Höllenschlund - Clive Cussler - E-Book

Höllenschlund E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Kurt Austin und sein NUMA-Team kommen gerade noch rechtzeitig, um die UNESCO-Beauftragte Carina Mechadi vor Piraten zu retten. Die Räuber hatten es auf eine phönizische Statue abgesehen. Doch wer sind ihre Auftraggeber? Austin begibt sich auf die Suche nach den Hintermännern – und stößt auf eine Spur, die direkt zu dem sagenumwobenen Schatz von König Salomon führt …

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Clive Cussler

& Paul Kemprecos

Höllenschlund

Roman

Aus dem Englischen von Bernhard Kempen

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Navigator«bei Putnam, New York.

1. Auflage

E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © 2007 by Sandecker, RLLLP

All rights reserved by the Proprietor throughout the world

By arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Jörn Rauser

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15191-1

www.blanvalet.de

Prolog

In einem fernen Land, 900 v. Chr.

Im perlweißen Licht der Dämmerung tauchte das Seeungeheuer aus dem Morgennebel auf. Der schwere Kopf mit der langen Schnauze und den geblähten Nüstern steuerte genau dort das Ufer an, wo der Jäger kniete, die straffe Bogensehne an der Wange, die Augen auf einen Hirsch gerichtet, der im Marschland graste. Als das Geräusch schwappender Wellen ans Ohr des Jägers drang, blickte er sich zum Wasser um. Er stieß einen erstickten Schrei aus, warf den Bogen fort und sprang auf. Der Hirsch verschwand erschrocken im Wald, dicht gefolgt von dem verängstigten Jäger.

Die Nebelschwaden teilten sich und offenbarten ein riesiges Segelschiff. Vorhänge aus Tang säumten den zweihundert Fuß langen Rumpf aus rötlich-braunem Holz. Ein Mann stand auf dem hochgezogenen Vordersteven des Schiffes hinter der geschnitzten Galionsfigur eines schnaubenden Hengstes. Er hatte gerade in eine kleine Holzschachtel geblickt. Als die geisterhafte Küste aus dem Nebel auftauchte, hob der Mann den Kopf und zeigte zur linken Seite.

Die Steuermänner am Doppelruder brachten das Schiff in anmutigem Bogen auf einen neuen Kurs, der parallel zur dicht bewaldeten Küste verlief. Geschickt trimmten Deckshelfer das Segel mit den senkrechten rot-weißen Streifen, um die Kursänderung auszugleichen.

Der Kapitän war erst Mitte zwanzig, aber der ernste Ausdruck seines ebenmäßiges Gesichts ließ ihn einige Jahre älter erscheinen. Seine kräftige Nase wirkte leicht gebogen. Der dichte schwarze Bart war in Stufen geschnitten und umrahmte einen vollen Mund und ein kantiges Kinn. Die Sonne und das Meer hatten seiner Haut eine mahagonifarbene Bräunung verliehen. Die unergründlichen Augen, mit denen er die Küste absuchte, waren von einem so dunklen Braun, dass man die Pupillen darin kaum erkennen konnte.

Die hohe Stellung des Kapitäns berechtigte ihn, ein purpurnes Gewand zu tragen, das mit dem kostbaren Extrakt der Murex-Schnecke gefärbt war. Doch er zog es vor, die Brust nicht zu verhüllen und den Baumwollkilt eines gewöhnlichen Besatzungsmitglieds zu tragen. Eine weiche, kegelförmige Mütze bedeckte das kurze, gewellte Haar.

Der Salzgeruch des Meeres hatte sich verflüchtigt, als das Schiff vom offenen Ozean in die breite Bucht eingefahren war. Der Kapitän sog die Lungen mit dem Duft von Blumen und grünen Gewächsen voll. Er freute sich über die Aussicht auf frisches Süßwasser und sehnte sich danach, seinen Fuß auf trockenes Land setzen zu können.

Es war eine lange Reise gewesen, doch dank der handverlesenen phönizischen Besatzung, die ausschließlich aus erfahrenen Seemännern bestand, war sie recht gut verlaufen. Außerdem waren an Bord ein paar Ägypter und Libyer sowie Männer aus anderen Ländern, die am Mittelmeer lagen. Ein Trupp skythischer Soldaten war für die Sicherheit verantwortlich.

Die Phönizier waren die besten Seefahrer der Welt, abenteuerlustige Entdecker und Händler, deren maritimes Imperium das Mittelmeer umschloss und sich über die Säulen des Herakles hinaus und bis ins Rote Meer erstreckte. Im Gegensatz zu den Griechen und Ägyptern, deren Schiffe an den Küsten entlangkrochen und die vor Anker gingen, wenn es dunkel wurde, segelten die furchtlosen Phönizier bei Tag und Nacht und außerhalb der Sichtweite des Landes. Mit einem kräftigen Wind von achtern konnten ihre großen Handelsschiffe mehr als hundert Seemeilen pro Tag zurücklegen.

Der Kapitän war kein geborener Phönizier, aber in der Kunst der Seefahrt äußerst kundig. Mit seinen Navigationskenntnissen und seinem sicheren Urteilsvermögen bei schlechten Wetterverhältnissen hatte er den Respekt der Besatzung schnell gewonnen.

Das Gefährt unter seinem Kommando war ein »Schiff von Tarschisch«, das für längere Handelsreisen über das Meer konstruiert worden war. Anders als die rundlicheren Schiffe für Kurzstrecken wurde es von langen und geraden Linien bestimmt. Das Deck und der Rumpf bestanden aus dem widerstandsfähigen Holz der Libanonzeder, und der dicke Mast war niedrig und äußerst stabil. Das quadratische Segel aus ägyptischem Leinen hatte man zur Verstärkung mit Lederriemen abgesteppt. Es handelte sich um die leistungsfähigste Takelage der Hochseeschifffahrt, die es überhaupt gab. Der gebogene Kiel mit hochgezogenen Vorder- und Achtersteven nahm die Wikingerschiffe vorweg, die erst Jahrhunderte später gebaut werden sollten.

Das Geheimnis der phönizischen Herrschaft über das Meer ging weit über technische Aspekte hinaus. Die Organisation an Bord ihrer Schiffe war legendär. Jedes Besatzungsmitglied kannte seinen Platz in der gut geölten Maschinerie eines phönizischen Seefahrtunternehmens. Das Tauwerk war in einem leicht zugänglichen Raum, für den der Assistent des Kapitäns verantwortlich war, ordentlich verstaut worden. Der Bootsmann kannte die Position jedes einzelnen Taus und überprüfte ständig die Takelage des Schiffes, um sich zu vergewissern, dass sie auch im Notfall verlässlich war.

Der Kapitän spürte, wie etwas Weiches an seinem nackten Bein entlangstrich. Er erlaubte sich ein seltenes Lächeln, stellte die Holzschachtel in eine Kiste und nahm die Schiffskatze auf den Arm. Phönizische Katzen hatten ihren Ursprung in Ägypten, wo sie als Götter verehrt wurden. Phönizische Schiffe hatten Katzen als Handelsgut und zur Rattenbekämpfung an Bord. Eine Weile streichelte der Kapitän die rot und gelb gestreifte Katze und setzte das schnurrende Tier dann wieder aufs Deck. Das Schiff näherte sich einer breiten Flussmündung.

Der Kapitän rief dem Bootsmann einen Befehl hinauf.

»Die Takler sollen sich darauf einrichten, das Segel einzuholen, und die Steuermänner sollten sich bereithalten.«

Der Bootsmann gab den ersten Befehl an einige Besatzungsmitglieder weiter, die wie Affen den Mast bis zur Nock hinaufkraxelten. Zwei andere Seemänner warfen den Taklern Leinen zu, die an den unteren Ecken des Segels befestigt waren. Damit refften die Takler das große quadratische Segel.

Ruderer mit kräftigen Armen hatten sich bereits auf ihre Bänke gesetzt, die in zwei Reihen zu zwanzig Plätzen angeordnet waren. Im Gegensatz zu den Rudersklaven auf vielen anderen Schiffen waren die Männer, die das Schiff mit schnellen, präzisen Schlägen vorantrieben, darin ausgebildet.

Die Steuermänner lenkten das Schiff in den Fluss. Obwohl der Strom im Frühling vom Schmelzwasser aus den Hügeln und Bergen angeschwollen war, verhinderten sein flaches Bett und die Schnellen, dass das Schiff allzu weit flussaufwärts fahren konnte.

Die skythischen Söldner reihten sich an der Reling auf und hielten ihre Waffen bereit. Der Kapitän stand am Bug und blickte auf das Flussufer. Er sah eine grasbewachsene Landzunge, die in den Strom ragte, und befahl den Steuermännern, das Schiff in der Strömung zu halten, während die Besatzung den Anker warf.

Ein muskulöser Mann mit hohen Wangenknochen und einem Gesicht, so verwittert wie ein alter Sattel, näherte sich dem Kapitän. Tarsa war der Befehlshaber der skythischen Soldaten, die das Schiff und seine Fracht beschützten. Die mit den Mongolen verwandten Skythen waren als geschickte Reiter und Bogenschützen, aber auch für ihre seltsamen Gewohnheiten bekannt.

In der Schlacht tranken sie das Blut der bezwungenen Feinde und benutzten ihre Skalps als Mundtücher. Tarsa und seine Männer bemalten ihre Körper mit roter und blauer Farbe, sie reinigten sich mit Dampfbädern und trugen lederne Hemden und Hosen, die sie sich in die Stiefel aus weichem Leder steckten. Selbst der ärmste Skythe schmückte seine Kleidung mit goldenen Ornamenten. Tarsa trug ein kleines Medaillon, das den Kopf eines Pferdes zeigte, das ihm der Kapitän geschenkt hatte.

»Ich werde einen Erkundungstrupp zusammenstellen, der an Land geht«, sagte Tarsa.

Der Kapitän nickte. »Ich werde Euch begleiten.«

Ein Lächeln erschien auf dem steinernen Gesicht des Skythen. Als Landbewohner hatte er anfangs nur wenig Vertrauen in die Fähigkeiten des jungen Kapitäns gesetzt. Doch dann hatte er beobachtet, wie der Mann das große Schiff führte, und feststellen müssen, dass sich unter den patrizischen Zügen und der sanften Sprechweise ein eiserner Charakter verbarg.

Das breite Beiboot, das die meiste Zeit über hinter dem Schiff im Schlepptau dümpelte, wurde nun längsseits geholt. Der Skythe und drei seiner besten Kämpfer bestiegen das Boot zusammen mit dem Kapitän und zwei kräftigen Ruderern.

Wenig später stieß das Boot mit einem harten Knirschen gegen die Landzunge. Unter dem Grasbewuchs verbarg sich ein steinerner Kai. Der Kapitän vertäute das Boot an einem Poller, der fast völlig unter Unkraut verschwunden war.

Tarsa befahl einem Mann, bei den Ruderern zu bleiben. Dann lief er zusammen mit dem Kapitän und den anderen Skythen los, über die zugewachsene Pflasterstraße, die vom Kai landeinwärts führte. Nachdem sie viele Wochen auf wankenden Decksplanken verbracht hatten, bewegten sie sich zunächst mit unbeholfenen Schritten. Ein paar hundert Fuß vom Fluss entfernt stießen sie auf einen von Unkraut überwucherten Zentralplatz, der von baufälligen Häusern gesäumt wurde. Hohes Gras wuchs in den offenen Durchgängen und Gassen.

Der Kapitän rief sich ins Gedächtnis, wie die Siedlung bei seinem ersten Besuch ausgesehen hatte. Auf dem Platz hatte ein reges Treiben geherrscht. Die Arbeiter hatten zu Hunderten in den Schlafhäusern mit den Flachdächern gewohnt und in den Lagerhäusern geschuftet.

Der Landetrupp durchsuchte nach und nach jedes Gebäude. Als man sich vergewissert hatte, dass die Siedlung verlassen war, führte der Kapitän die Truppe zum Fluss zurück. Er lief bis zum Ende des Piers und winkte. Während die Besatzung den Anker lichtete und die Ruderer das Schiff in Richtung Kai bewegten, wandte sich der Kapitän dem Befehlshaber der Skythen zu.

»Sind Eure Männer für die wichtige Aufgabe bereit, die vor uns liegt?«

Die Frage veranlasste den Skythen zu einem Schnauben. »Meine Männer sind zu allem bereit.«

Der Kapitän zeigte sich von dieser Antwort keineswegs überrascht. Er hatte viele Stunden damit verbracht, sich während der langen Reise mit Tarsa zu unterhalten. Sein unstillbarer Durst nach Wissen über Menschen aus aller Herren Länder hatte ihn dazu bewogen, Tarsa über seine Heimat und sein Volk auszufragen, und schließlich hatte er den zähen alten Krieger trotz seiner blau-roten Haut und seiner seltsamen Gewohnheiten ins Herz geschlossen.

Das Schiff machte am Kai fest, die Besatzung ließ einen breiten Landungssteg herunter. Hufe klapperten auf dem Deck, als die Männer zwei Zugpferde aus den Ställen im Heck holten. Im Freien wurden die Tiere unruhig, aber die Skythen konnten sie bald mit sanften Worten und einer Handvoll Getreide, das in Honig getränkt war, beruhigen.

Der Kapitän stellte eine Gruppe zusammen, die sich auf die Suche nach Süßwasser und Nahrungsmitteln machen sollte. Dann stieg er in den Frachtraum hinunter und trat neben eine Kiste aus robustem Zedernholz. Der Behälter schien im Licht, das durch die Luke hereinströmte, zu schimmern. Er rief seinen Männern zu, dass sie große Vorsicht walten lassen sollten, wenn sie die Kiste aus dem Frachtraum hievten.

Dicke Seile wurden an der Kiste befestigt und durch einen Haken am Ladebaum geführt. Der Ausleger knarrte unter dem Gewicht. Die Kiste wurde langsam aus dem Frachtraum gehoben und auf Deck abgestellt. Dann entfernte man die Seile und schob Ruderblätter durch Ösen an den Seiten des Behälters. Einige Männer schulterten diese Tragestangen und beförderten die Kiste über den Landungssteg auf den Kai.

Dort wurde die Kiste auf einen niedrigen Wagen gehoben, der auf festen, eisenbeschlagenen Holzrädern ruhte. Die Pferde spannte man vor den Wagen. Die Soldaten schulterten ihre Schilde und Bogen und bildeten, die Speere in den Händen, zu beiden Seiten des Wagens schützende Reihen. Der Kapitän und der Befehlshaber der Skythen übernahmen die Führung. Dann setzte sich der Zug unter dem Lärm klappernder Waffen in Bewegung.

Sie durchquerten die verlassene Siedlung, bis sie eine Straße erreichten, die parallel zum Fluss durch den Wald führte. Das Pflaster war zwar mit Gras bewachsen, trotzdem ermöglichte es ihnen die Straße, im dichten Wald schnell voranzukommen. Jeden Abend machte die Gruppe Halt, um ein Nachtlager aufzuschlagen. Am Morgen des dritten Tages stießen sie auf ein Tal zwischen zwei niedrigen Bergen.

Der Kapitän ließ die Kolonne anhalten und holte aus seinem Gepäck die Holzschachtel hervor, die er schon auf dem Schiff immer wieder konsultiert hatte. Während die Soldaten eine Ruhepause einlegten und die Pferde versorgten, öffnete er den Deckel, schüttete ein wenig Wasser hinein und blickte daraufhin in die Schachtel. Anschließend widmete er sich einer Schriftrolle aus Pergament, die er in einem Leinenbeutel mit sich führte. Danach trieb er die Gruppe mit der Zielstrebigkeit eines Zugvogels weiter voran.

Der Zug marschierte durch das Tal und erreichte schließlich ein Feld, auf dem die Reste runder Mühlsteine im hohen Gras zu erkennen waren. Der Kapitän erinnerte sich noch gut daran, wie hier schwitzende Männer die steinernen Räder gedreht hatten. Arbeiter hatten Körbe voller Steine in die Mühlen geschüttet, die dann den Inhalt zu feinem Pulver zermahlten. Das Pulver hatte man zu den Feuergruben gebracht, wo die Glut mit Blasebälgen geschürt wurde. Schließlich hatten die Arbeiter die Schmelztiegel angehoben und den geschmolzenen Inhalt in Gussformen zu Ziegeln erstarren lassen.

Die Expedition zog weiter, bis sie zu zwei steinernen Götzenbildern kam. Jede Statue war von doppelter Mannsgröße und stellte vom Hals abwärts eine mehr oder weniger menschliche Gestalt dar. Sie dienten dem Zweck, die Eingeborenen abzuschrecken. Die albtraumhaften Köpfe waren eine Mischung aus Mensch und Tier, eine Verbindung ihrer schrecklichsten Züge, als hätte der Bildhauer beabsichtigt, ein ganz und gar Furcht einflößendes Gesicht zu erschaffen. Selbst die abgehärteten Söldner empfanden Unbehagen. Nervös wechselten sie ihre Speere von einer Hand in die andere und warfen den bösartigen Statuen misstrauische Blicke zu.

Der Kapitän konsultierte erneut seine magische Schachtel und die Pergamentrolle und machte sich auf den Weg in den Wald. Die Prozession folgte ihm im künstlichen Dämmerlicht unter dem Blätterdach. Die dicken Baumwurzeln bildeten immer neue Hindernisse, doch nach einer Stunde Marsch kam die Gruppe wieder aus dem Wald hervor. Sie näherte sich der glatten Felswand am Fuß eines niedrigen Grats. Zwei weitere Götzenbilder, die den ersten beiden glichen, versperrten ihnen den Weg.

Mit den Statuen als Bezugspunkte triangulierte der Kapitän einen Punkt in der Steilwand. Wie ein Blinder, der auf ein unerwartetes Hindernis gestoßen war, tastete er den Fels ab. Schließlich fanden seine Finger zwei kaum sichtbare Vorsprünge, die er benutzte, um an der Wand hinaufzuklettern.

Etwa zwei Mannslängen über dem Boden wandte er sich um und hockte sich in eine Felsnische. Er ließ sich einen Speer reichen, den er als Hebel in einen Spalt schob. Die Soldaten warfen ihm ein Seil hinauf, das er am Speerschaft befestigte. Das andere Ende des Seils wurde an ein Pferd gebunden. Auf das Zeichen des Kapitäns hin zog das Pferd, während er mit den Füßen gegen einen flachen Felsvorsprung drückte. Eine Steinplatte von etwa einem Fuß Dicke löste sich und krachte zu Boden. Dahinter wurde eine Höhle sichtbar, die etwa sechs Fuß breit und zehn Fuß hoch war.

Nachdem er von der Felswand herabgestiegen war, entfachte der Kapitän in einem trockenen Grasbüschel ein Feuer und entzündete dann ein Reisigbündel an der Glut. Er hob die Fackel und trat als Erster in die Öffnung. Die Skythen hatten sich ins Geschirr gelegt und machten sich nun daran, den Wagen durch einen Tunnel mit glatten Wänden zu ziehen, der sich nach einer Strecke von etwa fünfzig Fuß zu einer Kammer öffnete.

Der Kapitän entzündete mehrere Öllampen, die in kleinen Nischen in der Höhlenwand standen. Der helle Lichtring offenbarte eine große runde Galerie, von der weitere Tunnel abgingen. In der Mitte des Raums befand sich ein kreisrunder Felsblock von etwa drei Fuß Höhe und sechs Fuß Durchmesser. Der Kapitän wies die Skythen an, die Kiste auf dieses Podest zu heben. Auf seinen Befehl hin nahmen sie den Deckel ab und traten zurück.

Der Kapitän beugte sich über die Kiste und öffnete den Deckel einer etwas kleineren, kunstvoller gearbeiteten Kiste aus Gold und dunklem Holz. Während er mehrere Lagen aus blauem Stoff entfernte, spürte er sein Herz wild schlagen. Er starrte gebannt nach unten, und sein Gesicht schimmerte im reflektierten Licht, das aus der Kiste drang. Nach einer Weile ordnete der Kapitän sorgsam den blauen Stoff und schloss das kleine Behältnis. Dann legten Tarsas Männer den Deckel auf die große Kiste zurück.

»Unser Auftrag hier ist erfüllt«, sagte er, und seine Worten hallten in der Höhlenkammer wider.

Daraufhin führte er die anderen nach draußen. Die frische, kühle Luft fühlte sich auf seinem verschwitzten Gesicht gut an und reinigte seine Lungen vom Staub. Der Kapitän wies die Skythen an, die Steinplatte zurück in die Öffnung zu setzen. Dann musterte er die Wand. Niemand würde vermuten, dass sich hinter dieser Platte eine Höhle verbarg.

Die Gruppe kehrte auf demselben Weg zurück. Nachdem der Wagen von der Last befreit war, marschierten die Männer zügig auf den Fluss zu. Parallel zur Böschung stand ein Gebäude aus Holz, dessen große Türen dem Wasser zugewandt waren. Der Kapitän nahm das Innere des Gebäudes in Augenschein. Als er wieder herauskam, wirkte er zufrieden. Er sagte zu Tarsa und seinen Männern, dass sie eine gute Mahlzeit zubereiten und sich dann einen erholsamen Schlaf gönnen sollten.

Als es dämmerte, weckte der rastlose Kapitän die Männer. Die Pferde zogen ein Holzboot aus dem Lagerhaus und zum Fluss hinunter. Das Gefährt mit dem offenen Deck war halb Boot, halb Floß, etwa fünfzig Fuß lang und mindestens zehn breit. Es hatte nur wenige Fuß Tiefgang und wurde mit einer langen Ruderpinne gesteuert.

Man führte die Pferde auf das Boot, dann stießen es die Männer vom Ufer ab und stakten es in den Fluss, um mit der Strömung zu treiben. Die Fahrt flussabwärts war abenteuerlicher als die Reise übers Meer. Das Boot musste seichte Stellen, Stromschnellen, treibende Baumstämme, Strudel und Felsen überwinden. Die Skythen jubelten, als das Boot aus der Flussmündung schoss und sie das Schiff am Anlegeplatz sahen.

Die Schiffsbesatzung begrüßte die Rückkehrer und half ihnen, das Flussboot ans Ufer zu ziehen. Während der Kapitän etwas in sein Logbuch eintrug, feierte die Besatzung bis spät in die Nacht. Doch kurz vor der Dämmerung waren sie schon wieder auf den Beinen, und als die Sonne gerade über den Bäumen erschien, lösten sie die Leinen. Vom Wind und den Ruderern angetrieben fuhr das Schiff schnell in die Bucht hinaus. Die Ruderer legten sich in die Riemen, weil sie es – ebenso wie jeder andere an Bord – kaum erwarten konnten, nach Hause zurückzukehren.

Doch die Freude fand ein jähes Ende, als etwas Unerwartetes geschah. Während das Schiff eine Insel passierte, kam ein anderes Schiff in Sicht und schnitt ihnen den Weg ab.

Der Kapitän rief einen knappen Befehl, die Ruder einzuholen und die Segel zu reffen. Er stieg auf ein großes Wasserfass im Bug, um das fremde Gefährt besser betrachten zu können. An Bord war kein Lebenszeichen zu erkennen, der Blick auf das Deck wurde allerdings auch durch einen Zaun aus Weidengeflecht versperrt, der zum Schutz der Fracht angebracht war und über die ganze Länge des Stringers verlief, wie die oberste Planke des Rumpfs genannt wurde.

Er erblickte ein Schiff aus Tarschisch.

Auch dieses Gefährt wies die gleichen eleganten und zweckmäßigen Linien auf wie das Schiff des Kapitäns. Das Deck war lang und gerade, und das gebogene Heck und der als Pferdekopf gestaltete Bug ragten hoch empor. Die scharfen Augen des Kapitäns machten zwei bedeutende Unterschiede zwischen den beiden Schiffen aus. Das fremde schien ursprünglich für den Handel gebaut und dann zu Kriegszwecken umgerüstet worden zu sein.

Der Bug war mit Bronze beschlagen und bildete einen gefährlichen Schnabel, der auch dem widerstandsfähigsten Schiff das Herz herausreißen konnte. Das massive Skull und die am Rumpf befestigten Bugruder konnten als Rammbock eingesetzt werden.

Der Befehlshaber der Skythen trat neben den Kapitän. »Wollen wir ein Enterkommando hinüberschicken?«

Der Kapitän dachte über diese Frage nach. Ein phönizisches Schiff sollte eigentlich keine Gefahr für sie darstellen, doch für seine Anwesenheit gab es andererseits auch keinen Grund. Es verhielt sich zwar nicht feindselig, aber auch nicht freundlich.

»Nein«, sagte der Kapitän. »Wir warten.«

Fünf Minuten vergingen. Dann zehn. Nach zwanzig Minuten sah man ein paar Gestalten über eine Leiter in das Beiboot des Kriegsschiffes steigen. Das Boot näherte sich bis auf Rufweite. Es wurde von vier Männern gerudert, ein fünfter stand breitbeinig im Bug. Sein purpurnes Gewand blähte sich hinter ihm wie ein lockeres Segel. Er legte die Hände an den Mund.

»Ich grüße dich, mein Bruder«, rief er über das Wasser hinweg.

»Auch ich grüße dich, Bruder«, erwiderte der Kapitän überrascht. »Wie bist du hierhergekommen?«

Das Gesicht des Mannes nahm den Ausdruck gespiel-ter Ungläubigkeit an. Er zeigte auf das Kriegsschiff. »Ich bin genauso gekommen wie du, Menelik, in einem Schiff von Tarschisch.«

»Zu welchem Zweck, Melqart?«

»Damit wir uns wieder zusammentun können, lieber Bruder.«

Das Gesicht des Kapitäns zeigte keinerlei Regung, doch seine dunklen Augen glühten vor Zorn. »Du wusstest von meinem Auftrag?«

»Wir sind doch Verwandte! In einer Familie gibt es keine Geheimnisse.«

»Dann solltest du mir gegenüber auch kein Geheimnis aus deinen Wünschen machen.«

»Aber natürlich. Komm an Bord meines Schiffes, und wir werden reden.«

»Auch die Gastfreundschaft meines Schiffs steht dir offen.«

Der Mann im Purpurgewand lachte. »Wie man sieht, mangelt es uns an brüderlichem Vertrauen.«

»Vielleicht weil wir nur Halbbrüder sind.«

»Trotzdem teilen wir das gleiche Blut.« Melqart deutete auf die Insel. »Lass uns diesen kindischen Streit beenden und auf neutralem Boden miteinander sprechen.«

Der Kapitän musterte die Insel. Im Gegensatz zur dicht bewaldeten Küste hatte sie ein flaches, sandiges Ufer, das erst nach ein paar hundert Fuß in niedrige, grasbewachsene Hügel überging.

»Einverstanden«, rief er.

Der Kapitän wies Tarsa an, einen Landetrupp zusammenzustellen. Tarsa wählte seine vier kampferprobtesten Männer aus. Wenig später landete das Beiboot am Ufer. Die Skythen blieben beim Boot, während der Kapitän den sanft ansteigenden Strand hinaufging.

Sein Halbbruder stand mit verschränkten Armen hundert Fuß vom Ufer entfernt. Er war in ein prächtiges phönizisches Ornat gewandet, mit einer reich verzierten zweiteiligen Tunika unter dem purpurnen Umhang und einer kegelförmigen Mütze auf dem Kopf. Um den Hals trug er eine Goldkette, und seine Arme und Finger waren mit Goldreifen und -ringen geschmückt.

Er war von gleicher Größe wie der Kapitän, und sein attraktives Gesicht wies eine auffällige Ähnlichkeit mit dem seines Bruders auf. Sie hatten die gleiche markante Nase, beide einen ebenso dunklen Teint und den gleichen gewellten Haar- und Bartwuchs. Doch es gab auch Unterschiede. Das hoheitsvolle Gebaren des Kapitäns wirkte herrisch und hochmütig, während die Züge seines Halbbruders eher einen brutalen Eindruck erweckten. In seinen dunklen Augen gab es nichts Tiefes oder Sanftmütiges. Sein vorstehendes Kinn wirkte eher stur als entschlossen.

»Wie schön, dich nach all den Jahren wiederzusehen, lieber Bruder«, sagte Melqart mit einnehmendem Lächeln, das jedoch mehr Verschlagenheit als Charme vermittelte.

Der Kapitän war aber nicht in der Stimmung für falsche Freundlichkeit. »Warum bist du hier?«, verlangte er zu wissen.

»Vielleicht hat unser Vater entschieden, dass du bei deinem Auftrag Hilfe benötigst.«

»Er hätte dir niemals vertraut.«

»Offensichtlich hat er dir vertraut, obwohl du ein Dieb bist.«

Die Wangen des Kapitäns brannten, als er diese Beleidigung vernahm, doch er zügelte seinen Zorn. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

Sein Halbbruder zuckte die Achseln. »Ich erfuhr, dass du aufgebrochen warst. Ich versuchte dich abzufangen, aber dein Schiff war zu schnell, sodass wir hinter euch zurückfielen.«

»Warum ist dein Schiff für den Kampf ausgerüstet?«

»Dies sind gefährliche Gewässer.«

»Mit deiner Anwesenheit widersetzt du dich dem Willen unseres Vaters. Das kann nicht sein Wunsch gewesen sein.«

»Unser Vater!« Er spuckte die Worte geradezu aus. »Unser Vater war ein Weiberheld, der mit der Hure schlief, die deine Mutter wurde.«

»Und was ist mit der Hure, die deine Mutter wurde?«

Melqart schlug das Purpurgewand zurück. Seine Hand näherte sich dem Knauf seines Schwerts, doch dann überlegte er es sich anders und zog die Hand wieder zurück. »Wir sollten nicht so dumm sein, uns wegen Familienangelegenheiten zu streiten«, beschwichtigte er. »Lass uns zu meinem Schiff gehen. Ich werde dir Erfrischungen servieren, und dann können wir miteinander reden.«

»Es gibt nichts, worüber wir reden müssten. Du wirst mit deinem Schiff umkehren. Wir werden euch folgen.«

Der Kapitän wandte sich um und ging zum Fluss zurück. Er lauschte auf Schritte, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sein Bruder den Mut aufbrachte, ihn anzugreifen. Aber das Einzige, was er hörte, war der Ruf Tarsas:

»Kapitän! Hinter Euch!«

Der Skythe hatte etwa ein Dutzend Gestalten gesehen, die sich hinter dem grasbewachsenen Hügel am Ende des Strandes plötzlich erhoben.

Der Kapitän fuhr herum, als die Männer in seine Richtung gelaufen kamen. Tätowierungen verzierten ihre Schultern und Oberkörper.

Thraker.

Noch so ein wildes Volk, das sein Geschick mit Schwert und Speer in den Dienst der phönizischen Seefahrer stellte. Die Thraker stürmten an seinem Halbbruder vorbei, der sie anfeuerte:

»Tötet ihn! Tötet ihn!«

Der Kapitän zog sein kurzes Breitschwert, während er von den schreienden Thrakern umzingelt wurde.

Er drehte sich zu seinen Angreifern um, aber seinen Rücken konnte er nicht decken. Ein Thraker brachte sich mit seinem Speer in Wurfposition, doch im nächsten Augenblick erstarrte er und ließ die Waffe fallen. Er griff nach dem gefiederten Schaft, der aus seiner Kehle ragte, dann röchelte er, sank auf die Knie und fiel mit dem Gesicht voran in den Sand.

Tarsa legte in aller Ruhe einen weiteren Pfeil an die Sehne seines Bogens. Es kostete ihn kaum mehr Mühe als einen Atemzug, einen zweiten Thraker zu töten. Die anderen flüchteten.

Tarsas Bogenschützen ließen einen tödlichen Pfeilregen auf die Rücken der fliehenden Thraker niedergehen.

Der Kapitän stieß einen lauten Kriegsruf aus und stürmte den Strand hinauf. Mit seinem Schwert führte er einen mächtigen Hieb, der seinen Halbbruder enthauptet hätte, hätte Melqart die Klinge nicht mit einem verzweifelten Schlag pariert. Unter den schnellen Hieben, die darauf folgten, stolperte Melqart über sein Gewand und stürzte in den weichen Sand.

Er drehte sich auf den Rücken und warf sein Schwert fort. »Töte mich nicht, mein Bruder!«

Der Kapitän zögerte. Trotz seiner Bösartigkeit war Melqart immer noch ein Blutsverwandter.

Tarsa rief eine weitere Warnung.

Eine zweite Welle von Thrakern war auf dem Hügel aufgetaucht, um die erste Angreifergruppe zu verstärken.

Der Kapitän wich zurück und eilte zum Boot, wobei er über die Leichen der Thraker sprang.

Die Skythen verschossen ihre letzten Pfeile. Die schlecht gezielten Schüsse verlangsamten den Vormarsch der Thraker, konnten ihn aber nicht aufhalten.

Tarsa warf seinen Bogen fort, packte den Kapitän mit kräftigen Armen und hievte ihn ins Beiboot. Die Ruderer legten sich ins Zeug und brachten das Boot bald außer Reichweite der Speere, die weit hinter ihnen spritzend ins Wasser schlugen.

Der Kapitän stieg auf das Deck seines Schiffes. Der Bootsmann teilte gerade Speere und Schwerter aus, die in einer Waffenkammer auf dem Deck aufbewahrt wurden.

Melqarts Boot legte mit den überlebenden Thrakern vom Strand ab. Der Flechtzaun an Bord des Kriegsschiffes wurde entfernt, dahinter kamen auf einem erhöhten Kampfdeck mindestens einhundert Männer zum Vorschein.

Das Sonnenlicht glitzerte auf den Speerspitzen. Die Schilde wurden über die Balustrade gehängt, um eine schützende Wand zu bilden. Der Kapitän sah Rauch vom Deck aufsteigen und gab den Befehl, überall auf dem Schiff Wasserbehälter aufzustellen.

Dünne Rauchspuren in der Luft waren das erste Anzeichen für die brennenden Pfeile, die in Pech getaucht, entzündet und vom Schiff abgeschossen wurden. Dann fielen sie im hohen Bogen als feuriger Regen vom Himmel.

Kein Pfeil traf ein menschliches Ziel, doch einige schlugen in die Planken des Schiffes. Die Flammen wurden sofort mit Wasser gelöscht. Dann folgte eine zweite Salve, und einer der lodernden Pfeile landete im aufgerollten Segel.

Die Männer der Besatzung zogen das Segel aufs Deck und trampelten auf dem brennenden Stoff herum, ohne auf die Glut zu achten, die ihnen die Füße und Beine versengte.

Der Kapitän bellte einen Befehl, den Anker zu lichten. Während die Skythen eine tödliche Salve aus Pfeilen als Feuerschutz abgaben, bewegten die Ruderer das Schiff rückwärts, um es außer Reichweite der brennenden Pfeile zu bringen. Doch nach dem umständlichen Manöver wandte das Schiff dem anderen Gefährt die Breitseite zu.

Die Flammen fraßen sich immer weiter durch das Segel. Der Kapitän wusste, dass sein Schiff dem Untergang geweiht war. Es bestand aus Holz, Hanf, Pech und Leinen. Innerhalb weniger Minuten würde sich das Schiff in eine gewaltige lodernde Fackel verwandeln.

Das Kriegsschiff machte sich auch schon bereit, seinem Opfer den tödlichen Stoß zu verpassen.

Die großen Ruder an beiden Enden des Schiffes wurden benutzt, um das Gefährt in kurzer Zeit um einhundertachtzig Grad zu drehen, damit der bronzebeschlagene Rammbock zum Einsatz kommen konnte.

Der Dorn würde ein Loch in das brennende Schiff bohren. Sobald das Schiff zu sinken begann, würde man es mit weiteren Feuerpfeilen beschießen. Mit brennendem Öl gefüllte Granaten würden vom Bug aus mit Stangen hinüberbefördert werden.

Der Kapitän befahl den Steuermännern, das Schiff zu wenden. Als der Bug stromabwärts zeigte, brüllte er den Ruderern zu: »Volle Kraft voraus!«

Das Schiff ruckte wie ein träger Wal und gewann an Geschwindigkeit. Das gegnerische Schiff hatte das Wendemanöver noch nicht beendet; in diesem Augenblick präsentierte es sich ihnen von seiner verletzlichsten Seite. Obwohl der Bug seines Schiffs nicht mit Metall verkleidet war, wusste der Kapitän, dass sich das harte Holz der Libanonzeder mit tödlicher Wirkung einsetzen ließ.

Hufe klapperten inmitten der rufenden Männer. Die Pferde waren aus den Ställen ausgebrochen und an Deck gekommen. Die Skythen ließen ihre Bogen fallen und versuchten die Tiere wieder nach unten zu treiben. Die Pferde bäumten sich jedoch verzweifelt auf und rollten mit den Augen. Der Rauch und das Feuer machten ihnen noch größere Angst als der Lärm der Menschen.

Die Schiffe waren nicht mehr weit voneinander entfernt. Der Kapitän konnte eine Gestalt in Purpur erkennen, die sich vom einen Ende des Decks zum anderen bewegte, während Melqart seine Besatzung zur Eile antrieb.

Krachend rammte das brennende Schiff das Kriegsschiff. Der Kapitän verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Doch er kam schnell wieder auf die Beine. Der hölzerne Pferdekopf am Bug hing schief. Das Schiff war zurückgeprallt und drehte sich, bis der Rumpf längsseits zum anderen Gefährt lag. Die feindlichen Bogenschützen würden sie ohne Mühe erschießen können. Dann würden Krieger mit Speeren nachsetzen, um den Überlebenden den Rest zu geben.

Auf seinem Schiff war die Disziplin zusammengebrochen. Männer rannten auf dem brennenden Deck umher, auf der Flucht vor den Flammen oder den Hufen der Pferde.

Die Schiffe rieben sich knirschend aneinander.

Eine Böe vertrieb den Rauch und klärte für einen kurzen Augenblick die Sicht. Der Kapitän sah das grinsende Gesicht seines Bruders, der ihn aus wenigen Fuß Entfernung anstarrte.

Der Kapitän gab sich einen Ruck und watete durch Rauchschwaden über das Hauptdeck, um seine panische Besatzung zusammenzutreiben.

Ein Pferd bäumte sich genau vor dem Kapitän auf, sodass er zurückweichen musste, um nicht zertrampelt zu werden. Das brachte ihn auf eine Idee. Er hob ein Stück des brennenden Segels vom Deck auf und wedelte damit vor dem Pferd herum. Das Tier bäumte sich wieder auf und schlug mit den scharfen Hufen durch die Luft. Der Kapitän rief den Skythen zu, dass sie seinem Beispiel folgen sollten.

Sie bildeten eine ungeordnete Reihe. Mit Gebrüll und Stücken brennenden Stoffs trieben sie die Pferde gegen die niedrige Reling des Schiffes.

An der Reling des anderen Schiffes hatten sich tätowierte Thraker aufgereiht. Ihre Augen funkelten voller Vorfreude auf das Massaker, das in wenigen Augenblicken beginnen würde. Doch dann stiegen oder sprangen die Pferde über die Reling auf das Deck des Kriegsschiffs. Die Tiere brachen durch die Reihe der Krieger und galoppierten verzweifelt von einem Ende des Decks zum anderen, wobei sie jeden niedertrampelten, der ihnen im Weg stand.

Der Kapitän machte einen Satz über die Reling, dicht gefolgt von den Skythen. Mit einem schnellen Schwerthieb fällte er den ersten Mann, dem er begegnete. Dann überrannte seine Besatzung das Deck. Die Thraker zogen sich verwirrt vor dem heftigen Angriff zurück.

Das Gesicht des Kapitäns war schwarz von Ruß. Er blutete zwar aus mehreren oberflächlichen Schwert- und Speerwunden, bewegte sich jedoch unaufhaltsam auf Melqart zu. Dieser hatte erkannt, dass sich das Blatt zu seinen Ungunsten gewendet hatte, und bemühte sich, im erhöhten Achtersteven des Schiffes eine sichere Zuflucht zu suchen. Menelik stieg eine kurze Leiter zum Heck hinauf, wo sich sein Halbbruder niedergekauert hatte.

Diesmal würde er nicht zögern, ihm den tödlichen Streich zu verpassen.

Doch als sein Schwert auf lebendes Fleisch stieß, krachte etwas Hartes gegen den Schädel des Kapitäns, und er brach auf dem Deck zusammen, während sich ein schwarzer Vorhang über seine Augen senkte.

Später, als die letzten Spuren der Schlacht in Gestalt von Luftblasen an der Wasseroberfläche zerplatzt waren, erhob sich der lautlose Beobachter, der sich im Gras versteckt hatte, und bewegte sich vorsichtig am Strand entlang, nicht weit von der Stelle, wo er das Ungeheuer mit dem Pferdekopf zum ersten Mal gesehen hatte.

Alles war still. Die Schmerzens- und Todesschreie sowie das Krachen der Waffen waren verstummt. Jetzt war nur noch das leise Rauschen der Wellen am Flussufer zu hören, das mit Toten übersät war. Er ging von Leiche zu Leiche, um sie zu durchsuchen. Den Goldschmuck beachtete er nicht, weil er an nützlicheren Dingen interessiert war.

Er bückte sich gerade, um weitere Beute einzusammeln, als er ein Mitleid erregendes Maunzen hörte. Die völlig durchnässte Masse aus rotgetigertem Fell hatte sich an einem verkohlten Stück Holz festgekrallt. Der Jäger hatte noch nie zuvor eine Katze gesehen, und sein erster Gedanke war, sie zu erlegen. Doch dann siegte sein Mitgefühl, und er hüllte das Tier in ein weiches Ledertuch.

Als er schließlich eingesammelt hatte, was er tragen konnte, stahl er sich davon und ließ nur seine Fußabdrücke im Sand zurück.

Im Weißen Haus, 1809

Im Haus des Präsidenten an der Pennsylvania Avenue war es dunkel, abgesehen vom Arbeitszimmer, wo ein knisterndes Feuer im Kamin die Winterkälte verscheuchte. Der gelblich flackernde Feuerschein fiel auf das markante Profil des Mannes, der an einem Schreibtisch saß und bei der Arbeit leise vor sich hin summte.

Mit den blaugrauen Augen, deren eindringlicher Blick jeden bei der ersten Begegnung verblüffte, warf Thomas Jefferson einen Blick auf die Wanduhr. Es war zwei Uhr morgens. Normalerweise begab er sich um zehn zur Ruhe. Seit sechs Uhr abends hatte er am Schreibtisch gearbeitet, nachdem er bei Sonnenaufgang aufgestanden war.

Am Nachmittag hatte der Präsident den Ausritt mit seinem Lieblingspferd Eagle durch Washington unternommen und trug noch immer seine Reitkleidung: eine bequeme, abgewetzte braune Jacke, eine rote Weste, Kordhosen und Wollsocken. Die Reitstiefel hatte er gegen die absatzlosen Pantoffeln ausgetauscht, mit denen er schon häufig ausländische Abgesandte schockiert hatte, die standesgemäßeres Schuhwerk an den Füßen eines Präsidenten erwartet hatten.

Der Präsident streckte seinen langen Arm nach einem Schränkchen aus. Ein Fingerdruck genügte, um die Türen aufspringen zu lassen – etwas, das Jeffersons Vorliebe für mechanische Apparaturen sehr zusagte. Darin standen ordentlich aufgereiht ein Kelch aus geschliffenem Glas, eine Karaffe mit französischem Rotwein, ein Teller mit Gebäck und eine Nachtkerze, die es ihm ermöglichen würde, durch die Korridore hinweg den Weg zu seinem Schlafzimmer zu finden. Er schenkte sich ein halbes Glas Wein ein, hielt es mit verträumtem Blick ins Licht und nahm einen kleinen Schluck, der sofort angenehme Erinnerungen an Paris weckte.

Er sehnte sich nach dem Anbruch des folgenden Tages. In wenigen Stunden würde die schwere Last seines Amtes auf die schmalen, aber durchaus fähigen Schultern seines Freundes James Madison übergehen.

Er gönnte sich einen weiteren Schluck Wein und wandte sich wieder den Dokumenten zu, die auf seinem Schreibtisch ausgebreitet lagen. In der gleichen flüssigen Handschrift, mit der er auch die Unabhängigkeitserklärung niedergeschrieben hatte, waren dort in Tabellen Begriffe aus über fünfzig indianischen Sprachen notiert, die er während eines Zeitraums von dreißig Jahren gesammelt hatte.

Jefferson hatte sich schon seit Langem eingehend mit der Frage beschäftigt, wie die Indianer nach Nordamerika gekommen waren, und hatte viele Jahre damit verbracht, Listen mit Wörtern zusammenzustellen, die in indianischen Sprachen und Dialekten häufig auftraten. Nach seiner Theorie würden Ähnlichkeiten zwischen Wörtern aus der Alten und der Neuen Welt vielleicht einen Hinweis auf den Ursprung der Indianer geben.

Jefferson hatte seine Macht als Präsident schamlos ausgenutzt, um seiner Leidenschaft nachzugehen. Einst hatte er fünf Häuptlinge der Cherokee zu einem Empfang ins Weiße Haus eingeladen und sie über ihre Sprache ausgefragt. Er hatte Meriwether Lewis beauftragt, das Vokabular der Indianerstämme zu protokollieren, denen er auf seiner historischen Reise zum Pazifik begegnete.

Das Buch, das Jefferson über den Ursprung der Indianer schreiben wollte, würde den Höhepunkt seiner intellektuellen Karriere markieren. Die stürmischen Ereignisse während seiner zweiten Amtszeit hatten ihn zeitweise daran gehindert, das Vorhaben weiterzuverfolgen, und so hatte er vorläufig darauf verzichtet, die Listen an den Drucker zu schicken. Zuvor wollte er Zusammenfassungen der Unmengen an neuem Material schreiben, das Lewis und Clark von ihrer Expedition mitgebracht hatten.

Er schwor sich, diese Aufgabe zu Ende zu bringen, sobald er wieder in Monticello war, und ordnete die Papiere zu einem Stapel, den er mit einem Band zusammenschnürte und zusammen mit anderen Wörterlisten und Dokumenten in eine schwere Truhe legte. Sie würde zusammen mit seinen übrigen Besitztümern zum James River transportiert und auf ein Boot verladen werden, das seine Sachen nach Monticello bringen sollte. Er legte die letzten Papiere in die Truhe und ließ den Deckel zuschnappen.

Jetzt war sein Schreibtisch vollständig abgeräumt, bis auf eine Zinnschachtel, in deren Deckel sein Name geprägt war. Der Präsident öffnete die Schachtel und nahm ein rechteckiges Stück Pergament heraus, das etwa fünfundzwanzig mal dreißig Zentimeter maß. Er hielt die weiche Tierhaut neben eine Öllampe. Die körnige Oberfläche war mit seltsamen Schriftzeichen, gewellten Linien und Kreuzen übersät. Auf einer Seite war der Rand ausgefranst.

Er hatte das Pergament im Jahr 1791 erworben. Damals hatte er zusammen mit seinem Nachbarn »Jemmy« Madi-son in Virginia einen Ausritt nach Long Island unternommen, um die verarmten Reste des Stammes der Unkechaug zu besuchen. Jefferson hatte gehofft, jemanden zu finden, der die alte Sprache der Algonkin-Stämme noch beherrschte, und sie hatten tatsächlich drei ältere Frauen getroffen, die diese Mundart sprachen. Jefferson hatte mit ihrer Hilfe ein Wörterbuch zusammengestellt, von dem er hoffte, dass es seine Theorie über den europäischen Ursprung der Indianer stützte.

Der Häuptling des Stammes hatte Jefferson das Pergament geschenkt und erklärt, dass es von einer Generation an die nächste weitergegeben worden war. Von dieser Geste angerührt hatte Jefferson einen reichen Landbesitzer und Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung gebeten, sich um die Indianer zu kümmern.

Als er das Pergament jetzt betrachtete, kam ihm eine Idee. Er ging damit zu einem Tisch, auf dem eine Staffelei stand, an deren Rahmen zwei Stifte befestigt waren. Dadurch war es möglich, beide Stifte gleichlaufend zu bewegen. Jefferson benutzte diese als Polygraph bekannte Kopiervorrichtung regelmäßig für seine umfangreiche Korrespondenz.

Er reproduzierte die Zeichen auf dem Pergament und fügte Notizen hinzu, in denen er den Empfänger aufforderte, die Sprache zu identifizieren, in der diese Worte geschrieben worden waren. Dann adressierte und versiegelte er die Umschläge und legte sie in einen Korb für die ausgehende Post.

Die Wörterlisten der Unkechaug kamen zusammen mit den anderen Papieren in die Truhe. Jefferson wollte das Pergament in seiner Nähe behalten, also legte er es in die Schachtel zurück. Er würde sie in seinen Satteltaschen mit sich führen, wenn er nach Monticello ritt. Erneut blickte er auf die Wanduhr, leerte das Weinglas und erhob sich von seinem Sessel.

Mit seinen fünfundsechzig Jahren hatte Jefferson kein Gramm überflüssiges Fett an seinem robusten Körper. Sein dichtes, ursprünglich rötlich-blondes Haar war im Laufe der Jahre sandgrau geworden. Mit seinen breiten Schultern, der kerzengeraden Haltung und einer Größe von einem Meter achtundachtzig würde er immer eine imposante Gestalt sein. Die entzündliche Arthritis plagte ihn zunehmend, aber wenn er die Steifheit durch Übungen aus den Gliedern vertrieben hatte, konnte er seine Gelenke mühelos bewegen und legte die Anmut eines wesentlich jüngeren Mannes an den Tag.

Er entzündete die Nachtkerze und machte sich auf den Weg durch das stille Weiße Haus zu seinem Schlafzimmer.

Bei Sonnenaufgang war er wieder auf den Beinen und ritt zur Amtseinführung des neuen Präsidenten, wie üblich ohne Prunk und Förmlichkeiten. Er tippte sich lediglich an den Hut, als er an der wartenden Kavallerieeskorte vorbeigaloppierte. Dann stieg er in der Nähe des Kapitols vom Pferd und band es an einem Lattenzaun fest. Während der Amtseinführung saß er im Publikum. Später kehrte er zu einem Abschiedsbesuch ins Weiße Haus zurück. Beim anschließenden Ball tanzte er mit Dolley Madison.

Am nächsten Tag packte er seine restlichen Sachen ein und vergewisserte sich, dass die Truhe mit seinen Indianerdokumenten auf dem Wagen stand, der sie zum James River bringen sollte. Dann machte er sich mit seinem Pferd auf den Weg nach Monticello und ritt acht Stunden lang durch einen Schneesturm, während er es kaum erwarten konnte, sein Leben auf dem Lande wieder aufzunehmen.

Der Beobachter stand im Schatten einer schneebedeckten Eiche in der Nähe des Ufers des James River, wo mehrere Frachtkähne für die Nacht angelegt hatten. Raues Gelächter drang aus einer nahe gelegenen Taverne. Die Stimmen wurden immer lauter, und aus persönlicher Erfahrung wusste er, dass die Besatzungen der Kähne das letzte Stadium der Trunkenheit vor der Besinnungslosigkeit erreicht hatten.

Er trat aus dem Schutz der Dunkelheit hervor und lief über den Schnee zu einem Kahn, dessen Umrisse sich im flackernden Licht der Laterne am Heck schwach abzeichneten. Das fünfzig Fuß lange Bateau war ein schmales Gefährt mit flachem Boden, das dafür konstruiert war, Tabak über den Fluss zu transportieren.

Am Ufer rief er zum Boot hinüber, doch es kam keine Antwort. Verführt durch die Aussicht auf ein warmes Feuer, etwas zu trinken und weibliche Gesellschaft war der Kapitän mit den zwei Männern, die den Flusskahn stakten, an Land gegangen. Verbrechen kamen an diesem abgelegenen Teil des Flusses so gut wie überhaupt nicht vor, weshalb es auch niemand für notwendig hielt, die Boote in dieser kalten Nacht zu bewachen.

Der Beobachter lief den Steg hinauf und nahm die Hecklaterne an sich, um etwas sehen zu können, als er unter die aufgewölbte Plane kroch, die den mittleren Teil des Decks überspannte. Die Fracht bestand aus über zwei Dutzend Bündeln, die mit den Initialen TJ beschriftet waren. Er stellte die Laterne ab und machte sich daran, die Gepäckstücke und Kisten zu durchsuchen.

Mit einem Messer drückte er den Deckel einer Truhe auf und nahm eine Handvoll Papiere heraus, die darin ordentlich verstaut waren. Wie man ihm befohlen hatte, stopfte er die Dokumente in einen großen Sack und warf andere ans Flussufer. Wieder andere warf er ins Wasser, wo sie in der schnellen Strömung bald davongetrieben waren.

Der Mann war sichtlich zufrieden mit seinem Werk. Er warf noch einen kurzen Blick zu der lauten Taverne, dann schlich er sich über den Steg zum Ufer und verschmolz wie ein Geist mit der Dunkelheit.

Wenig später kehrte Jefferson mit ein paar Freunden nach Monticello zurück und sah, wie seine Haussklaven Kisten von einem Wagen luden, der in der Nähe der Säulen vor dem Eingang zu seinem Landsitz stand. Als er näher herangeritten war, erkannte er in einer stämmigen, bärtigen Gestalt den Kapitän des James-River-Bateaus wieder, mit dem man sein Gepäck von Washington herübergebracht hatte.

Er stieg vom Pferd und ging zum Wagen, doch in seiner Freude über das eingetroffene Gepäck bemerkte er nicht den betroffenen Gesichtsausdruck des Schiffers. Mit den Fingerknöcheln klopfte er gegen den Wagen. »Gute Arbeit, Kapitän. Wie ich sehe, ist alles sicher und unversehrt eingetroffen.«

Das runde Gesicht des Kapitäns legte sich wie ein überreifer Kürbis in Falten. »Ganz und gar nicht, wie ich zu meinem tiefsten Bedauern sagen muss, Sir«, murmelte er.

»Was soll das heißen?«

Der Kapitän schien immer mehr zusammenzuschrumpfen. Jefferson überragte den Schiffer ein gutes Stück und hätte auch dann eine beeindruckende Gestalt abgegeben, wenn er kein ehemaliger Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika gewesen wäre. Seine Augen schienen mit starker Leuchtkraft Löcher in den unglückseligen Kapitän zu bohren.

Während der Schiffer seine Geschichte erzählte, wrang er seinen Hut so fest, dass er ihn beinahe in Stücke gerissen hätte.

Während der letzten Etappe der Flussfahrt hinter Richmond war Jeffersons Truhe geplündert worden. Der Dieb hatte den Kahn bestiegen, als er am Ufer vertäut gewesen war und die Besatzung an Land geschlafen hatte, berichtete der Kapitän. Er reichte Jefferson ein paar schmutzige Papiere und erklärte, dass man sie später am Flussufer gefunden hatte.

Jefferson starrte auf das feuchte Bündel in seiner Hand.

»Sonst wurde nichts gestohlen?« Er war kaum in der Lage, die Worte herauszubringen.

»Nein, Sir.« Die Miene des Kapitäns hellte sich auf, als er den Silberstreif am Horizont sah. »Nur diese eine Truhe wurde ausgeräumt.«

Nur diese eine Truhe.

Die Worte hallten in Jeffersons Ohren nach, als wären sie in einer Höhle gesprochen worden.

»Sagen Sie mir, wo Sie das hier gefunden haben«, forderte er den Mann auf.

Wenig später galoppierten Jefferson und sein Freund davon. Sie ritten so lange, bis sie den Fluss erreichten, wo sie sich trennten, um das Ufer in beiden Richtungen abzusuchen. Nach gründlicher Erkundung des Geländes hatten sie einige weitere ans Ufer gespülte Papiere aus dem Wasser gefischt. Bis auf wenige Blätter waren die schlammbeschmierten Beispiele indianischen Vokabulars jedoch kaum noch zu entziffern.

Im folgenden Sommer wurde ein kleiner Dieb und Trunkenbold verhaftet und des Verbrechens angeklagt. Der Mann behauptete, von einem Fremden den Auftrag erhalten zu haben, die Papiere zu stehlen und vorzutäuschen, dass sie vernichtet worden seien.

Jefferson war froh, dass der Übeltäter gefasst worden war und vermutlich gehängt würde. Weiter interessierte er sich nicht für das Schicksal des Mannes. Der Schurke hatte ihm einen nicht wieder gutzumachenden Schaden zugefügt. Jefferson hatte dringlichere Probleme, beispielsweise musste er sich um seine lange vernachlässigten Felder kümmern und sich überlegen, wie er seine wachsenden Schulden abzahlen konnte.

All das änderte sich Monate später, als mit seiner Post ein gewisser Brief eintraf.

Jefferson hatte mehrere Antworten auf die Notizen erhalten, die er vom Weißen Haus an Mitglieder der Philosophischen Gesellschaft geschickt hatte. Alle drückten ihre Ratlosigkeit aus, was die Wörterlisten betraf, die Jefferson von dem Pergament transkribiert hatte. Alle bis auf einen.

Professor Holmberg war Linguist an der Universität von Oxford. Er entschuldigte sich zunächst, dass er Jefferson nicht schon früher geantwortet hatte, aber er war wegen einer Reise durch Nordafrika nicht zu Hause gewesen. Er wusste genau, in welcher Sprache die Worte verfasst waren, und hatte eine Übersetzung beigelegt.

Jeffersons Augen wurden immer größer, als er Holmbergs Auswertung las. Mit dem Brief in der Hand durchstöberte er seine Bibliothek und zog mehrere Bände aus den Regalen – zu den Themen Geschichte, Sprache und Religion.

Die nächsten Stunden verbrachte er damit, zu lesen und sich Notizen zu machen. Als er das letzte Buch geschlossen hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück, legte die Finger aneinander und starrte ins Leere. Nachdem er eine Weile gedankenverloren verharrt hatte, formten seine Lippen lautlos einen vertrauten Namen.

Meriwether Lewis.

Das Schicksal hatte es mit dem Leiter der Expedition, die die Schleusentore zur Expansion der Vereinigten Staaten in den amerikanischen Westen geöffnet hatte, nicht gut gemeint.

Lewis war ein Mann mit außergewöhnlichen Talenten. Jefferson war sich der Fähigkeiten seines Landsmanns aus Virginia bewusst gewesen, als er Lewis im Jahre 1803 aufgefordert hatte, die Erkundung der Pazifikküste zu leiten.

Er war gebildet und unerschrocken, ein kundiger Wissenschaftler mit abgehärtetem Körper, jemand, der sich gern in der freien Natur aufhielt, ein Kenner indianischer Bräuche und ein Mann von gediegenem Charakter. Er war ein angesehener Captain der Armee gewesen, bevor er für Jefferson im Weißen Haus gearbeitet hatte, wo er seine zahlreichen Kenntnisse um die der Diplomatie, der Staatskunst und der Politik erweitert hatte.

Die Expedition war atemberaubend erfolgreich verlaufen. Nachdem Lewis im Jahr 1806 mit William Clark, seinem Mitstreiter, nach Washington zurückgekehrt war, hatte ihn Jefferson zum Gouverneur des Louisiana-Territoriums ernannt.

Lewis hatte sich jedoch die ganze Zeit fragen müssen, ob dieses Amt eine Belohnung oder eine Strafe darstellte. Selbst mit seinen vielen Talenten und seiner unglaublichen Energie stellte es für ihn keine leichte Aufgabe dar, die Wildnis zu zähmen. Die politischen Feinde des Entdeckers waren gnadenlos.

Eines Abends, nachdem Lewis einen weiteren anstrengenden Tag damit verbracht hatte, sich gegen Vorwürfe zu wehren, er hätte staatliche Gelder in eine Pelzhandelskompanie investiert, an der er persönlich beteiligt war, bemerkte er ein versiegeltes Paket auf seinem Schreibtisch und erkannte die Handschrift darauf unverzüglich als die von Jefferson wieder. Unter der Adlernase breitete sich ein Lächeln aus, als Lewis das Siegel mit einem Messer erbrach und das steife Papier vorsichtig auseinanderfaltete. Es enthielt ein Bündel Dokumente. Eine kurze Notiz teilte ihm mit:

Mein lieber Mr. Lewis! Die beiliegenden Mitteilungen könnten für Ihren Garten von großem Nutzen sein. TJ

Auf dem nächsten Blatt stand der Titel »Über den Anbau von Artischocken«. Darauf folgte eine ausführliche Abhandlung mit Pflanztabellen und dem Grundriss eines Gartens.

Lewis breitete den Inhalt des Pakets auf seinem Schreibtisch aus und runzelte ratlos die Stirn. Er wusste von Jeffersons Interesse für den Gartenbau, doch es kam ihm seltsam vor, dass er die Mühe auf sich nahm, ihm quer durch den halben Kontinent eine Abhandlung zum Thema Artischocken zu schicken. Ihm musste eigentlich bekannt sein, dass Lewis inmitten seiner erdrückenden Verantwortungen für den Gartenbau gar keine Zeit mehr hatte.

Dann trat der Ausdruck plötzlichen Verstehens auf Lewis’ längliches Gesicht, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Er durchwühlte die Regale eines Schranks, in dem er die Berichte der Expedition aufbewahrte, und hatte innerhalb weniger Minuten gefunden, wonach er gesucht hatte.

Zwischen zwei Dokumentenbündel eingezwängt lag ein Blatt aus schwerem Papier, das er hervorzog und ins Licht hielt. Das Blatt war von mehreren Dutzend rechteckigen Löchern perforiert. Mit zitternden Fingern legte er diese Schablone über die erste Seite des Artischocken-Textes. Dann übertrug er die Buchstaben, die durch die Löcher sichtbar waren, auf ein anderes Blatt Papier.

Als Jefferson den Plan für die pazifische Expedition gefasst hatte, war ihm bewusst gewesen, dass sich Lewis in eine schwierige diplomatische Stellung begab, wenn er Territorien erkundete, die von Frankreich und Spanien beansprucht wurden. Unter Jeffersons sphinxhafter Unerschütterlichkeit verbarg sich ein Geist, dessen Verschlagenheit es mit denen aufnehmen konnte, die an den Höfen und Palästen Europas weilten. Für die Korrespondenz mit seinem Abgesandten in Frankreich hatte er häufig eine Verschlüsselung benutzt, die er als »Maske für den Bedarfsfall« bezeichnet hatte.

Während sich Lewis in Philadelphia gemeinsam mit führenden Wissenschaftlern der Philosophischen Gesellschaft auf die große Reise vorbereitet hatte, ließ ihm Jefferson einen Schlüssel zukommen, den er eigens für die Expedition ausgearbeitet hatte. Diese Chiffriermethode basierte auf der Vigenère-Verschlüsselung, die in Europa weit verbreitet war. Das System arbeitete mit einer alphanumerischen Tabelle und einem Schlüsselwort.

Artischocken.

Es hatte keine Notwendigkeit bestanden, die Verschlüsselung während der Expedition zu benutzen, weswegen Lewis nur einen kurzen Augenblick gebraucht hatte, um den Zusammenhang zu erkennen. Er verschob seine Fragen auf später und machte sich an die Entschlüsselung der Nachricht, genauso begeistert, wie er auch jede andere Aufgabe in Angriff nahm. Die dechiffrierten Buchstaben fügten sich zu Wörtern zusammen, die allmählich einen Sinn ergaben.

Lieber Mr. Lewis! Ich hoffe, Sie befinden sich in guter Verfassung. Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihnen diesen Bericht in der verschlüsselten Form zukommen zu lassen, die wir einst vereinbart hatten, damit sie nur Ihnen persönlich zugänglich wird. Ich fürchte, dass die beiliegenden Mitteilungen, ob sie nun der Wahrheit entsprechen oder nicht, die Leidenschaft gewisser Menschen entfachen könnte, sich in Regionen zu begeben, die ihrem Leben unzuträglich sind, und Probleme mit den Indianern heraufzubeschwören. Mir ist bewusst, dass die schwierige Aufgabe, dem Hengst von Louisiana Zügel anzulegen, Ihre ganze Aufmerksamkeit erfordert, aber ich bitte Sie dennoch um Unterstützung bei der Aufklärung dieser Angelegenheit.

I’r erg’b’n’r D’n’r, TJ

Lewis entzifferte nun den Haupttext der Geheimbotschaft. Dann widmete er sich wieder dem Grundriss des Gartens. Die Linien, Kreuze, Kreise und in einer uralten Sprache verfassten Wörter ergaben allmählich einen gewissen Sinn. Schließlich blickte er auf eine Landkarte – und daran kam ihm etwas vertraut vor. Er ging Dutzende seiner kartografischen Entwürfe durch und fand schließlich auch, wonach er suchte.

Er nahm Papier und Feder und schrieb eine kurze Mitteilung. Darin dankte er Jefferson für seine gärtnerischen Ratschläge und sagte, dass er die ideale Stelle für den Anbau dieser Pflanze gefunden hätte. Er schloss damit, dass er die landwirtschaftlichen Aspekte mit Jefferson besprechen würde, wenn er nach Washington zurückkehrte, um seinen Namen reinzuwaschen. Lewis beabsichtigte, sich Anfang September 1809 auf die Reise über den Mississippi zu machen. Er würde Jefferson eine Notiz schicken, sobald er in Washington eingetroffen war.

Doch dazu kam es nie. Im Spätherbst des Jahres erhielt Jefferson einen Brief von einem gewissen Major Neelly, in dem es hieß, dass Lewis auf dem Natchez-Trace-Wildpfad an den Folgen einer Schussverletzung gestorben war. Er war nur fünfunddreißig Jahre alt geworden.

Jefferson war über den Tod dieses begabten jungen Mannes fassungslos. Fast erweckte es den Anschein, als wären die indianischen Wörterbücher mit einem uralten Fluch belegt. Mehrere Wochen später traf Major Neelly mit Lewis’ jungem Sklaven in Monticello ein. Während Neelly sich noch vom Staub der Reise reinigte, trat der Sklave scheu zu Jefferson, um ihm ein Päckchen zu überreichen und eine Nachricht zuzuflüstern.

Der ehemalige Präsident wies sein Personal an, ihn nicht zu stören, und schloss sich in sein Arbeitszimmer ein, um den Inhalt des Päckchens zu studieren. Dann verfasste er eine ausführliche Analyse der Ereignisse, die zum Tod von Lewis geführt hatten. Das erste Licht der Dämmerung drang bereits durch die Fenster, als er das Resümee mit einem einzigen unterstrichenen Wort zusammenfasste.

Verschwörung.

Was, wenn seine indianischen Wörterlisten in Wahrheit gestohlen worden waren, wie es auch der Dieb behauptet hatte? Was, wenn jemand wusste, dass Jeffersons Forschungen den Schlüssel zu einem uralten Geheimnis enthielten? Was, wenn Lewis’ Tod gar kein Selbstmord gewesen war, sondern man ihn umgebracht hatte?

Jefferson sperrte sich noch mehrere Tage lang in seinem Arbeitszimmer ein. Als er schließlich wieder herauskam, in der Hand eine Liste von Anweisungen für sein Personal, machte er den Eindruck eines Besessenen. Eines Nachts, im Schutz der Dunkelheit, ritt er auf seinem Pferd davon. Seine vertrauenswürdigsten Sklaven folgten ihm in einem Wagen. Wochen später kehrten sie erschöpft und zerzaust zurück, doch in Jeffersons Augen stand ein triumphierendes Funkeln.

Er dachte über die Folgen seiner Entdeckung nach. Er hatte alles in seiner Macht Stehende unternommen, um die Vereinigten Staaten vor einer Vergiftung durch das tödliche Bündnis zwischen Kirche und Staat zu bewahren, das der Grund für die Religionskriege, die die Alte Welt jahrhundertelang verwüstet hatten, gewesen war. Er befürchtete, dass eine Bekanntmachung dieser Erkenntnisse die Grundfesten der jungen Republik erschüttern würden, bei deren Erschaffung er mitgewirkt hatte, und sie vielleicht sogar zerstören konnten.

Ohne sich die Zeit für ein Bad oder zum Umziehen zu nehmen, stürmte Jefferson in sein Arbeitszimmer und verfasste einen langen Brief an seinen alten Freund – und seine gelegentliche Nemesis – John Adams. Als er den Umschlag versiegelte, breitete sich ein Lächeln auf seinen müden Gesichtszügen aus.

Er beherrschte das Spiel der Verschwörung genauso gut wie alle anderen.

1

Bagdad, Irak, 2003

Carina Mechadi kochte vor Wut. Als sie die Trümmer in den Verwaltungsbüros des irakischen Nationalmuseums betrachtete, sprühte die junge Italienerin Funken – wie ein Römisches Licht. Schränke waren umgeworfen worden. Akten lagen überall verstreut, als hätte sich ein Wirbelsturm ausgetobt. Schreibtische und Stühle waren völlig zertrümmert. All das war mit einer fürchterlichen Zerstörungswut geschehen.

Carina stieß eine Reihe vernichtender Flüche aus, die an der Herkunft, der sexuellen Orientierung und auch an der Manneskraft der Vandalen, die diese sinnlose Verwüstung angerichtet hatten, kein gutes Haar ließen.

Die Welle von Kraftausdrücken schwappte über den jungen Corporal der US-Marine hinweg, der, eine M4 im Arm, zum Schutz in ihrer Nähe stand. Die einzigen italienischen Wörter, die er kannte, waren Pepperoni und Pizza. Doch er brauchte kein Lexikon, um zu begreifen, dass er Zeuge eines Arsenals an Schmähungen geworden war, die eines Hafenarbeiters mit schmerzendem Rücken würdig gewesen wären.

Die Gossensprache war umso überraschender, wenn man ihre Herkunft bedachte. Carina war einen Kopf kleiner als der Soldat. Der Kampfanzug, auf den die Armeeleute bestanden hatten, ließ die schlanke Frau noch schmaler erscheinen. In der geliehenen kugelsicheren Weste sah sie wie eine Schildkröte mit zu großem Panzer aus. Die Wüstentarnuniform war für einen kleinen Mann gedacht. Der Helm, der ihr langes schwarzes Haar verbarg, saß so tief, dass er ihre kornblumenblauen Augen beinahe verdeckte.

Carina bemerkte das erstaunte Grinsen des Soldaten. Sie lief rot an und unterbrach ihre Tirade: »Tut mir leid.«

»Kein Problem«, sagte der Corporal. »Falls Sie Ausbilder werden wollen, das Marine Corps würde Sie bestimmt mit Kusshand nehmen.«

Die Wut wich aus ihrem staubigen Gesicht. Die vollen Lippen, die eher für ein verführerisches Lächeln als für Flüche geeignet schienen, verzogen sich zu einem breiten Lächeln, das vollkommene weiße Zähne offenbarte. Nachdem sich ihr Zorn verflüchtigt hatte, klang ihre Stimme sanft und leise. »Danke für das Angebot, Corporal O’Leary«, sagte sie mit leichtem Akzent und blickte auf die Trümmer zu ihren Füßen. »Wie Sie sehen, bin ich in solchen Dingen sehr leidenschaftlich.«

»Machen Sie sich keinen Vorwurf, weil Sie so angepisst …« Der Marine wurde rot und sah weg. »Entschuldigung, weil Sie so wütend sind. Ist ja auch ein verdammtes Chaos.«

Saddam Husseins Republikanische Garde hatte auf dem fünf Hektar großen Museumsgelände im Herzen von Bagdad am Westufer des Tigris eine Verteidigungsstellung eingerichtet. Die irakischen Truppen waren angesichts der vorrückenden Amerikaner um ihr Leben gerannt und hatten das Museum sechsunddreißig Stunden unbewacht gelassen. Hunderte von Plünderern waren durch die Anlage marodiert, bis sie von den Museumsmitarbeitern vertrieben worden waren.

Die Gardisten hatten in ihrem Drang, wieder ins zivile Leben zurückzukehren, ihre Uniformen abgelegt und haufenweise Ausweise verbrannt. In einem letzten trotzigen Aufbegehren hatte jemand »TOD ALLEN AMERIKANERN!« an eine Hofmauer gekritzelt.

»Wir haben genug gesehen«, sagte Carina mit grimmiger Miene. Mit Corporal O’Leary im Schlepptau stolperte sie aus den Verwaltungsbüros. Ihr schwerfälliger Gang lag nur zum Teil an den Armeestiefeln. Ein Gefühl von Beklemmung drückte sie hinunter, wenn sie sich vorstellte, was sie wohl in den Ausstellungssälen vorfinden oder nicht vorfinden würde, dort, wo die wertvollsten Stücke des Museums in über fünfhundert Vitrinen präsentiert wurden.

Der Weg durch den langen Hauptgang gab ihren Befürchtungen neue Nahrung. Mehrere Sarkophage waren aufgebrochen und Statuen enthauptet worden.

Carina betrat den ersten Saal, in dem sich babylonische Kunstgegenstände befunden hatten. Ein korpulenter Mann mittleren Alters stand über eine zerschmetterte Vitrine gebeugt. Neben ihm nahm ein junger Iraker eine AK-47 in Anschlag, als sie hereinkamen.

Der Marine hob seinen Karabiner an die Schulter. Der schwergewichtige Mann sah auf und starrte den Soldaten durch dicke Brillengläser an. In seinen Augen lag eher Verachtung als Angst. Sein Blick glitt zu Carina – und sein Gesicht erstrahlte in einem Vierzehnkaratlächeln.

»Meine liebe Miss Mechadi«, sagte er herzlich.

»Hallo, Dr. Nasir. Freut mich, dass es Ihnen gut geht.« Carina wandte sich an den Marine. »Corporal, das ist Mohammed Jassim Nasir. Er ist Chefkurator des Museums.«

Der Marine ließ die Waffe sinken. Der Iraker tat mit seiner AK-47 dasselbe, ließ aber einen Moment verstreichen, um zu zeigen, dass er sich von dem Amerikaner nicht einschüchtern ließ. Trotzdem behielten sie sich gegenseitig im Auge.

Nasir kam herüber, um Carinas Hände in die seinen zu nehmen. »Sie hätten nicht so früh kommen sollen. Es ist noch immer ziemlich gefährlich.«

»Sie sind hier, Professor.«

»Natürlich. Diese Institution ist mein Leben.«

»Ich verstehe Sie vollkommen«, sagte Carina. »Aber die Gegend um das Museum herum ist sicher.« Sie nickte zu ihrem Begleiter hinüber. »Und Corporal O’Leary passt gut auf mich auf.«

Nasirs Miene verfinsterte sich. »Ich hoffe, dieser Gentleman ist ein besserer Beschützer, als es seine Kameraden waren. Wenn meine tapferen Kollegen nicht gewesen wären, stünden wir jetzt vor der totalen Katastrophe.«

Carina verstand Nasirs Wut. Die amerikanischen Truppen waren erst vier Tage, nachdem die Museumskuratoren den Kommandeuren von den Plünderungen berichtet hatten, angerückt. Carina hatte verzweifelt versucht, sie zu einem schnelleren Eingreifen zu bewegen. Sie hatte den amerikanischen Offizieren mit ihrem UNESCO-Ausweis, der um ihren Hals hing, vor der Nase herumgewedelt, nur um mitgeteilt zu bekommen, dass die Situation zu ungewiss und gefährlich sei.

Carina sah keinen Sinn darin, über die Schuldfrage zu diskutieren. Der Schaden war bereits angerichtet. »Ich habe mit den Amerikanern gesprochen. Sie meinten, es wäre zu einer blutigen Schlacht gekommen, wenn sie früher eingegriffen hätten.«

Nasir warf einen vernichtenden Blick in Richtung des Marine. »Ich verstehe. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, die Ölquellen zu beschützen.« Der finstere Ausdruck in seinem nussbraunen Gesicht verriet, dass er ein Blutbad der Plünderung vorgezogen hätte.

»Ich bin genauso schockiert wie Sie. Es ist einfach schrecklich.«

»Zum Glück ist es nicht überall so schlimm wie hier«, sagte Nasir mit unerwartetem Optimismus. »Die Kunstgegenstände aus dieser Vitrine waren nicht sehr bedeutend. Zum Glück hat das Museum nach der Invasion von 1991 einen Notfallplan ausgearbeitet. Die Kuratoren haben die meisten Kunstwerke in sichere Räume gebracht, die ausschließlich fünf langjährigen Museumsmitarbeitern bekannt sind.«

»Das ist ja wunderbar, Professor!«