Schiffe bei Tag aus der Luft so gut wie unsichtbar zu machen. Aber nichts konnte einen Konvoi bei Nacht verbergen, da das Kielwasser hinter den Schiffen stets als weiße Linie auf dem Ozean zu erkennen war.
»Ich fasse es nicht«, murmelte Ebelhardt und deutete dann durch die Windschutzscheibe.
Zuerst war es nur ein grauer Fleck auf dem ansonsten dunklen Wasser, doch als sie näher kamen, löste sich das Grau zu Dutzenden weißer Streifen auf, die so scharf und deutlich wurden wie Kreidestriche auf einer schwarzen Wandtafel. Es waren die Kiellinien einer Armada von Schiffen, die mit Volldampf nach Osten unterwegs waren. Aus der Flughöhe der Condor betrachtet, erschienen die Schiffe wie eine dahinziehende Herde Elefanten.
Die Condor flog noch näher heran, bis es der helle Mondschein der Mannschaft gestattete, zwischen den langsamen Frachtern und Tankern und den schmalen Kiellinien der Zerstörer zu unterscheiden, die wie Zaunpfähle jede Flanke des Konvois abdeckten. Die Männer konnten verfolgen, wie einer der Zerstörer an der Steuerbordseite des Konvois mit hoher Geschwindigkeit entlangdampfte, wobei dicke Qualmwolken aus beiden Schornsteinen in den Nachthimmel stiegen. Als der Zerstörer die Spitze des Konvois erreicht hatte, verlangsamte er seine Fahrt und ließ die Frachter in einem Manöver, das die Alliierten einen »Indian Run« nannten, an sich vorbeiziehen. Am Ende des etwa anderthalb Kilometer langen Konvois beschleunigte der Zerstörer wieder und wiederholte das Manöver in einem endlosen Kreislauf. Auf diese Art und Weise wurden weniger Kriegsschiffe benötigt, um die Konvois zu sichern.
»Das müssen da unten an die zweihundert Schiffe sein«, schätzte Ebelhardt.
»Genug, um die Rote Armee über Monate mit Material zu versorgen«, meinte der Pilot. »Vogel, was bekommen Sie über Funk rein?«
»Im Augenblick nichts als Rauschen.«
Atmosphärische Störungen waren so weit oberhalb des Polarkreises ein allgemein bekanntes Problem. Elektrisch aufgeladene Partikel, die auf das Magnetfeld der Erde trafen, wurden an den Polen angezogen und ließen die Vakuumröhren der Funkgeräte verrückt spielen.
»Wir bestimmen unsere Position«, sagte Lichtermann, »und geben unsere Meldung durch, wenn wir näher an der Basis sind. Hey, Kessler, gut gemacht. Wir wären schon beinahe umgekehrt und hätten den Konvoi übersehen, wenn Sie nicht gewesen wären.«
»Danke, Herr Hauptmann.« Der Stolz, der in der Antwort des jungen Mannes mitschwang, war unüberhörbar.
»Ich brauche genauere Angaben über die Größe des Konvois und eine grobe Schätzung seiner Marschgeschwindigkeit.«
»Wir sollten uns lieber nicht zu nahe heranwagen, sonst eröffnen die Zerstörer noch das Feuer auf uns«, warnte Ebelhardt. Er hatte bereits am eignen Leib heftiges Abwehrfeuer erlebt und flog wegen eines Granatsplitters in seinem Oberschenkel, den er sich im massiven Luftabwehrfeuer bei einem Einsatz über London eingehandelt hatte, als Kopilot. Er kannte den Ausdruck in Lichtermanns Augen und die Erregung in seiner Stimme zur Genüge. »Und vergessen Sie nicht die CAMs.«
»Keine Sorge«, sagte der Pilot mit einem unbekümmerten Grinsen und lenkte das große Flugzeug näher an die langsam dahinstampfende Flotte zehntausend Fuß unter ihnen heran. »Ich komme ihnen schon nicht zu nahe, und außerdem sind wir viel zu weit vom Festland entfernt und brauchen nicht zu befürchten, dass sie uns einen Flieger auf den Pelz schicken.«
CAMs – oder Catapult Aircraft Merchantmen – waren die Antwort der Alliierten auf die Luftaufklärung der Deutschen. Eine lange Schiene wurde am Bug eines Frachters befestigt, so dass sie mit Hilfe einer Rakete einen Hawker Sea Hurricane Jäger in die Luft katapultieren konnten, um die schwerfälligen Condor-Maschinen abzuschießen oder sogar aufgetauchte U-Boote anzugreifen. Die Hurricanes mussten sich entweder in der Nähe der Küste Großbritanniens oder eines anderen befreundeten Landes befinden, damit die Piloten normal landen konnten, sonst blieb keine andere Möglichkeit, als die Maschinen ins Meer fallen zu lassen und die Piloten anschließend aus dem Wasser zu fischen.
Der Konvoi, der unter der Fw 200 durch den Ozean pflügte, war mehr als tausend Meilen von jedem alliierten Territorium entfernt, und selbst bei dem hellen Mondlicht wäre es so gut wie unmöglich gewesen, einen Piloten bei Nacht zu retten. Nein, in dieser Nacht würden ganz sicher keine Hurricanes aufsteigen. Die Condor hatte von der Masse alliierter Schiffe nichts zu befürchten, es sei denn, sie gelangte in die Reichweite der Zerstörer und traf auf den Vorhang aus Luftabwehrfeuer, den sie aber in den Himmel jagen konnten.
Ernst Kessler zählte gerade die Schiffe durch, als plötzlich auf den Decks von zwei Zerstörern Lichtblitze aufzuckten. »Herr Hauptmann!«, rief er. »Feuer vom Konvoi!«
Lichtermann konnte die Zerstörer unter seiner Tragfläche sehen. »Immer mit der Ruhe, Kleiner«, sagte er. »Das sind Signallampen. Die Schiffe sind bei totaler Funkstille unterwegs, und so kommunizieren sie untereinander.«
»Oh, tut mir leid, Herr Hauptmann.«
»Macht nichts. Sehen Sie nur zu, dass Sie so genau wie möglich zählen.«
Die Condor war einen weiten Kreis um die Flottille geflogen und passierte soeben ihre nördliche Flanke, als Dietz, der das obere Geschütz bemannte, einen Warnruf ausstieß. »Wir werden angegriffen!«
Lichtermann hatte keine Ahnung, was der Mann meinte, und reagierte ein wenig zu langsam. Eine genau gezielte Salve von 7,7 mm-Maschinengewehrgeschossen beharkte die Oberseite der Condor, angefangen an der Basis der Seitenflosse und über die gesamte Länge des Flugzeugs weiterwandernd. Dietz wurde in seiner Kanzel getötet, ehe er auch nur einen Schuss abfeuern konnte. Kugeln schlugen ins Cockpit ein, und über dem metallischen Geprassel und Pfeifen, mit denen sie als Querschläger von den Stahlwänden zurückgeschleudert wurden, und dem Pfeifen des Windes, der sich in den Einschusslöchern im Flugzeugrumpf fing, hörte Lichtermann, wie sein Kopilot vor Schmerzen aufstöhnte. Er blickte zur Seite und sah, dass die Vorderfront von Ebelhardts Fliegerjacke mit Blut durchtränkt war.
Lichtermann stellte das Seitenruder auf und rammte den Steuerknüppel nach vorne, um vor dem gegnerischen Flugzeug wegzutauchen, das wie aus dem Nichts erschienen war.
Es war jedoch das falsche Manöver.
Erst wenige Wochen zuvor vom Stapel gelaufen, war die MV Empire MacAlpine dem Konvoi erst in jüngster Zeit zugeteilt worden. Ursprünglich als Getreidefrachter gebaut, hatte das Achttausendtonnenschiff fünf Monate im Dock der Burntisland Shipbuilding Company verbracht, wo seine Aufbauten durch eine kleine Kontrollinsel, eine hundertfünfzig Meter lange Rollbahn und einen Hangar für vier Fairey-Swordfish-Torpedobomber ersetzt wurden. Der Frachter konnte noch immer fast genauso viel Getreide befördern wie vor seinem Umbau. Die Admiralität hatte die CAMs von Anfang an nur als Notlösung betrachtet, bis eine sicherere Alternative gefunden wurde. So wie die Dinge lagen, wurden die Merchant Aircraft Carriers oder kurz MACs wie auch die MacAlpine nur so lange eingesetzt, bis England eine Anzahl Geleitschutzflugzeugträger der Essex-Klasse von den Vereinigten Staaten zur Verfügung gestellt bekam.
Während die Condor über dem Konvoi herumschlich, waren zwei der Swordfish von der MacAlpine gestartet und hatten sich so weit von der Flotte entfernt, dass, als sie in den schwarzen Himmel aufstiegen, um das viel größere und schnellere deutsche Flugzeug aus dem Hinterhalt anzugreifen, Lichtermann und seine Mannschaft keine Ahnung hatten, dass sie überhaupt im Anflug waren. Die Faireys waren Doppeldecker und nur halb so schnell wie die Condor. Bewaffnet waren sie mit einem Vickers-Maschinengewehr, das über dem Gehäuse des Sternmotors installiert war, sowie einem auf einer Lafette montierten Lewis-Gewehr in einer hinteren Schützenkanzel.
Die zweite Swordfish lag etwa dreitausend Fuß unter der Focke-Wulf auf der Lauer und blieb in der Dunkelheit fast unsichtbar. Als die Condor vor dem ersten Angreifer wegtauchte, befand sich der zweite Torpedobomber, von allem befreit, was ihn hätte bremsen können, in idealer Angriffsposition.
Ein Kugelhagel aus dem Vickers-Maschinengewehr schlug in die Nase der Condor ein, während sich der zweite Schütze weit aus der hinteren Kanzel lehnte, um mit seiner Lewis Gun die beiden BMW-Motoren an der Backbordtragfläche aufs Korn zu nehmen.
Münzgroße Löcher erschienen rings um Ernst Kessler, und das Aluminium glühte für einen Moment kirschrot auf, ehe es verblasste. Zwischen Dietz’ Schrei und dem Kugelregen, der die Unterseite der Condor durchlöcherte, waren nur ein paar Sekunden vergangen, also bei Weitem zu wenig, um den Jungen vor Angst erstarren zu lassen. Er kannte seine Aufgabe. Heftig schluckend, weil sein Magen das absackende Flugzeug noch einholen musste, betätigte er den Abzug seines MG-15, während die Condor an der langsameren Swordfish vorbeirauschte. Leuchtspurgeschosse füllten den Himmel, und er zielte mit der 7,92 mm-Waffe wie ein Feuerwehrmann, der einen Wasserstrahl dirigiert. Er konnte einen Ring kleiner Feuerstrahlen erkennen, die in der Dunkelheit leuchteten. Es waren die Abgase, die aus dem Sternmotor der Fairey ausgestoßen wurden, und dorthin lenkte er sein Maschinengewehrfeuer, während seine eigene Maschine von dem englischen Flugzeug dauernd beschossen wurde.
Die leicht gekrümmte Linie der Leuchtspurgeschosse fand den matt leuchtenden Kreis, und plötzlich schien es, als ob die Nase des gegnerischen Flugzeugs von einem Feuerwerk verschlungen würde. Funken und züngelnde Flammen hüllten die Swordfish ein, Metall und Stoff wurden vom Kugelregen zerfetzt. Der Propeller wurde zertrümmert, und der Sternmotor explodierte, als wäre er eine Splittergranate. Brennender Treibstoff und kochendes Öl ergossen sich auf den ungeschützten Piloten und den Schützen. Der kontrollierte Sinkflug, bei dem die Swordfish mit der Condor auf gleicher Höhe blieb, ging in einen unkontrollierten Absturz über.
Die Fairey kippte über eine Tragfläche ab, geriet immer heftiger ins Trudeln und brannte dabei wie ein Meteor. Lichtermann fing seine Condor ab. Kessler konnte das lodernde Wrack des Gegners unter sich wegsacken sehen. Es veränderte plötzlich seine Gestalt. Die Tragflächen hatten sich vom Rumpf der Swordfish gelöst. Damit verlor das tödlich getroffene Flugzeug jegliche Aerodynamik. Die Swordfish stürzte wie ein Stein, und die Flammen erloschen erst, als das Wrack in die mitleidlose See eintauchte.
Als Ernst Kessler wieder hochschaute und an der Kante der knapp siebzehn Meter langen Backbordtragfläche entlangblickte, traf ihn die Angst, die zu empfinden er vorher viel zu beschäftigt gewesen war, mit voller Wucht. Qualm kräuselte sich aus beiden Neunzylindermotoren, und er konnte die Fehlzündungen der Triebwerke deutlich hören.
»Herr Hauptmann«, rief er ins Mikrofon.
»Seien Sie still, Kessler«, schnappte Lichtermann. »Funker, kommen Sie rauf, und helfen Sie mir. Ebelhardt ist tot.«
»Herr Hauptmann, die Backbordmotoren«, beharrte Kessler.
»Das weiß ich, verdammt noch mal. Halten Sie die Klappe.«
Die erste Swordfish, die angegriffen hatte, war weit hinter ihnen und hatte wahrscheinlich längst abgedreht, um zum Konvoi zurückzukehren, daher konnte Kessler nichts anderes tun, als voller Entsetzen zu verfolgen, wie die Qualmwolken im Windstrahl der Luftschraube vorbeiwehten. Lichtermann stoppte den innenliegenden Motor in der Hoffnung, das Feuer ersticken zu können. Er ließ den Propeller einige Sekunden lang leer laufen, ehe er den Motor erneut startete. Das Triebwerk gab ein Husten von sich und sprang an. Feuerzungen tanzten über das Gehäuse, loderten auf und schwärzten die Aluminiumhaut der Motorgondel.
Da der innenliegende Motor ein wenig Schub erzeugte, riskierte Lichtermann, den außenliegenden Motor abzuschalten. Als er den Startknopf wieder drückte, sprang der Motor sofort an und stieß nur gelegentlich eine kleine Qualmwolke aus. Sofort schaltete er den immer noch brennenden Innenmotor aus, da er befürchtete, dass das Feuer sich bis zu den Treibstoffleitungen der Condor ausbreitete. Gleichzeitig nahm er die Leistung des Außenmotors zurück, um ihn so lange wie möglich in Gang halten zu können. Mit zwei ordnungsgemäß funktionierenden Triebwerken und einem dritten, das nur mit halber Leistung arbeitete, könnten sie es bis zurück zur Basis schaffen.
Angespannte Minuten verstrichen. Kessler widerstand dem Drang, den Piloten nach ihrer Lage zu fragen. Er wusste, dass Lichtermann ihn informierte, sobald er dazu Zeit hatte. Kessler zuckte zusammen und stieß sich den Kopf an einer Verstrebung, als er ein neues Geräusch vernahm. Es war ein Rauschen, das direkt hinter ihm erklang. Die Plexiglasscheibe, die seinen Platz abschirmte, war plötzlich mit Tropfen irgendeiner Flüssigkeit übersät. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Lichtermann die Treibstoffladung der Condor berechnet und die Entfernung zu ihrer Flugbasis in Narvik berechnet haben musste. Er ließ überschüssiges Benzin ab, um die Maschine so leicht wie möglich zu machen. Die Ablassöffnung befand sich direkt hinter seiner Schützenkanzel an der unteren Rumpfseite der Maschine.
»Wie geht es Ihnen da unten, Kessler?«, fragte Lichtermann, nachdem er das Ablassventil wieder geschlossen hatte.
»Äh, ganz gut, Herr Hauptmann«, stammelte Kessler. »Woher sind diese Flugzeuge gekommen?«
»Ich habe sie noch nicht mal gesehen«, gab der Pilot zu.
»Es waren Doppeldecker. Nun, zumindest der eine, den ich abgeschossen habe, war einer.«
»Sicher Swordfish«, sagte Lichtermann. »Es scheint, als hätten die Alliierten ein neues Ass im Ärmel. Die sind jedenfalls nicht von einem CAM gekommen. Die Katapultraketen hätten ihnen die Tragflächen abgerissen. Offenbar besitzen die Briten einen neuen Flugzeugträger.«
»Aber wir haben keine Flugzeuge starten sehen.«
»Möglich, dass sie uns auf dem Radar entdeckt haben und gestartet sind, ehe wir den Konvoi geortet haben.«
»Können wir diese Information an die Basis melden?«
»Vogel arbeitet gerade daran. Im Augenblick bekommt er aber nichts als atmosphärische Störungen rein. In einer halben Stunde überfliegen wir die Küste. Bis dahin sollte der Empfang wieder einwandfrei sein.«
»Was soll ich jetzt tun, Herr Hauptmann?«
»Bleiben Sie auf Ihrem Posten und halten Sie Ausschau nach weiteren Swordfish. Wir machen weniger als hundert Knoten, und eine dieser Kisten könnte sich an uns heranschleichen.«
»Was ist mit Leutnant Ebelhardt und Unteroffizier Dietz?«
»Habe ich richtig gehört, dass Ihr Vater Priester oder so etwas ist?«
»Mein Großvater, Herr Hauptmann. In der evangelischen Kirche in unserem Dorf.«
»Bitten Sie ihn in Ihrem nächsten Brief, ein Gebet zu sprechen. Ebelhardt und Dietz sind tot.«
Danach erstarb die Unterhaltung. Kessler starrte weiterhin in die Dunkelheit, immer in der Hoffnung, ein feindliches Flugzeug zu entdecken. Aber im Stillen betete er, dass es nicht geschah. Er versuchte nicht daran zu denken, dass er soeben zwei Menschen getötet hatte. Es war Krieg, und sie hatten die Condor ohne Vorwarnung überfallen, daher sollte er sich eigentlich nicht schuldig fühlen. Seine Hände sollten nicht zittern, und sein Magen sollte sich nicht zu einem harten Klumpen verkrampfen. Er wünschte, Lichtermann hätte seinen Großvater nicht erwähnt. Er konnte sich gut vorstellen, was der strenge Pastor zu dieser Angelegenheit sagen würde. Er hasste die Regierung und diesen wahnsinnigen Krieg, den sie begonnen hatte. Und nun war sein jüngster Enkelsohn noch zu einem Mörder geworden.
Kessler wusste, dass er seinem Großvater nie mehr würde in die Augen schauen können.
»Ich kann schon die Küste sehen«, meldete Lichtermann nach vierzig Minuten. »Wir werden es wohl bis Narvik schaffen.«
Die Condor war bis auf dreitausend Fuß gesunken, als sie die nördliche Küste Norwegens überquerten. Es war eine öde, hässliche Landschaft mit einer tobenden Brandung, die gegen steile Felsklippen und Inseln anstürmte. Nur ein paar Fischerdörfer klebten an den Klippen oder in den schmalen Buchten, wo sie sich mühsam von dem ernährten, was das Meer hergab.
Ernst Kessler fasste neuen Mut. Nun, da sie sich wieder über dem Festland befanden, fühlte er sich irgendwie sicherer. Nicht dass sie einen Absturz auf das felsige Terrain unter ihnen überleben würden, aber auf dem Festland zu sterben, wo das Flugzeugwrack gefunden werden konnte und seine sterbliche Hülle anständig beerdigt würde, erschien ihm um vieles besser als ein einsamer Tod im Meer, wie die englischen Piloten, die er gerade abgeschossen hatte, ihn erleiden mussten.
Das Schicksal wählte ausgerechnet diesen Moment, um der Condor die letzte Karte auszuteilen. Der äußere Backbordmotor, der die ganze Zeit mit halber Kraft gelaufen war und das Aufklärungsflugzeug im Gleichgewicht und auf Kurs gehalten hatte, gab keinerlei Warnzeichen. Er blieb so abrupt stehen, dass sich der Propeller von einer rotierenden Scheibe, die für Stabilität sorgte, in eine starre Skulptur aus glänzendem Metall verwandelte, die einen enormen Luftwiderstand aufbaute.
Im Cockpit stellte Lichtermann abrupt das Seitenruder auf, um zu verhindern, dass die Condor ins Trudeln geriet. Der Schub von der Steuerbordtragfläche und der gleichzeitig einsetzende Luftwiderstand auf der Backbordseite machten ein Lenken des Flugzeugs unmöglich. Es wollte nichts anderes als nach links abkippen und in den Sturzflug gehen.
Kessler wurde heftig gegen seine Gewehrhalterung geschleudert, und ein Munitionsgurt wickelte sich wie eine Peitschenschnur um ihn herum. Er krachte so gegen sein Gesicht, dass ihm die Sicht genommen wurde und Blut aus beiden Nasenlöchern spritzte. Das Gurtende kam wieder zurück und hätte ihn seitlich am Kopf erwischt, wenn er sich nicht geduckt und den breiten Riemen mit den funkelnden Messingpatronen gegen eine Kabinenwand gepresst hätte.
Lichtermann hielt das Flugzeug zwar noch für einige Sekunden auf Kurs, doch er wusste, dass es ein aussichtsloser Kampf war. Die Condor war zu sehr aus dem Gleichgewicht geraten. Wenn er auch nur halbwegs sicher landen wollte, musste er Schub und Luftwiderstand ausgleichen. Er streckte seine behandschuhte Hand aus, um die Steuerbordmotoren auszuschalten. Diese quittierten schnell den Dienst. Der stehende Propeller erzeugte zusätzlichen Widerstand an Backbord, aber Lichtermann konnte diesen Gegendruck mindern, während sich seine Maschine in einen überdimensionalen Segler verwandelte.
»Kessler, kommen Sie rauf, und schnallen Sie sich an«, brüllte Lichtermann über die Bordsprechanlage. »Wir fallen gleich runter!«
Die Maschine schoss über einen Berg, der einen Fjord mit einem kleinen Gletscher am Ende abschirmte. Das helle, glitzernde Eis bildete einen scharfen Kontrast zum schwarzen Fels.
Ernst Kessler hatte die Schultergurte abgestreift und bückte sich gerade, um aus der Schützenkanzel herauszukriechen, als etwas tief unter ihm seine Aufmerksamkeit erregte. Tief in der Schlucht des Fjords befand sich ein Gebäude, das teilweise auf dem Gletscher stand. Oder vielleicht war es auch etwas so Altes, dass der Gletscher im Begriff war, es unter sich zu begraben. Es war schwierig, mit einem derart kurzen Blick seine Dimensionen zu bestimmen, aber es sah ziemlich groß aus, vielleicht so etwas wie ein Vorratshaus der Wikinger.
»Herr Hauptmann«, rief Kessler. »Hinter uns. In diesem Fjord. Da steht ein Gebäude. Ich glaube, wir können auf dem Eis landen.«
Lichtermann hatte nichts Derartiges gesehen, aber Kessler schaute nach hinten und hatte daher einen ungehinderten Blick in den Fjord.
»Sind Sie sicher?«, brüllte er zurück.
»Ja, Herr Hauptmann. Der Bau stand am Gletscherrand. Ich konnte es im Mondlicht deutlich erkennen. Dort befindet sich ganz eindeutig ein Gebäude.«
Ohne Antrieb hatte Lichtermann nur einen einzigen Versuch, um das Flugzeug heil nach unten zu bringen und zu landen. Er war sicher, dass – wenn er es draußen im freien Gelände versuchte – er und seine restlichen beiden Mannschaftsmitglieder bei der Bruchlandung den Tod finden würden. Auf einem Gletscher zu landen wäre sicher auch kein Spaziergang, aber zumindest hätten sie dort die Chance, mit dem Leben davonzukommen.
Er drückte den Steuerknüppel mit Gewalt zur Seite und kämpfte gegen die Trägheit der Condor. Eine Kurve zu fliegen, hatte zur Folge, dass die Tragflächen an Auftrieb verloren. Der Zeiger des Höhenmessers begann doppelt so schnell rückwärts zu rotieren, wie in der Zeit, als er die Condor auf geradem Kurs gehalten hatte. Es gab nichts, was Lichtermann dagegen hätte tun können. Es war reine Physik.
Das große Flugzeug pflügte durch die Luft und kehrte auf nördlichen Kurs zurück. Der Berg, der den Gletscher vor Lichtermanns Sicht verborgen hatte, ragte nun vor ihm auf. Er dankte stumm dem Himmel für das helle Mondlicht, denn bei seinem Schein konnte er am Fuß des Berges ein jungfräulich weißes Feld ausmachen. Es war eine Fläche Gletschereis von mindestens anderthalb Kilometern Länge. Von dem Gebäude, das Kessler entdeckt hatte, war keine Spur zu sehen, aber das machte jetzt nichts. Er konzentrierte sich ausschließlich auf die Eisfläche.
Sie stieg fast auf ihrer gesamten Länge vom Meer leicht an und schien von einer Spalte an der Bergseite herabzufließen. Dort bildete das Eis eine fast senkrechte Wand, die so dick war, dass sie im ungewissen Licht blau erschien. Ein paar Eisberge trieben in dem langgestreckten Fjord.
Die Condor sank schnell. Lichtermann war kaum hoch genug, um eine letzte Kurve zu fliegen und den Gletscher anzusteuern. Sie sackten tiefer als die Bergspitze. Der vom Gletscher glatt geschliffene Fels schien weniger als eine Armlänge vom Tragflächenende entfernt zu sein. Das Eis, das aus tausend Fuß Flughöhe glatt ausgesehen hatte, erschien nun zunehmend rauer, je tiefer sie sanken, wie kleine Wellen, die blitzartig gefroren waren. Lichtermann verzichtete darauf, das Fahrwerk auszufahren. Wenn eine Verstrebung abriss, während sie aufsetzten, würde sich die Maschine nur überschlagen und auseinanderbrechen.
»Festhalten«, sagte er. Seine Kehle war so trocken, dass diese Warnung nicht mehr als ein halblautes Krächzen war.
Ernst Kessler war aus seiner Kanzel nach oben geklettert und hatte sich auf dem Sitz des Funkers angeschnallt. Josef Vogel besetzte mit Lichtermann die Pilotensessel. Die Skalen des Funkgeräts leuchteten weiß. In diesem Bereich gab es keine Fenster, daher war das Innere des Flugzeugs dort pechschwarz. Nachdem er die Warnung des Piloten gehört hatte, krümmte sich Kessler zusammen, legte die Hände um seinen Hals und verschränkte sie im Nacken. Gleichzeitig hielt er mit den Ellenbogen seine Knie zusammen, wie man es ihm beigebracht hatte.
Ein Gebet kam über seine Lippen.
Die Condor berührte den Gletscher kurz, wurde vier, fünf Meter hoch geworfen und setzte dann um einiges heftiger auf. Der Klang von Metall, das über Eis rutschte, glich dem eines Eisenbahnzugs, der durch einen Tunnel rast. Kessler wurde wuchtig gegen die Sicherheitsgurte geworfen, wagte es aber nicht, sich aus seiner fetalen Haltung aufzurichten. Das Flugzeug prallte mit derartiger Wucht auf ein Hindernis, dass Funkbücher aus den Ablagefächern rutschten und durch die Kabine flogen. Die Tragfläche schlug aufs Eis, und das Flugzeug begann sich zu drehen und sich dann – Trümmer für Trümmer – in seine Einzelteile aufzulösen.
Er wusste nicht, was besser war: allein im Rumpf der Maschine zu hocken und nicht zu wissen, was draußen passierte, oder im Cockpit zu sitzen und zusehen zu müssen, wie die Condor auseinanderfiel.
Unter der Stelle, wo Kessler saß, ertönte ein Krachen, und ein Schwall eisiger Luft drang in den Flugzeugrumpf. Die Plexiglasscheibe der vorderen Schützenkanzel war nach innen gedrückt worden. Eisbrocken, die vom Gletscher abgeschält wurden, wirbelten durch das Flugzeuginnere, und dennoch fühlte es sich nicht so an, als würden sie langsamer.
Dann ertönte der bislang lauteste Knall, eine von den Felswänden widerhallende Explosion. Nun breitete sich sofort der beißende Geruch von Flugbenzin aus. Kessler wusste, was geschehen war. Eine der Tragflächen hatte sich ins Eis gegraben und war abgerissen worden. Obgleich Lichtermann den größten Teil ihres Treibstoffs abgelassen hatte, war in den Leitungen noch genug zurückgeblieben, um für akute Brandgefahr zu sorgen.
Das Flugzeug setzte seine Schlittenfahrt über den Gletscher fort, angetrieben von seinem eigenen Schwung und die leicht abfallende Eisfläche. Aber es wurde endlich langsamer. Nachdem die Backbordtragfläche abgebrochen war, änderte sich auch die Richtung, in die das Wrack rutschte. Da jetzt eine größere Fläche des Rumpfs über das Eis schrammte, wurde die Reibung stärker als die Schwerkraft.
Kessler erlaubte sich einen erleichterten Seufzer. Er wusste, dass die Condor in wenigen Sekunden zur Ruhe kommen würde. Hauptmann Lichtermann hatte es geschafft. Er lockerte den verzweifelten Griff, mit dem er sich seit der Warnung seines Vorgesetzten festgehalten hatte, und wollte sich schon auf seinem Sitz aufrichten, als sich die Steuerbordtragfläche ins Eis grub und am Rumpf abgerissen wurde.
Der Rumpf rollte über die abgetrennte Tragfläche und legte sich mit einer Wucht auf den Rücken, die Kessler nahezu aus seinen Sicherheitsgurten zerrte. Sein Kopf schlug peitschenartig nach hinten, wobei der Schmerz bis in seine Zehen ausstrahlte.
Der junge Flieger hing sekundenlang benommen in den Gurten, bis er begriff, dass er das ohrenbetäubende Schleifen von Aluminium auf Eis nicht mehr hören konnte. Die Condor war zur Ruhe gekommen. Gegen eine aufkommende Ohnmacht ankämpfend, öffnete er vorsichtig seine Sicherheitsgurte und ließ sich auf das Kabinendach herab. Er spürte, dass etwas Weiches unter seinen Füßen nachgab. In der Dunkelheit veränderte er seine Position so, dass er auf einer Rumpfverstrebung stand. Er tastete mit den Händen nach unten und zuckte sofort zurück. Er hatte einen Körper berührt, und seine Finger wurden mit einer warmen, klebrigen Flüssigkeit benetzt, von der er wusste, dass es Blut war.
»Hauptmann Lichtermann?«, rief er. »Vogel?«
Als Antwort erklang das Pfeifen eisigen Windes durch die gestrandete Maschine.
Kessler durchsuchte einen kleinen Schrank unter dem Funkgerät und fand eine Taschenlampe. Ihr greller Lichtstrahl fiel auf den Leichnam Max Ebelhardts, des Kopiloten, der ja bereits in den ersten Sekunden des Luftangriffs gestorben war. Während er nach Josef Vogel und Lichtermann rief, leuchtete er in das auf dem Kopf stehende Cockpit. Er entdeckte die Männer, die immer noch angeschnallt waren und deren Arme schlaff herabhingen.
Keiner der Männer rührte sich, noch nicht einmal, als Kessler zu ihnen hinüberkletterte und eine Hand auf die Schulter des Piloten legte. Lichtermanns Kopf hing nach hinten, seine blauen Augen waren starr. Das Gesicht war dunkelrot, eine Folge des Blutes, das sich in seinem Schädel gesammelt hatte. Kessler berührte seine Wange. Das Fleisch war noch warm, aber die Haut hatte ihre Elastizität verloren. Sie fühlte sich wie Knetmasse an. Er richtete den Lichtstrahl auf den Funker und Bordschützen. Josef Vogel war ebenfalls tot. Vogels Kopf war gegen die Kabinenwand geprallt – Kessler konnte den Blutfleck auf dem Metall erkennen –, während Lichtermanns Genick gebrochen sein musste, als sich das Flugzeug auf den Rücken gelegt hatte.
Der beißende Benzingestank brannte sich endlich durch den Nebel in Kesslers Kopf, und er stolperte zum Heck des Flugzeugs, wo sich die Einstiegsluke befand. Durch den Absturz hatte sich ihr Rahmen verzogen, und so musste er sich mit der Schulter gegen die Metallklappe werfen, um sie öffnen. Er stürzte aus der Condor und landete bäuchlings auf dem Eis. Trümmerteile des Rumpfs und der Tragfläche waren über den Gletscher verstreut, und deutlich konnte er die tiefen Rinnen erkennen, die die Maschine ins Eis gegraben hatte.
Er hatte keine Ahnung, wie akut die Gefahr eines Feuers war oder wie lange es dauern würde, bis er wieder ungefährdet in die Condor zurückkehren konnte. Aber angesichts des eisigen Windes, der über den Gletscher wehte, war ihm klar, dass er sich nicht allzu lange im Freien aufhalten durfte. Das Beste wäre für ihn, wenn er das Gebäude fände, das er kurz vor dem Absturz entdeckt hatte. Dort würde er abwarten, bis er sicher sein konnte, dass die Condor nicht in Flammen aufging, und später dorthin zurückkehren. Er hoffte, dass das Funkgerät den Absturz überlebt hatte. Wenn nicht, dann gab es noch ein kleines aufblasbares Rettungsboot, das im Heck des Flugzeugs verstaut war. Er würde Tage brauchen, um ein Dorf zu erreichen, aber wenn er sich stets in Küstennähe hielt, könnte er es schaffen.
Einen Plan zu haben, half ihm, das Grauen der vergangenen Stunde in Schach zu halten. Er musste sich nur auf sein Überleben konzentrieren. Wenn er erst einmal wohlbehalten nach Narvik zurückgekehrt war, würde er seiner toten Kameraden in gebührender Weise gedenken. Er hatte keinem von ihnen besonders nahe gestanden und sich lieber mit seinen Studien beschäftigt, als an ihren Freizeitvergnügungen teilzunehmen, aber sie waren immerhin seine Mannschaft gewesen.
In Kesslers Kopf dröhnte ein dumpfes Pochen, und sein Hals wurde so steif, dass er ihn kaum bewegen konnte. Er orientierte sich an dem Berg, der einen großen Teil des engen Fjords verbarg, und trottete über den Gletscher. Auf dem Eis ließen sich Entfernungen nur schwer abschätzen, und was ausgesehen hatte wie höchstens zwei Kilometer, dehnte sich nun zu einem stundenlangen Marsch, der seine Füße taub werden ließ. Ein plötzlich einsetzender Regenschauer, der ihm entgegenpeitschte, durchnässte ihn, und das Wasser auf seiner Jacke gefror und platzte in kleinen knisternden Stücken bei jedem Schritt, den er machte, ab.
Er überlegte, ob er nicht lieber zurückkehren und riskieren sollte, beim Flugzeug zu bleiben, als sein Blick auf das Gebäude fiel, das teilweise aus dem Eis ragte. Als er näher kam und sich erste Einzelheiten aus dem Dunkel schälten, erschauerte er, aber nicht nur vor Kälte. Es war überhaupt kein Gebäude.
Kessler blieb unter dem Bug eines riesigen Schiffes stehen, gebaut aus dickem Holz, mit Kupfer verkleidet und hoch über seinem Kopf aufragend, das im Eis gefangen war. Da er wusste, wie langsam sich Gletscher vorwärtsschoben, schätzte er, dass das Schiff so tief vergraben gewesen war, dass es schon seit einigen tausend Jahren hier gelegen haben musste. Es war mit nichts zu vergleichen, was ihm jemals begegnet war. Noch während ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, wusste er, dass das gar nicht zutraf. Er hatte auch schon früher Bilder von diesem Schiff gesehen. Es waren Illustrationen in der Bibel gewesen, aus der sein Großvater ihm öfter vorgelesen hatte, als er noch ein Kind war. Kessler hatten die Geschichten des Alten Testaments immer viel besser gefallen als die Predigten des Neuen, daher erinnerte er sich sogar an die Maße des Schiffes – dreihundert Ellen lang, fünfzig Ellen breit und dreißig Ellen hoch.
»… und in diese Arche führte Noah von allen Tieren der Erde je zwei.«
2
Bandar Abbas, IranGegenwart
Der marode aussehende Frachter hatte lange genug vor dem geschäftigen Hafen von Bandar Abbas vor Anker gelegen, um beim iranischen Militär Misstrauen zu wecken. Ein bewaffnetes Patrouillenboot wurde von der nahe gelegenen Marinebasis in Marsch gesetzt und flitzte durch die seichten azurblauen Gewässer auf das etwa hundertachtzig Meter lange Schiff zu.
Das Schiff hatte den Namen Norego und war in Panama registriert, wenn man sich auf die Flagge am Flaggenmast verließ. Dem Aussehen nach war die Norego für den Containerdienst umgebaut worden, nachdem sie in ihren früheren Zeiten als reguläres Frachtschiff gedient hatte. Auf ihrem Deck ragten fünf Frachtkräne wie astlose Bäume in die Luft, drei auf dem vorderen Teil und zwei weiter hinten. Um sie herum waren hellfarbene Container bis dicht unter die Fenster der Kommandobrücke gestapelt. Trotz der großen Zahl von Containern lag das Schiff so hoch im Wasser, dass mindestens fünf Meter roter Schutzfarbe unterhalb der Ladelinie zu sehen waren. Der Rumpf war einheitlich blau gestrichen, machte jedoch den Eindruck, als hätte er schon lange keine frische Farbe mehr gesehen, während die Aufbauten in einem tristen Grünton gehalten waren. Die beiden Schornsteine wirkten derart von Ruß geschwärzt, dass von ihrer ursprünglichen Farbe so gut wie nichts mehr zu erkennen war. Dünne Rauchfäden kräuselten sich aus den Kaminen und hingen als dunkle Wolke über dem Schiff.
Ein Gerüst aus Stahlverstrebungen war vom überhängenden Teil des Schiffshecks herabgelassen worden, und Männer in ölverschmierten Overalls waren am Steuerruder mit Reparaturarbeiten beschäftigt.
Als das Patrouillenboot in Rufweite kam, hielt der NCO, der als Kapitän des kleinen Gefährts fungierte, ein Megaphon an seinen Mund. »Ahoi, Norego«, rief er auf Farsi. »Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir an Bord kommen.« Muhammad Ghami wiederholte seine Worte auf Englisch, der internationalen Verkehrssprache der Handelsschifffahrt.
Wenige Sekunden später erschien ein stark übergewichtiger Mann in einem verschwitzten Offiziershemd am oberen Ende der Gangway. Mit dem Kopf gab er einem Untergebenen ein Zeichen, und die Jakobsleiter wurde herabgelassen.
Während sie sich näherten, erkannte Ghami auf den Schultern des Mannes Kapitänsepauletten und fragte sich, wie sich ein Mann mit einem solchen Rang derart gehen lassen konnte. Der Chef der Norego schleppte einen Wanst vor sich her, der gut zwanzig Zentimeter über seinen Gürtel hing. Unter seiner weißen Mütze glänzte das Haar ölig schwarz mit grauen Strähnen, und sein Gesicht war voller Bartstoppeln. Ghami konnte nur vermuten, wo die Eigentümer eines derart heruntergekommenen Schiffes einen solchen Kerl aufgetrieben hatten, der es führen sollte.
Während einer seiner Männer hinter dem Kaliber .50-Maschinengewehr des Patrouillenbootes Posten bezog, bedeutete Ghami einem anderen Matrosen, das halbstarre Schlauchboot an der Gangway zu vertäuen. Ein weiterer Matrose hielt sich mit einem AK-47 über der Schulter in seiner Nähe. Ghami vergewisserte sich, dass die Klappe über seinem Holster geschlossen war, und sprang auf die unterste Stufe der Leiter. Sein erster Offizier folgte ihm. Während er nach oben stieg, beobachtete er, wie der Kapitän versuchte, sein Haar zu ordnen und sein schmuddeliges Hemd glattzustreichen. Er erzielte mit beiden Gesten jedoch kaum eine Wirkung.
Ghami erreichte das Deck und stellte fest, dass die Platten an einigen Stellen gerissen waren und seit Jahrzehnten keine Farbe mehr gesehen hatten. Rost bedeckte in einer dicken Schicht jede Oberfläche – bis auf die der Container, die wahrscheinlich noch nicht lange genug an Bord standen, um in ähnlicher Weise unter der Nachlässigkeit der Mannschaft zu leiden. In der Reling klafften Lücken, die mit Kettenabschnitten geflickt worden waren, und die Korrosion hatte sich derart tief in die Aufbauten gefressen, dass sie aussahen, als würden sie jeden Augenblick zusammenbrechen.
Indem er seine Abscheu kaschierte, begrüßte Muhammad Ghami den Kapitän mit einem zackigen militärischen Salut. Der Mann kratzte sich seinen ausladenden Bauch und erwiderte den Gruß, indem er mit einem Finger lässig gegen den Schirm seiner Mütze tippte.
»Käpt’n, ich bin Leutnant Muhammad Ghami von der Iranischen Marine. Der Mann in meiner Begleitung ist Seaman Khatahani.«
»Willkommen an Bord der Norego, Leutnant«, erwiderte der Chef des Frachters. »Ich bin Kapitän Ernesto Esteban.«
Sein spanischer Akzent war so stark, dass Ghami jedes seiner Worte in Gedanken wiederholen musste, um sicherzugehen, dass er ihn verstanden hatte. Esteban war einige Zentimeter größer als der iranische Seemann, aber sein überschüssiges Gewicht, das er mit sich herumschleppte, zog seine Schultern nach unten und krümmte seinen Rücken so, dass er und Ghami fast gleich groß erschienen. Seine Augen waren dunkel und feucht, und als er lächelte, während er Ghami die Hand schüttelte, entblößte er gelbe und schiefe Zähne. Sein Atem roch wie vergorene Milch.
»Was ist mit Ihrer Ruderanlage nicht in Ordnung?«
Esteban stieß einen spanischen Fluch aus. »Das Lager hat sich festgefressen. Schon das vierte Mal in diesem Monat. Die knauserigen Eigner«, schimpfte er, »wollen nicht, dass ich den Schaden in einer Werft beheben lasse, deshalb müssen sich meine Männer damit herumschlagen. Eigentlich sollten wir schon heute Abend wieder unterwegs sein, vielleicht aber auch erst morgen früh.«
»Und worin besteht Ihre Ladung, und welchen Hafen laufen Sie an?«
Der Kapitän schlug mit der flachen Hand gegen einen der Frachtcontainer. »Leere Kisten. Sie sind alles, wofür die Norego noch gut ist.«
»Was soll das heißen?«, fragte Ghami.
»Wir transportieren leere Container von Dubai nach Hongkong. Volle Container werden angeliefert, ausgeladen und stapeln sich dann auf dem Pier. Wir bringen sie zurück nach Hongkong, wo sie wieder beladen werden.«
Das erklärte auch, weshalb das Schiff so hoch im Wasser lag, dachte Ghami. Leere Container wogen pro Stück nur wenige Tonnen. »Und was haben Sie auf der Rückfahrt hierher geladen?«
»Kaum genug, um unsere Kosten zu decken«, erwiderte Esteban trübsinnig. »Niemand will uns mit etwas anderem als leeren Kisten versichern.«
»Ich muss mir Ihre Mannschaftsliste, Ihre Frachtpapiere und die Schiffsregistrierung ansehen.«
»Gibt es irgendein Problem?«, fragte Esteban schnell.
»Das entscheide ich, nachdem ich Ihre Papiere kontrolliert habe«, sagte Ghami mit einem ausreichend drohenden Unterton, um sicherzugehen, dass der Mann widerspruchslos gehorchte. »Ihr Schiff befindet sich in iranischen Gewässern, und ich habe das Recht, jeden Winkel dieses Kahns zu inspizieren, sofern ich es für nötig halte.«
»No problema, señor«, sagte Esteban mit öliger Freundlichkeit. Sein Grinsen glich eher einer Grimasse. »Sollen wir nicht zusehen, dass wir aus dieser Hitze rauskommen, und mein Büro aufsuchen?«
Bandar Abbas lag in der engsten Biegung der Straße von Hormus, der schmalen Einfahrt in den Persischen Golf. Im Sommer waren die Temperaturen tagsüber meist unerträglich, außerdem herrschte kaum ein nennenswerter Wind. Das stählerne Deck unter den Füßen der Männer war im wahrsten Sinne des Wortes heiß genug, um Eier darauf zu braten.
»Gehen Sie voraus«, sagte Ghami und deutete auf die Decksaufbauten.
Die Innenräume an Bord der Norego wirkten genauso heruntergekommen wie ihr Äußeres. Die Fußböden bestanden aus zerschlissenem Linoleum, die Wände waren kahl und mit Flecken übersät, wo die Farbe abgeblättert war. Die Leuchtstoffröhren an den Decken gaben ein lautes Summen von sich. Mehrere von ihnen flackerten heftig und erzeugten in dem engen Korridor Schattenspiele.
Esteban führte Ghami und Khatahani über einen engen Laufgang mit losem Geländer in einen weiteren kurzen Korridor. Er öffnete die Tür zu seinem Büro und bedeutete den Männern mit einer Geste einzutreten. Durch eine Tür auf der anderen Seite des Büros konnte man in die Kabine des Kapitäns schauen. Das Bett war ungemacht, und die Laken, die auf dem Fußboden lagen, waren voller Schmutzflecken. Eine einzelne Kommode war an die Wand geschraubt, und der Spiegel darüber hatte einen gezackten Sprung, der von einer Ecke zur anderen verlief.
Das Büro war ein Raum mit rechteckigem Grundriss. Er verfügte über ein einziges Bullauge, das derart mit Salz verkrustet war, dass nur wenig Licht hereindrang. Die Wände waren mit Gemälden von Clowns mit traurigen Augen in grellen Farben auf schwarzem Samt bedeckt. Eine andere Tür führte in ein kleines Badezimmer, das dreckiger schien als eine öffentliche Toilette in einem Slum in Teheran. In dem Büro waren so viele Zigaretten geraucht worden, dass der schale Geruch an allem zu kleben schien, Ghamis Gaumen inklusive. Obwohl er selbst Raucher war, empfand sogar der iranische Marineoffizier einen heftigen Ekel.
Esteban stopfte die nackten Drähte einer Schreibtischlampe in eine Steckdose neben dem Tisch und fluchte, als ein paar Funken sprühten, schien dann aber froh zu sein, dass die Lampe aufflackerte. Er ließ sich stöhnend in seinen Schreibtischsessel sinken und lud die beiden Inspektoren ein, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Ghami benutzte einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche, um den vertrockneten Kadaver einer Kakerlake von seinem Stuhl zu schnippen, ehe er sich hinsetzte.
Der Kapitän kramte in seiner Schreibtischschublade herum und angelte eine Schnapsflasche heraus. Er warf den beiden Muslimen einen fragenden Blick zu und deponierte die Flasche wieder in der Schublade, wobei er etwas Unverständliches auf Spanisch murmelte. »Okay, hier sind die Unterlagen.« Er reichte einen Aktenordner hinüber. »Wie ich schon sagte, wir haben nichts anderes geladen als leere Container für Hongkong.« Er legte einen weiteren Ordner auf den Tisch. »Die Mannschaftsliste. Eine Bande fauler undankbarer Bastarde, wenn Sie mich fragen. Wenn Sie einen von ihnen hier festhalten wollen, meinen Segen haben Sie. Und hier ist die Registrierung der Norego.«
Ghami blätterte die Liste der Mannschaftsmitglieder durch, informierte sich über ihre jeweilige Nationalität und prüfte sorgfältig ihre Ausweise. Die Mannschaft bestand aus einem gemischten Haufen von Chinesen, Mexikanern und Männern von den Karibischen Inseln, was mit jenen Männern übereinstimmte, die er bei der Reparatur des Steuerruders gesehen hatte. Der Kapitän selbst stammte aus Guadalajara in Mexiko. Er arbeitete seit elf Jahren bei der Trans-Ocean Shipping and Freight und führte die Norego seit sechs Jahren. Ghami stellte überrascht fest, dass Esteban erst zweiundvierzig Jahre alt war. Der Mann sah eher aus wie knapp sechzig.
Es gab nichts, was irgendeinen Verdacht erregt hätte, aber Ghami wollte gründlich sein.
»Hier steht, dass Sie achthundertsiebzig Container geladen haben.«
»Das dürfte auch ungefähr stimmen.«
»Sie stehen alle in den Frachträumen?«
»Diejenigen, die nicht an Deck stehen«, bestätigte Esteban.
»Ich möchte Sie nicht beleidigen, Käpt’n, aber ein Schiff wie dieses wurde nicht konstruiert, um Container zu transportieren. Ich vermute, dass es in Ihren Laderäumen genügend Stellen gibt, wo Schmuggelgut versteckt werden kann. Ich möchte mir daher alle sechs Laderäume ansehen.«
»Bis meine Ruderanlage repariert ist, habe ich jede Menge Zeit, Leutnant«, meinte Esteban strahlend. »Wenn Sie mein Schiff von oben bis unten unter die Lupe nehmen wollen, sind Sie herzlich dazu eingeladen. Ich habe nichts zu verbergen.«
Plötzlich wurde die Bürotür aufgestoßen. Ein chinesischer Arbeiter, bekleidet mit einem Overall und Holzsandalen, redete aufgeregt auf Kantonesisch auf den Kapitän ein. Esteban stieß einen Fluch aus und sprang von seinem Sessel hoch. Seine schnellen Bewegungen ließen die beiden Iraner wachsam werden. Ghami kam hoch und legte eine Hand auf sein Pistolenhalfter. Esteban ignorierte ihn völlig und durchquerte den Raum, so schnell es seine zusätzlichen hundert Pfund schwabbeligen Fetts erlaubten. Im gleichen Moment, in dem er die Badezimmertür erreichte, gab die Klosettspülung ein rauschendes Gurgeln von sich. Er schlug die Tür zu, und nur Sekunden später konnten sie hören, dass da Wasser wie ein Geysir in die Höhe schoss und gegen die Decke klatschte. Ein neuer, um einiges üblerer Geruch wallte in das enge Büro.
»Tut mir leid«, sagte Esteban. »Seng soll unsere Toilettenanlage reparieren. Ich glaube, es ist ihm noch nicht so ganz gelungen.«
»Selbst wenn sie irgendetwas verstecken«, bemerkte Seaman Khatahani auf Farsi flüsternd zu seinem Vorgesetzten, »habe ich wenig Lust, danach zu suchen.«
»Sie haben recht«, erwiderte Ghami. »Es gibt in der gesamten Golfregion sicher nicht einen Schmuggler, der diesem fetten Kerl oder seinem armseligen Kahn irgendetwas anvertrauen würde.« In Anbetracht der Tatsache, dass die Schmuggelei rund um den Persischen Golf eine alte und ehrenvolle Tradition hatte, machte Ghami damit noch nicht einmal einen Scherz. Er wandte sich an Esteban. »Käpt’n, ich sehe, dass Sie alle Hände voll zu tun haben, Ihr Schiff in Schuss zu halten. Ihre Papiere scheinen in Ordnung zu sein, daher wollen wir nicht noch mehr von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen.«
»Sind Sie ganz sicher?«, fragte Esteban und runzelte die Stirn. »Es macht mir nichts aus, eine kleine Führung mit Ihnen zu veranstalten.«
Ghami wandte sich zum Gehen. »Das wird nicht nötig sein.«
»Wie Sie wollen.« Esteban begleitete seine Besucher aus dem Büro und zurück durch die düsteren Korridore. Der grelle Schein der Nachmittagssonne war nach dem Aufenthalt in den schlecht erleuchteten Räumlichkeiten des Schiffes besonders unangenehm. Vor dem dunstigen Horizont hinter der Norego zog soeben ein vierhundert Meter langer Supertanker noch Norden, wo seine Tanks mit Rohöl gefüllt werden sollten.
An der Gangway schüttelte Ghami Esteban die Hand. »Wenn Ihr Ruderschaden nicht bis morgen früh behoben ist, müssen Sie die Hafenverwaltung von Bandar Abbas informieren. Möglich, dass sie Ihr Schiff von den Schifffahrtslinien weg und in den Hafen schleppen müssen.«
»Wir bekommen die Angelegenheit schon rechtzeitig geregelt«, versprach Esteban. »Die Norego ist zwar ein altes Mädchen, aber es steckt noch eine Menge Leben in ihr.«
Ghami quittierte diese Bemerkung mit einem skeptischen Blick. Er stieg zum Patrouillenboot hinunter und nickte seinen Leuten zu, als er und Khatahani an Bord waren. Die Leinen wurden gelöst, und das Boot entfernte sich in zügiger Fahrt von dem alten Frachter, wobei es eine saubere weiße Kiellinie im dunklen Salzwasser hinter sich herzog.
An der Reling stehend, hielt sich Esteban bereit, dem iranischen Boot zuzuwinken, falls einer der Matrosen noch einmal zurückblicken sollte. Aber es war, als könnten sie die Norego gar nicht schnell genug hinter sich lassen. Der Kapitän kratzte seinen beachtlichen Bauch und verfolgte, wie das Patrouillenboot in der Ferne verschwand. Als es nur noch ein winziger Fleck war, tauchte ein zweiter Mann aus dem Decksaufbau auf. Er war älter als Esteban, mit einem schmalen Kranz dunkelbraunen Haars auf seinem sonst kahlen Schädel. Er hatte wache braune Augen und eine lässige Haltung, und obgleich er es recht gut geschafft hatte, sich in Form zu halten, war ein leichter Bauchansatz nicht zu übersehen.
»Das Mikrofon in deinem Büro muss ausgetauscht werden«, sagte er ohne besondere Einleitung. »Ihr habt geklungen wie Comicfiguren, die an einem Heliumballon geschnüffelt haben.«
Der Kapitän brauchte einen Moment, um kleine Polster aus Verbandsmull hinter seinen Backenzähnen hervorzuziehen. Schon sahen seine Wangen nicht mehr so füllig aus. Dann klaubte er sich die braunen Kontaktlinsen aus den Augen, und ein strahlendes Blau kam zum Vorschein. Die Verwandlung des vom Schicksal gebeutelten Kapitäns eines Seelenverkäufers in einen auf verwegene Art gutaussehenden Mann war vollkommen, als er auch noch seine Mütze abnahm und sich die fettige Perücke vom Kopf zog. Sein Haar war naturblond und sorgfältig frisiert. Die Bartstoppeln waren seine eigenen, und er konnte es kaum erwarten, sich zu rasieren, aber dazu würde es erst kommen, wenn sie die iranischen Gewässer verlassen hätten, weil sich bis dahin immer noch eine Situation ergeben könnte, in der er wieder Ernesto Esteban, Kapitän der MV Norego, spielen musste. »Alvin, Simon und Theodore, das sind wir«, meinte Juan Rodriguez mit einem Grinsen.
»Ich habe gehört, dass du den Panikknopf drücken musstest.«
Es gab versteckte Kontrollinstrumente unter dem Schreibtisch im Büro, die Cabrillo in einer Vielzahl von Situationen benutzen konnte. Mit einem dieser Knöpfe hatte er Eddie Seng gerufen, der bereit stand, um die Rolle eines erfolglosen Technikers zu spielen, und eine Pumpe in den Abflussrohren unter der funktionsunfähigen Toilette aktiviert hatte. Die Pumpe schleuderte das Wasser wie ein Vulkan aus dem Toilettensitz in die Höhe. Chemikalien, die dem Wasser zugesetzt worden waren, verstärkten noch die Illusion, indem sie einen entsetzlichen Gestank erzeugten.
»Leutnant Ghami wollte Sherlock Holmes spielen und sich gründlich umsehen. Ich musste ihn irgendwie davon abhalten«, sagte Cabrillo zu Max Hanley, dem Vizepräsidenten der Corporation, deren Präsident Juan war.
»Meinst du, sie kommen zurück?«
»Wenn wir morgen noch hier sind, kannst du dich darauf verlassen.«
»Dann denke ich, dass wir dafür sorgen sollten, es nicht zu sein«, erwiderte Hanley mit einem diabolischen Funkeln in den Augen.
Die beiden Männer betraten den Decksaufbau. Juan ging zu einem Geräteschrank voraus, gefüllt mit Wischmopps, Schrubbern und Reinigungsgeräten, die offenbar noch niemals benutzt worden waren. Er drehte an den Wasserkränen eines Ausgussbeckens, als stellte er die Kombination eines Safes ein. Ein deutliches Klicken ertönte, und die Rückwand des Schranks sprang auf und gab den Blick in einen mit dicken Teppichen ausgelegten Korridor dahinter frei. Verschwunden waren die kahlen Stahlwände und das billige Linoleum. Der Korridor war mit dunklem Mahagoni getäfelt, und Kronleuchter an der Decke sorgten für ein angenehm warmes Licht.
Genauso wie die Verkleidung, die Cabrillo angelegt hatte, um die Iranische Marine zu täuschen, war die Norego nicht das, was sie zu sein schien. Tatsächlich war das noch nicht einmal ihr Name. Indem sie Metalllettern, die an Bug und Heck mit Magneten festgehalten wurden, vertauschte, hatte die Mannschaft Norego aus dem echten Namen des Schiffes, Oregon, gebildet.
Ursprünglich als Holzfrachter gebaut, hatte das Schiff fast zwanzig Jahre lang den Pazifik befahren und kanadisches und amerikanisches Holz nach Japan und zu den anderen asiatischen Märkten geschafft. Der Elftausendtonnenfrachter hatte seinen Eignern bewundernswerte Dienste geleistet, doch war die Zeit nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Wie jedes alte Schiff ging auch dieser Holzfrachter mit Riesenschritten dem Ende seines nützlichen Lebens entgegen. Der Rumpf begann zu rosten, und die Maschinen arbeiteten nicht mehr so wirkungsvoll wie zu Beginn ihrer Dienstzeit, als sie noch neu waren. Die Eigner setzten Anzeigen in maritime Handelsmagazine, in denen sie verlauten ließen, dass sie ihr einst so stolzes Flaggschiff als Schrott verkaufen wollten, da sie wussten, dass es ihnen auf diese Art und Weise noch ein paar Dollar pro Tonne einbringen würde.
Damals hatte Juan gerade die Corporation gegründet und brauchte dringend irgendein Schiff. Er hatte Häfen auf der ganzen Welt abgeklappert und Ausschau nach dem richtigen Fahrzeug gehalten. Als er Bilder des Holzfrachters zu sehen bekam, wusste er, dass er sein Schiff gefunden hatte. Er war gezwungen, gegen drei Abwrackunternehmen zu bieten, schaffte es aber, das Schiff für viel weniger zu kaufen, als er für ein jüngeres Schiff hätte bezahlen müssen. Er interessierte sich auch nicht für die Ladekapazität. Er brauchte es wegen seiner Anonymität.
Die Oregon hatte gut ein halbes Jahr in einem überdachten Trockendock in Wladiwostok gelegen und den wohl radikalsten Umbau in der Geschichte der Schifffahrt erlebt. Ohne seine äußere Erscheinung zu verändern, wurde das Schiff vollständig ausgeräumt und entkernt. Die alten Dieselmotoren wurden durch die modernsten Hochleistungsaggregate ersetzt. Unter Verwendung eines Prozesses, der Magnetohydrodynamik genannt wurde, waren die Maschinen mit supragekühlten Magneten ausgerüstet, um im Meerwasser vorkommende freie Elektronen einzusammeln und damit nahezu grenzenlosen Nachschub an elektrischem Strom zu produzieren. Dieser Strom trieb vier Aquaimpulsdüsen an, die Wasser mit enormer Kraft durch ein Paar auf Hochglanz polierter verstellbarer Strahlröhren drückten. Diese Technologie war erst bei einigen wenigen Schiffen testweise zur Anwendung gekommen – und seit dem Brand auf einem MHD-getriebenen Kreuzfahrtschiff namens Emerald Dolphin wieder zurück ins Labor und zu den maßstabsgerechten Modellen verbannt worden.
Auf Grund der Geschwindigkeiten, die das Schiff jetzt erreichen konnte, musste sein Rumpf zusätzlich versteift und verstärkt werden. Stabilisierungsflossen wurden hinzugefügt, und der Bug wurde dergestalt modifiziert, dass die Oregon geradezu Eisbrecherfähigkeiten entwickelte. Mehrere hundert Kilometer Kabel wurden für seine Kollektion elektronischer Einrichtungen durch das Schiff gezogen – mit allem, von militärisch im Einsatz befindlicher Radar- und Sonartechnik bis hin zu Dutzenden von Kameras für ein eigenes Betriebsfernsehen. Gesteuert wurde das Ganze von einem Supercomputer von Sun Microsystems.
Dann kam die Bewaffnung. Zwei Torpedorohre, eine 120mm-Kanone, die mit der Visiereinrichtung eines M1A1-Abrams-Kampfpanzers ausgestattet war. Hinzu kamen drei 20mm-Gatling-Kanonen von General Electric, Abschussvorrichtungen für Boden-Boden-Schiffsabwehrraketen und eine Reihe Maschinengewehre vom Kaliber .30 für die Selbstverteidigung. Alle Waffen waren hinter verschiebbaren Rumpfplatten raffiniert versteckt worden, wie die deutschen Kanonenboote sie während des Ersten Weltkriegs verwendet hatten. Die .30er wurden in verrosteten Ölfässern installiert, die auf Deck festgeschweißt waren. Auf Knopfdruck im Operationszentrum sprangen die Deckel der Fässer auf, und die Waffen erschienen und wurden per Fernsteuerung von Schützen bedient, die sicher im Innern des Schiffes saßen.
Cabrillo fügte noch weitere Überraschungen hinzu. Der hinterste Laderaum wurde in einen Hangar für einen vier Personen fassenden Robinson-R44-Helikopter umgebaut und konnte per Hydraulik zum Deck hochgefahren werden. Versteckte und getarnte Türen und Tore, durch die alle Arten kleiner Wassergefährte, darunter Zodiacs und ein SEAL-Landungsboot, abgesetzt werden konnten, befanden sich in Höhe der Wasserlinie, während sich entlang des Kiels zwei große Klappen zu einem gewölbeartigen Raum, Moon Pool genannt, öffneten, wo man ein Paar Mini-U-Boote unbemerkt zu Wasser lassen konnte.
Was die Unterbringung der Mannschaft betraf, so wurden auch hier keine Kosten gescheut. Die Korridore und Kabinen waren genauso luxuriös eingerichtet wie in einem Fünf-Sterne-Hotel. Die Oregon konnte sich der wahrscheinlich besten schwimmenden Küche mit international erfahrener und vielfach ausgezeichneter Kochbrigade rühmen. Einer der Ballasttanks an den Seiten, dafür gedacht, das Schiff voll beladen aussehen zu lassen, falls es sich als notwendig erweisen sollte, war mit Carraramarmor ausgekleidet und diente nebenbei als Swimmingpool mit Olympiamaßen.
Die Arbeiter, die den Umbau vornahmen, hatten geglaubt, sie hätten es im Auftrag der Russischen Marine getan, die eine Flotte von getarnten Spionageschiffen aufbauen wollte. Cabrillos Täuschung wurde durch den Kommandanten der Basis, zu der das Trockendock gehörte, einen außerordentlich leicht korrumpierbaren Admiral, den Juan seit Jahren kannte, unterstützt.
Das Geld, um die Corporation zu gründen und den Umbau der Oregon zu bezahlen, war von einem geheimen Konto auf den Cayman-Inseln gekommen, das früher einem Auftragskiller gehört hatte, den Cabrillo im Auftrag seines damaligen Arbeitgebers, der Central Intelligence Agency, unschädlich gemacht hatte. Eigentlich hätte das Geld in die schwarze Kasse der CIA wandern sollen, aber Juan erhielt von seinem direkten Vorgesetzten, Langston Overholt IV, die Erlaubnis, sein neues Unternehmen damit zu finanzieren.