Sabotage - Clive Cussler - E-Book

Sabotage E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Offenbar grundlos zerstört der »Saboteur« Züge und Schienenwege der Southern Pacific Railroad Company. Sollte er nicht bis zum Winter gefasst werden, bedeutet dies das Aus für die Eisenbahngesellschaft und damit das Ende der Eroberung des Westens der USA. Isaac Bell von der Van-Dorn-Detektivagentur ist der Einzige, der den Verbrecher noch stoppen kann. Kompromisslos heftet er sich an die Fersen des Saboteurs, doch was Bell während der Jagd herausfindet, erschüttert selbst diesen harten Mann.

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Clive Cussler

& Justin Scott

Sabotage

Ein Isaac-Bell-Roman

Aus dem Englischen von Michael Kubiak

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Wrecker« bei Putnam, New York.

1. Auflage

E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen

der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © 2009 by Sandecker RLLLP

By arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Blanvalet Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: © Illustration Johannes Wiebel | punchdesign,

München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

Redaktion: Jörn Rauser

HK · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15196-6

www.blanvalet.de

Unerledigte Angelegenheiten

12. Dezember 1934Garmisch-Partenkirchen

Oberhalb der Schneegrenze nagten die Alpen wie die Zähne eines vorsintflutlichen Fleischfressers am Himmel. Sturmwolken streiften die sturmumtosten Bergspitzen, während sich der zerklüftete Fels zu bewegen schien. Es war, als erwache die Bestie. Zwei Männer – keiner von ihnen mehr jung, aber beide stark – beobachteten die Entwicklung vom Balkon eines Skihotels aus mit wachsender Vorfreude.

Hans Grandzau war ein Bergführer, dessen wettergegerbtes Gesicht genauso rissig aussah wie die Berggipfel. In seinem Kopf trug er das Wissen, das man anhäuft, wenn man sein Leben sechzig Jahre lang vorwiegend auf den winterlichen Berghängen zubringt. Am Vorabend hatte er versprochen, dass der Wind nach Ost drehen werde. Eine eisige sibirische Kälte werde die feuchte Luft, die vom Mittelmeer herüberkam, in dichten, wirbelnden Schnee verwandeln.

Der Mann, dem Hans diesen Schnee versprochen hatte, war ein hochgewachsener Amerikaner, dessen blondes Haar und Schnurrbart mit silbernen Fäden durchzogen war. Er trug einen Anzug aus Norfolk-Tweed, auf dem Kopf einen wärmenden Filzhut und einen Schal der Yale University mit dem Emblem des Branford College. Seine Kleidung war typisch für einen gut situierten Touristen, der die Alpen besuchte, um Wintersport zu treiben. Aber seine Augen richteten sich mit eisblauer Intensität auf eine einsame Felsenburg, die fünfzehn Kilometer entfernt auf der anderen Seite des unwegsamen Tales lag.

Seit eintausend Jahren überragte diese Burg die abgelegene Schlucht. Im Winter wurde sie nahezu vollständig von Schnee begraben und versteckte sich sonst im Schatten der Berge, die majestätisch auf sie herabblickten. Einige Kilometer unterhalb der Burg und nur durch eine Kletterpartie zu erreichen, die zu lang und steil war, um auf die leichte Schulter genommen werden zu können, lag ein Dorf. Der Amerikaner beobachtete eine Rauchsäule, die sich ihm langsam näherte. Er war zwar zu weit entfernt, um auch die Lokomotive sehen zu können, die jenen Rauch erzeugte, doch er wusste, dass sie den Verlauf des Gleises markierte, das über die Grenze bis nach Innsbruck führte. Der Kreis hat sich geschlossen, dachte er grimmig. Vor siebenundzwanzig Jahren hatte das Verbrechen mit einer Eisenbahn in den Bergen begonnen. Und heute würde es in jedem Fall sein Ende finden, und zwar wieder durch eine Eisenbahn in den Bergen.

»Sind Sie auch sicher, dass Sie das schaffen?«, fragte der Bergführer. »Die Aufstiege sind steil, und der Wind schneidet wie mit Messern.«

»Ich bin genauso frisch wie Sie, alter Freund.«

Um Hans zu beruhigen, erklärte er, dass er sich entsprechend vorbereitet habe, indem er als nicht formeller Angehöriger einer Einheit der United States Army, die zur Teilnahme an einer Übung zur Verfeinerung ihrer Gebirgskampftechniken abkommandiert worden war, einen ganzen Monat mit einer auf Skiern operierenden Truppe des norwegischen Militärs unter winterlichen Verhältnissen im Biwak verbrachte.

»Ich hatte gar keine Ahnung, dass amerikanische Soldaten in Norwegen ausgebildet werden«, gab der Deutsche pikiert zurück.

Die blauen Augen des Amerikaners bekamen einen violetten Schimmer, während der Anflug eines Lächelns um seine Lippen spielte. »Nur für den Fall, dass wir irgendwann mal wieder zurückkommen müssen, um einen weiteren Krieg zu beenden.«

Dafür hatte Hans nur ein mattes Grinsen übrig. Der Amerikaner wusste, dass er ein stolzer Veteran des Alpenkorps war, jener deutschen Elite-Gebirgsdivision, die Kaiser Wilhelm im Ersten Weltkrieg 1914–1918 hatte aufstellen lassen. Aber er war kein Freund der Nazis, die soeben die deutsche Regierung unter ihre Kontrolle gebracht hatten und nun drohten, Europa in einen neuen Krieg zu stürzen.

Der Amerikaner ließ den Blick wachsam in die Runde schweifen, um sich zu vergewissern, dass sie allein waren. Ein älteres Zimmermädchen in schwarzem Kleid und weißer Schürze schob auf der anderen Seite der Balkontüren einen Teppichreiniger vor sich her. Er wartete, bis sich die Frau entfernt hatte, dann versteckte er ein Lederetui mit Schweizer Zwanzig-Franken-Münzen in Gold in seiner großen Hand und steckte es dem Bergführer zu.

»Das gesamte Honorar im Voraus. Die Abmachung lautet: Wenn ich nicht mithalten kann, überlassen Sie mich meinem Schicksal und kehren nach Hause zurück. Sie besorgen die Skier. Ich erwarte Sie am Skilift.«

Dann begab er sich eilig in sein luxuriöses holzgetäfeltes Zimmer, wo dicke Teppiche und ein knisterndes Feuer die Szenerie jenseits der Fenster noch kälter erscheinen ließen. Schnell schlüpfte er in eine wasserabweisende Gabardine-Hose, deren Beine er in dicke Wollsocken stopfte, dann in Schnürstiefel, zog zwei dünne Wollpullover, eine winddichte Lederweste und eine hüftlange Gabardine-Jacke an, deren Reißverschluss er aber offen ließ.

Jeffrey Dennis klopfte an die Tür und trat ein. Er war ein glatter junger Agent aus dem Berliner Büro und trug einen Tirolerhut, wie er bei Touristen beliebt war. Jeffrey war aufgeweckt, diensteifrig und bestens organisiert. Doch ein Frischluftfanatiker und Naturfreund war er nicht.

»Noch immer kein Schnee?«

»Geben Sie allen das Startzeichen«, sagte der ältere Mann zu ihm. »In einer Stunde können Sie die eigene Hand nicht mehr vor Augen sehen.«

Dennis reichte ihm einen kleinen Rucksack. »Papiere für Sie und Ihr, äh, Gepäck. Der Zug fährt um Mitternacht über die österreichische Grenze. Sie werden in Innsbruck erwartet. Bis morgen sollte der Pass jeder Kontrolle standhalten.«

Der ältere Mann blickte aus dem Fenster zu der fernen Burg hinüber. »Meine Frau?«

»In Paris in Sicherheit. Im George V.«

»Welche Nachricht?«

Der junge Mann holte einen Briefumschlag hervor.

»Lesen Sie vor.«

Dennis las mit monotoner Stimme: »Vielen Dank, mein Liebling, für den schönsten fünfundzwanzigsten Hochzeitstag, den man sich vorstellen kann.«

Der ältere Mann entspannte sich sichtlich. Das war der Code, den sie vor zwei Tagen mit einem Augenzwinkern ausgemacht hatten. Sie hatte die Tarnung geliefert, romantische zweite Flitterwochen – für den Fall, dass ihn irgendjemand erkannte und fragte, ob er dienstlich hier war. Nun befand sie sich also in Sicherheit. Die Zeit für jegliche Tarnung war vorüber. Der Sturm baute sich langsam auf. Er nahm den Briefumschlag und hielt ihn in die Flammen im Kamin. Dann inspizierte er sorgfältig den Reisepass, die Visa und die Passierscheine für den Grenzübergang.

»Pistole?«

Sie war kompakt und leicht. Dennis sagte: »Es ist diese neue automatische Pistole, die die deutschen Polizisten bei verdeckten Einsätzen benutzen. Aber ich kann Ihnen auch einen Dienstrevolver besorgen, wenn Sie sich mit einer älteren Waffe wohler fühlen.«

Die blauen Augen, die die Burg auf der anderen Seite des düsteren Tals erneut betrachtet hatten, kehrten zu dem jungen Mann zurück. Ohne auf seine Hände zu schauen, nahm der Amerikaner das Magazin heraus, vergewisserte sich, dass die Kammer leer war, und fuhr fort, die Walther PPK auseinanderzunehmen, indem er den Abzugbügel öffnete und den Schlitten und die Rückholfeder vom Lauf trennte. Dafür brauchte er zwölf Sekunden. Noch immer den Kurier fixierend, setzte er die Pistole wieder zusammen.

»Das sollte doch ausreichen.«

Allmählich wurde dem jungen Mann klar, dass er hier Zeuge von etwas ganz Besonderem wurde. Ehe er sich bremsen konnte, stellte er eine eigentlich läppische Frage. »Wie lange muss man das üben, um so schnell zu werden?«

Ein überraschend warmes Lächeln erschien in dem ernsten Gesicht, und der ältere Mann sagte weder unfreundlich noch allzu ernst: »Üben Sie bei Nacht, Jeff, bei strömendem Regen und wenn gerade jemand auf Sie schießt, und Sie werden es schnell genug lernen.«

Dichtes Schneetreiben herrschte, als er zum Skilift kam. Er konnte kaum den Berggrat erkennen, der das obere Ende des Skilifts markierte. Die Felsbastionen, die dahinter aufragten, waren unsichtbar. Die anderen Skiläufer waren begeistert und drängelten, um das Zugseil für eine weitere Abfahrt zu ergreifen, ehe der drohende Schneesturm die Bergführer zwang, den Hang aus Sicherheitsgründen zu sperren. Hans hatte neue Skier mitgebracht. Sie waren mit ihren ins Holz eingelassenen Stahlkanten auf dem aktuellen technischen Stand. »Der Wind nimmt zu«, sagte er und deutete auf die Stahlkanten. »Weiter oben dürfte alles vereist sein.«

Sie stiegen in die flexiblen Bindungen, fixierten sie um ihre Fersen, zogen die Handschuhe an und ergriffen die Skistöcke. Dann schoben sie sich durch die schwindende Schar der Skiläufer bis zum Seil, das um eine Tonne herumlief und von einem laut knatternden Treckermotor in Bewegung gehalten wurde. Sie ergriffen das Seil. Ein Ruck ging durch ihre Arme, und die beiden Männer kamen ins Gleiten und boten damit genau den Anblick, der in diesem eleganten Skiort so typisch war: ein reicher Amerikaner in vorgerückt mittlerem Alter auf Abenteuersuche und sein Privatlehrer, der alt und weise genug war, um ihn sicher und so rechtzeitig ins Hotel zurückzubringen, dass er sich ohne Eile zum Abendessen umziehen konnte.

Der Wind auf dem Grat war heftig und drehte ständig. Böen wirbelten den Schnee mal in dichten, mal in dünnen Schwaden durcheinander. Waren in dem einen Augenblick nur die Skiläufer zu sehen, die sich anschickten, den Steilhang hinunterzufahren, so klarte es im nächsten Moment wieder auf. Am Fuß des Steilhangs war das Hotel zu erkennen, klein wie ein Puppenhaus und von hohen Berggipfeln überragt. Der Amerikaner und Hans entfernten sich auf dem Berggrat von den anderen Skiläufern. Und plötzlich, als niemand auf sie achtete, verließen sie den Grat und glitten auf der anderen Seite abwärts.

Ihre Skier schnitten frische Spuren in den unberührten Pulverschnee.

Augenblicklich verstummten die Rufe der anderen Skifahrer und das dumpfe Brummen des Skilifts. Lautlos fielen die Schneeflocken auf wollene Kleidung. Hier war es so still, dass sie das Zischen der stahlverstärkten Holzskier im Schnee, dazu ihren eigenen Atem und ihren Herzschlag hören konnten. Hans führte sie etwa anderthalb Kilometer weit abwärts, bis sie zu einem natürlichen Unterstand gelangten, der durch einen Felsvorsprung gebildet wurde. Der Bergführer holte einen leichten, improvisierten Schlitten aus der Nische.

Er war aus einer Robertson-Bahre gebaut worden, einer Rettungstrage aus Eschen- und Buchenholz und Segeltuch, in die Verletzte eingehüllt wurden, um gefahrlos durch die engen Laufgänge eines Schiffes transportiert werden zu können. Die Bahre war auf ein Paar Skier geschnallt worden, und Hans zog sie an einem Seil, das um seine Taille geknotet war, hinter sich her. Dieses Seil schlang er außerdem um einen langen Skistock, den er beim Abstieg über die Steilhänge als Bremse verwendete. Er ging weitere anderthalb Kilometer voraus über einen weniger steilen Berghang. Am Fuß eines Steilaufstiegs befestigten sie Steighilfen aus Seehundsfell unter ihren Skiern. Der Strich der nach hinten gerichteten Fellhaare erzeugte genügend Haftung, um im Schnee aufzusteigen.

Das Schneetreiben wurde zusehends dichter. Damit kam der Moment, in dem sich Hans seine Goldfranken redlich verdiente. Der Amerikaner konnte sich durchaus nach einem Kompass orientieren. Aber kein Kompass konnte ihm garantieren, dass er, vom Wind gebeutelt und angesichts der wild zerklüfteten Umgebung, nicht doch vom Kurs abkäme. Doch Hans Grandzau, der seit seiner Kindheit immer wieder auf Skiern in dieser Region unterwegs gewesen war, konnte seinen jeweiligen Standort anhand einer besonderen Felsformation oder der Windstärke und der Windrichtung ganz genau bestimmen.

Sie stiegen kilometerweit auf, glitten auf Berghängen abwärts und gewannen danach wieder an Höhe. Häufig mussten sie anhalten, um sich auszuruhen oder um die Seehundsfelle von Eis zu befreien. Es war nahezu dunkel, als das Schneetreiben auf einem Felsgrat nachließ und sie plötzlich freie Sicht hatten. Auf der anderen Seite eines letzten Tales sah der Amerikaner ein einzelnes erhelltes Fenster in der Burg. »Geben Sie mir den Schlitten«, sagte er. »Jetzt übernehme ich.«

Der deutsche Bergführer hörte das stählerne Klirren in seiner Stimme. An Widerspruch war nicht zu denken. Hans reichte ihm das Schlittenseil, drückte ihm die Hand, wünschte ihm Glück und schwang in einem weiten Bogen in die Dunkelheit davon, um in das Dorf irgendwo tief dort unten zurückzukehren.

Der Amerikaner folgte dem Licht.

Die Artillerie des Proletariats

1

21. September 1907Cascade Range, Oregon

Der Eisenbahndetektiv, der beobachtete, wie die Nachtschicht in das gezackte Maul des Tunnels hineintrottete, fragte sich, wie viel Arbeitsleistung die Southern Pacific Company aus einem einäugigen Bergmann mit einem steifen Bein wohl würde herausholen können. Seine Latzhose und sein Flanellhemd waren zerschlissen, seine Schuhsohlen nur noch papierdünn. Die Krempe seines zerbeulten Filzhuts war so tief heruntergeschlagen wie bei einem Zirkusclown, und der Stahlhammer des armseligen Malochers hing aus seiner behandschuhten Hand, als wäre er zu schwer, um hochgehoben zu werden. Irgendetwas schien hier verdächtig zu sein.

Der Eisenbahnpolizist war ein Trinker und sein Gesicht vom unmäßigen Fuselgenuss derart aufgeschwemmt, dass seine Augen in den Wangen geradezu versanken. Aber es waren scharfe Augen, erstaunlicherweise hoffnungsvoll funkelnd und lachend – wenn man bedachte, dass er so tief gesunken war, bei der meistgehassten Polizeitruppe des Landes arbeiten zu müssen – und immer noch wachsam. Er machte einen Schritt vorwärts, um der Sache auf den Grund zu gehen. Doch genau in diesem Moment nahm ein kräftiger junger Mann, ein Bursche mit offenem Gesicht, der direkt vom Land kam, den Hammer des Bergmanns und trug ihn für ihn. Dieser Akt der Hilfsbereitschaft ließ zusammen mit dem Humpeln und der Augenklappe den ersten Mann viel älter erscheinen, als er in Wirklichkeit war, und dazu auch noch harmlos. Was absolut nicht zutraf.

Vor ihnen klafften zwei Öffnungen im Berghang, der Haupttunnel der Eisenbahn und, dicht daneben, ein kleinerer Richttunnel, um die Bohrroute zu erkunden und für frische Luft und Entwässerung zu sorgen. Beide waren mit Holzverschalungen abgeschirmt, um zu verhindern, dass Erdreich und Gestein vom Berghang auf die Männer herabstürzten und Loren begruben, die in ständigem Wechsel hinein- und wieder herausfuhren.

Die Tagesschicht kam herausgestolpert, erschöpfte Männer auf dem Weg zum Arbeitszug, der sie zur Kantine im Lager bringen würde. Eine Lokomotive dampfte neben ihnen her und zog Waggons, die mit Eisenbahnschwellen beladen waren. Dann gab es da noch Frachtwagen mit Zehner-Maultiergespannen sowie Handkarren auf Schmalspurgleisen und Wolken von Staub. Der Bauplatz war abgelegen, zwei Tage rauer und umständlicher Eisenbahnfahrt von San Francisco entfernt. Aber er war nicht isoliert.

Telegrafenleitungen an wackligen Masten verbanden die Wall Street mit der Öffnung des Tunnels. Sie transportierten düstere Meldungen über die Finanzkrise, die New York dreitausend Meilen entfernt erschütterte. Bankiers im Osten und die Zahlmeister der Eisenbahn hatten nackte Angst. Der alte Mann wusste, dass die Drähte von widersprüchlichen Forderungen knisterten. Beschleunigt den Bau der Cascades Cutoff, einer lebenswichtigen Expressstrecke zwischen San Francisco und dem Norden. Oder stellt die Arbeit daran ein.

Dicht vor der Tunnelöffnung blieb der alte Mann stehen, um mit seinem gesunden Auge zum Berggipfel hinaufzublicken. Die Felsbastionen der Cascade Range schimmerten im Licht der untergehenden Sonne rötlich. Er betrachtete sie mit einer Intensität, als wollte er sich für immer einprägen, wie die Welt aussah, ehe ihn der dunkle Tunnel verschlang. Von den Männern hinter ihm gelegentlich angerempelt, rieb er seine Augenklappe, als erinnerte er sich an den schlimmen Moment dieses qualvollen Verlustes. Durch seine Berührung öffnete sich ein winziges Guckloch für sein zweites Auge, das noch schärfer war als das erste. Der Eisenbahndetektiv, der nur wenig respektabler aussah als ein gewöhnlich geistig eher schlicht ausgestatteter Schwellenschlepper, beobachtete ihn weiterhin voller Misstrauen.

Der Bergarbeiter war ein Mann mit einem unerschöpflichen Vorrat an Kaltblütigkeit. Er hatte den Mumm, in jeder Hinsicht seinen Mann zu stehen, und die eiskalte Unverfrorenheit, jeglichen Verdacht dadurch zu zerstreuen, dass er sich völlig furchtlos verhielt. Die Arbeiter ignorierend, die sich an ihm vorbeidrängten, schaute er sich um, als wäre er von dem Anblick einer neuen Eisenbahnstrecke, die sich durch die Berge grub, plötzlich wie gebannt.

Tatsächlich betrachtete er das Vorhaben mit aufrichtigem Erstaunen. Das gesamte Unternehmen, das die Arbeit von Tausenden untereinander abglich, ruhte auf der simplen Konstruktion unter seinen Füßen, nämlich auf zwei Stahlschienen, die in einem Abstand von vier Fuß und achteinhalb Inches auf massiven Holzschwellen festgenagelt waren. Die Schwellen wiederum lagen in einem Schotterbett unverrückbar fest. Diese Kombination bildete ein Gerüst, das einhundert Tonnen schwere Lokomotiven tragen konnte, die mit einer Geschwindigkeit von anderthalb Kilometern pro Minute darüberdonnerten. Meile für Meile wiederholt – zweitausendsiebenhundert Schwellen, dreihundertzweiundfünfzig Schienenabschnitte, sechzig Fässer Schwellennägel – bildete es eine glatte, nahezu reibungsfreie Straße, einen stählernen Highway, der bis in die Unendlichkeit führen konnte. Das Gleis schwang sich durch unwegsames Land, klammerte sich an schmale Leisten, die in die nahezu senkrechten Wände steiler Berghänge geschnitten worden waren, sprang auf zerbrechlich erscheinenden Brücken über tiefe Schluchten hinweg und bohrte sich durch Felswände.

Aber dieses Wunder moderner Ingenieurskunst und sorgfältigen Managements wurde immer noch von den Bergen in den Schatten gestellt, wenn nicht gar verspottet. Und niemand wusste besser als er, wie anfällig es war.

Er blickte zu dem Polizisten hinüber, der sein Augenmerk gerade auf etwas anderes richtete.

Die Nachtschicht-Truppe verschwand in der roh behauenen Tunnelbohrung. Wasser schwappte um ihre Füße herum, während sie durch die endlosen Bögen Holzverschalung trotteten. Der humpelnde Mann blieb zusammen mit dem athletischen Begleiter, der seinen Hammer trug, ein wenig zurück. An einem Seitengang, etwa einhundert Meter im Berg, stoppten sie und löschten ihre Azetylen-Lampen. Allein in der Dunkelheit verfolgten sie, wie die Lampen der anderen sich flackernd in der Ferne verloren. Dann tasteten sie sich gut fünf Meter weit durch den Seitengang in den Paralleltunnel. Er war enger und um einiges gröber angelegt als die Hauptbohrung, mit einer Decke, deren Höhe erheblich schwankte. Sie duckten sich, setzten ihren Weg fort und drangen immer tiefer in den Berg ein. Sobald sie sicher sein konnten, dass sie nicht mehr zu sehen waren, zündeten sie ihre Lampen wieder an.

Der alte Mann humpelte jetzt schneller und ließ das Licht seiner Lampe über die Seitenwand huschen. Ganz plötzlich blieb er stehen und strich mit der Hand über eine schartige Naht im Gestein. Der junge Mann beobachtete ihn und fragte sich nicht zum ersten Mal, was ihn antrieb, weiter für die Sache zu kämpfen, wenn die meisten, die so behindert waren wie er, ihre Zeit lieber in einem Schaukelstuhl verbrachten. Aber man konnte sich im Hobo-Dschungel ziemlich viel Ärger einhandeln, wenn man zu viele Fragen stellte, daher behielt er seine Überlegungen lieber für sich.

»Wir bohren hier.«

Der alte Mann offenbarte über sich selbst gerade genug, um das Vertrauen der freiwilligen Helfer zu gewinnen, die er rekrutierte. Der Bauernjunge, der den Hammer trug, glaubte, er helfe einem Schindelmacher vom Puget Sound, wo die Gewerkschaft einen Generalstreik ausgerufen und die gesamte Schindelindustrie zum Erliegen gebracht hatte, bis die blutsaugerischen Fabrikanten mit dem Einsatz von Streikbrechern zurückschlugen. Es war genau die Antwort, die ein junger angehender Anarchist hören wollte.

Sein vorangegangener Rekrut hatte geglaubt, er komme aus Idaho und sei nach dem Coeur-d’Alene-Bergarbeiterstreik auf der Flucht. Dem Nächsten erzählte er, er sei in die Kämpfe anlässlich der Gründung der Wobblies in Chicago verwickelt gewesen. Wie und wo er sein Auge verloren habe? Bei der gleichen Gelegenheit, bei der er sich auch seine Gehbehinderung eingehandelt habe, nämlich beim Kampf gegen Streikbrecher in Colorado City oder als Leibwächter von »Big Bill« Haywood von der Western Federation of Miners. Oder er sei angeschossen worden, als der Gouverneur die Nationalgarde aufmarschieren ließ. Dies alles waren blendende Referenzen für diejenigen, die danach hungerten, die Welt zu verbessern und den Mumm hatten, auch dafür zu kämpfen.

Der große junge Mann holte einen Meißel hervor, der einen Meter lang war, und hielt ihn fest, während der Mann mit der Augenklappe darauf schlug, bis die Spitze fest in der Granitspalte steckte. Dann gab er den Hammer zurück.

»Jetzt bist du dran, Kevin. Und beeil dich.«

»Sind Sie sicher, dass das Sprengen dieses Tunnels nicht die Leute in Gefahr bringt, die im Haupttunnel arbeiten?«

»Darauf würde ich sogar mein Leben verwetten. Zwischen uns liegen gut fünf Meter solider Granit.«

Mit seiner Geschichte war Kevin eine sehr typische Erscheinung im Westen. Mit der Aussicht geboren, später Farmer zu werden, ehe die Familie ihr Land der Bank überlassen musste, hatte er in den Silberminen gearbeitet, bis er gefeuert wurde, weil er sich für die Gewerkschaft stark gemacht hatte. Als er danach als blinder Passagier auf der Suche nach Arbeit auf Güterzügen durchs Land gefahren war, hatte ihn die Eisenbahnpolizei gelegentlich erwischt und erbarmungslos verprügelt. Während einer Demonstration für höhere Löhne war er dann von Streikbrechern mit Axtstielen angegriffen worden. Es hatte Tage gegeben, da hatte er solche Kopfschmerzen gehabt, dass er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Am schlimmsten waren die Nächte, wenn er jede Hoffnung verlor, jemals einen dauerhaften Job oder auch nur einen festen Schlafplatz zu finden, geschweige denn ein Mädchen zu heiraten und eine Familie zu gründen. In einer dieser Nächte war er vom Traum der Anarchisten heimgesucht und verführt worden.

Dynamit, die Artillerie des Proletariats, würde für eine bessere Welt sorgen.

Kevin schwang den schweren Vorschlaghammer mit beiden Händen. Er trieb den Meißel fast einen halben Meter tief in den Fels hinein. Dann hielt er inne, um nach Luft zu schnappen, und beschwerte sich über sein Werkzeug. »Ich kann diese Stahlhämmer nicht ausstehen. Sie federn viel zu stark. Da ist mir das gute alte Gusseisen viel lieber.«

»Du musst den Schwung ausnutzen.« Überraschend geschmeidig ergriff der Krüppel mit der Augenklappe den Hammer und schlug zu, ließ den Hammerkopf hochfedern, änderte die Flugbahn mit einer fließenden Bewegung seiner kräftigen Handgelenke und schmetterte ihn wieder kraftvoll auf den Meißel. »Lass das Werkzeug die Arbeit für dich machen. Da, nimm … gut, sehr gut.«

Sie meißelten ein metertiefes Loch in den Fels.

»Dynamit«, befahl der alte Mann, der dafür gesorgt hatte, dass Kevin alles Belastende bei sich trug, für den Fall, dass die Eisenbahnpolizei sie durchsuchte. Kevin holte drei blassrote Stangen unter seinem Hemd hervor. Auf jeder war in schwarzen Lettern der Name des Herstellers zu lesen, VULCAN. Der Krüppel stopfte sie nacheinander in das Bohrloch.

»Sprengkapsel.«

»Sind Sie absolut sicher, dass keiner der Arbeiter verletzt wird?«

»Garantiert nicht.«

»Ich hätte sicher nichts dagegen, den Boss in die Hölle zu schicken, aber diese Männer da drin stehen auf unserer Seite.«

»Auch wenn sie es noch gar nicht wissen«, sagte der alte Krüppel zynisch. Er bugsierte die Sprengkapsel in das Loch. Sie würde heftig genug explodieren, um das Dynamit selbst zu zünden.

»Lunte.«

Kevin rollte vorsichtig die Zündschnur ab, die er in seinem Hut versteckt hatte. Ein Meter mit Schießpulver präparierter Hanfschnur würde innerhalb von neunzig Sekunden abbrennen – rund dreißig Zentimeter pro halbe Minute. Damit sie fünf Minuten Zeit hätten, sich an einen sicheren Ort zurückzuziehen. Und mit Rücksicht auf die unterschiedliche Brennbarkeit und Feuchtigkeit der Schnur maß der alte Mann etwa vier Meter ab.

»Möchtest du die Ladung hochjagen?«, fragte er beiläufig.

Kevins Augen leuchteten wie die eines kleinen Jungen am Weihnachtsmorgen. »Darf ich?«

»Ich seh mal nach, ob die Luft rein ist. Denk daran, du hast nur fünf Minuten, um zu verschwinden. Also trödle nicht. Zünd die Lunte an und dann renn … Moment! Was ist das?« Indem er so tat, als höre er jemanden kommen, fuhr er herum und zog dabei eine Klinge zur Hälfte aus seinem Stiefel.

Kevin fiel auf den Schwindel herein. Er legte eine Hand hinter sein Ohr. Aber alles, was er hörte, war das ferne Rumpeln der Bohrer im Haupttunnel und das Heulen der Gebläse, die verbrauchte Luft aus dem Richttunnel drückten und frische ansaugten. »Was? Was haben Sie gehört?«

»Lauf mal los und schau nach, ob irgendjemand kommt.«

Kevin rannte in den Gang, begleitet von den tanzenden Schatten, die seine Lampe auf den rauen Gangwänden erzeugte.

Der alte Mann riss die Lunte aus der Sprengkapsel und schleuderte sie in die Dunkelheit. Dann ersetzte er sie durch eine ganz genauso aussehende Schnur, die mit flüssigem Trinitrotoluol, kurz TNT, getränkt war, das zum gleichzeitigen Zünden mehrerer Sprengladungen benutzt wurde, weil es eine rasante Abbrenngeschwindigkeit hatte.

Dabei ging er schnell und geschickt zu Werke. Als er Kevin zurückkehren hörte, war die Täuschung vollzogen. Doch als er dann aufschaute, sah er zu seiner Verblüffung, dass Kevin die Hände in die Höhe streckte. Hinter ihm tauchte der Eisenbahnpolizist auf, der ihn beim Betreten des Tunnels beobachtet hatte. Der Verdacht hatte sein von Whiskey aufgedunsenes Gesicht in eine Maske kalter Wachsamkeit verwandelt. Er hielt einen Revolver in der vollkommen ruhigen Hand.

»Beweg dich!«, befahl er. »Hände hoch!«

Sein prüfender Blick fiel auf die Lunte und die Zündkapsel, und er begriff sofort. Er hielt die Waffe dicht an seinem Körper. Offensichtlich war er kampferprobt und wusste sie zu benutzen.

Der alte Mann bewegte sich sehr langsam. Aber anstatt den Befehl zu befolgen und die Hände zu heben, griff er an seinen Stiefel und zog das lange Messer heraus.

Der Schwellen-Cop grinste. Seine Stimme hatte einen singenden Unterton, und er drückte sich ungewöhnlich gewählt aus.

»Nimm dich in Acht, alter Mann. Auch wenn du irrtümlicherweise mit einem Messer zu einem Pistolenduell erschienen bist, werde ich dich erschießen, falls du es nicht innerhalb eines Herzschlags fallen lässt.«

Aus dem Handgelenk machte der alte Mann eine schnelle Bewegung. Sein Messer wuchs auf seine dreifache Länge zu einem schlanken Säbel. Mit einer einzigen fließenden Bewegung versenkte er die Klinge im Hals des Polizisten. Der Cop fasste sich mit einer Hand an die Kehle und versuchte noch, die Pistole in Anschlag zu bringen. Der alte Mann verstärkte den Druck auf die Klinge, drehte sie und durchtrennte das Rückenmark des Mannes, dann rammte er sie vollends durch den Hals, so dass sie im Nacken heraustrat. Der Revolver landete polternd auf dem Tunnelboden. Und als der alte Mann seine Waffe herauszog, sackte der Polizist neben seiner Waffe auf dem rauen Fels bereits zusammen.

Kevin gab einen würgenden Laut von sich. Seine Augen waren von Schock und Angst weit aufgerissen und sprangen zwischen dem Toten und dem Säbel, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, hin und her. »Wie – was?«

Der alte Mann entriegelte die Sperre und schob die Klinge in den Messergriff zurück. Dann verstaute er das Messer wieder in seinem Stiefel. »Das gleiche Prinzip wie bei einem Theaterschwert«, erklärte er. »Nur ein wenig modifiziert. Hast du Zündhölzer?«

Kevin griff mit zitternden Händen in seine Taschen, kramte dort herum und zog schließlich eine kleine gepolsterte Flasche heraus.

»Ich sehe mal nach, ob der Tunneleingang frei ist«, sagte der alte Mann. »Warte auf mein Zeichen. Denk daran, fünf Minuten. Achte darauf, dass die Schnur richtig brennt, und dann renn wie der Teufel! Fünf Minuten.«

Fünf Minuten, um sich in Sicherheit zu bringen. Aber nicht wenn langsam brennendes Schießpulver durch schnell brennendes Trinitrotoluol ersetzt worden war, das eine Flamme innerhalb eines Wimpernschlags drei Meter weit springen ließ.

Der alte Mann stieg über die Leiche des Polizisten hinweg und eilte zum Eingang des Richttunnels. Als er niemanden in der Nähe sehen konnte, schlug er zweimal mit dem Meißel gegen die Tunnelwand. Als Antwort hörte er ein dreifaches Klopfen. Die Luft war rein.

Der alte Mann holte eine offizielle Waltham-Eisenbahneruhr hervor, die sich kein gewöhnlicher Bergarbeiter leisten konnte. Jeder Eisenbahnschaffner, Fahrdienstleiter und Lokomotivführer war laut Gesetz verpflichtet, diese 17-steinige Taschenuhr mit Handaufzug und Einstellsperre bei sich zu tragen. Sie ging sehr genau und hatte eine Gangabweichung von höchstens einer halben Minute pro Woche, gleichgültig ob sie im heißen Führerstand einer Lokomotive oder in der eisigen Kälte eines verschneiten Bahnhofs in der High Sierra zum Einsatz kam. Das weiße Blatt mit arabischen Ziffern war in Dämmerlicht gerade noch zu erkennen. Er verfolgte, wie der Sekundenzeiger Sekunden anstatt der Minuten vorrückte, die Kevin glaubte, Zeit zu haben, um zu fliehen, nachdem er die, wie er meinte, langsam brennende Schießpulverlunte angezündet hatte.

Fünf Sekunden für Kevin, um die Flasche mit den Schwefelzündhölzern zu öffnen, eines herauszufischen, die gepolsterte Flasche wieder zu verschließen und sich neben die Lunte zu knien. Drei Sekunden, um ein Schwefelstreichholz mit nervös zitternden Fingern an einer rauen Fläche anzureiben. Eine Sekunde, bis die Flamme aufloderte. Dann berührte die Flamme die TNT-Zündschnur.

Ein Lufthauch, fast nur ein sanftes Streicheln, wehte dem alten Mann ins Gesicht.

Dann rauschte ein heftiger Windstoß aus der Tunnelöffnung, angetrieben vom dumpfen Dröhnen des Dynamits, das tief im Gestein explodierte. Ein unheilvolles Rumpeln und ein weiterer Windstoß signalisierten, dass der Richttunnel eingestürzt sein musste.

Nun folgte der Haupttunnel.

Er versteckte sich zwischen den Stempeln, die den Eingang abstützten, und wartete. Es entsprach den Tatsachen, dass sich zwischen dem Richttunnel und den Männern im Haupttunnel gut fünf Meter Granit befanden. Doch an der Stelle, wo er die Dynamitladung angebracht hatte, war der Berg alles andere als solide, nämlich von zahlreichen Rissen im Gestein durchzogen.

Der Untergrund erzitterte und schwankte wie bei einem Erdbeben.

Der alte Mann gestattete sich ein grimmiges Lächeln. Dieses Vibrieren unter seinen Füßen verriet ihm mehr als die angstvollen Schreie der entsetzten Bergarbeiter und Sprengmeister, die aus dem Haupttunnel herausströmten. Mehr als die aufgeregten Rufe derer, die sich vor den qualmenden Tunnelausgängen versammelten, um nachzusehen, was geschehen war.

Einige hundert Meter tief im Berg war die Decke des Tunnels eingebrochen. Er hatte es zeitlich dergestalt eingerichtet, dass der Abraumzug mit zwanzig Loren, Lokomotive und Tender begraben wurden. Es berührte ihn nicht im Geringsten, dass dabei auch Männer vom Gestein zerquetscht wurden. Sie waren genauso unwichtig wie der Eisenbahnpolizist, den er soeben getötet hatte. Ebenso wenig empfand er Mitleid mit den verletzten Männern, die hinter einer Mauer aus geborstenem Fels in der Dunkelheit gefangen waren. Je mehr Tod, Vernichtung und Verwirrung er verursacht hatte und je langsamer die Aufräumarbeiten vonstattengingen, desto länger waren die Arbeiten am Tunnel unterbrochen.

Er riss die Augenklappe herunter und stopfte sie in die Tasche. Dann nahm er den Schlapphut ab, faltete die Krempe nach außen und stülpte ihn sich wieder so auf den Kopf, dass er wie eine flache Bergarbeitermütze aussah. Eilig entfernte er das Halstuch in seinem Hosenbein, das er sich um das Knie gebunden hatte, damit sein Humpeln echt wirkte. Auf zwei gesunden Beinen trat er aus der Dunkelheit, mischte sich unter die aufgeregten Männer und rannte mit ihnen, stolperte ebenso wie sie über die Eisenbahnschwellen und die Schienenstränge und flüchtete. Schließlich wurden die Männer langsamer, da sie von ihren neugierigen Kollegen gebremst wurden, die in die entgegengesetzte Richtung strebten.

Der Mann, unter dem Namen Zerstörer berüchtigt, ging weiter, tauchte dann in einen Graben neben den Gleisen ab und wich auf einer sorgfältig geplanten Route den Rettungsmannschaften und der Polizei aus. Er umging ein Abstellgleis, auf dem ein Privatzug mit einer schwarz glänzenden Lokomotive stand. Das Ungetüm zischte leise, da es unter Dampf stand, um Strom und Wärme zu erzeugen. Mit Vorhängen dekorierte Fenster schimmerten golden in der Nacht. Musik wehte durch die kalte Luft, und er konnte mehrere livrierte Bedienstete dabei beobachten, wie sie einen Tisch für das Abendessen deckten. Als sie kurz zuvor auf ihrem Weg zum Tunneleingang an diesem Zug vorbeigegangen waren, hatte der junge Kevin über die Privilegierten geschimpft, die in allem Luxus durch die Lande reisten, während Bergleute nicht mehr als zwei Dollar Lohn pro Tag erhielten.

Der Zerstörer lächelte unwillkürlich. Es war der persönliche Eisenbahnzug des Präsidenten. Die Hölle würde in diesen Luxuswaggons ausbrechen, wenn der Präsident erfuhr, dass der Berg in seinen Tunnel eingebrochen war. Und man konnte mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass sich Kevins Privilegierte an diesem Abend nicht mehr ganz so privilegiert fühlen mochten.

Eine Meile weit das neu verlegte Gleis hinunter markierte grelles elektrisches Licht den ausgedehnten Bauhof mit Arbeiterunterkünften, Materiallagern, Reparaturwerkstätten, Dynamos, Abstellgleisen voller Nachschubzüge und einem Ringlokschuppen zum Wenden und Reparieren ihrer Lokomotiven. Unterhalb dieses Arbeitsbereichs waren die Öllampen eines Eisenbahnlagers zu erkennen. Es war eine kleine Stadt aus Zelten und ausrangierten Güterwaggons, die provisorische Tanzsäle, Saloons und Bordelle beherbergte und dem ständig weiter vorrückenden Bauhof folgte.

Nur, dass er von jetzt an erheblich langsamer vorrücken würde.

Den Bergsturz aus dem Tunnel zu räumen, würde Tage dauern. Eine Woche mindestens, um den geschwächten Fels abzutragen und die Schäden zu reparieren, ehe die Arbeit wieder aufgenommen werden konnte. Diesmal hatte er die Eisenbahn ziemlich heftig sabotiert, es war sein bisher bester Versuch. Und falls sie es schafften, die spärlichen Überreste Kevins zu identifizieren, des einzigen Zeugen, der ihn mit dem Verbrechen in Verbindung bringen konnte, so wäre der junge Mann nicht mehr als ein zorniger junger Heißsporn, der sich mit radikalen Sprüchen im Hobo-Dschungel hervorgetan hatte, ehe er sich selbst in die Ewigkeit sprengte.

2

Im Jahr 1907 gab es in Amerika kein überzeugenderes Symbol für Reichtum und Macht als jenen Zug, den man den Special nannte. Gewöhnliche Millionäre mit einem Ferienhaus in Newport und einem Stadthaus auf der Park Avenue oder einem Anwesen am Hudson River pendelten zwischen ihren palastartigen Wohnsitzen in privaten Eisenbahnwagen, die an gewöhnliche Personenzüge angehängt wurden. Aber die Titanen – jene Männer, denen die Eisenbahnen gehörten – reisten in ihren Specials, privaten Sonderzügen mit eigenen Lokomotiven, die jeden Ort auf dem Kontinent erreichen konnten, nach denen es ihre Eigentümer gelüstete. Der schnellste und luxuriöseste Special in den Vereinigten Staaten gehörte dem Präsidenten der Southern Pacific Railroad, Osgood Hennessy.

Hennessys Zug erstrahlte in einem glänzenden Zinnoberrot und wurde von einer starken Baldwin-Pacific-4-6-2-Lokomotive gezogen, die ebenso schwarz wie die Kohle in ihrem Tender war. Seine Privatwagen, nach seiner schon vor langem verstorbenen Ehefrau Nancy Nr. 1 und Nancy Nr. 2 genannt, waren jeweils knapp siebenundzwanzig Meter lang und drei Meter breit. Sie waren nach seinen Angaben von der Pullman Company aus Stahl gebaut und von europäischen Möbeltischlern eingerichtet worden.

Nancy Nr. 1 enthielt Hennessys Büro, Salon und Privatzimmer mitsamt Marmorbadewannen, Messingbetten und einem Telefon, das in jeder Stadt, in der er anhielt, an das öffentliche Telefonnetz angeschlossen werden konnte. Nancy Nr. 2 beherbergte eine moderne Küche, Lagerräume, die Vorräte für einen Monat fassen konnten, sowie einen Speisesaal und die Quartiere des Dienstpersonals. Im Gepäckwagen war ausreichend Platz für den Packard Gray Wolf seiner Tochter Lilian reserviert. Ein Speisewagen und luxuriöse Pullman-Schlafwagen standen den Ingenieuren, Bankiers und Rechtsanwälten, die mit dem Bau der Cascades Cutoff befasst waren, zur Verfügung.

Sobald er sich auf der Hauptstrecke befand, konnte Hennessys Special ihn in einem halben Tag nach San Francisco, in drei Tagen nach Chicago und in vier nach New York bringen, wobei die Lokomotiven je nach Streckenverlauf gewechselt wurden. Wenn das nicht schnell genug war, um seinen lebenslangen Ehrgeiz zu befriedigen, jede Eisenbahnstrecke im Land unter seiner Kontrolle zu haben, gab es in seinem Special die sogenannte Grashüpfer-Telegrafie, ein von Thomas Edison zum Patent angemeldetes elektromagnetisches Induktionssystem, das telegrafische Nachrichten zwischen dem fahrenden Zug und den Telegrafendrähten, die parallel zu den Gleisen verliefen, hin und her springen lassen konnte.

Hennessy selbst war ein Federwisch von einem alten Mann, klein, kahlköpfig und ausgesprochen zerbrechlich aussehend. Er hatte die wachen schwarzen Augen eines Frettchens, einen eisigen Blick, der jegliche Lüge verbot und falsche Hoffnungen im Keim erstickte, und das Herz – so beteuerten seine bis aufs Blut geschröpften Konkurrenten – einer hungrigen Raubechse. Stunden nach dem Tunneleinsturz war er noch immer in Hemdsärmeln und diktierte seinem Telegrafisten eine Depesche nach der anderen, während die ersten seiner Dinnergäste bereits hereingeführt wurden.

Der aalglatte Senator Charles Kincaid traf in makelloser Abendgarderobe ein. Er war hochgewachsen und auffällig gut aussehend. Sein Haar war nach hinten gekämmt und glänzte von Pomade, sein Schnurrbart war sorgfältig gestutzt. Nicht ein einziger Hinweis auf das, was er denken mochte – wenn er überhaupt jemals etwas dachte –, war seinen braunen Augen zu entnehmen. Aber sein süßliches Lächeln war allzeit bereit.

Hennessy begrüßte den Politiker mit kaum verhohlener Geringschätzung.

»Falls Sie es noch nicht gehört haben, Kincaid, es gab schon wieder einen Unfall. Und bei Gott, diesmal war es wirklich Sabotage.«

»Gütiger Himmel! Sind Sie sicher?«

»So verdammt sicher, dass ich der Van Dorn Detective Agency telegrafiert habe.«

»Eine hervorragende Wahl, Sir! Sabotage dürfte die Fähigkeiten der örtlichen Polizisten übersteigen, selbst wenn Sie hier oben mitten im Niemandsland einen auftreiben können. Sogar für die Bahnpolizei dürfte das zu viel sein.« Gauner in schmuddeligen Uniformen, hätte Kincaid noch hinzufügen können, aber der Senator diente der Eisenbahnlinie und wusste, dass er mit dem Mann sprach, der ihn zu dem gemacht hatte, was er war, und genauso schnell wieder zerbrechen konnte. »Wie lautet der Van-Dorn-Wahlspruch?«, fragte er ausgesprochen liebenswürdig. »›Wir geben nie auf, niemals!‹, Sir. Da ich über die entsprechende Ausbildung verfüge, halte ich es für meine Pflicht, die Arbeiten zur Freilegung des Tunnels zu leiten.«

Hennessys Gesicht verzog sich voller Verachtung. Der eitle Mann hatte in Übersee Brücken für die Bagdad-Bahn des Osmanischen Reichs gebaut, bis ihn die Zeitungen zum Heldenhaften Ingenieur ernannt hatten, weil er amerikanische Rot-Kreuz-Schwestern und Missionare angeblich vor der türkischen Gefangenschaft gerettet hatte. Hennessy nahm die berichteten Heldentaten mit einigem Vorbehalt zur Kenntnis. Aber Kincaid hatte seinen fragwürdigen Ruhm zu einer Position bei der staatlichen Legislative ausgebaut, um die Interessen der Eisenbahnlinien im Millionärsclub des Senats der Vereinigten Staaten zu vertreten. Und niemand wusste besser als Hennessy, dass Kincaid ständig mit Aktien der Eisenbahnlinien geschmiert wurde und auf diese Weise zu einigem Reichtum gelangt war.

»Drei Männer tot«, knurrte er. »Fünfzehn verschüttet. Ich brauche keine Ingenieure mehr, sondern einen Totengräber. Und einen erstklassigen Detektiv.«

Hennessy drehte sich ruckartig zu dem Telegrafisten um. »Hat Van Dorn schon geantwortet?«

»Noch nicht, Sir. Wir haben aber auch gerade erst unser Telegramm abgeschickt …«

»Joe Van Dorn hat in jeder Stadt auf dem Kontinent seine Agenten sitzen. Schicken Sie also jedem eine Nachricht.«

Hennessys Tochter Lillian kam eilig aus ihren Privaträumen herein. Kincaids Augen weiteten sich, und sein Lächeln wurde begierig. Obwohl sie auf einem staubigen Abstellgleis in der Cascade Range standen, war sie gekleidet, als wolle sie die Blicke in den feinsten Restaurants von New York auf sich lenken. Ihr Abendkleid aus weißem Chiffon war an der schmalen Taille gerafft, vorn tief ausgeschnitten und zeigte ein Dekolleté, das nur teilweise von einer Seidenrose verhüllt wurde. Um den Hals trug sie eine Perlenkette, die zusätzlich mit Diamanten besetzt war, und ihr Haar bedeckte ihren Kopf wie eine goldene Wolke, von der sich einige kunstvoll gedrehte Locken auf ihre Stirn herabkräuselten. Funkelnde Ohrringe mit Diamanten, die im dreifachen Peruzzi-Schliff gearbeitet waren, lenkten die Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht. Aufgeplustert wie ein Pfau, dachte Kincaid zynisch, als sie zeigte, was sie zu bieten hatte. Was eine ganze Menge war.

Lillian Hennessy war atemberaubend schön, noch ganz jung und sehr, sehr reich. Eines Königs ebenbürtig. Oder eines Senators, der das Weiße Haus im Auge hatte. Das Problem war der leidenschaftliche Glanz in ihren erstaunlich hellen blauen Augen, der verkündete, dass sie nicht leicht zu bändigen sein mochte. Und nun hatte ihr Vater, der sie nie hatte an die Kandare nehmen können, sie zu seiner persönlichen Sekretärin befördert, wodurch sie noch unabhängiger und selbstbewusster wurde.

»Vater«, sagte sie. »Ich habe soeben mit dem Chefingenieur telefoniert. Er glaubt, dass man von der anderen Seite in den Richttunnel vordringen und sich zum Haupttunnel durchgraben kann. Die Rettungsmannschaften sind bereits an der Arbeit. Deine Telegramme wurden versendet. Es wird Zeit, dass du dich fürs Abendessen umziehst.«

»Ich werde nicht zu Abend essen, während meine Männer verschüttet sind.«

»Wenn du verhungerst, wird ihnen das auch kaum helfen.« Sie wandte sich an Kincaid. »Hallo, Charles«, sagte sie kühl. »Mrs. Comden wartet im Salon auf uns. Wir nehmen einen Cocktail, während sich mein Vater fertig macht.«

Hennessy war noch nicht erschienen, als sie ihre Gläser schon geleert hatten. Mrs. Comden, eine üppige, dunkelhaarige Frau von vierzig Jahren, die ein maßgeschneidertes grünes Seidenkleid und Diamanten trug, die im alten europäischen Stil geschliffen waren, sagte: »Ich hole ihn.« Sie ging in Hennessys Büro. Indem sie den Telegrafisten ignorierte, der, wie alle Telegrafisten, hatte schwören müssen, Nachrichten, die er sendete oder empfing, unter keinen Umständen preiszugeben, legte sie sanft eine Hand auf Hennessys knochige Schulter und sagte: »Alle haben Hunger.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem unwiderstehlichen Lächeln. »Lassen Sie uns mit dem Essen anfangen. Mr. Van Dorn wird sich gewiss bald melden.«

Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als die Pfeife der Lokomotive zweimal erklang – es war das doppelte Startsignal –, die sich darauf langsam und ohne den leisesten Ruck in Bewegung setzte.

»Wohin geht es?«, fragte sie, nicht im Mindesten überrascht, dass sie wieder fuhren.

»Nach Sacramento, Seattle und Spokane.«

3

Vier Tage nach der Tunnelexplosion holte Joseph Van Dorn den schnell und weit reisenden Osgood Hennessy im Eisenbahndepot der Great Northern in Hennessyville ein. Die brandneue Stadt am Rand von Spokane, Washington, in der Nähe der Grenze nach Idaho, roch nach frisch geschlagenem Holz, Teeröl und brennender Kohle. Aber sie wurde bereits das Minneapolis des Nordens genannt. Van Dorn wusste, dass Hennessy hier bereits im Rahmen seines Plans gebaut hatte. Er wollte das Schienennetz der Southern Pacific verdoppeln, indem er seiner Gesellschaft die nördlichen Kontinentalrouten einverleibte.

Der Gründer der berühmten Van Dorn Detective Agency war ein großer, elegant gekleideter Mann mit Halbglatze, der sich in den Vierzigern befand und eher wie ein erfolgreicher Geschäftsreisender aussah als wie der Schrecken der Unterwelt. Er schien ein geselliger Mensch zu sein, hatte eine ausgeprägte römische Nase und war stets zu einem Lächeln aufgelegt, auch wenn der Anflug irischer Melancholie in seinen Augen nicht zu übersehen war. Hinzu kam ein leuchtend roter Backenbart, der seine Steigerung in einem noch stärker leuchtenden roten Vollbart fand. Während er sich Hennessys Special näherte, löste der Klang von Ragtimemusik, der gerade von einem Grammofon ausging, ein von Herzen erleichtertes Kopfnicken bei ihm aus. Er erkannte die lebhaft schmachtende Melodie der jüngsten Scott-Joplin-Komposition, Search-Light Rag, und die Musik verriet ihm, dass Hennessys Tochter Lillian in der Nähe sein musste. Der Umgang mit dem stets mürrischen Präsidenten der Southern Pacific Railroad gestaltete sich um einiges einfacher, wenn sie dabei war.

Er hielt auf der Plattform inne, da er im Wagen eine heftige Bewegung erahnte. Und da kam Hennessy auch schon und schob den Bürgermeister von Spokane durch die Tür. »Runter von meinem Zug! Hennessyville wird niemals in Ihre Stadt eingegliedert. Ich werde nicht dulden, dass mein Eisenbahndepot Spokane zu irgendwelchen Steuereinnahmen verhilft!«

Zu Van Dorn sagte er giftig: »Sie haben ja verdammt lange gebraucht, um hierherzukommen.«

Van Dorn erwiderte Hennessys barsche Begrüßung mit einem warmen Lächeln. Seine kräftigen weißen Zähne blitzten in einem Nest roter Barthaare, während er die Hand des kleinen Mannes in seiner eigenen verschwinden ließ und fröhlich brummte: »Ich war in Chicago, und Sie waren überall und nirgends. Sie sehen gut aus, Osgood, wenn auch ein wenig verdrießlich. Wie geht es denn der schönen Lillian?«, erkundigte er sich, während Hennessy ihn an Bord geleitete.

»Sie macht immer noch mehr Ärger als ein ganzer Waggon Italiener!«

»Da ist sie ja! Du liebe Güte, Sie sind aber gewachsen, junge Lady. Ich habe Sie nicht mehr gesehen, seit …«

»Seit New York, als mein Vater Sie engagiert hatte, um mich in Miss Porters Schule zurückzubringen?«

»Nein«, korrigierte Van Dorn sie. »Ich glaube, beim letzten Mal habe ich Sie nach einer Suffragetten-Parade, die ein wenig außer Kontrolle geraten war, aus einem Bostoner Gefängnis herausgeholt.«

»Lillian!«, sagte Hennessy. »Ich möchte, dass ein maschinengeschriebenes Protokoll dieses Treffens einem Vertrag mit der Van Dorn Agency als Anhang beigefügt wird.«

Das spitzbübische Funkeln in ihren hellblauen Augen wurde sofort von einem ernsten geschäftsmäßigen Blick verdrängt. »Der Vertrag liegt schon bereit und braucht nur noch unterschrieben zu werden, Vater.«

»Joe, ich nehme an, Sie wissen über diese Angriffe Bescheid?«

»Ich weiß«, sagte Van Dorn zurückhaltend, »dass schreckliche Unfälle den von der Southern Pacific vorangetriebenen Bau einer Express-Eisenbahnlinie durch die Cascades behindern. Dabei wurden sowohl Arbeiter als auch mehrere unschuldige Fahrgäste getötet.«

»Das können doch unmöglich ausnahmslos Unfälle gewesen sein«, entgegnete Hennessy streng. »Jemand hat es darauf abgesehen, diese Eisenbahngesellschaft zu ruinieren. Ich engagiere Ihre Firma, um die Saboteure, seien sie Anarchisten, Fremde oder Streikende, zur Strecke zu bringen. Erschießen Sie sie, hängen Sie sie auf, tun Sie, was Sie tun müssen, aber sorgen Sie dafür, dass diese Leute schnellstens damit aufhören.«

»Gleich nachdem ich Ihr Telegramm erhielt, habe ich meinen besten Agenten auf den Fall angesetzt. Wenn die Angelegenheit auf das hinausläuft, was Sie vermuten, werde ich ihn die Ermittlungen leiten lassen.«

»Nein!«, widersprach Hennessy. »Ich will, dass Sie die Sache selbst in die Hand nehmen, Joe. Sie ganz persönlich.«

»Isaac Bell ist mein bester Mann. Ich wünschte, ich hätte sein Talent gehabt, als ich so alt war wie er.«

Hennessy schnitt ihm das Wort ab. »Sie müssen sich etwas klarmachen, Joe. Mein Zug steht nur dreihundertachtzig Meilen nördlich des gesprengten Tunnels, aber um hierherzugelangen, musste der Zug gelegentlich in die entgegengesetzte Richtung fahren und zahlreiche Serpentinen überwinden und dabei über siebenhundert Meilen zurücklegen. Die Abkürzungsstrecke reduziert die Fahrtdauer um einen ganzen Tag. Der Erfolg der Abkürzung und die Zukunft der gesamten Eisenbahngesellschaft sind viel zu wichtig, um sie einem einfachen Angestellten anzuvertrauen.«

Van Dorn wusste, dass Hennessy daran gewöhnt war, seinen Willen zu bekommen. Er hatte schließlich ständig transkontinentale Strecken vom Atlantik zum Pazifik zusammengelegt, indem er seine Konkurrenten, Commodore Vanderbilt und J. P. Morgan, plattgewalzt, die Interstate Commerce Commission und den Kongress der Vereinigten Staaten ausgetrickst und dem Präsidenten Teddy Roosevelt, der gegen wirtschaftliche Monopole ankämpfte, die Stirn geboten hatte. Daher war Van Dorn über die plötzliche Unterbrechung durch Hennessys Zugführer eher froh. Der Zugchef stand in seiner makellosen Uniform aus dunkelblauem Tuch, die mit glänzenden Messingknöpfen und der roten Paspelierung der Southern Pacific verziert war, in der Tür.

»Es tut mir leid, Sie stören zu müssen, Sir. Man hat gerade einen Hobo geschnappt, der versuchte, auf Ihren Zug aufzuspringen.«

»Deshalb belästigen Sie mich? Ich muss eine ganze Eisenbahnlinie in Gang halten. Übergeben Sie den Kerl gefälligst dem Sheriff.«

»Er behauptet aber, dass Mr. Van Dorn für ihn bürgen werde.«

Bewacht von zwei gewichtigen Eisenbahnpolizisten betrat ein hochgewachsener Mann Hennessys Privatwagen. Er trug die grobe Kleidung eines Wanderarbeiters, der auf der Suche nach Arbeit auf Güterzügen mitfuhr. Sein Mantel und seine Hose aus Denimstoff waren von Staub bedeckt. Seine Stiefel waren abgewetzt. Sein Hut, ein zerbeulter J. P. Stetson, wie er gern von Rinderhirten getragen wurde, hatte schon zahlreichen Wolkenbrüchen standgehalten.

Lillian Hennessy fielen zuerst seine Augen auf, blauviolett, die den Salon präzise in sich aufnahmen und einen suchenden Blick in jeden Winkel und jede Nische schickten. So schnell sein Blick auch umherschweifte, so schien er doch auf jedem Gesicht ein wenig länger zu ruhen, als wollte er die geheimsten Gedanken ihres Vaters, Van Dorns und schließlich auch ihre eigenen ergründen. Sie erwiderte den Blick mutig, fand ihn jedoch auf gewisse Weise hypnotisierend.

Er war gut über eins achtzig groß und so schlank wie ein Araberhengst. Ein Schnurrbart bedeckte seine Oberlippe, der so golden war wie sein kräftiges Haar und die Bartstoppeln auf seinen unrasierten Wangen. Die Hände hingen locker herab, die Finger waren lang und elegant. Lillian registrierte sein energisches Kinn und den ausdrucksstarken Mund und nahm an, dass er um die dreißig Jahre alt sein musste und ein unendliches Selbstvertrauen besaß.

Seine Eskorte stand zwar ganz in seiner Nähe, berührte ihn jedoch nicht. Erst als sie den Blick vom Gesicht des hochgewachsenen Mannes wieder gelöst hatte, erkannte sie, dass einer der Bahnpolizisten ein blutiges Taschentuch gegen seine Nase drückte. Der andere blinzelte mit einem Auge, das geschwollen war und sich allmählich dunkel färbte.

Joseph Van Dorn erlaubte sich ein selbstgefälliges Lächeln. »Osgood, darf ich Ihnen Isaac Bell vorstellen, der diese Ermittlung in meinem Namen durchführen wird?«

»Guten Morgen«, sagte Isaac Bell. Er trat vor und streckte eine Hand aus. Die Wächter machten sogleich Anstalten, ihm zu folgen.

Hennessy entließ sie jedoch mit einem knappen »Raus!«.

Der Wächter, der seine Nase mit dem Taschentuch abtupfte, flüsterte mit dem Zugführer, der sie zur Tür brachte.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte der Zugführer. »Sie möchten gerne ihr Eigentum zurückbekommen.«

Isaak Bell holte einen mit Leder überzogenen und mit Bleischrot gefüllten Totschläger aus der Tasche. »Wie heißen Sie?«

»Billy«, lautete die missmutige Antwort.

Bell warf ihm den Totschläger zu und sagte eisig mit kaum unterdrücktem Zorn: »Billy, wenn Ihnen das nächste Mal ein Mann anbietet, ruhig mitzukommen, dann sollten Sie ihn beim Wort nehmen.«

Dann wandte er sich an den Mann mit dem geschwollenen Auge. »Und Sie?«

»Ed.«

Bell holte einen Revolver hervor und gab ihn mit dem Griff zuerst an Ed weiter. Dann ließ er fünf Patronen in die Hand des Mannes fallen und sagte: »Zücken Sie niemals eine Waffe, mit der Sie nicht vertraut sind.«

»Ich dachte, ich wäre es«, murmelte Ed, und etwas an seinem traurigen Gesichtsausdruck schien den hochgewachsenen Detektiv zu rühren.

»Sie waren Cowboy, bevor Sie zur Eisenbahn kamen, nicht wahr?«, fragte Bell.

»Ja, Sir, ich brauchte den Job.«

Bells blaue Augen bekamen einen warmen Glanz, und seine Lippen verzogen sich zu einem freundlichen Lächeln. Er fischte eine Goldmünze aus einer versteckten Tasche in seinem Gürtel. »Da, nehmen Sie, Ed. Holen Sie sich ein Beefsteak für Ihr Auge und genehmigen Sie sich beide einen Drink.«

Die Wächter nickten. »Danke, Mr. Bell.«

Dann drehte sich Bell zu dem Präsidenten der Southern Pacific Company um, der ihn erwartungsvoll musterte. »Mr. Hennessy, ich werde mit Ihnen reden, sobald ich ein Bad genommen und meine Kleidung gewechselt habe.«

»Der Gepäckträger hat gerade Ihre Sachen gebracht«, sagte Joseph Van Dorn lächelnd.

Der Detektiv kam nach einer halben Stunde zurück, den Schnurrbart gestutzt, die Hobo-Kleidung gegen einen silbergrauen dreiteiligen, bequem geschnittenen Anzug aus edlem, dichtem englischem Wolltuch ausgetauscht, das ausreichend Schutz vor der herbstlichen Kälte bot. Ein hellblaues Oberhemd und eine dunkelviolette Krawatte mit einfachem Knoten unterstrichen die Farbe seiner Augen.

Isaac Bell wusste, dass er die Arbeit an dem Fall auf die richtige Art und Weise aufnehmen musste, indem er von Anfang an klarmachte, dass er und nicht der herrische Eisenbahnpräsident die Ermittlungen leitete. Zuerst erwiderte er Lillian Hennessys freundliches Lächeln. Dann verneigte er sich höflich vor einer sinnlichen, dunkeläugigen Frau, die leise hereingekommen war und sich in einem Ledersessel niedergelassen hatte. Schließlich fasste er Osgood Hennessy ins Auge.

»Ich bin nicht vollständig überzeugt, dass sämtliche Unfälle auf Sabotage zurückzuführen sind.«

»Was reden Sie da für einen Blödsinn! Überall im Westen wird gestreikt. Und jetzt herrscht auch noch Panik an der Wall Street, durch die die Radikalen und die Agitatoren erst recht angestachelt werden.«

»Es ist schon richtig«, sagte Bell, »dass der Streik der Straßenbahner in San Francisco und der Streik der Telegrafisten der Western Union viele Gewerkschaftsmitglieder verbittert hat. Und selbst wenn die Führer der Western Federation of Miners, die in Boise vor Gericht stehen, sich wirklich der Verschwörung zur Ermordung von Gouverneur Steunenberg schuldig gemacht haben – ein Vorwurf, dessen Richtigkeit ich bezweifle, weil die Ermittlungen in diesem Fall sehr schlampig geführt wurden –, so gab es doch offensichtlich überhaupt keinen Mangel an wütenden Radikalkräften, die bereit gewesen wären, das Gouverneursgebäude in die Luft zu sprengen. Ebenso wenig war der Mörder, der Präsident McKinley erschossen hat, der einzige Anarchist im Lande. Aber …«

Isaac Bell hielt inne, um Hennessy mit aller Strenge und Entschlossenheit in die Augen zu blicken. »Mr. Van Dorn bezahlt mich dafür, Mörder und Bankräuber überall im Land aufzuspüren und zu fangen. So fahre ich in einem Monat häufiger und weiter mit der Eisenbahn, mit Expresszügen und mit Erster-Klasse-Flyers als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben.«

»Was haben Ihre Reisen mit diesen Angriffen gegen meine Eisenbahn zu tun?«

»Eisenbahnunfälle sind an der Tagesordnung. Im vergangenen Jahr bezahlte die Southern Pacific zwei Millionen Dollar für Personenschäden. Bevor 1907 zu Ende geht, wird es zehntausend Zusammenstöße, achttausend Zugentgleisungen und über fünftausend Unfalltode geben. Als regelmäßiger Fahrgast würde ich es persönlich nehmen, wenn Eisenbahnwaggons teleskopartig ineinandergerammt werden.«

Osgood Hennessy lief vor auflodernder Wut rot an. »Ich sage Ihnen das Gleiche, was ich jedem Reformierer sage, der glaubt, dass die Eisenbahn die Wurzel allen Übels ist. Die Southern Pacific Railroad bietet einhunderttausend Menschen Arbeit. Wir arbeiten wie verrückt und transportieren pro Jahr einhundert Millionen Passagiere und dreihundert Millionen Tonnen Frachtgut.«

»Zufälligerweise liebe ich die Eisenbahn«, sagte Bell sanft. »Aber Eisenbahner übertreiben sicher nicht, wenn sie meinen, dass der schmale Spurkranz, der das Rad auf der Schiene hält, letztlich alles ist, was das Diesseits vom Jenseits trennt.«

Hennessy schlug auf den Tisch. »Diese mordlustigen Radikalen sind blind vor Hass! Können sie nicht erkennen, dass die Geschwindigkeit der Eisenbahn Gottes Geschenk an jeden Mann und jede Frau unter der Sonne ist? Amerika ist groß. Größer als das zerstrittene Europa. Weiter als das geteilte China. Eisenbahnen verbinden uns miteinander. Wie sollen die Menschen ohne Eisenbahn von einem Ort zum anderen kommen? Mit Postkutschen? Wer bringt ihre Ernte auf den Markt? Ochsen? Maultiere? Eine einzige meiner Lokomotiven kann mehr Fracht ziehen als sämtliche Conestoga-Planwagen, die je die Great Plains überquert haben. Mr. Bell, wissen Sie, was ein Thomas Flyer ist?«

»Natürlich. Ein Thomas Flyer ist ein Thomas-Automobil Modell 35 mit vier Zylindern und sechzig PS, das in Buffalo gebaut wird. Ich hoffe inständig, dass die Thomas Company im nächsten Jahr das Rennen New York–Paris gewinnt.«

»Was meinen Sie, warum man ein Automobil nach einem Eisenbahnzug benannt hat?«, polterte Hennessy. »Nur wegen seiner Geschwindigkeit! Ein Flyer ist ein Eisenbahnzug, der für sein Tempo berühmt ist! Und …«

»Geschwindigkeit ist etwas Wunderbares«, unterbrach ihn Bell. »Und zwar deshalb …«

Dass Hennessy diesen Teil seines Privatwagens als Büro benutzte, wurde durch die zusammengerollten Landkarten deutlich, die unter der polierten Holzdecke hingen. Der hochgewachsene, flachsblonde Detektiv wählte anhand der Messingnamensschilder eine aus und rollte eine Landkarte aus, die die Staaten Kalifornien, Oregon, Nevada, Idaho und Washington zeigte. Er deutete auf die gebirgige Grenze zwischen Nordkalifornien und Nevada.

»Vor sechzig Jahren versuchte eine Gruppe von Pionieren, die sich selbst die Donner Party nannten, diese Berge mit einem Wagentreck zu überqueren. Sie wollten nach San Francisco, doch verfrüht einsetzender Schneefall versperrte den Pass, den sie als Weg durch die Sierra Nevada ausgesucht hatten. Die Donner Party saß also den ganzen Winter über fest. Ihnen gingen die Lebensmittel aus. Am Ende überlebten diejenigen, die nicht verhungerten, indem sie die Körper derer verzehrten, die starben.«

»Was, zum Teufel, haben Pioniere, die dem Kannibalismus frönen, mit meiner Eisenbahn zu tun?«

Isaac Bell grinste. »Wenn einen heute auf dem Donner-Pass der Hunger überfällt, erreicht man dank Ihrer Eisenbahn nach einer Zugfahrt von vier Stunden die hervorragenden Restaurants von San Francisco.«

Osgood Hennessys Gesicht war der Unterschied zwischen mürrisch und freundlich nicht allzu deutlich anzusehen, aber nun meinte er einlenkend zu Joseph Van Dorn: »Sie haben gewonnen, Joe. Also, ich höre, Bell. Reden Sie.«

Bell deutete auf die Landkarte. »In den vergangenen drei Wochen gab es mehrere verdächtige Zugentgleisungen, und zwar hier in Redding, dort in Roseville und in Dunsmuit – sowie den Tunneleinsturz, aufgrund dessen Sie sich an Mr. Van Dorn gewandt haben.«

»Sie erzählen mir nichts, was ich nicht längst weiß«, schnappte Hennessy. »Vier Gleisarbeiter und ein Lokomotivführer tot. Zehn Männer wegen Knochenbrüchen arbeitsunfähig. Acht Tage Verzögerung bei den Bauarbeiten.«

»Und ein Bahnpolizist im Richttunnel verschüttet und ebenfalls tot.«

»Was? Ach ja. Das hatte ich vergessen. Einer meiner Schwellen-Cops.«

»Sein Name war Clarke. Aloysius Clarke. Seine Freunde nannten ihn Wish.«

»Wir kannten den Mann«, erklärte Joseph Van Dorn. »Er hat für meine Agentur gearbeitet. Ein hervorragender Detektiv. Aber er hatte gewisse Probleme.«

Bell sah jedem der Anwesenden in die Augen und sprach dann mit klarer Stimme eines der größten Komplimente aus, die es im Westen gab: »Wish Clarke war ein Mann, mit dem man Pferde stehlen konnte.«

Dann sagte er zu Hennessy: »Auf dem Weg hierher habe ich gelegentlich einen Abstecher in den Hobo-Dschungel gemacht. Außerhalb von Crescent City auf der Siskiyou-Linie« – er deutete auf der Karte auf die Nordküste Kaliforniens – »hörte ich von einem Radikalen oder Anarchisten, den die Hobos den Zerstörer nennen.«

»Ein Radikaler! Ich hab’s doch gesagt!«

»Die Hobos wissen nur wenig über ihn, aber sie fürchten ihn. Männer, die sich ihm einmal angeschlossen haben, wurden nie wieder gesehen. Nach dem, was ich bisher habe in Erfahrung bringen können, könnte er für den Anschlag auf den Tunnel einen Komplizen rekrutiert haben. Ein junger Agitator, ein Bergarbeiter namens Kevin Butler, wurde südlich von Crescent City dabei beobachtet, wie er auf einen Güterzug aufgesprungen ist.«

»Nach Eureka!«, sagte Hennessy aufgeregt. »Von Santa Rosa ist er dann weiter nach Redding und nach Weed gefahren und so zum Cascades Cutoff gekommen. Genauso, wie ich es die ganze Zeit immer gesagt habe. Arbeitskämpfer, Fremde, Anarchisten. Und? Hat dieser Agitator sein Verbrechen wenigstens gestanden?«

»Kevin Butler dürfte sein Geständnis vor dem Teufel ablegen, Sir. Seine Leiche wurde neben Detektiv Clarks im Richttunnel gefunden. Jedoch weist bei ihm nichts darauf hin, dass er dazu fähig gewesen sein sollte, einen solchen Anschlag allein auszuführen. Der Zerstörer ist also immer noch auf freiem Fuß.«

Im Raum nebenan klapperte eine Morsetaste. Lillian Hennessy spitzte die Ohren. Als das Geräusch verstummte, kam der Telegrafist eilig mit der Transkription herein. Bell bemerkte, dass sich Lillian gar nicht erst die Mühe machte zu lesen, was auf dem Papier stand, während sie zu ihrem Vater sagte: »Aus Redding. Eine Kollision nördlich von Weed. Ein Arbeiterzug hat ein Signal nicht beachtet. Ein Nachschubzug, der ihm folgte, wusste nicht, dass er sich bereits vor ihm in dem Abschnitt befand, und ist auf sein Ende aufgefahren. Der Begleitwagen wurde in einen Güterwagen hineingeschoben. Zwei Zugbegleiter wurden getötet.«

Hennessy sprang auf, sein Gesicht war gerötet. »Keine Sabotage? Ein Signal überfahren, so ein Blödsinn! Diese Züge fuhren zur Cascades Cutoff. Das bedeutet eine weitere Verzögerung der Arbeiten!«

Joseph Van Dorn trat vor, um den rasenden Eisenbahnpräsidenten zu beruhigen.

Bell trat neben Lillian.

»Sie kennen das Morsealphabet?«, fragte er leise.

»Ihnen entgeht offenbar nichts, Mr. Bell. Ich reise mit meinem Vater, seit ich ein junges Mädchen war. Und er hat sich stets in der Nähe einer Morsetaste befunden.«

Bell betrachtete die junge Frau mit neuen Augen. Vielleicht war Lillian mehr als das verzogene, eigensinnige Einzelkind, als das sie zunächst erschien. Sie könnte zu einer wertvollen Quelle von Informationen über den Vertrautenkreis ihres Vaters werden. »Wer ist die Lady, die gerade hereingekommen ist?«

»Emma Comden ist eine Freundin der Familie. Sie hat mich in Französisch und Deutsch unterrichtet und sich sehr bemüht, meine Leistungen zu verbessern« – Lillian klimperte mit den ausgeprägt langen Wimpern über ihren hellblauen Augen und fügte hinzu –, »am Klavier.«

Emma Comden trug ein schlank geschnittenes Kleid mit sittsam rundem Halsausschnitt und dazu eine elegante Brosche an einer Halskette. Äußerlich war sie Lillians genaues Gegenteil, an jenen Stellen gerundet, wo die junge Frau schlank war, mit tiefbraunen, fast schwarzen Augen, dunklem Haar, kastanienbraun glänzend mit einem rötlichen Schimmer und zu einer kunstvollen Frisur im französischen Stil hochgesteckt.

»Heißt das, Sie wurden zu Hause erzogen und ausgebildet, damit Sie Ihrem Vater helfen konnten?«

»Ich meinte damit, dass ich aus so vielen Schulen im Osten hinausgeworfen wurde, dass Vater Mrs. Comden engagiert hat, um meine Erziehung abzuschließen.«

Bell quittierte dieses Geständnis mit einem Lächeln. »Wie können Sie immer noch Zeit für Französisch und Deutsch und fürs Klavier haben, wenn Sie die Privatsekretärin Ihres Vaters sind?«

»Ich brauche meine Lehrerin nicht mehr.«

»Und trotzdem ist Mrs. Comden noch hier …?«

Lillian meinte daraufhin kühl: »Wenn Sie wirklich so gute Augen haben, Mr. Detective, dann dürfte Ihnen aufgefallen sein, dass Vater für die Freundin unserer Familie große Sympathien hegt.«

Hennessy bemerkte, dass sich Isaac und Lillian leise unterhielten. »Was ist los?«

»Ich sagte gerade, ich hätte gehört, dass Mrs. Hennessy eine Schönheit gewesen sei.«

»Lillian hat ihr Gesicht ganz sicher nicht von meiner Familie geerbt. Wie viel zahlt man Ihnen für Ihre Tätigkeit als Detektiv, Mr. Bell?«

»Mein Honorar bewegt sich am oberen Ende der Skala.«

»Dann haben Sie sicherlich Verständnis dafür, dass ich als Vater einer unberührten jungen Frau fragen muss, wer Ihnen diese eleganten Kleider gekauft hat?«

»Mein Großvater Isaiah Bell.«

Osgood Hennessy starrte ihn wie vom Donner gerührt an. Er hätte nicht verblüffter dreinschauen können, wenn Bell ihm erklärt hätte, er sei ein direkter Nachkomme von König Midas. »Isaiah Bell war Ihr Großvater? Damit ist Ihr Vater Ebenezer Bell, der Präsident der American States Bank in Boston. Allmächtiger Gott, ein Bankier.«

»Mein Vater ist Bankier. Ich bin Detektiv.«

»Mein Vater hat in seinem ganzen Leben keinen einzigen Bankier kennengelernt. Er war Vorarbeiter und schlug Schwellennägel ein. Sie haben einen ganz gewöhnlichen Eisenbahnmalocher vor sich, Bell. Ich habe genauso angefangen wie er, habe Nägel in Schwellen geschlagen. Habe aus dem Brotbeutel gelebt. Habe meine zehn Stunden am Tag gearbeitet und bin Stück für Stück aufgestiegen: Bremser, Lokführer, Zugführer, Telegrafist, Fahrdienstleiter – von der Schiene über den Bahnhof in die Direktion.«