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Auf den Weltmeeren geht die Todesangst um. Schiffe verschwinden spurlos, und an den Küsten stranden ganze Kolonien toter Tiere. Nur durch einen Zufall findet Dirk Pitt heraus, daß in Kürze ein noch weit größeres Verhängnis droht. Denn ein australischer Diamantenkönig plant gezielt die Übernahme des Welthandels mit Edelsteinen – und er arbeitet in seinen Minen mit neuartigen, lebensgefährlichen Schallwellen. Eine Katastrophe scheint unausweichlich - und der Countdown hat bereits begonnen …
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Seitenzahl: 874
Clive Cussler
Schockwelle
Roman
Übersetzt von Oswald Olms
Mit tiefem Dank an
Dr. Nicholas Nicholas
Dr. Jeffrey Taffet
und
Robert Fleming
Das Floß der GLADIATOR
17. Januar 1856
Tasmansee
Im Jahr 1854 wurden im schottischen Aberdeen vier Klipper gebaut, Schnellsegler für den Überseehandel. Einer davon sollte alle anderen in den Schatten stellen. Es war die Gladiator, ein großes Schiff, 1256 Tonnen schwer, 60 Meter lang, 10 Meter breit, mit drei hoch aufragenden Masten, die in schnittigem Winkel gen Himmel strebten. Sie war einer der schnellsten Klipper, die je vom Stapel liefen, aber wegen ihrer allzu schlanken Bauweise hatte sie bei schwerem Wetter ihre Tücken. Sie wurde als »Geisterfahrerin« gepriesen, da sie auch beim geringsten Wind noch segeln konnte. Tatsächlich geschah es nicht ein einziges Mal, dass die Gladiator unterwegs durch eine Flaute aufgehalten wurde.
Unglücklicherweise, und ohne dass es jemand ahnen konnte, war sie dem Untergang geweiht.
Ihre Eigner ließen sie für den Australienhandel ausrüsten, versprachen sich aber auch gute Geschäfte durch Auswanderer; daher war sie einer der wenigen Klipper, die sowohl Passagiere als auch Fracht befördern konnten. Doch wie sie bald feststellen mussten, gab es nicht viele Aussiedler, die sich die Überfahrt leisten konnten, so dass die Kabinen der ersten und zweiten Klasse zumeist leer blieben. Schließlich befand man, dass es einträglicher sei, wenn man im Auftrag der Regierung Sträflinge zum fünften Kontinent beförderte, der in den Anfangszeiten seiner Kolonisation das größte Zuchthaus der Welt war.
Die Gladiator wurde dem Kommando von Charles »Bully« Scaggs unterstellt, einem der größten Draufgänger unter den Klipperkapitänen. Er trug seinen Spitznamen zu Recht. Zwar ging er niemals mit der Peitsche gegen Drückeberger und ungehorsame Besatzungsmitglieder vor, doch rücksichtslos trieb er Schiff und Mannschaft zu immer neuen Rekordfahrten zwischen England und Australien an. Sein Ungestüm zahlte sich aus. Auf ihrer dritten Heimfahrt stellte die Gladiator mit dreiundsechzig Tagen einen Rekord auf, der für Segelschiffe nach wie vor Bestand hat.
Scaggs war gegen die bekanntesten Kapitäne und Klipper seiner Zeit angetreten, darunter John Kendricks mit der schnellen Hercules und Wilson Asher mit der berühmten Jupiter, und er hatte nie verloren. Konkurrierende Kapitäne, die nahezu zeitgleich mit der Gladiator in London ausliefen, mussten immer feststellen, dass sie längst am Kai vertäut lag, wenn sie im Hafen von Sydney eintrafen.
Für die Sträflinge, die den Transport unter albtraumhaften Bedingungen und entsetzlichen Qualen durchstehen mussten, waren diese schnellen Überfahrten ein Gottesgeschenk. Viele der langsameren Handelsschiffe brauchten bis zu dreieinhalb Monate für die Fahrt.
Die Sträflinge waren unter Deck eingesperrt und wurden wie eine Ladung Vieh behandelt. Teils handelte es sich um abgefeimte Verbrecher, teils um Umstürzler und Aufrührer, doch allzu viele waren lediglich arme Schlucker, die man verhaftet hatte, weil sie einige Kleidungsstücke oder ein paar Brocken Brot gestohlen hatten. Die Vergehen, für die die Männer seinerzeit in die überseeischen Kolonien verbannt wurden, reichten vom Mord bis zum Taschendiebstahl. Die Frauen, durch ein starkes Schott von den Männern getrennt, waren zumeist wegen kleiner Eigentumsdelikte oder wegen Ladendiebstahls verurteilt worden. Für beide Geschlechter war die Überfahrt gleichermaßen unangenehm. Ein hartes Lager auf schmalen Holzkojen, erbärmliche sanitäre Verhältnisse und eine nährwertarme Kost waren das Los, das sie auf der monatelangen Reise erwartete. Die einzigen Vergünstigungen waren der Zucker, der Essig und der Zitronensaft, den man ihnen zum Schutz vor Skorbut zuteilte, dazu abends ein Schoppen Portwein, um ihnen moralischen Auftrieb zu geben. Sie wurden von einer kleinen, zehn Mann starken Abteilung des New South Wales Infanterieregiments unter dem Kommando von Leutnant Silas Sheppard bewacht.
Eine Belüftung war so gut wie nicht vorhanden; lediglich durch die massiven, stets mit schweren Riegeln verschlossenen Lukengitter drang gelegentlich etwas Frischluft ein. Sobald man in die Tropen kam, wurde es tagsüber erstickend heiß unter Deck. Noch mehr aber litten die Sträflinge bei schlechtem Wetter, Nässe und Kälte, wenn sie, in nahezu völliger Dunkelheit, hilflos von den Brechern, die an den Schiffsrumpf klatschten, herumgeschleudert wurden.
Auf jedem Sträflingsschiff musste laut Vorschrift ein Bordarzt mitfahren; so auch auf der Gladiator. Stabsarzt Otis Gorman achtete auf das Allgemeinbefinden der Häftlinge und sorgte dafür, dass sie, soweit das Wetter es zuließ, gelegentlich und in kleinen Gruppen an Deck kamen, frische Luft schnappen und sich etwas bewegen konnten. Für die Schiffsärzte wurde es im Lauf der Zeit eine Frage der Ehre, bei der Ankunft in Sydney darauf verweisen zu können, dass sie keinen Sträfling verloren hatten. Gorman war ein barmherziger Mann, der sich um seine Schutzbefohlenen kümmerte. Wenn notwendig, ließ er sie zur Ader, stach Abszesse auf, beriet und behandelte sie, wenn sie verletzt waren, Blasen hatten oder unter Durchfall litten, achtete überdies darauf, dass die Seewasserabtritte mit Klärkalk ausgestreut, die Kleidung gewaschen und die Urinzuber gründlich gescheuert wurden. Nur selten kam es vor, dass er kein Dankesschreiben von den Sträflingen erhielt, wenn sie an Land marschierten.
Bully Scaggs schenkte den Unglücklichen, die unter Deck eingesperrt waren, so gut wie keine Beachtung. Ihm ging es nur darum, so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen. Sein Ungestüm und die eiserne Disziplin, die er dabei wahrte, zahlten sich aus. Die sagenhaften Rekorde, die er zu Zeiten der großen Hochseeklipper aufstellte, trugen ihm stattliche Prämien von Seiten zufriedener Reeder ein und bescherten ihm und seinem Schiff ewigen Ruhm in den Annalen der christlichen Seefahrt.
Diesmal hatte er einen neuen Rekord vor Augen. Nach dem Auslaufen in London trieb er sein mit allerlei Handelsgütern für Sydney sowie mit hundertzweiundneunzig Sträflingen, darunter vierundzwanzig Frauen, beladenes Schiff und seine Besatzung zweiundfünfzig Tage lang bis an die äußersten Grenzen ihrer Belastbarkeit und ließ selbst bei Starkwind selten die Segel einholen. Seine Beharrlichkeit wurde belohnt. Einmal legte die Gladiator in vierundzwanzig Stunden schier unglaubliche dreihundertzweiundneunzig Seemeilen zurück.
Und dann verließ Scaggs das Glück. Achteraus am Horizont dräute das Verhängnis.
Einen Tag, nachdem die Gladiator die Bassstraße zwischen Tasmanien und der Südspitze Australiens durchfahren hatte, zogen düster-schwarze Wolken am Abendhimmel auf und verdeckten die Sterne, währen die See zusehends rauer wurde. Ohne dass Scaggs etwas davon ahnte, braute sich jenseits der Tasmansee ein Taifun zusammen und raste auf das Schiff zu. Den Urgewalten des Pazifischen Ozeans aber waren die schnellen, schnittigen Klipper erbarmungslos ausgesetzt.
Der nahende Sturm war, wie sich später erweisen sollte, der mörderischste und verheerendste Taifun, der die Südsee seit Menschengedenken heimgesucht hatte. Von Stunde zu Stunde wurde der Wind heftiger. Riesige Wellenberge türmten sich auf und rollten aus der Dunkelheit über die Gladiator. Viel zu spät gab Scaggs den Befehl zum Segelreffen. Ein heftiger Windstoß fuhr in die Takelage, riss die Segel in Fetzen, knickte die Masten um und schmetterte sie samt Wanten und Rahen aufs Oberdeck. Im nächsten Moment schwappten weitere Wellen heran und spülten das Gewirr aus geborstenem Holz und gerissenem Gut über Bord, als wollten sie das Chaos aufräumen. Eine zehn Meter hohe Woge brach über das Heck herein, zerschmetterte die Kapitänskajüte und schlug das Ruder los. Die Sturzsee rollte längsseits über das Schiff hinweg und riss sämtliche Boote sowie Steuer, Deckshaus und Kombüse mit sich. Die Luken wurden eingedrückt, und ungehindert ergossen sich die Wassermassen in den Laderaum.
Diese eine gewaltige Woge hatte den stolzen Klipper von einem Moment zum anderen in ein hilflos treibendes Wrack verwandelt. Ihrer Segel und Ruder beraubt, wurde die Gladiator von den Sturzseen herumgeschleudert wie ein Stück Holz. Die unglückliche Besatzung und die Sträflinge, die dem Toben des Sturmes machtlos ausgeliefert waren und sich dem sicheren Tod geweiht wähnten, konnten lediglich abwarten, bis das Schiff endgültig in den Tiefen des Meeres versank.
Als die Gladiator zwei Wochen überfällig war, schickte man Schiffe aus, die die bekannten Klipperrouten durch die Bass-Straße und die Tasmansee absuchen sollten. Doch sie stießen weder auf Überlebende noch auf Treibgut. Die Eigner schrieben sie ab, die Versicherungsträger kamen für den Schaden auf, die Angehörigen der Besatzungsmitglieder und der Sträflinge trauerten um die Dahingeschiedenen, und das Schiff geriet im Laufe der Zeit allmählich in Vergessenheit.
Manche Schiffe galten von vornherein als schwimmende Särge oder Seelenverkäufer, doch nicht die Gladiator. Die anderen Klipperkapitäne vertraten den Standpunkt, das anmutige Schiff sei sowohl ein Opfer seiner hervorragenden Segeleigenschaften wie auch seines ehrgeizigen Kapitäns geworden. Zwei Männer, die einst auf der Gladiator gefahren waren, meinten, ein jäher Windstoß von achtern in Verbindung mit einer Sturzsee über das Heck könnten das Schiff unter Wasser gedrückt und seinen Untergang besiegelt haben.
Wie üblich wurde der Verlust der Gladiator im Underwriting Room bei Lloyd’s in London, der berühmtesten Schifffahrtsversicherungsgesellschaft der Welt, per Eintrag ins Logbuch vermerkt – zwischen einem gesunkenen amerikanischen Dampfschlepper und einem auf Grund gelaufenen norwegischen Fischerboot.
Fast drei Jahre sollten vergehen, bis das Rätsel um das Verschwinden der Gladiator gelöst wurde.
Wie durch ein Wunder, und ohne dass die Welt etwas davon wusste, schwamm die Gladiator noch, nachdem der furchtbare Taifun gen Westen abgezogen war. Doch der einstmals elegante Klipper war schwer angeschlagen. Zwischen den geborstenen Planken drang beängstigend viel Wasser ein. Mittags stand es bereits knapp zwei Meter hoch im Laderaum, und vergebens kämpfte man an den Pumpen dagegen an.
Kapitän Bully Scaggs indes verzagte nicht. Sein schierer Starrsinn, davon war die Besatzung überzeugt, bewahrte die Gladiator vor dem Untergang. Streng und sachlich wie eh und je erteilte er seine Befehle. Er schickte die Sträflinge, die das Toben der Elemente halbwegs heil überstanden hatten, an die Pumpen, damit sich die Besatzung um das Abdichten der Lecks kümmern konnte.
Den übrigen Tag und die ganze Nacht lang entledigte man sich allen unnötigen Ballasts. Man warf einen Großteil der Fracht über Bord, dazu sämtliche Werkzeuge und Geräte, die man für entbehrlich erachtete. Es nutzte nichts. Man verlor viel Zeit und erreichte wenig. Am folgenden Morgen stand das Wasser wieder einen Meter höher.
Im Laufe des Nachmittags fügte sich Scaggs in sein Schicksal. Nichts konnte die Gladiator noch retten. Und da sämtliche Boote fortgerissen worden waren, blieb ihm nur eine letzte, verzweifelte Möglichkeit, die ihm anvertrauten Menschen an Bord zu retten. Er befahl Leutnant Sheppard, die Sträflinge freizulassen und sie unter den wachsamen Blicken seiner bewaffneten Soldaten an Deck antreten zu lassen. Nur die Bedienungsmannschaften der Pumpen und die Besatzungsmitglieder, die fieberhaft die Lecks abzudichten versuchten, widmeten sich weiter ihrer Arbeit.
Bully Scaggs war auch ohne Peitsche und Pistole unumschränkter Herr über sein Schiff. Er war ein Hüne von einem Mann mit einer Statur wie ein Steinmetz – ein Meter achtundachtzig groß, grüngraue Augen, ein von See und Sonne gegerbtes Gesicht, dazu pechschwarzes, wallendes Haar und ein prachtvoller Bart, den er bei besonderen Anlässen flocht. Er sprach mit tiefer, dröhnender Stimme, wodurch sein Auftreten umso achtunggebietender wirkte. Mit neununddreißig Jahren war er im besten Mannesalter, und er war mit allen Wassern gewaschen.
Er war entsetzt, als er den Blick über die Sträflinge schweifen ließ und die zahlreichen Verletzungen sah, die Abschürfungen, Verstauchungen und die vielen blutgetränkten Kopfverbände. Einen erbärmlicheren Haufen hatte er noch nie gesehen. Angst und Bestürzung sprachen aus ihren Mienen. Sie waren eher kleinwüchsig, zweifellos eine Folge lebenslanger Mangelernährung. Ihre Gesichter waren fahl und ausgemergelt. Sie waren verbittert, der Bodensatz der britischen Gesellschaft, auf ewig aus ihrer Heimat verbannt und ohne Hoffnung auf ein erfülltes Leben.
Als die armen Teufel die schrecklichen Verwüstungen an Deck sahen, die abgebrochenen Masten, das zerschmetterte Schanzkleid, und als sie bemerkten, dass sämtliche Boote weg waren, packte sie die schiere Verzweiflung. Die Frauen stießen schrille Schreckensschreie aus – alle bis auf eine, wie Scaggs feststellte, die unter den anderen hervorstach.
Sein Blick verweilte kurz auf dem weiblichen Sträfling. Sie war fast so groß wie die meisten Männer. Die Beine, die sich unter dem Rock abzeichneten, waren lang und anmutig. Über der schmalen Taille wölbte sich ein wohlgeformter Busen, der oben aus der Bluse quoll. Ihre Kleidung wirkte sauber und ordentlich, und das hüftlange, blonde Haar glänzte wie frisch gebürstet – ganz im Gegensatz zu den anderen Frauen, deren Haare strähnig und ungepflegt herunterhingen. Gelassen stand sie da, kaschierte mit trotziger Miene ihre Angst und musterte Scaggs. Ihre Augen waren so blau wie ein Bergsee.
Scaggs nahm sie zum ersten Mal wahr, und er fragte sich, wieso er nicht aufmerksamer gewesen war. Dann widmete er sich wieder dem Wesentlichen und wandte sich an die Sträflinge.
»Unsere Lage ist nicht gerade aussichtsreich«, fing er an. »Ich muss euch in aller Offenheit mitteilen, dass das Schiff dem Untergang geweiht ist, und da uns die See sämtliche Boote geraubt hat, können wir es nicht verlassen.«
Seine Worte wurden unterschiedlich aufgenommen. Leutnant Sheppards Soldaten standen still und regungslos da, während viele Sträflinge ein jämmerliches Weinen und Wehklagen anstimmten. Etliche fielen auf die Knie, da sie meinten, das Schiff werde jeden Augenblick auseinanderbrechen, und flehten die himmlischen Heerscharen um Rettung an.
Ohne ihren kläglichen Schreien Gehör zu schenken, fuhr Scaggs mit seiner Ansprache fort. »So mir ein gnädiger Gott beisteht, will ich versuchen, jede Seele auf diesem Schiff zu retten. Ich gedenke ein Floß zu bauen, das so groß ist, dass es uns alle trägt, bis wir von einem vorbeikommenden Schiff gerettet oder an der australischen Küste an Land gespült werden. Wir werden so viel Nahrung und Trinkwasservorräte an Bord nehmen, dass wir damit zwanzig Tage überdauern können.«
»Wenn Ihr die Frage gestattet, Kapitän, aber wie lange wird es Eurer Schätzung nach dauern, bis man uns findet?«
Die Frage wurde von einem hünenhaften Mann mit verächtlicher Miene gestellt, der die anderen um einen ganzen Kopf überragte. Er war im Gegensatz zu seinen Gefährten vornehm gekleidet und sorgfältig frisiert.
Ehe er antwortete, wandte sich Scaggs an Leutnant Sheppard. »Wer ist der Stutzer?«
Sheppard beugte sich zum Kapitän. »Ein gewisser Jess Dorset!.«
Scaggs zog die Augenbrauen hoch. »Jess Dorsett, der Wegelagerer?«
Der Leutnant nickte. »Der nämliche. Hat bestimmt ein Vermögen verdient, eh ihn die Mannen der Königin gefasst haben. Der Einzige von diesem ganzen Gesindel, der lesen und schreiben kann.«
Scaggs wurde augenblicklich klar, dass sich der Wegelagerer als wertvoll erweisen könnte, falls die Lage auf dem Floß bedrohlich werden sollte. Immerhin konnte es jederzeit zu einer Meuterei kommen. »Ich kann Euch nur die Aussicht auf Überleben bieten, Mr. Dorsett. Darüber hinaus verspreche ich nichts.«
»Und was erwartet Ihr von mir und meinen verderbten Freunden hier?«
»Ich erwarte, dass jeder Mann, der dazu fähig ist, beim Bau des Floßes anpackt. Ein jeder, der sich drückt oder verweigert, wird auf dem Schiff zurückgelassen.«
»Habt ihr gehört, Jungs?«, rief Dorsett den Sträflingen zu. »Arbeit oder Tod.« Er wandte sich wieder an Scaggs. »Keiner von uns ist Seemann. Ihr werdet uns jeden Handgriff erklären müssen!«
Scaggs deutete auf den Ersten Offizier. »Ich habe Mr. Ramsey beauftragt, die entsprechenden Pläne für den Bau des Floßes anzufertigen. Aus den Reihen der Besatzung, soweit sie nicht an den Pumpen oder zum Kalfatern benötigt wird, wird ein Arbeitstrupp aufgestellt, der euch genaue Anweisungen erteilt.«
Inmitten der anderen Sträflinge wirkte Jess Dorsett mit seinen einsdreiundneunzig wie ein Riese. Breite, kräftige Schultern unter einer vornehmen Samtjacke. Lange, kupferrote Haare, die offen über den Kragen hingen. Er hatte eine große Nase, hohe Wangenknochen und ein energisches Kinn. Trotz zweier entbehrungsreicher Monate, die er im Bauch des Schiffes hatte zubringen müssen, sah er aus, als käme er geradewegs aus einem Londoner Salon stolziert.
Bevor sie einander den Rücken zukehrten, wechselten Dorsett und Scaggs einen kurzen Blick. Ramsey, der Erste Offizier, spürte die Spannung zwischen beiden Männern. Der Tiger und der Löwe, dachte er versonnen. Er fragte sich, wer am Ende ihres Leidensweges die Oberhand behalten mochte.
Glücklicherweise beruhigte sich die See wieder, denn das Floß musste im Wasser zusammengezimmert werden. Sie fingen damit an, die Baustoffe über Bord zu werfen. Das eigentliche Grundgerüst bildeten die Überreste der Masten, die man mit starken Tauen miteinander verzurrte. Die Weinfässer und die für die Tavernen und Lebensmittelgeschäfte von Sydney bestimmten Mehltonnen wurden geleert und als Schwimmkörper zwischen den Hölzern vertäut. Obenauf nagelte man dicke Planken, so dass eine Art Deck entstand, das man dann mit einer hüfthohen Reling umgab. Zwei ersatzweise mitgeführte Bramstengen wurden längsschiffs aufgestellt und mit Segeln, Wanten und Stagen versehen. Mit seinen fünfundzwanzig Metern Länge und rund zwölf Metern Breite wirkte das Floß zunächst zwar groß, doch nachdem die Verpflegung verladen war, bot es mit Mühe und Not Platz für die hundertzweiundneunzig Sträflinge, die elf Soldaten und die achtundzwanzigköpfige Besatzung des Schiffes, alles in allem zweihunderteinunddreißig Menschen, darunter auch Bully Scaggs. Am Heck brachte man ein Behelfsruder an, das durch eine Pinne hinter dem Achtermast betätigt wurde.
Holzfässer mit Wasser, Zitronensaft, gepökeltem Rind- und Schweinefleisch sowie Käse und etliche Töpfe mit Reis und Erbsen, die zuvor in der Schiffskombüse gekocht worden waren, wurden unter einer an den Masten befestigten Persenning verstaut, die rund zwei Drittel des Floßes überspannte und Schutz vor der sengenden Sonne bieten sollte.
Als sie ablegten, war der Himmel klar und die See so ruhig wie ein Fischteich. Die Soldaten mitsamt ihren Säbeln und Musketen wurden zuerst ausgebootet. Danach kamen die Sträflinge, die frohgemut das sinkende Schiff verließen, das mittlerweile stark buglastig war. Die Schiffsleiter konnte nicht alle tragen, daher ließen sich viele an Seilen ab oder sprangen ins Wasser, wo sie von den Soldaten geborgen wurden. Die Schwerverletzten wurden angeseilt und hinuntergelassen. Zu aller Überraschung verlief die Evakuierung ohne Zwischenfälle. Binnen zwei Stunden befanden sich alle an dem Platz, den Scaggs ihnen zugewiesen hatte.
Danach kam die Besatzung. Kapitän Scaggs verließ als Letzter das sinkende Schiff. Er warf dem Ersten Offizier Ramsey eine Kiste zu, in der sich das Logbuch, ein Chronometer, ein Kompass und ein Sextant befanden. Zuvor hatte Scaggs noch die Position des Schiffes bestimmt, doch er erzählte niemandem, nicht einmal Ramsey, dass die Gladiator durch den Sturm fernab der üblichen Schifffahrtsrouten getrieben worden war. Sie befanden sich in einem gottverlassenen Gebiet mitten in der Tasmansee, dreihundert Seemeilen von der australischen Küste entfernt. Und was noch schlimmer war: Die Strömung trug sie immer weiter hinaus ins Nirgendwo, wo keinerlei Schiffe mehr verkehrten. Er zog seine Karten zu Rate und stellte fest, dass ihnen nur eine Hoffnung blieb. Sie mussten die Strömung und die widrigen Winde nutzen und gen Osten, auf Neuseeland, zuhalten.
Kurz nachdem alle an Bord des Floßes waren, stellten die Passagiere bestürzt fest, dass sich aus Platzmangel immer nur vierzig Personen auf einmal hinlegen konnten. Den Seeleuten wiederum war klar, dass sie in großer Gefahr schwebten. Das Deck des Floßes lag knapp zehn Zentimeter über dem Wasserspiegel. Bei rauer See würden das Floß und seine unglücklichen Insassen überflutet werden.
Scaggs hängte den Kompass vor der Ruderpinne an den Mast. »Lasst Segel setzen, Mr. Ramsey. Kurs ein Grad, fünfzehn Minuten Ost-Südost.«
»Aye, Käpt’n. Demnach geht’s also nicht nach Australien?«
»Wir können allenfalls hoffen, dass wir die Westküste von Neuseeland erreichen.«
»Wie weit ist das Eurer Meinung nach?«
»Sechshundert Seemeilen«, erwiderte Scaggs, als erwartete sie gleich hinter dem Horizont ein sonnenbeschienener Strand.
Stirnrunzelnd sah sich Ramsey auf dem übervölkerten Floß um. Sein Blick fiel auf eine Gruppe von Sträflingen, die leise miteinander tuschelten. »Ich glaube nicht, dass von uns gottesfürchtigen Männern auch nur einer gerettet wird«, sagte er schließlich mit ahnungsvollem Unterton. »Nicht bei diesem Gesindel, von dem wir umgeben sind.«
Fünf Tage lang blieb die See ruhig. Die Menschen auf dem Floß gewöhnten sich allmählich an die eiserne Disziplin und an die kargen Rationen, die ihnen zugeteilt wurden. Am meisten machte ihnen die erbarmungslos herabbrennende Sonne zu schaffen. Viele wollten sich zur Abkühlung am liebsten ins Wasser stürzen, doch schon umkreisten die ersten Haie das Floß. Die Seeleute kippten eimerweise Seewasser über die als Sonnensegel dienende Persenning, doch dadurch wurde die Luft darunter nur noch stickiger.
Allmählich schlug die Stimmung auf dem Floß um. Aus dem anfänglichen Trübsinn erwuchs Arglist. Die Männer, die zwei Monate lang in dem dunklen Laderaum der Gladiator eingeschlossen gewesen waren, begehrten nun, da das schützende Schiff verloren war und sie sich inmitten dieser Wasserwüste wiederfanden, auf. Scaggs bemerkte sehr wohl, dass die Sträflinge miteinander tuschelten und die Wachen mit wilden Blicken bedachten. Er befahl Leutnant Sheppard, dass seine Männer laden und sich allzeit bereit halten sollten.
Jess Dorsett musterte die große Frau mit dem goldblonden Haar, die allein neben dem Fockmast saß. Sie strahlte Ruhe und Gelassenheit aus, aber auch eine gewisse Härte, so als blickte sie über all das Leid hinweg und erwarte für sich gar nichts. Ihre Leidensgenossinnen schien sie kaum wahrzunehmen, ließ sich selten auf ein Gespräch ein, war eher still und zurückhaltend. Kurzum, sie war, wie Dorsett befand, eine Frau nach seinem Geschmack.
Er schob sich durch die dichtgedrängten Leiber, bis ihm ein Soldat Einhalt gebot und ihn mit seiner Muskete zurückwinkte. Dorsett war ein geduldiger Mensch; er wartete einfach, bis der Posten abgelöst wurde. Der neue Mann musterte die Frauen mit begehrlichen Blicken, worauf sie ihn binnen kürzester Zeit mit Hohn und Spott übergossen. Dorsett nutzte die Gelegenheit und schlich sich näher zu der unsichtbaren Markierung hin, die Männlein und Weiblein voneinander trennte. Die blonde Frau nahm ihn nicht wahr. Ihre blauen Augen waren weit in die Ferne gerichtet.
»Haltet Ihr Ausschau nach England?«, fragte er lächelnd.
Sie wandte sich um und musterte ihn, als müsse sie erst überlegen, ob er einer Antwort würdig sei. »Cornwall. Ein kleines Dorf.«
»Hat man Euch dort festgenommen?«
»Nein, das war in Falmouth.«
»Weil Ihr einen Anschlag auf Königin Victoria unternommen habt?«
Ihre Augen blitzten auf, und sie lachte. »Weil ich eine Zudecke geklaut habe.«
»Vermutlich habt Ihr gefroren.«
Sie wurde mit einem Mal ernst. »Sie war für meinen Vater. Er hatte die Lungenkrankheit und lag im Sterben.«
»Das tut mir leid.«
»Ihr seid der Wegelagerer.«
»Ich war es, bis mein Pferd sich das Bein brach und die Häscher der Königin mich einholten.«
»Und Ihr heißt Jess Dorsett.« Er freute sich, dass sie wusste, wer er war, und fragte sich, ob sie sich nach ihm erkundigt hatte. »Und Ihr seid …?«
»Betsy Fletcher«, versetzte sie unumwunden.
»Betsy«, sagte Dorsett mit großer Geste, »betrachtet mich fortan als Euren Beschützer.«
»Ich brauch’ keinen Wegelagerer«, versetzte sie. »Ich kann mich selber wehren.«
Er deutete auf das versammelte Lumpenpack, das sich auf dem Floß drängte. »Vielleicht könntet Ihr ein Paar starke Hände gebrauchen, bis wir wieder festen Boden unter den Füßen haben.«
»Wieso sollte ich mich einem Mann anvertrauen, der sich noch nie im Leben die Finger schmutzig gemacht hat?«
Er schaute ihr in die Augen. »Ich mag zwar einige Kutschen ausgeraubt haben, aber außer unserem guten Kapitän Scaggs bin ich wohl der Einzige hier, von dem Ihr sicher sein könnt, dass er es nicht auf die Frauen abgesehen hat.«
Betsy Fletcher wandte sich um und deutete auf ein paar düster dräuende Wolken, die von einem auffrischenden Wind auf sie zugetrieben wurden. »Verratet mir mal, Mr. Dorsett, wie Ihr mich davor beschützen wollt.«
»Jetzt können wir uns auf was gefasst machen, Käpt’n«, sagte Ramsey. »Wir sollten besser die Segel einholen.«
Scaggs nickte grimmig. »Nehmt Ersatztauwerk aus dem Fass, lasst es in kurze Leinen schneiden und verteilt sie. Sagt den armen Teufeln, sie sollen sich am Floß festbinden, damit sie der Sturm nicht fortreißt.«
Immer höher wogte die See, und das Floß schlingerte und rollte, als die Wellen über die dicht zusammengedrängten Leiber hinwegspülten. Die Passagiere klammerten sich um ihr Leben an die Tampen, während die Schlaueren sich gleich an den Planken festgezurrt hatten. Der Sturm war nicht halb so stark wie der Taifun, dem die Gladiator zum Opfer gefallen war, aber schon nach kurzer Zeit wusste niemand mehr, wo das Floß anfing und die See aufhörte. Hoch türmten sich die Wogen auf, von deren Schaumkronen weiße Gischt wehte. Manch einer der Schiffbrüchigen versuchte aufzustehen, um den Kopf über Wasser zu halten, doch das Floß stampfte und rollte so wild, dass sie fast augenblicklich wieder aufs Deck geschleudert wurden.
Dorsett band Betsy mit ihrer beider Leinen am Mast fest. Dann schlang er die Arme um die Wanten und schirmte sie mit seinem Körper vor der Wucht der Wogen ab. Zu allem Überfluss fegte der Wind Regenschauer heran, die wie ein Steinhagel auf das Floß einprasselten, während die aufgewühlte See von allen Seiten hereinbrach.
Die einzigen Laute, die das entfesselte Heulen des Sturmes übertönten, waren Scaggs’ heftige Flüche und lautstarke Befehle, als er seiner Besatzung zuschrie, sie solle die aufgestapelten Vorräte mit zusätzlichen Leinen sichern. Die Seeleute mühten sich, die Kisten und Fässer festzuzurren, doch im selben Augenblick türmte sich eine gewaltige Sturzsee auf, brach über das Floß herein und drückte es tief unter Wasser. Gut eine Minute lang war jeder auf diesem erbärmlichen Floß davon überzeugt, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte.
Scaggs hielt die Luft an, schloss die Augen und fluchte mit geschlossenem Mund weiter. Die Wassermassen schlugen mit solcher Wucht auf ihn ein, dass er das Gefühl hatte, er werde zerquetscht. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, so schien es, ehe das Floß wieder schwerfällig aus der kochenden Gischt auftauchte, um erneut vom Wind erfasst zu werden. Die Schiffbrüchigen, soweit sie nicht in die See gerissen worden waren, atmeten tief durch und spien das Salzwasser aus.
Der Kapitän sah sich auf dem Floß um und war entsetzt. Sämtliche Vorräte waren weggespült und auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Und was noch schrecklicher war: Die schweren Kisten und Fässer waren wie eine Lawine durch die dichtgedrängten Sträflinge gepflügt und hatten die armen Teufel, die ihnen in den Weg geraten waren, verstümmelt und über Bord gerissen. Ihre jämmerlichen Hilfeschreie verhallten ungehört, denn die tobende See verhinderte jeglichen Rettungsversuch. Die Überlebenden konnten lediglich um ihre unglücklichen Gefährten trauern.
Die ganze Nacht hindurch waren das Floß und seine ohnmächtigen Passagiere dem Sturm und den Wellen ausgesetzt, die fortwährend über sie hinwegrollten. Am Morgen darauf beruhigte sich die See, und der Wind legte sich, bis nur mehr eine leichte Brise von Süden blies. Doch nach wie vor achteten aller Augen darauf, ob sich nicht irgendwo erneut eine trügerische Sturzsee auftürmte, um unverhofft über die halbertrunkenen Überlebenden hereinzubrechen.
Als Scaggs endlich aufrecht stehen und das ganze Ausmaß des Schadens in Augenschein nehmen konnte, stellte er erschrocken fest, dass nicht ein einziges Fass mit Lebensmitteln oder Wasser von der tobenden See verschont geblieben war. Eine weitere Katastrophe. Von den Segeln waren nur mehr ein paar Fetzen Leinwand übriggeblieben. Er gab Ramsey und Sheppard den Befehl festzustellen, wie viele Vermisste sie zu beklagen hatten. Sie kamen auf sechzehn.
Bekümmert schüttelte Sheppard den Kopf, als er die Überlebenden musterte. »Arme Bande. Die sehen aus wie ersäufte Ratten.«
»Lasst jede Leinwand, die wir noch haben, auslegen und fangt damit so viel Wasser wie möglich ein, ehe der Regen aufhört«, befahl Scaggs Ramsey.
»Wir haben keine Behältnisse mehr, in dem wir’s aufbewahren können«, sagte Ramsey mit ernster Miene. »Und womit wollen wir segeln?«
»Sobald alle genug getrunken haben, flicken wir die Segel, so gut es geht, und steuern weiter Kurs Ost-Südost.«
Als sich allmählich wieder Leben auf dem Floß regte, befreite sich Dorsett aus den Wanten und packte Betsy an der Schulter. »Seid Ihr verletzt?«, fragte er.
Sie schaute ihn durch die langen Haarsträhnen an, die an ihrem Gesicht klebten. »Zum königlichen Ball kann ich nicht gehen, solange ich ausseh’ wie ’ne ersäufte Katze. So durchgeweicht ich auch bin, ich bin froh, dass ich noch lebe.«
»Es war eine schlimme Nacht«, versetzte er grimmig. »Und ich fürchte, es wird nicht die letzte gewesen sein.«
Noch während Dorsett ihr beistand, meldete sich die Sonne mit aller Macht zurück. Ohne die Persenning, die von Wind und Wogen weggerissen worden war, gab es keinerlei Schutz vor der glühenden Hitze. Bald darauf stellten sich quälender Hunger und Durst ein. Jeder Krümel Nahrung, den man zwischen den Planken fand, war binnen kürzester Zeit verzehrt, und auch das bisschen Regenwasser, das man mit den zerfetzten Segeln aufgefangen hatte, war rasch aufgebraucht.
Als man die zerfledderten Leinwandreste wieder setzte, musste man feststellen, dass sich das Floß mit diesen Notsegeln kaum fortbewegte. Wenn der Wind von achtern kam, ließ sich ihr schwimmender Untersatz steuern. Doch jeder Versuch aufzukreuzen führte lediglich dazu, dass sich das Floß unkontrolliert drehte und quer zum Wind liegenblieb. Dieses steuerlose Dahintreiben trug noch mehr zu Scaggs’ Verbitterung bei. Wenigstens hatte er seine Navigationsinstrumente retten können, die er mitten in den wildesten Sturzseen dicht an die Brust gedrückt hatte, so dass er jetzt die Position des Floßes bestimmen konnte.
»Schon näher am Land, Käpt’n?«, fragte Ramsey.
»Leider nicht«, versetzte Scaggs mit ernstem Ton. »Der Sturm hat uns nach Nordwest abgetrieben. Wir sind weiter von Neuseeland entfernt als noch vor zwei Tagen.«
»Ohne Süßwasser werden wir mitten im Hochsommer auf der südlichen Erdhalbkugel nicht lange durchhalten.«
Scaggs deutete auf zwei Dreiecksflossen, die keine fünfzehn Meter vom Floß entfernt das Wasser durchschnitten. »Wenn wir nicht binnen vier Tagen ein Boot sichten, Mr. Ramsey, dann, so fürchte ich, wird es ein Festmahl für die Haie geben.«
Die Haie mussten nicht lange warten. Am zweiten Tag nach dem Sturm wurden die Leichen derer, die ihren aufgrund der tobenden See erlittenen Verletzungen erlagen, über Bord geworfen und verschwanden binnen kürzester Zeit im aufgewühlten, blutig schäumenden Wasser. Einer der Raubfische schien besonders unersättlich zu sein. Scaggs stellte fest, dass es sich um einen großen Weißen Hai handelte, die ob ihrer Fressgier meistgefürchtete Bestie des Meeres. Er schätzte, dass er sechs bis siebeneinhalb Meter lang war.
Doch der eigentliche Schrecken stand ihnen noch bevor. Dorsett war der Erste, der etwas von den Gräueltaten ahnte, die sich die armen Hunde auf dem Floß gegenseitig zufügen sollten.
»Die haben irgendetwas vor«, sagte er zu Betsy. »Gefällt mir ganz und gar nicht, wie sie die Frauen anstarren.«
»Von wem redet Ihr?«, presste sie zwischen ausgetrockneten Lippen hervor. Sie hatte ihr Gesicht mit einem zerfledderten Schal geschützt, doch ihre bloßen Arme und Beine waren, soweit sie der Rock nicht bedeckte, bereits von der Sonne verbrannt und voller Blasen.
»Von der gemeinen Schmugglerbande am Heck, die von dem mörderischen Waliser angeführt wird, diesem Jake Huggins. Der schneidet Euch die Kehle durch, eh Ihr Euch verseht. Ich wette, die planen eine Meuterei.«
Mit leerem Blick betrachtete Betsy die auf dem Floß hingestreckten Leiber. »Wieso sollten die so was in ihre Hand bringen wollen?«
»Ich gedenke es herauszufinden«, sagte Dorsett und bahnte sich einen Weg zwischen den Sträflingen hindurch, die auf den feuchten Planken lagen und vor lauter Durst nicht mehr wahrnahmen, was um sie herum vorging. Er bewegte sich unbeholfen, war ärgerlich darüber, wie steif seine Gliedmaßen durch Bewegungsmangel und das stundenlange Festklammern an den Tauen geworden waren. Kaum jemand wagte es, sich den Verschwörern zu nähern, doch er drängte sich kurzerhand durch Huggins’ Gefolgsleute. Sie tuschelten leise miteinander, ohne ihn zu beachten, und warfen Sheppard und seinen Soldaten wilde Blicke zu.
»Was schnüffelst du denn hier rum, Dorsett?«, knurrte Huggins.
Der Schmuggler war klein und untersetzt, hatte einen mächtigen Brustkasten, langes, verfilztes sandfarbenes Haar, eine riesige, plattgedrückte Nase und einen breiten Mund voller Zahnlücken und schwarz verfärbter Stummel. Eine abscheuliche Fratze, zumal er so aussah, als hätte er das Gesicht ständig zu einem lüsternen Grinsen verzogen.
»Ich dachte, ihr könntet einen guten Mann gebrauchen, der euch dabei hilft, das Floß in eure Gewalt zu bringen.«
»Du willst wohl an der Beute teilhaben und ein bisschen länger leben, was?«
»Ich sehe keine Beute, mit der sich unser Elend verlängern ließe«, erwiderte Dorsett ungerührt.
Huggins lachte und entblößte seine fauligen Zähne. »Die Weiber, du Narr.«
»Wir sterben alle vor Durst in dieser grässlichen Hitze, und du willst der Fleischeslust frönen?«
»Für einen berühmten Wegelagerer bist du ganz schön blöd«, versetzte Huggins gereizt. »Wir wollen die Süßen nicht aufs Kreuz legen, wir haben uns gedacht, sie auszuweiden und ihr zartes Fleisch zu essen. Die anderen, Bully Scaggs, seine Seeleute und die Soldaten, können wir uns aufheben, bis wir richtig Hunger haben.«
Dorsett dachte zunächst, Huggins mache einen ekelhaften Scherz, doch der lauernde Blick in seinen boshaft glitzernden Augen und das grausige Grinsen verrieten nur zu deutlich, dass es ihm todernst war. Die Vorstellung war so grässlich, dass Dorsett von Abscheu und Entsetzen erfasst wurde. Doch da er ein vollendeter Schauspieler war, zuckte er nur gleichgültig mit den Schultern.
»Wozu die Eile? Morgen um diese Zeit könnten wir schon gerettet werden.«
»In nächster Zeit wird weder ein Schiff noch eine Insel am Horizont auftauchen.« Huggins’ hässliche Fratze verzog sich zu einem widerlichen Grinsen. »Bist du dabei, Wegelagerer?«
»Ich habe nichts zu verlieren, wenn ich mit dir gemeinsame Sache mache, Jake«, sagte Dorsett mit einem verkniffenen Lächeln. »Aber die große blonde Frau gehört mir. Mit den anderen kannst du machen, was du willst.«
»Hab’ schon gesehen, dass du einen Narren an ihr gefressen hast. Aber meine Jungs und ich teilen alles ehrlich untereinander auf. Ich lass dich zuerst ran. Danach ist sie für alle da.«
»Von mir aus«, sagte Dorsett trocken. »Wann wollen wir losschlagen?«
»Eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit. Auf mein Zeichen hin greifen wir die Soldaten an und schnappen uns ihre Musketen. Sobald wir bewaffnet sind, machen uns Scaggs und seine Männer keinen Ärger mehr.«
»Nachdem ich bereits einen Platz am vorderen Mast habe, kann ich mich um die Soldaten kümmern, die die Frauen bewachen.«
»Du willst wohl zuerst ans Frischfleisch ran, was?«
»Da werde ich doch schon vom Zuhören hungrig«, sagte Dorsett spöttisch.
Dorsett kehrte zu Betsy zurück, erzählte ihr aber nichts von dem grässlichen Vorhaben der Sträflinge. Er wusste, dass Huggins und seine Männer ihn genau beobachteten und jeden Versuch, die Besatzung der Gladiator und die Soldaten zu warnen, unterbinden würden. Die einzige Gelegenheit bot sich ihm nach Einbruch der Dunkelheit, und dann musste er Huggins zuvorkommen, ehe dieser das Zeichen zum großen Gemetzel geben konnte. Er legte sich so nahe neben Betsy hin, wie es der Posten zuließ, und tat so, als döste er in der Nachmittagshitze vor sich hin.
Sobald sich die Dämmerung über die See senkte und die ersten Sterne am Himmel auftauchten, verließ Dorsett Betsy, robbte bis auf wenige Schritte an Ramsey heran und sprach den Ersten Offizier mit gedämpfter Stimme an.
»Ramsey, rührt Euch nicht. Lasst Euch nicht anmerken, dass Ihr jemandem zuhört.«
»Was ist los?«, versetzte Ramsey gepresst. »Was willst du?«
»Hör mir zu«, sagte Dorsett leise. »Innerhalb der nächsten Stunde wollen die Sträflinge unter Jake Huggins die Soldaten angreifen. Wenn sie alle getötet haben, werden sie die Waffen gegen Euch und Eure Männer einsetzen.«
»Warum sollte ich den Worten eines gemeinen Gauners Glauben schenken?«
»Ihr werdet alle sterben, wenn Ihr es nicht tut.«
»Ich sag’ dem Käpt’n Bescheid«, entgegnete Ramsey missmutig.
»Dann erinnert ihn daran, dass es Jess Dorsett war, der Euch gewarnt hat.«
Damit kroch Dorsett zu Betsy zurück. Er zog seinen linken Stiefel aus, schraubte Sohle und Absatz ab und holte ein kleines Messer mit einer zehn Zentimeter langen Klinge darunter hervor. Dann setzte er sich hin und wartete.
Am Horizont ging eine schmale Mondsichel auf, in deren fahlem Licht die erbarmungswürdigen Geschöpfe an Bord des Floßes wie eine grausige Geistererscheinung wirkten. Plötzlich erhoben sich einige Gestalten und drangen zu dem verbotenen Bereich in der Mitte vor.
»Schlachtet die Schweine!«, schrie Huggins, worauf er losstürzte und die erste Angriffswelle auf die Soldaten anführte. Der ganze Hass der Sträflinge auf die Obrigkeit entlud sich nun, und halb von Sinnen vor Durst stürmten sie von allen Seiten zur Mitte des Floßes.
Eine Musketensalve riss Lücken in ihre Reihen, und der unerwartete Widerstand lähmte sie vorübergehend.
Ramsey hatte Dorsetts Warnung an Scaggs und Sheppard weitergegeben. Die Infanteristen warteten mit geladenen Musketen und aufgepflanzten Bajonetten neben Scaggs und seinen Männern, die sich mit den Säbeln der Soldaten, den Hämmern und Beilen des Zimmermanns und jedem halbwegs geeigneten Gegenstand bewaffnet hatten, dessen sie habhaft geworden waren.
»Lasst ihnen keine Zeit zum Laden, Jungs!«, brüllte Huggins. »Auf sie!«
Wieder stürmte die wahnwitzige Meute vor, und diesmal stieß sie auf spitze Bajonette und messerscharfe Säbel. Doch nichts konnte ihren Zorn zügeln. Die Sträflinge stürzten sich auf den kalten Stahl, und manche packten die blanken Klingen gar mit bloßer Hand. Verzweifelte Männer hieben und stachen im fahlen Mondlicht inmitten der schwarzen See aufeinander ein.
Die Seeleute und Soldaten setzten sich verbissen zur Wehr. Auf dem ganzen Floß wurde auf Leben und Tod miteinander gekämpft. Immer mehr Männer gingen zu Boden, und immer öfter stolperten die Kämpfer über die Toten. Blut tränkte die Planken, so dass man sich kaum noch auf den Beinen halten, geschweige denn wieder aufstehen konnte, wenn man einmal gefallen war. Vergessen waren der Hunger und der Durst; blindlings drosch in der Dunkelheit jeder auf jeden ein. Es war ein lautloser Kampf, von den Schreien der Verwundeten und dem Stöhnen der Sterbenden einmal abgesehen.
Die Haie zogen immer engere Kreise um das Schiff, als röchen sie die Beute. Die hohe Dreiecksflosse des Scharfrichters, wie die Seeleute den großen Weißen nannten, schnitt keine anderthalb Meter neben dem Floß lautlos durch das Wasser. Keiner der Unglücklichen, die über Bord fielen, gelangte wieder auf das Floß.
Huggins, der von fünf Säbelhieben getroffen war, torkelte mit einer langen, gesplitterten Planke in der erhobenen Hand auf Dorsett zu. »Du verfluchter Verräter!«, zischte er.
Dorsett beugte sich vornüber und hielt ihm das Messer entgegen. »Komm her und stirb«, sagte er ruhig.
Toll vor Wut schrie Huggins zurück: »Du bist es, Wegelagerer, der den Haien zum Fraß fällt!« Dann senkte er den Kopf, schwang die Planke wie eine Sense und griff an.
Als Huggins sich auf ihn stürzte, ging Dorsett auf alle viere, so dass der wutschnaubende Waliser von seinem eigenen Schwung mitgerissen wurde, über ihn stolperte und der Länge nach auf dem Deck landete. Ehe er sich wieder aufrappeln konnte, war Dorsett auf seinen breiten Rücken gesprungen, hatte die Klinge umgedreht und Huggins die Kehle aufgeschlitzt.
»Du wirst heute Abend kein Frauenfleisch genießen«, sagte Dorsett grimmig, als Huggins’ Leib im Todeskampf erschlaffte.
Dorsett tötete in jener verhängnisvollen Nacht drei weitere Männer. Einmal griff ihn ein kleiner Trupp von Huggins’ Gefolgsleuten an, der es auf die Frauen abgesehen hatte. Auf engstem Raum und Mann gegen Mann rangen und kämpften sie miteinander, um sich gegenseitig das Lebenslicht auszublasen.
Dann stieß Betsy hinzu und kämpfte Seite an Seite mit ihm, schrie wie eine Furie und krallte wie eine Tigerin nach seinen Widersachern. Dorsett hatte bislang nur eine Wunde erlitten. Sie stammte von einem Mann, der sich mit einem höllischen Schrei auf ihn gestürzt und ihn in die Schulter gebissen hatte.
Das blutige Gemetzel währte noch zwei Stunden. Scaggs und seine Seeleute, aber auch Sheppard und die Soldaten kämpften mit dem Mut der Verzweiflung, schlugen jeden Angriff zurück und setzten ihrerseits sofort zum Gegenstoß an. Ein ums andere Mal wurde der Ansturm der wahnwitzigen Meute von den immer dünner werdenden Reihen der Verteidiger abgewehrt, die verbissen ihre Stellung in der Mitte des Floßes hielten. Sheppard ging zu Boden und wurde von zwei Sträflingen erdrosselt. Ramsey steckte einen gewaltigen Hieb ein, und Scaggs erlitt zwei Rippenbrüche. Zu allem Unglück war es den Sträflingen gelungen, zwei der Frauen zu töten und im Laufe des Handgemenges über Bord zu werfen. Schließlich aber hatten die Meuterer so schreckliche Verluste erlitten, dass sie sich einer nach dem anderen an den äußersten Rand des Floßes zurückzogen.
Als der Tag dämmerte, lagen überall auf dem Floß die in grässlichem Todeskampf verkrampften Leiber der Toten herum. Danach begann das eigentliche Grauen. Unter den ungläubigen Blicken der überlebenden Seeleute und Soldaten fielen die Sträflinge über die Leichen ihrer Gefährten her und zerfetzten und verzehrten sie. Es war ein albtraumhafter Anblick.
Ramsey zählte die gelichteten Reihen kurz ab und stellte erschrocken fest, dass nur mehr achtundsiebzig der ursprünglich zweihunderteinunddreißig, nach dem Sturm zweihundertvier, Menschen am Leben waren. Bei dem sinnlosen Gemetzel waren hundertneun Sträflinge umgekommen. Fünf von Sheppards Soldaten wurden vermisst und waren vermutlich über Bord geworfen worden; hinzu kamen zwölf tote oder vermisste Besatzungsmitglieder der Gladiator. Ramsey konnte kaum fassen, dass so wenige dieser gewaltigen Übermacht getrotzt hatten, doch die Sträflinge waren weder kampferprobt wie Sheppards Infanteristen noch abgehärtet vom rauen Leben auf See wie Scaggs’ Männer.
Das Floß lag nun, da es hundertsechsundzwanzig Passagiere weniger tragen musste, merklich höher im Wasser. Denn alle Leichenteile, die die vor Hunger wahnsinnige Meute nicht verzehren mochte, wurden den lauernden Haien zugeworfen. Mühsam unterdrückte Scaggs seinen Abscheu und blickte, da er sie ohnehin nicht aufhalten konnte, einfach in die andere Richtung, als auch die Besatzungsmitglieder, vor Hungerkrämpfen schier von Sinnen, über drei Leiber herfielen und das Fleisch von den Knochen schälten.
Dorsett, Betsy und der Großteil der anderen Frauen brachten es nicht über sich, vom Fleisch der Toten zu zehren, obwohl auch sie von den ständigen Hungerqualen geschwächt waren. Am Nachmittag ging ein kurzer Regenschauer nieder und stillte ihren Durst, doch der nagende Hunger ließ nicht nach.
Ramsey kam zu ihnen und wandte sich an Dorsett. »Der Käpt’n möchte dich sprechen.«
Der Wegelagerer begleitete den Ersten Offizier zu Scaggs, der an den hinteren Masten gebettet war und sich von Dr. Gorman mit einem zerfetzten Hemd den Brustkorb verbinden ließ. Der Schiffsarzt ließ jede Leiche ausziehen, ehe sie über Bord gewälzt wurde, und benutzte die Kleidung der Toten als Verbandsmaterial. Mit angespannter, schmerzverzerrter Miene blickte Scaggs zu Dorsett auf.
»Ich wollte Euch für die rechtzeitige Warnung danken, Mr. Dorsett. Ich wage zu behaupten, dass die wenigen ehrlichen Menschen, die noch auf diesem Höllenfloß verblieben sind, ihr Leben einzig Euch verdanken.«
»Ich habe zwar ein lasterhaftes Leben geführt, Käpt’n, aber ich lasse mich nicht mit stinkendem Pöbel ein.«
»Wenn wir Neusüdwales erreichen, werde ich mich beim Gouverneur nach besten Kräften dafür einsetzen, dass man Euer Urteil mildert.«
»Mein Dank ist Euch gewiss, Käpt’n. Ich stehe Euch zu Diensten.«
Scaggs betrachtete das kleine Messer, das in Dorsetts Schärpe steckte. »Ist das Eure einzige Waffe?«
»Ja, Sir. Letzte Nacht hat sie sich wunderbar bewährt.«
»Gebt ihm einen Säbel«, sagte Scaggs zu Ramsey. »Wir sind noch nicht fertig mit dem Pack.«
»Ganz meine Meinung«, versetzte Dorsett. »Ohne Jake Huggins werden sie nicht mehr so angriffslustig sein, aber sie sind vor Durst zu sehr von Sinnen, um aufzugeben. Nach Einbruch der Dunkelheit werden sie es erneut versuchen.«
Seine Worte sollten sich als prophetisch erweisen. Außer sich vor Nahrungs- und Wassermangel, griffen die Sträflinge zwei Stunden nach Sonnenuntergang ein weiteres Mal an. Wieder stürzten sich die ausgezehrten Gestalten unter wildem Hauen und Stechen aufeinander, und wieder sanken die Leiber der in erbittertem Nahkampf niedergestreckten Sträflinge, Soldaten und Seeleute übereinander. Doch diesmal war der Ansturm weit weniger heftig als in der Nacht zuvor.
Die Sträflinge, die mittlerweile einen weiteren Tag ohne Nahrung und Wasser auf dem Floß verbracht hatten, waren nicht mehr so entschlossen, und plötzlich erlahmte ihr Widerstand und brach gänzlich zusammen, als die Verteidiger zum Gegenangriff ansetzten. Die entkräfteten Sträflinge hielten inne und torkelten dann zurück. Scaggs und seine getreuen Seeleute stießen daraufhin auf ihre Front vor, während Dorsett ihnen mit den wenigen Überlebenden aus Sheppards Abteilung in die Flanke fiel. Zwanzig Minuten später war alles vorbei.
Fünfzig Menschen starben in dieser Nacht. Als der Tag dämmerte, waren nur noch fünfundzwanzig Männer und drei Frauen am Leben: sechzehn Sträflinge, darunter Dorsett, Betsy und zwei weitere Frauen, zwei Soldaten und zehn Besatzungsmitglieder der Gladiator, unter anderem Kapitän Scaggs. Ramsey, der Erste Offizier, war unter den Toten. Der Schiffsarzt Gorman war tödlich verwundet und starb im Laufe des Nachmittags. Dorsett hatte eine klaffende Fleischwunde am rechten Oberschenkel erlitten, und Scaggs hatte sich neben den Rippen auch noch das Schlüsselbein gebrochen. Betsy hingegen war wie durch ein Wunder mit ein paar Prellungen und Abschürfungen davongekommen.
Die Meuterer allerdings waren geschlagen. Kein einziger war unverletzt geblieben, und sie hatten grässliche Wunden erlitten. Die Schlacht um das Floß der Gladiator war geschlagen.
Am zehnten Tag ihrer grässlichen Irrfahrt waren sechs weitere Leidensgenossen tot. Zwei junge Burschen, ein Schiffsjunge, höchstens zwölf Jahre alt, und ein sechzehnjähriger Soldat, hatten sich über Bord gestürzt und den Freitod im Meer gewählt. Die vier anderen waren Sträflinge, die ihren Verletzungen erlagen. Teilnahmslos sahen die Überlebenden zu, wie ihre Reihen schrumpften. Es war wie ein Fiebertraum, der mit jedem weiteren sengenden Sonnentag wiederkehrte.
Am zwölften Tag waren sie nur noch achtzehn. Sie waren in Lumpen gehüllt, mit schwärenden Wunden übersät, die Gesichter sonnenverbrannt, die Haut von den ewig schwankenden Planken zerschürft und vom Salzwasser angegriffen. Mit leerem Blick stierten sie über die Wasserwüste, und manch einer hatte bereits Wahnvorstellungen. Zwei Seeleute schworen, sie hätten die Gladiator gesehen, sprangen vom Floß und schwammen auf das vermeintliche Schiff zu, bis sie untergingen oder von dem stets gegenwärtigen Scharfrichter und seinen gefräßigen Gefährten angefallen wurden.
Die Überlebenden gaben sich Wachträumen hin. Sie bildeten sich ein, sie säßen an einer reich gedeckten Tafel, bummelten durch die belebten Straßen einer Großstadt oder wähnten sich zu Hause, wo sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gewesen waren. Scaggs träumte, er säße mit seiner Frau und den beiden Kindern am offenen Kamin in seinem Cottage und blickte auf den Hafen von Aberdeen.
Plötzlich starrte er Dorsett mit seltsamem Blick an und sagte: »Wir haben nichts zu befürchten. Ich habe der Admiralität Nachricht gegeben. Man wird ein Schiff zu unserer Rettung losschicken.«
Betsy, die nicht minder benommen war als der Kapitän, fragte ihn: »Welche Taube habt Ihr denn genommen? Die schwarze oder die graue?«
Dorsett hingegen verzog grinsend die verdorrten und aufgeplatzten Lippen. Er war wie durch ein Wunder bei Verstand geblieben und hatte den wenigen Seeleuten, die sich noch rühren konnten, beim Ausbessern des angeschlagenen Floßes geholfen. Außerdem hatte er ein paar Fetzen Leinwand zusammengerafft und ein kleines Sonnensegel über Scaggs aufgebaut. Betsy kümmerte sich unterdessen fürsorglich um die Wunden des Kapitäns. In diesen endlosen Stunden schlossen der Wegelagerer, die Diebin und der Schiffskapitän Freundschaft miteinander.
Da seine Navigationsinstrumente im Eifer des Gefechts über Bord gegangen waren, konnte Scaggs ihre Position nicht mehr bestimmen. Er befahl seinen Männern, mit Zwirn und zu Haken gebogenen Nägeln auf Fischfang zu gehen. Menschenfleisch diente als Köder. Die kleineren Fische bissen nicht an, und auch die Haie ließen sich nicht verlocken.
Dorsett schlang ein Tau um den Griff eines Säbels und stieß ihn in den Rücken eines Hais, der dicht am Floß vorbeischwamm. Da er wusste, dass er dem Schrecken der Meere kräftemäßig nicht mehr gewachsen war, schlang er das andere Ende des Taus um den Mast und wartete den Todeskampf des Hais ab, um ihn danach an Bord zu ziehen. Er holte lediglich die blanke, abgeknickte Säbelklinge ein. Zwei Seeleute befestigten die Bajonette der Soldaten an langen Stangen und stachen mit den so entstandenen Speeren auf die Haie ein, doch die zogen ungerührt ihre Kreise.
Sie hatten den Fischfang bereits aufgegeben, als spätnachmittags ein großer Schwarm Meeräschen unter dem Floß hindurchschwamm. Die zwischen einem halben und knapp einem Meter langen Fische ließen sich viel leichter harpunieren und an Bord werfen als die Haie. Noch ehe der Schwarm vorübergezogen war, zappelten sieben stromlinienförmige Leiber mit gegabelter Schwanzflosse auf den mit Meerwasser vollgesogenen Planken.
»Gott hat uns nicht verlassen«, murmelte Scaggs, während er die silbernen Fischleiber musterte. »Meeräschen sind für gewöhnlich im flachen Wasser heimisch. Ich habe sie noch nie auf hoher See gesehen.«
»Es ist, als hätte er sie direkt zu uns geschickt«, flüsterte Betsy mit großen Augen, die sich der ersten Fleischmahlzeit seit zwei Wochen gegenübersah.
Sie waren so hungrig und hatten so wenige Fische, dass sie das Fleisch einer Frau dazugaben, die knapp eine Stunde zuvor gestorben war. Es war das erste Mal, dass Scaggs, Dorsett und Betsy Menschenfleisch anrührten. Doch diesmal empfanden sie nichts Unrechtes dabei, einen Artgenossen zu verzehren, zumal sie zwischendurch Fisch aßen. Und der überdeckte zumindest teilweise den abstoßenden Geschmack menschlichen Fleisches.
Kurze Zeit darauf ging ein Regenschauer nieder, der ihnen rund sechs Liter Süßwasser bescherte.
Dadurch kamen sie zwar vorübergehend wieder zu Kräften, doch nach wie vor machten sie sich wenig Hoffnung. Die Wunden und Abschürfungen, die sich im Salzwasser entzündet hatten, bereiteten ihnen endlose Pein. Hinzu kam die Sonne, die gnadenlos auf sie herabbrannte. Die Luft war stickig, die Hitze kaum zu ertragen. Erleichterung brachten nur die Nächte, wenn die Temperatur sank. Doch einige Insassen des Floßes konnten die Qualen nicht einen Tag länger ertragen. Weitere fünf Männer, vier Sträflinge und der letzte überlebende Soldat, gingen heimlich über Bord und starben eines schnellen Todes.
Am fünfzehnten Tag waren noch Scaggs, Dorsett, Betsy Fletcher, drei Seeleute und vier Sträflinge übrig, darunter eine Frau. Jeglicher Lebensmut war längst erloschen. Sie dämmerten nur noch vor sich hin, hatten sich bereits mit dem Tod abgefunden. Die Meeräschen waren längst verzehrt, und obwohl sie sich vom Fleisch der Toten ernährten, war allen bewusst, dass sie, ohne Wasser und schutzlos der glühenden Sonne ausgesetzt, die nächsten achtundvierzig Stunden nicht überstehen würden.
Dann geschah etwas, was sie von den unsäglichen Schrecken der letzten zwei Wochen ablenkte. Plötzlich tauchte ein großer, grünbrauner Vogel am Himmel auf, umkreiste dreimal das Floß und ließ sich auf der Rahnock des Vormastes nieder. Die gelben Augen mit den schwarzen Pupillen betrachteten die jämmerlichen Gestalten auf dem Floß, die zerfetzte Kleidung, die vom Kampf und der sengenden Sonne zernarbten Gesichter. Die Überlebenden wiederum wollten den Vogel sofort fangen und verzehren.
»Was für ein komischer Vogel ist das denn?«, fragte Betsy, deren Zunge so geschwollen war, dass sie nur flüstern konnte.
»Ein Kea«, murmelte Scaggs. »Einer meiner ehemaligen Offiziere hat mal einen gehabt.«
»Fliegen die wie Möwen übers Meer?«, fragte Dorsett.
»Nein. Es ist eine Papageienart, die nur auf Neuseeland und den umliegenden Inseln vorkommt. Ich habe noch nie gehört, dass sie übers Meer fliegen, es sei denn …« Scaggs stockte. »Es sei denn, es handelt sich um eine weitere Botschaft des Allmächtigen.« Mühsam richtete er sich auf und ließ den Blick zum Horizont schweifen. »Land!«, schrie er plötzlich. »Land in Sicht. Westlich von uns.«
Vor Mattheit und Erschöpfung hatten sie bislang nicht bemerkt, dass ihr Floß von der Dünung auf zwei grüne Bergkuppen zugetrieben wurde, die nicht mehr als zehn Meilen entfernt aus dem Meer aufragten. Alle wandten die Blicke gen Westen und sahen eine große Insel mit zwei niedrigen Erhebungen, eine an jedem Ende, und dazwischen grünes Waldland. Eine Zeitlang sprach niemand. Jeder war gespannt vor Erwartung und zugleich gebannt vor Angst, dass die Strömung sie an dem rettenden Eiland vorbeitragen könnte. So entkräftet das Häuflein Überlebender auch war, jetzt mühten sich fast alle auf und beteten auf Knien um Erlösung an diesem lockenden Gestade.
Eine weitere Stunde verrann, bis Scaggs feststellte, dass die Insel tatsächlich größer wurde. »Die Strömung treibt uns darauf zu«, tat er freudig kund. »Es ist ein Wunder, ein verdammtes Wunder. Meines Wissens ist in diesen Gewässern nirgendwo eine Insel verzeichnet.«
»Vermutlich unbewohnt«, meine Dorsett.
»Wunderschön«, murmelte Betsy und starrte zu dem üppig grünen Waldland zwischen den beiden Bergkuppen. »Ich hoffe, dort gibt es kühles, frisches Wasser.«
Die unerwartete Aussicht auf ein Weiterleben verlieh ihnen neue Kraft und frischen Tatendrang. Niemand dachte mehr daran, den Papagei einzufangen und zu verzehren – der gefiederte Bote wurde jetzt als gutes Omen betrachtet. Scaggs und die wenigen verbliebenen Seeleute setzten ein Segel, das sie aus den zerfetzten Überresten des Sonnenschutzes zusammenflickten, während Dorsett und die übrigen Sträflinge Planken losrissen und fieberhaft damit paddelten. Dann schwang sich der Papagei wieder in die Lüfte und flog auf die Insel zu, als wollte er sie führen.
Immer höher ragte das Eiland auf, das sich breit über den westlichen Horizont erstreckte und sie wie magisch anzog. Sie ruderten wie die Wahnsinnigen, fest entschlossen, ihrem Leid ein Ende zu bereiten. Leichter Rückenwind kam auf, der sie rascher auf das rettende Gestade zutrieb und ihre fieberhafte Hoffnung weiter schürte. Niemand dachte mehr daran, sich widerstandslos dem Tod zu ergeben. Nur noch drei Meilen voraus lockte die Erlösung von all ihrer Qual.
Mit letzter Kraft stieg einer der Seeleute in die Wanten und kletterte auf die Rahnock des Mastes. Er schirmte die Augen vor der Sonne ab und spähte über die See.
»Wie ist die Küste beschaffen?«, wollte Scaggs wissen.
»Sieht so aus, als ob wir auf ein Korallenriff zuhalten, das eine Lagune umgibt.«
Scaggs wandte sich an Dorsett und Fletcher. »Wenn wir keine Durchfahrt finden, werden uns die Brecher auf das Riff schleudern.«
Eine halbe Stunde später rief der Seemann: »Zweihundert Yards nach Steuerbord seh’ ich ruhiges Fahrwasser.«
»Schlagt ein Notruder an!«, befahl Scaggs seinen überlebenden Besatzungsmitgliedern. »Schnell!« Dann wandte er sich an die Sträflinge. »Alle Mann, die noch bei Kräften sind, nehmen sich eine Planke. Rudert um euer Leben.«
Furchtbare Angst erfasste die Schiffbrüchigen, als sie die Brecher am äußeren Riffgürtel vernahmen. Grellweiße Gischt brandete auf, und wie Kanonendonner hallte das Tosen der auf die Korallen brandenden See. Berghohe Wogen türmten sich auf, als sie sich langsam dem Land näherten und der Meeresboden zusehends anstieg. Auf die Verzweiflung folgte Entsetzen, als die Überlebenden sich ausmalten, was ihnen drohte, wenn sie von der alles zermalmenden Wucht dieser Brecher auf das Riff geworfen würden.
Scaggs klemmte sich die Pinne des Notruders unter den Arm und steuerte die Durchfahrt an, während sich die Seeleute an dem zerfetzten Segel zu schaffen machten. Die Sträflinge, die in ihren Lumpen wie Vogelscheuchen aussahen, paddelten wie besessen, doch ihre schwächlichen Bemühungen brachten das Floß kaum voran. Erst als sie auf Scaggs’ Befehl hin alle gleichzeitig auf einer Seite ruderten, trugen sie das ihre dazu bei, die Durchfahrt anzusteuern.
Eine Wand aus kochender Gischt hüllte das Floß ein und riss es immer schneller mit sich. Einen Moment lang ritt es auf einem Wellenkamm, dann tauchte es hinab ins Tal. Ein Sträfling und ein Seemann wurden in den blaugrünen Strudel gerissen und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Das Floß, das viel zu lange dem Wind und den Wellen ausgesetzt gewesen war, drohte auseinanderzubrechen. Die vom ständigen Seegang durchgescheuerten und überdehnten Taue fransten allmählich auf und rissen. Das aus den Überresten der Masten gezimmerte Spantwerk, das die Decksbeplankung trug, verzog sich und barst. Das ganze Floß ächzte und knarrte, als es von der nachfolgenden Woge überspült wurde. Das Riff war jetzt so nahe, dass Dorsett meinte, er könne es mit ausgestreckter Hand berühren.
Und dann wurden sie in die Durchfahrt zwischen den Zackenrändern des Riffs gerissen, vom Sog erfasst und inmitten der mit Floßteilen übersäten, in der Sonne gleißenden Gischt herumgewirbelt. Als das Floß sich endgültig in seine Einzelteile auflöste, wurden die Überlebenden ins Wasser geschleudert.
Hinter dem Wallriff lag das Meer ruhig wie ein Bergsee da. Es war nun nicht mehr blau, sondern von einem satten Türkiston. Dorsett, der einen Arm um Betsys Taille geschlungen hatte, tauchte hustend auf.
»Könnt Ihr schwimmen?«, keuchte er.
Heftig schüttelte sie den Kopf und spie einen Schwall Seewasser aus, das sie geschluckt hatte. »Keinen Zug.«
Er zog sie mit sich, während er auf einen der Masten des Floßes zuschwamm, der keine drei Meter entfernt im Wasser trieb. Kurz darauf erreichte er ihn und schob Betsys Arme über das runde Holz. Mit hämmerndem Herzen und um Atem ringend klammerte sich Dorsett neben ihr an den Mast. Sein geschwächter Leib war nach den Mühen der letzten Stunde endgültig erschöpft. Nachdem er sich ein, zwei Minuten lang erholt hatte, blickte er sich um und zählte ab.
Scaggs und zwei der Seeleute lebten noch. Sie waren nicht weit weg und kletterten gerade auf einen der Überreste des Floßes, der wie durch ein Wunder noch zusammenhielt. Sie rissen bereits Planken ab, um sie als Paddel zu benutzen. Dann sah er drei Sträflinge, zwei Männer und eine Frau, die im Wasser trieben und sich an Trümmer und Wrackteile klammerten, die vom Floß der Gladiator übriggeblieben waren.
Dorsett drehte sich um und blickte zur Küste. Keine Viertelmeile entfernt leuchtete ein herrlich weißer Sandstrand. Dann hörte er in unmittelbarer Nähe einen Ruf.
»Haltet aus!«, schrie Scaggs ihm zu. »Wir ziehen Euch, Betsy und die anderen heraus und rudern dann zum Strand.«
Dorsett winkte ihm zu und gab Betsy einen Kuss auf die Stirn. »Lasst mich jetzt bitte nicht im Stich, meine Teure. In einer halben Stunde haben wir festen Boden unter den Füßen …«
Erschrocken brach er ab, und seine Freude schlug in jähes Entsetzen um.
Die hohe Rückenflosse eines großen Weißen Hais umkreiste auf der Suche nach weiterer Beute die im Wasser treibenden Trümmer. Der Scharfrichter war ihnen in die Lagune gefolgt.
Das darf nicht sein, schrie Dorsett innerlich auf. Wie Hohn und Spott kam es ihm vor, dass er all das unvorstellbare Leid überstanden haben sollte, um nun, da die Rettung zum Greifen nahe war, doch noch dem Verderben anheimzufallen. Kaum einem Menschen war je ein unglücklicheres Schicksal beschieden. Er schlang den Arm fester um Betsy und sah voller Entsetzen, dass die Dreiecksflosse sie nicht länger umkreiste, sondern auf sie zuhielt und langsam untertauchte. Seine Brust krampfte sich zusammen, während er ohnmächtig darauf wartete, dass sich scharfe Zähne in seinen Leib gruben.
Dann, ohne jede Vorwarnung, geschah ein weiteres Wunder.
Plötzlich begann das Wasser der bislang so ruhigen Lagune rund um sie zu kochen. Dann wurde eine gewaltige Fontäne emporgeschleudert, gefolgt von dem Weißen Hai. Die mörderische Bestie schlug wild um sich und schnappte mit ihrem furchterregenden Maul wie toll nach einer riesigen Seeschlange, die sich um sie geschlungen hatte.
Fassungslos starrten die an das Treibgut geklammerten Menschen auf die beiden Ungeheuer der Tiefe, die sich einen Kampf auf Leben und Tod lieferten.
Scaggs auf seinem Floßstück konnte das Ringen genau verfolgen. Die gigantische, aalähnliche Kreatur hatte einen stumpfen Kopf und einen spitzen Schwanz. Ihr Leib war seiner Schätzung nach etwa achtzehn bis zwanzig Meter lang und dick wie ein großes Mehlfass. Krampfhaft öffnete und schloss sie das Maul mit den spitzen Fangzähnen. Die Haut wirkte glatt und war an der Oberseite dunkelbraun, fast schwarz, am Bauch hingegen weiß wie Elfenbein. Scaggs hatte viele Geschichten von Begegnungen mit derartigen Seeungeheuern gehört, doch er hatte immer darüber gelacht und sie als bloßes Seemannsgarn abgetan, Ausgeburten der Phantasie, nachdem man im Hafen dem Rum zu sehr zugesprochen hatte. Jetzt lachte er nicht mehr, sondern verfolgte starr vor Staunen, wie der einstmals gefürchtete Scharfrichter sich wie wild wand und die tödliche Angreiferin vergebens abzuschütteln versuchte.
Der mächtige Knorpelfisch konnte den Kopf nicht weit genug nach hinten biegen, um seinerseits die Zähne in den Leib der Schlange zu schlagen. Trotz aller Kraft und sosehr er sich auch wand und zuckte, kam er nicht aus der tödlichen Umklammerung frei. In wilder Raserei rotierte er um die eigene Achse, verschwand mitsamt der Schlange unter Wasser, um kurz darauf in einer neuerlichen Gischtwolke aus dem schäumenden Wasser emporzuschießen.
Dann schlug die Schlange ihre Fänge in die Kiemenspalten des Hais. Wenige Minuten später war der Kampf der Giganten entschieden. Der verzweifelte Widerstand des Hais erlahmte, und die beiden Ungeheuer versanken langsam in den Tiefen der Lagune. Der Jäger war seinerseits einer Jägerin zum Opfer gefallen.
Das gewaltige Ringen war kaum vorüber, als Scaggs die entkräfteten Sträflinge unverzüglich auf die noch immer miteinander vertäuten Überreste des Floßes zog. Benommen von dem soeben Erlebten, erreichten sie schließlich den weißen Sandstrand und torkelten an Land, wo sie aus ihrem Albtraum geradewegs in einen Garten Eden fanden, den vor ihnen noch kein europäischer Seefahrer erblickt hatte.
Kurz darauf entdeckten sie einen köstlich klaren Wasserlauf, der von dem an der Südspitze des Eilandes aufragenden Vulkan herabströmte. Fünf verschiedene Arten tropischer Früchte wuchsen in den Wäldern, und in der Lagune wimmelte es von Fischen. Die Zeit der Entbehrungen war vorüber, doch nur acht der ursprünglich zweihunderteinunddreißig Menschen, die mit dem Floß der Gladiator aufgebrochen waren, lebten noch und konnten von den Schrecken ihrer Irrfahrt unter einer glühenden Sonne inmitten der endlos weiten See berichten.
Sechs Monate nach dem tragischen Verlust der Gladiator