9,99 €
Umweltschützer wollen einen begrenzten „Polsprung“ auslösen, um die Menschheit zum Umdenken zu bewegen. Und ein Finanzmagnat will das ausbrechende Chaos für sich nutzen. Durch einen Test werden bereits katastrophale Ereignisse ausgelöst – ein als unsinkbar geltendes Frachtschiff verschwindet spurlos im Ozean, eine Herde Killerwale rastet völlig aus, Menschen und Tiere verlieren jede Orientierung – nur die in Sibirien tätige Paläontologin Karla Janos kennt das Geheimnis, wie die Kettenreaktion wieder zu stoppen ist. In höchster Not sollen Kurt Austin und seine NUMA die Welt vor der Auslöschung allen organischen Lebens zu bewahren …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 623
Clive Cussler
Paul Kemprecos
Packeis
Roman
Übersetzt von Michael Kubiak
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Polar Shift« bei Putnam, New York.
1. Auflage
E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © der Originalausgabe 2005 by Clive Cussler.
Copyright © der Originalausgabe 2007 by Sandecker RLLLP
All rights reserved throughout the world.
By arrangement with
Peter Lampack Agency, Inc.
551 Fifth Avenue, Suite 1613
New York, NY 10176 - 0187 USA
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Redaktion: Patricia Woitynek
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-15194-2
www.blanvalet.de
Prolog
Ostpreußen 1944
Der Mercedes-Benz 770 W 150 »Großer Tourenwagen« wog mehr als vier Tonnen und war mit Stahlarmierungen versehen wie ein Panzer. Dennoch schien die siebensitzige Limousine wie ein Geist über die Decke aus frisch gefallenem Schnee hinwegzuschweben, während sie mit ausgeschalteten Scheinwerfern an schlummernden Maisfeldern vorbeiglitt, die im bläulichen Schein des Mondes funkelten.
Als der Wagen sich einem verdunkelten Bauernhaus näherte, das in einer leichten Senke stand, trat der Fahrer behutsam auf die Bremse. Der Wagen verfiel in Schritttempo, schob sich mit der Heimlichkeit einer Katze auf Mäusejagd an das niedrige Gebäude aus Naturstein heran.
Mit Augen, die die Farbe von Polareis hatten, blickte der Fahrer aufmerksam durch die mit Raureif bedeckte Windschutzscheibe. Das Gebäude schien leer und verlassen zu sein, doch er wollte kein Risiko eingehen. Weiße Farbe war hastig über den langen schwarzen Stahlkörper des Wagens gepinselt worden. Der plumpe Versuch einer Tarnung machte das Automobil für die Sturmowik Schlachtflugzeuge, die am Himmel kreisten wie hungrige Raubvögel, so gut wie unsichtbar, doch der Mercedes war den russischen Patrouillen, die wie Geistererscheinungen plötzlich aus dem Schnee hochsprangen, nur knapp entkommen. Gewehrkugeln hatten die Panzerung an einem Dutzend Stellen eingedellt.
Daher wartete er.
Der Mann, der ausgestreckt auf dem geräumigen Rücksitz der viertürigen Limousine lag, hatte gespürt, wie der Wagen bremste. Er richtete sich auf und vertrieb mit einem Blinzeln den Schlaf aus seinen Augen.
»Was ist los?«, fragte er. Er sprach Deutsch mit ungarischem Akzent. Seine Stimme war belegt vom Schlaf.
Der Chauffeur bedeutete seinem Fahrgast zu schweigen. »Irgendetwas ist nicht…«
Das Rattern von Maschinenpistolen zerschmetterte die glasige Stille der Nacht.
Der Fahrer rammte den Fuß aufs Bremspedal. Das massige Fahrzeug kam etwa fünfzig Meter vom Bauernhaus entfernt schlitternd zum Stehen. Der Fahrer schaltete die Zündung aus und griff nach der 9mm Luger, die auf dem Beifahrersitz lag. Seine Hand schloss sich fester um den Griff der Luger, als eine stämmige Gestalt in olivfarbener Uniform und Pelzmütze der Roten Armee aus der Vordertür des Bauernhauses herausstolperte.
Der Soldat umklammerte seinen Arm und heulte wie ein von einer Biene gestochener Bulle.
»Verdammte Faschistenhure!«, brüllte er mehrmals. Seine Stimme war heiser vor Wut und Schmerzen.
Der russische Soldat war erst vor wenigen Minuten in das Bauernhaus eingedrungen. Das Bauernpaar hatte sich in einem Schrank versteckt, zusammengekauert unter einer Decke wie Kinder, die Angst vor der Dunkelheit haben. Er hatte den Ehemann mit einer Kugel getötet und dann der Frau, die in die winzige Küche geflüchtet war, seine Aufmerksamkeit zugewandt.
Während er sich seine Waffe über die Schulter hängte, hatte er den Zeigefinger gekrümmt und gesäuselt: »Frau, komm«, das besänftigende Vorspiel zur Vergewaltigung.
Das mit Wodka getränkte Gehirn des Soldaten versäumte, ihn zu warnen, dass er in Gefahr schwebte. Die Frau des Bauern hatte nicht um Gnade gebettelt oder war in Tränen ausgebrochen wie die anderen Frauen, die er vor ihr vergewaltigt und ermordet hatte. Sie hatte ihn mit glühenden Augen angestarrt, hatte ein Fleischmesser hinterm Rücken hervorgezogen und damit auf sein Gesicht gezielt. Er hatte im Mondlicht, das durch die Fenster hereindrang, nur ein Blitzen von Stahl wahrgenommen und den linken Arm hochgerissen, um sich zu schützen, doch die scharfe Klinge war durch den Ärmel hindurch in seinen Unterarm gedrungen. Daraufhin hatte er die Frau mit der anderen Hand zu Boden gestoßen. Doch selbst da hatte sie weiter um das Messer gekämpft. Rasend vor Wut hatte er sie mit wilden Feuerstößen aus seiner PPS-43 Maschinenpistole praktisch in zwei Hälften zerlegt.
Während er draußen vor dem Bauernhaus stand, inspizierte der Soldat seine Wunde. Der Schnitt war nicht besonders tief, und es traten nur noch wenige Blutstropfen aus dem Riss in der Haut. Er holte eine Flasche selbst gebrannten Wodkas aus der Tasche und leerte sie. Der feurig-scharfe Alkohol, der durch seine Kehle floss, trug dazu bei, den brennenden Schmerz in seinem Arm zu betäuben. Er schleuderte die leere Flasche in den Schnee, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und machte sich auf den Weg, um seinen Kameraden zu folgen. Er würde vor ihnen damit prahlen, sich die Wunde während eines Kampfs mit einer Bande Faschisten zugezogen zu haben.
Der Soldat trottete ein paar Schritte weit durch den Schnee, um abrupt stehen zu bleiben, als seine scharfen Ohren das leise Tick-tick des abkühlenden Automotors auffingen. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen zu dem großen grauen Fleck in den vom Mondschein erzeugten Schatten. Ein misstrauisches Stirnrunzeln erschien auf seiner breiten Bauernphysiognomie. Er nahm mit einer fließenden Bewegung die Maschinenpistole von der Schulter und richtete sie auf das undeutlich auszumachende Objekt. Sein Finger spannte sich um den Abzug.
Vier Scheinwerfer flammten auf. Der kraftvolle Acht-Zylinder-Reihenmotor erwachte röhrend zum Leben, und der Wagen machte einen Satz vorwärts, wobei sein Heck über die Schneedecke schlingerte. Der Russe versuchte, dem heranrasenden Fahrzeug auszuweichen. Die Ecke der wuchtigen Stoßstange erwischte sein Bein, und er wurde in den Straßengraben gefegt.
Der Wagen kam schlitternd zum Stehen, und der Fahrer stieg aus. Der hochgewachsene Mann ging durch den Schnee zu dem Soldaten, wobei sein langer schwarzer Ledermantel mit einem leisen Klatschen gegen seine Oberschenkel schlug. Der Mann hatte ein längliches Gesicht und ein ausgeprägtes Kinn. Sein kurz geschnittenes blondes Haar war unbedeckt, obgleich eine Temperatur von weit unter null Grad Celsius herrschte.
Er ging neben dem zu Boden geschleuderten Mann in die Hocke.
»Hast du Schmerzen, Towarisch?«, erkundigte er sich auf Russisch. Seine Stimme war tief und wohlklingend, und in ihr schwang das distanzierte Mitgefühl eines Arztes mit.
Der Soldat stöhnte. Er konnte sein Riesenpech nicht fassen. Erst diese deutsche Schlampe mit dem Messer, und jetzt dies.
Er schickte einen heiseren Fluch über seine mit schaumigem Speichel bedeckten Lippen. »Verflucht sei deine Mutter! Natürlich habe ich Schmerzen!«
Der hochgewachsene Mann zündete eine Zigarette an und schob sie zwischen die Lippen des Russen. »Ist jemand in dem Bauernhaus?«
Der Soldat machte einen tiefen Zug und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Er vermutete in diesem Fremden einen jener politischen Offiziere, die die Armee wie Schmeißfliegen umschwirrten.
»Zwei Faschisten«, antwortete der Russe. »Ein Mann und eine Frau.«
Der Fremde ging ins Bauernhaus und kam wenige Minuten später wieder heraus.
»Was ist passiert?«, fragte er und ließ sich abermals neben dem Soldaten in die Hocke sinken.
»Ich habe den Mann erschossen. Die Faschistenschlampe hat sich mit dem Messer auf mich gestürzt.«
»Gut gemacht.« Er klopfte dem Russen auf die Schulter. »Bist du alleine hier?«
Der Soldat knurrte wie ein Hund, der seinen Knochen verteidigt. »Ich teile niemals meine Beute oder meine Frauen.«
»Bei welcher Einheit bist du?«
»Bei General Galitskys Elfter Gardearmee«, erwiderte der Soldat mit Stolz in der Stimme.
»Ihr habt Nemmersdorf an der Grenze angegriffen?«
Der Soldat fletschte die Zähne. »Wir haben die Faschisten an die Tore ihrer Scheunen genagelt. Männer, Frauen und Kinder. Du hättest hören sollen, wie die Faschistenhunde um Gnade gewinselt haben.«
Der hochgewachsene Mann nickte. »Gut gemacht. Ich kann dich zu deinen Kameraden bringen. Wo sind sie?«
»Ganz in der Nähe. Sie bereiten sich darauf vor, weiter nach Westen vorzurücken.«
Der Fremde blickte hinüber zu einer fernen Baumreihe. Das Dröhnen der großen T-24 Kampfpanzer drang zu ihm wie ferner Donner. »Wo sind die Deutschen?«
»Die Schweine rennen um ihr Leben.« Der Soldat zog wieder an der Zigarette. »Lang lebe Mütterchen Russland.«
»Ja«, sagte der hochgewachsene Mann. »Lang lebe Mütterchen Russland.« Er griff in seinen Mantel, holte die Luger hervor und drückte die Mündung gegen die Schläfe des Soldaten. »Auf Wiedersehen, Kamerad.«
Die Pistole bellte einmal. Der Fremde schob sie zurück in ihr Holster und kehrte zum Wagen zurück. Während er sich ans Lenkrad setzte, kam vom Fahrgast auf dem Rücksitz ein heiserer Schrei.
»Sie haben diesen Soldaten kaltblütig getötet!«
Der dunkelhaarige Mann war Mitte dreißig und hatte die attraktiven Gesichtszüge eines Schauspielers. Ein dünner Schnurrbart zierte seinen sinnlichen Mund. Aber in der Art und Weise, wie seine ausdrucksvollen grauen Augen zornig funkelten, war nichts Maßvolles.
»Ich habe lediglich irgendeinem Iwan geholfen, sich für den größeren Ruhm Mütterchen Russlands zu opfern«, sagte der Chauffeur auf Deutsch.
»Ich begreife ja, dass wir Krieg haben«, sagte der Fahrgast mit gepresster Stimme. »Aber sogar Sie müssen zugeben, dass die Russen Menschen wie wir sind.«
»Ja, Professor Kovacs, wir sind uns sehr ähnlich. Wir haben unaussprechliche Grausamkeiten gegen ihr Volk begangen, und jetzt rächen sie sich dafür.« Er beschrieb die grauenvollen Einzelheiten des Massakers in Nemmersdorf.
»Mir tun diese Menschen unendlich leid«, sagte Kovacs mit gedämpfter Stimme, »aber die Tatsache, dass die Russen sich verhalten wie Tiere, darf noch lange nicht dazu führen, dass der Rest der Welt in Barbarei versinkt.«
Der Fahrer gab einen tiefen Seufzer von sich. »Die Front verläuft jenseits dieser Bergkette«, sagte er. »Sie können gerne mit Ihren russischen Freunden über die moralischen Werte der Menschheit diskutieren. Ich werde Sie nicht davon abhalten.«
Der Professor verkroch sich in sich selbst wie eine Auster.
Der Fahrer warf einen Blick in den Rückspiegel und kicherte verhalten.
»Eine weise Entscheidung.« Er zündete sich eine Zigarette an und bückte sich in den Fußraum, um das Leuchten des Streichholzes abzuschirmen. »Ich will Ihnen die Lage erläutern. Die Rote Armee hat die Grenze überschritten und ist durch die deutsche Front gebrochen, als bestünde sie aus Papier. Fast alle Bewohner dieses idyllischen Landstrichs sind aus ihren Häusern und von ihren Feldern geflüchtet. Unsere tapfere Armee war in heftige Rückzugsgefechte verwickelt, während sie um ihr Leben rannte. Die Russen haben eine Übermacht von zehn zu eins, was Männer und Waffen betrifft, und sie schneiden sämtliche Fluchtwege nach Westen ab, während sie eilmarschmäßig nach Berlin vordringen. Millionen von Menschen sind unterwegs zur Küste, wo die See die einzige Möglichkeit zur Flucht bietet.«
»Gott helfe uns allen«, stöhnte der Professor.
»Er scheint auch Ostpreußen evakuiert zu haben. Betrachten Sie sich als Glückspilz«, sagte der Fahrer fröhlich. Er setzte mit dem Wagen langsam zurück, legte dann den ersten Vorwärtsgang ein und lenkte ihn um die Leiche des Russen herum. »Sie dürfen miterleben, wie Geschichte geschrieben wird.«
Der Wagen rollte nach Westen und gelangte ins Niemandsland zwischen dem russischen Moloch und den zurückweichenden Deutschen. Der Mercedes flog regelrecht über die Landstraßen und passierte verlassene Dörfer und Bauernhöfe. Die gefrorene Landschaft wirkte völlig unwirklich, so als sei sie wie ein Teller umgekippt und von sämtlichem menschlichem Leben geleert worden. Die Reisenden hielten nur an, um aus einem Reservekanister, den der Wagen im Kofferraum mitführte, nachzutanken und um ihre Notdurft zu verrichten.
Fahrspuren erschienen im Schnee. Ein kurzes Stück weiter holte der Wagen das Ende der Nachhut ein. Der strategische Rückzug hatte sich zu einem richtigen Strom aus Militärfahrzeugen, Panzern, Soldaten und Flüchtlingen entwickelt, der sich schwerfällig durch den tiefen Schnee wälzte.
Die vom Glück begünstigten Flüchtlinge waren mit Traktoren oder Pferdegespannen unterwegs. Andere gingen zu Fuß und schoben Schubkarren, die mit persönlichen Besitztümern beladen waren, durch den Schnee. Viele hatten nur das retten können, was sie am Leibe trugen.
Der Mercedes hielt sich dicht am Straßenrand, wo seine tiefen Reifenprofile im Schnee den besten Halt fanden. Der Wagen verfolgte ungehindert seinen Kurs, bis er die Spitze des Flüchtlingstrecks passierte. Bei Tagesanbruch schleppte das mit Schlamm bespritzte Fahrzeug sich nach Gdynia wie ein verwundetes Rhinozeros, das Zuflucht in einem Dickicht sucht.
Die Deutschen hatten Gdynia im Jahr 1939 besetzt, fünfzigtausend Polen vertrieben und den geschäftigen Seehafen nach den Goten in Gotenhafen umbenannt. Der Hafen wurde in eine Marinebasis umgewandelt, vorwiegend für U-Boote. Ein Ableger der Kieler Reederei wurde dort eingerichtet, um neue U-Boote zu bauen, die mit in den umliegenden Gewässern ausgebildeten Mannschaften besetzt und ausgesandt wurden, um Schiffe der Alliierten im Atlantik zu versenken.
Unter dem Befehl von Großadmiral Dönitz war in Gdynia in Vorbereitung der Evakuierung eine ausgewählte Flottille von Schiffen zusammengezogen worden. Die Flotte bestand aus einigen der luxuriösesten deutschen Kreuzfahrtschiffe, Fischerbooten und privaten Booten. Dönitz wollte seine U-Boot-Mannschaften und anderes Marinepersonal retten, damit sie den Kampf fortsetzen konnten. Schlussendlich sollten insgesamt mehr als zwei Millionen Zivilisten und militärisches Personal nach Westen transportiert werden.
Der Mercedes fuhr durch die Stadt. Ein bitterkalter Wind wehte von der Ostsee landeinwärts und peitschte Schneeflocken zu Wolken eisiger, stechender Nesseln. Trotz der frostigen Verhältnisse waren die Straßen der Stadt so belebt wie an einem Sommertag. Flüchtlinge und Kriegsgefangene stapften durch die hohen Schneewehen auf der vergeblichen Suche nach Schutz. Versorgungsstationen waren umlagert von langen Schlangen hungriger Flüchtlinge, die auf ein Stück Brot oder einen Becher heiße Suppe warteten.
Wagen, hoch beladen mit Fahrgästen und allen möglichen Gütern, verstopften die engen Straßen. Flüchtlinge strömten aus den Bahnhöfen und gesellten sich zu denen, die zu Fuß eingetroffen waren. Eingepackt in mehrere Schichten Kleidung, ähnelten sie seltsamen Schneewesen. Kinder wurden auf Behelfsschlitten gezogen.
Der Wagen schaffte theoretisch eine Höchstgeschwindigkeit von 170 Stundenkilometern, blieb jedoch schon bald im zähflüssigen Verkehr stecken. Der Fahrer fluchte und hämmerte in einem fort auf den Hupknopf. Vom schwerfälligen Schleichtempo frustriert, brachte der Fahrer den Wagen vollends zum Stehen. Er stieg aus und öffnete die hintere Tür.
»Kommen Sie, Professor«, sagte er zu seinem Fahrgast. »Zeit für einen Spaziergang.«
Der Fahrer ließ den Mercedes mitten auf der Straße stehen, dann drängte er sich rücksichtslos durch die Menschenmenge. Er hielt den Arm des Professors mit eisernem Griff fest, brüllte Leute an, Platz zu machen, und stieß sie mit der Schulter beiseite, wenn sie nicht schnell genug reagierten.
Schließlich gelangten sie zu den Kais, wo sich mehr als sechzigtausend Flüchtlinge versammelt hatten in der Hoffnung, an Bord eines der Schiffe zu gelangen, die an den Landungsbrücken lagen oder im Hafen ankerten.
»Schauen Sie genau hin«, sagte der Fahrer und betrachtete das Gewimmel mit einem grimmigen Lächeln. »Die Religionsgelehrten haben sich alle geirrt. Man kann ganz deutlich erkennen, dass es in der Hölle kalt ist und nicht heiß.«
Der Professor war überzeugt, dass er sich in der Gewalt eines Verrückten befand. Ehe Kovacs etwas erwidern konnte, zog der Fahrer ihn abermals weiter. Sie suchten sich ihren Weg durch eine mit Schnee bedeckte Siedlung aus Zelten, die vorwiegend aus zusammengehefteten Decken bestanden, und wichen unzähligen halb verhungerten Pferden und Hunden aus, die von ihren Besitzern im Stich gelassen worden waren. Pferdewagen drängten sich auf den Kais. Auf endlosen Reihen von Tragbahren lagen verwundete Soldaten, die mit Sanitätszügen aus dem Osten hergebracht worden waren. Bewaffnete Wachen standen an jeder Gangway und wiesen unbefugte Personen ab.
Der Fahrer drängte sich vor eine Warteschlange. Der Posten, der einen Stahlhelm trug und den Kontrollpunkt besetzte, hob sein Gewehr, um den Durchgang zu versperren. Der Fahrer wedelte mit einem Blatt Papier, das mit prägnanten gotischen Lettern bedruckt war, vor der Nase des Postens herum. Der Wächter las das Dokument, nahm zackig Haltung an und deutete den Kai entlang.
Der Professor rührte sich nicht. Er hatte beobachtet, wie jemand an Bord des Schiffs, das am Kai festgemacht war, ein Bündel zu den Wartenden auf dem Pier hinunterwarf. Der Wurf fiel zu kurz aus, und das Bündel landete im Wasser. Lautes Geschrei stieg von der Menschenmenge auf.
»Was ist passiert?«, fragte der Professor.
Der Wächter machte sich nicht mal die Mühe, in die Richtung der Unruhe zu blicken. »Flüchtlinge mit Kleinkindern können sofort an Bord gehen. Sie werfen das Kind zurück an Land und benutzen es immer wieder als Bordkarte. Manchmal werfen sie daneben, und das Kind fällt ins Wasser.«
»Wie grässlich«, sagte der Professor schaudernd.
Der Wachtposten zuckte die Achseln. »Sie sollten sich lieber beeilen. Sobald es aufhört zu schneien, schicken die Roten ihre Flugzeuge, um Bomben abzuwerfen oder im Tiefflug anzugreifen. Viel Glück.« Er hob sein Gewehr hoch, um den Nächsten in der Warteschlange zu stoppen.
Das magische Dokument bewahrte Kovacs und den Fahrer vor einem Paar brutal aussehender SS-Offiziere, die Ausschau nach kräftigen Männern hielten, um sie zum Dienst an die Front zu schicken. Schließlich erreichten sie eine Rampe, die auf eine mit verwundeten Soldaten beladene Fähre führte. Erneut zeigte der Fahrer seine Dokumente einem Wachtposten, der sie aufforderte, schnellstens an Bord zu gehen.
Während die überladene Fähre vom Kai ablegte, wurde sie von einem Mann beobachtet, der die Uniform des Marinesanitätscorps trug. Er hatte mitgeholfen, die Verwundeten an Bord zu bringen, doch nun schlängelte er sich durch das Menschengewühl weg von der Kante des Piers und zu einem Schiffsfriedhof.
Er kletterte auf die verfallenden Überreste eines Fischerboots und ging unter Deck. Er holte ein mit Kurbel betriebenes Sprechfunkgerät aus einem Schrank in der Kombüse, setzte es in Gang und murmelte ein paar russische Sätze. Er lauschte der Antwort, die von einem heftigen Rauschen begleitet wurde, stellte das Funkgerät wieder an seinen Platz und kehrte zur Fährbrücke zurück.
Die Fähre mit Kovacs und seinem hochgewachsenen Begleiter hatte sich von der Seeseite einem Schiff genähert. Das Schiff war mehrere Meter vom Kai weggeschleppt worden, um verzweifelte Flüchtlinge davon abzuhalten, an Bord zu schleichen. Während die Fähre unter dem Bug des Schiffs durchlief, blickte der Professor hoch. Der Name des Schiffs war in gotischen Lettern auf dem marinegrauen Rumpf zu lesen: Wilhelm Gustloff.
Eine Gangway wurde heruntergelassen, und die Verwundeten wurden aufs Schiff getragen. Dann kletterten die anderen Passagiere die Gangway hoch. Sie hatten ein Lächeln der Erleichterung auf ihren Gesichtern und Dankgebete auf den Lippen. Das deutsche Vaterland war nur noch eine Schiffsreise von wenigen Tagen weit weg.
Keiner der glücklichen Passagiere konnte in diesem Moment ahnen, dass sie soeben das Deck einer schwimmenden Bombe betreten hatten.
Kapitän 3. Klasse Sasha Marinesko blickte stirnrunzelnd durch das Periskop des U-Boots S-13.
Nichts.
Nicht ein deutsches Schiff in Sicht. Die graue See war so leer wie die Taschen eines Seemanns nach einem Landurlaub. Nicht einmal ein stinkendes Ruderboot, auf das man hätte schießen können. Der Kapitän dachte an die zwölf ungenutzten Torpedos an Bord des sowjetischen U-Boots, und sein Zorn nagte an ihm wie eine offene Wunde.
Das Oberkommando der sowjetischen Marine hatte verlauten lassen, dass der Angriff der Roten Armee auf Danzig eine umfangreiche Evakuierung auf dem Seeweg erzwingen würde. Die S-13 war eins von drei sowjetischen U-Booten, die den Befehl hatten, sich vor Memel, einem Hafen, der immer noch von den Deutschen gehalten wurde, für den erwarteten Exodus bereitzuhalten.
Als Marinesko erfuhr, dass Memel eingenommen worden war, rief er seine Offiziere zusammen. Er teilte ihnen mit, dass er sich entschieden habe, die Bucht von Danzig anzusteuern, wo die Evakuierungskonvois eher zu suchen seien.
Niemand widersprach. Offiziere und Mannschaften waren sich darüber im Klaren, dass der Erfolg ihrer Mission den Unterschied zwischen einem Heldenempfang und einer Fahrkarte nach Sibirien ausmachte.
Tage zuvor war der Kapitän mit der Geheimpolizei, dem NKWD, in Konflikt geraten. Er hatte die Basis unerlaubt verlassen und war am 2. Januar auf Sauftour gewesen, als von Stalin der Befehl an die U-Boote erging, Kurs auf die Ostsee zu nehmen und zwischen den Konvois Chaos zu verursachen. Doch der Kapitän befand sich auf einem dreitägigen Saufgelage in den Freudenhäusern und Bars der finnischen Hafenstadt Turku. Er kehrte zur S-13 einen Tag, nachdem sie längst hätte in See stechen sollen, zurück.
Der NKGB erwartete ihn bereits. Sie wurden noch misstrauischer, als er erklärte, er könne sich an die Einzelheiten seiner Sauftour nicht erinnern. Marinesko war ein großspuriger und harter U-Boot-Skipper, der mit dem Leninorden und dem Roten-Banner-Orden ausgezeichnet worden war. Der großspurige U-Boot-Mann explodierte vor Wut, als die Geheimpolizei ihn der Spionage und des Überlaufens zum Feind bezichtigte.
Sein ihm wohlgesonnener Kommandeur verschob die Entscheidung, ein Kriegsgerichtsverfahren einzuleiten. Dieser Schachzug erwies sich jedoch als vergeblich, als die Ukrainer, die auf dem U-Boot Dienst taten, eine Petition unterschrieben, in der sie darum baten, dass ihr Kommandant wieder auf sein Boot zurückkehren dürfe. Der Kommandeur wusste, dass diese Loyalitätsbezeugung als potenzielle Meuterei eingestuft würde. In der Hoffnung, die gefährliche Situation ein wenig zu entschärfen, erteilte er dem U-Boot den Marschbefehl, während über ein Kriegsgerichtsverfahren nachgedacht wurde.
Marinesko ging davon aus, dass er und seine Männer einer strengeren Strafe entgehen würden, wenn er genügend deutsche Schiffe versenkte.
Ohne die Marineleitung davon zu informieren, brachten er und seine Männer U-Boot S-13 auf einen Kurs, der es dem Patrouillendienst entzog und dafür seinem verhängnisvollen Rendezvous mit dem deutschen Kreuzfahrtschiff entgegenführte.
Friedrich Petersen, der weißhaarige Kapitän der Gustloff, stampfte in der Offiziersmesse auf und ab und führte sich auf wie ein wandelndes Feuerwerk. Dann blieb er abrupt stehen und funkelte einen jüngeren Mann, der in seiner Uniform der U-Boot-Flotte wie aus dem Ei gepellt aussah, wütend an.
»Ich darf Sie daran erinnern, Korvettenkapitän Zahn, dass ich der Kapitän dieses Schiffs und für seine Führung und die Sicherheit aller, die sich an Bord befinden, verantwortlich bin.«
Um seiner eisernen Disziplin Nachdruck zu verleihen, bückte Korvettenkapitän Zahn sich und kraulte den großen Schäferhund, der neben ihm hockte, hinter den Ohren. »Und ich darf Sie daran erinnern, Kapitän, dass die Gustloff seit 1942 als Wohnschiff der U-Boot-Basis unter meinem Kommando steht. Ich bin der befehlshabende Marineoffizier an Bord. Außerdem vergessen Sie offensichtlich Ihre Erklärung, kein zur See fahrendes Schiff zu kommandieren.«
Petersen hatte diese Verpflichtung als Bedingung für seine Repatriierung unterschrieben, nachdem er von den Engländern gefangen genommen worden war. Die Verpflichtung war eine Formalität, weil die Briten glaubten, er sei zu alt für den aktiven Dienst. Mittlerweile siebenundsechzig Jahre alt, wusste er, dass seine Karriere beendet war, ganz gleich wie der Krieg ausging. Er war ein Liegekapitän, der »Hafenkapitän«, der Gustloff. Doch er schöpfte aus der Erkenntnis ein wenig Trost, dass der jüngere Mann aus aktiven Einsätzen herausgehalten wurde, nachdem er die Versenkung des englischen Schiffs Nelson verpfuscht hatte.
»Nichtsdestoweniger, Kapitän, hat die Gustloff das Dock niemals unter Ihrem Befehl verlassen«, sagte er. »Ein schwimmendes Klassenzimmer und feststehende Baracken sind wohl alles andere als ein seegängiges Schiff. Ich habe den größten Respekt vor dem U-Boot-Dienst, aber Sie können der Tatsache nicht widersprechen, dass ich der Einzige bin, der qualifiziert ist, das Schiff auf See zu führen.«
Petersen hatte das Kreuzfahrtschiff einmal geführt, während einer Reise in Friedenszeiten, und hätte unter normalen Bedingungen nie wieder das Kommando über die Gustloff erhalten. Zahn sträubten sich die Haare bei der Vorstellung, unter dem Kommando eines Zivilisten zu stehen. Deutsche U-Boot-Fahrer betrachteten sich als elitäre Klasse.
»Trotzdem bin ich immer noch der ranghöchste Offizier der Kriegsmarine hier an Bord. Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass an Deck Flugabwehrgeschütze montiert wurden«, entgegnete Zahn. »Damit ist dieser Kasten rein technisch betrachtet eindeutig ein Kriegsschiff.«
Der Kapitän quittierte das mit einem nachsichtigen Lächeln. »Eine seltsame Art von Kriegsschiff. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass wir Tausende von Flüchtlingen an Bord haben, also eine Mission ausführen, die eher in den Bereich der Handelsmarine fällt.«
»Sie haben die fünfzehnhundert U-Boot-Männer vergessen, die ausgeschifft werden müssen, damit sie weiterhin das Dritte Reich verteidigen können.«
»Ich würde mich freuen, Ihren Wünschen nachzukommen, wenn Sie mir einen diesbezüglichen schriftlichen Befehl vorlegen können.« Petersen wusste ganz genau, dass in dem Durcheinander der Evakuierung keinerlei schriftliche Befehle existierten.
Zahns Gesicht nahm die Farbe einer gekochten Roten Bete an. Sein Widerstand ging weit über persönliche Animosität hinaus. Zahn hatte gewichtige Zweifel hinsichtlich Petersens Fähigkeiten, das Schiff mit der vielsprachigen Mannschaft unter seinem Kommando zu leiten. Er hätte den Kapitän am liebsten einen ausgebrannten Narren genannt, doch abermals gewann seine straffe Disziplin die Oberhand. Er wandte sich an die anderen Offiziere, die die unschöne Auseinandersetzung voller Unbehagen verfolgt hatten.
»Das wird keine ›Kraft durch Freude‹-Fahrt«, sagte Zahn. »Wir alle, Offiziere der Kriegs- und der Handelsmarine, haben eine schwierige Aufgabe und tragen eine schwere Verantwortung. Unsere Pflicht ist es, alles zu tun, um die Lage für die Flüchtlinge so erträglich wie möglich zu machen, und ich erwarte, dass die Mannschaft alles in ihrer Kraft Stehende unternimmt, um das zu gewährleisten.«
Er schlug die Hacken zusammen und salutierte vor Petersen, dann verließ er die Offiziersmesse, gefolgt von seinem treuen Schäferhund.
Der Posten an der Gangway hatte einen Blick auf das Dokument des hochgewachsenen Mannes geworfen und es einem Offizier gereicht, der das Verladen der Verwundeten beaufsichtigte.
Er nahm sich die Zeit, den Brief zu lesen. Schließlich meinte er: »Herr Koch hält große Stücke auf Sie.«
Erich Koch war der mörderisch grausame Gauleiter, der sich geweigert hatte, Ostpreußen zu evakuieren, während er seine eigene Flucht mit einem mit wertvollem Beutegut beladenen Schiff vorbereitete.
»Ich denke, dass ich mir seinen Respekt redlich verdient habe.«
Der Offizier winkte einen Proviantmeister zu sich und erläuterte ihm die Situation. Der Proviantmeister zuckte die Achseln, ging über das dicht bevölkerte Promenadendeck voraus und stieg dann drei Etagen weit in den Schiffsrumpf hinunter. Er öffnete die Tür einer Kabine, die zwei Kojen und ein Waschbecken enthielt. Der Raum war zu klein, als dass sie alle drei ihn gleichzeitig hätten betreten können.
»Nicht gerade die Führer-Suite«, sagte der Proviantmeister. »Aber Sie können von Glück reden, dass Sie die Kabine haben. Die Toilette ist vier Türen weiter.«
Der hochgewachsene Mann schaute sich in der Kabine um. »Das wird schon reichen. Und jetzt sehen Sie zu, ob Sie uns etwas zu essen beschaffen können.«
Der Gesicht des Proviantmeisters rötete sich. Er war es leid, von hohen Tieren, die einigermaßen komfortabel untergebracht waren, herumkommandiert zu werden, während gewöhnliche Sterbliche leiden mussten. Aber irgendetwas in den kalten blauen Augen des hochgewachsenen Mannes hielt ihn davon ab zu widersprechen. Er kam nach einer Viertelstunde mit zwei Schüsseln heißer Suppe und einigen Stücken harten Brotes zurück.
Die beiden Männer verzehrten schweigend ihre Mahlzeit. Der Professor war als Erster fertig und stellte die Schüssel beiseite. Seine Augen waren stumpf vor Erschöpfung, aber sein Geist war immer noch hellwach.
»Was für ein Schiff ist das?«, fragte er.
Der hochgewachsene Mann wischte mit seinem letzten Stück Brot die restliche Suppe aus der Schüssel, dann zündete er sich eine Zigarette an. »Willkommen auf der Wilhelm Gustloff, dem Stolz der deutschen Kraft-durch-Freude-Bewegung.«
Die Organisation »Kraft durch Freude« war eine groß angelegte Propagandamasche, um den deutschen Arbeitern die Segnungen des Nationalsozialismus nahezubringen. Kovacs schaute sich in ihrer spartanischen Behausung um. »Ich sehe weder viel Kraft noch viel Freude.«
»Nichtsdestoweniger wird die Gustloff eines Tages wieder deutsche Arbeiter und treue Parteimitglieder ins sonnige Italien bringen.«
»Ich kann’s kaum erwarten. Sie haben mir noch nicht verraten, wohin die Reise geht.«
»So weit weg von der Roten Armee wie möglich. Ihre Arbeit ist zu wichtig, um in russische Hände fallen zu dürfen. Das Reich wird bestens für Sie sorgen.«
»Im Augenblick sieht es so aus, als hätte das Reich Probleme, für seine eigenen Leute zu sorgen.«
»Ein vorübergehender Rückschlag. Ihr Wohlergehen hat für mich größte Priorität.«
»Mein Wohlergehen macht mir im Augenblick keine Sorgen.« Kovacs hatte seine Frau und seinen kleinen Sohn seit Monaten nicht mehr gesehen. Nur ihre unregelmäßigen Briefe hielten seine Hoffnung aufrecht.
»Ihre Familie?« Der hochgewachsene Mann musterte ihn mit ruhigem, festem Blick. »Machen Sie sich keine Gedanken. Dies hier wird bald vorüber sein. Ich schlage vor, dass Sie ein wenig schlafen. Nein, das ist ein Befehl.«
Er streckte sich auf der Koje aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloss die Augen. Kovacs ließ sich nicht davon täuschen. Sein Begleiter schlief nur selten und war schon bei der geringsten Störung hellwach.
Kovacs betrachtete das Gesicht des Mannes. Er konnte Anfang zwanzig sein, sah allerdings älter aus. Er besaß den länglichen Kopf und das markante Profil, das auf Propagandaplakaten als arisches Ideal gepriesen wurde.
Kovacs erschauerte, als er sich daran erinnerte, wie kaltblütig der russische Soldat ausgeschaltet worden war. Die letzten Tage waren ein verschwommener Ablauf von Ereignissen gewesen. Der hochgewachsene Mann war während eines Schneesturms im Labor aufgetaucht und hatte ein Dokument vorgelegt, das ihm die Macht verlieh, Kovacs zu befreien. Er hatte sich als Karl vorgestellt und Kovacs angewiesen, seine Siebensachen zu packen. Dann folgten die Irrsinnsfahrt durch die eisige Landschaft und die knappe Flucht vor den russischen Patrouillen. Und nun dieses armselige Schiff.
Die Mahlzeit hatte Kovacs müde gemacht. Seine Augenlider sanken herab, und er fiel in einen tiefen Schlaf.
Während der Professor schlief, durchstreifte ein Trupp Militärpolizei die Gustloff auf der Suche nach Deserteuren. Das Schiff wurde für die Abfahrt ausklariert, und ein Hafenlotse kam an Bord. Gegen ein Uhr mittags machten die Matrosen die Vertäuung los. Vier Schlepper kamen längsseits und begannen, das Schiff vom Kai wegzuziehen.
Eine Flotte kleiner Boote, vorwiegend mit Frauen und Kindern beladen, versperrte den Weg. Das Schiff stoppte und nahm die Flüchtlinge an Bord. Die Gustloff beförderte normalerweise 1465 Passagiere, die von einer Mannschaft von vierhundert Personen betreut wurden. Jetzt, zu Beginn dieser Reise, befanden sich an Bord des ehemals so eleganten Linienschiffs achttausend Passagiere.
Das Schiff lief hinaus auf die offene See und warf am Spätnachmittag Anker, um sich mit einem anderen Linienschiff, der Hansa, zu treffen und auf ihren Geleitschutz zu warten. Die Hansa hatte jedoch einen Maschinenschaden und erschien nicht am Treffpunkt. Das Oberkommando der Marine machte sich Sorgen, dass der Gustloff im offenen Wasser Gefahr drohte, und gab den Befehl, dass das Schiff alleine die Reise beginnen solle.
Das Linienschiff pflügte durch die von Gischt gekrönten Wellen der Ostsee und musste sich ständig gegen einen steifen Nordwestwind stemmen. Hagelschauer prasselten gegen die Fenster der Kommandobrücke, wo Korvettenkapitän Zahn vor Wut schäumte, während er auf die beiden sogenannten Geleitschiffe hinabblickte, die man zum Schutz des Linienschiffs abgestellt hatte.
Das Schiff war für Gegenden mit milderem Klima gebaut worden, aber mit ein wenig Glück käme es auch mit schlechteren Witterungsbedingungen zurecht. Wogegen es sich jedoch nicht behaupten konnte, war Dummheit. Das Marinekommando hatte für das Linienschiff eine gefährliche Situation geschaffen, indem es ein altes Torpedoboot namens Löwe und die T19, ein abgetakeltes Torpedobergungsschiff, als Geleitschutz ausgewählt hatte. Zahn dachte, dass die Lage sich wohl kaum verschlimmern konnte, als die T19 per Funk meldete, dass sie leckgeschlagen sei und zur Basis zurückkehre.
Zahn gesellte sich zu Kapitän Petersen und den anderen auf der Kommandobrücke versammelten Schiffsoffizieren.
»In Anbetracht des mangelnden Geleitschutzes empfehle ich einen Zickzackkurs bei hoher Geschwindigkeit«, sagte er.
Petersen quittierte diesen Vorschlag mit einem spöttischen Kommentar. »Unmöglich. Die Wilhelm Gustloff ist ein Vierundzwanzigtausend-Tonnen-Linienschiff. Wir können wohl kaum hin und her lavieren wie ein betrunkener Seemann.«
»Dann müssen wir U-Boote, die sich uns nähern, mit unserer überlegenen Geschwindigkeit abhängen. Wir können dann mit sechzehn Knoten den direkten Kurs nehmen.«
»Ich kenne dieses Schiff. Selbst ohne den Schaden am Schraubengehäuse ist es völlig undenkbar, dass wir ein Tempo von sechzehn Knoten erreichen geschweige auf Dauer halten, ohne dass uns irgendwann die Maschinen um die Ohren fliegen«, widersprach Petersen.
Zahn konnte sehen, wie die Adern an Petersens Hals anschwollen. Er starrte durch das Brückenfenster auf das alte Torpedoboot, das die Vorhut bildete. »In diesem Fall«, sagte er mit Grabesstimme, »möge Gott uns allen beistehen.«
»Professor, wachen Sie auf.« Die Stimme klang scharf, drängend.
Kovacs schlug die Augen auf und sah, wie Karl sich über ihn beugte. Er setzte sich auf und massierte seine Wangen, als ob er damit den Schlaf aus seinem Kopf vertreiben könnte.
»Was ist los?«
»Ich habe mich mit einigen Leuten unterhalten. Mein Gott, was für ein Schlamassel! Wir haben zwei Kapitäne, die sich ständig streiten. Es gibt nicht genug Rettungsboote. Und dann schaffen es die Maschinen des Schiffs kaum, eine zügige Geschwindigkeit zu erreichen. Das dämliche Marinekommando hat uns als Geleitschutz ein altes Torpedoboot zugeteilt, das aussieht, als sei es aus dem letzten Krieg übrig geblieben. Und dann haben die verdammten Idioten auch nicht die Navigationslichter eingeschaltet.«
Kovacs sah einen völlig neuen Ausdruck von Angst in den steinernen Gesichtszügen.
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Es ist Nacht. Wir sind auf offener See.« Karl reichte Kovacs eine dunkelblaue Schwimmweste und schlüpfte selbst in eine zweite.
»Was tun wir jetzt?«
»Bleiben Sie hier. Ich will mich mal erkundigen, wie es mit den Rettungsbooten aussieht.« Er gab Kovacs eine Packung Zigaretten. »Bedienen Sie sich.«
»Ich rauche nicht.«
Karl blieb in der offenen Tür stehen. »Vielleicht sollten Sie jetzt damit anfangen.« Dann war er verschwunden.
Kovacs schüttelte eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Er hatte vor Jahren, als er heiratete, das Rauchen aufgegeben. Er musste husten, als der Rauch seine Lungen füllte, und war kurzzeitig benommen von dem starken Tabak, doch er entsann sich gleichzeitig mit lustvollem Vergnügen dieses harmlosen Lasters seiner Studentenzeit.
Er rauchte die Zigarette auf, überlegte, ob er sich gleich eine zweite anzünden sollte, verzichtete jedoch darauf. Er hatte seit Tagen nicht mehr gebadet, und sein Körper juckte an einem Dutzend Stellen. Er wusch sein Gesicht über dem Waschbecken und trocknete die Hände an einem fadenscheinigen Handtuch ab, als es an der Tür klopfte.
»Professor Kovacs?«, fragte eine gedämpfte Stimme.
»Ja.«
Die Tür öffnete sich, und dem Professor stockte der Atem. Vor ihm stand die hässlichste Frau, die er je gesehen hatte. Sie war über eins achtzig groß, und ihre breiten Schultern drohten die Nähte eines schwarzen Persianermantels zu sprengen. Ihr breiter Mund war mit grellrotem Lippenstift geschminkt, und mit derart roten Lippen sah sie aus wie ein Zirkusclown.
»Verzeihen Sie meine äußere Erscheinung«, sagte sie mit unverkennbar männlicher Stimme. »Es ist nicht leicht, an Bord dieses Schiffs zu gelangen. Ich musste mich dieser lächerlichen Verkleidung und erheblicher Schmiergelder bedienen.«
»Wer sind Sie?«
»Das ist nicht wichtig. Wichtig ist Ihr Name. Sie sind Dr. Lazlo Kovacs, das berühmte deutsch-ungarische Elektrogenie.«
Kovacs wurde wachsam. »Ich bin Lazlo Kovacs. Und ich bin Ungar.«
»Hervorragend! Sie sind der Autor eines Aufsatzes über Elektromagnetismus, der die gesamte naturwissenschaftliche Szene aufhorchen ließ.«
Kovacs’ Antennen zitterten. Der Aufsatz, der in einer obskuren wissenschaftlichen Fachzeitschrift erschienen war, hatte die Deutschen auf ihn aufmerksam gemacht, die daraufhin ihn und seine Familie entführt hatten. Er sagte nichts.
»Macht nichts«, meinte der Mann freundlich, wobei sein Clownslächeln sogar noch breiter wurde. »Ich sehe, dass ich den richtigen Mann vor mir habe.« Er griff in seinen Pelzmantel und holte eine Pistole hervor. »Es tut mir Leid, dass ich so ungehobelt bin, Dr. Kovacs, aber ich fürchte, ich muss Sie töten.«
»Töten? Mich? Warum? Ich kenne Sie noch nicht einmal!«
»Aber ich kenne Sie. Oder genauer, meine Vorgesetzten beim NKGB kennen Sie. Sobald die Streitkräfte unserer glorreichen Roten Armee die Grenze überschritten hatten, schickten wir ein Sonderkommando los, um Sie zu holen, aber Sie hatten das Labor bereits verlassen.«
»Sie sind Russe?«
»Ja, natürlich. Wir hätten es liebend gerne gesehen, wenn Sie zu uns gekommen wären und für uns gearbeitet hätten. Wenn wir Sie hätten abfangen können, ehe Sie das Schiff bestiegen, würden Sie die sowjetische Gastfreundschaft genießen. Aber jetzt kriege ich Sie nicht mehr von diesem Schiff herunter, und wir können nicht zulassen, dass Sie und Ihre Arbeit wieder in deutsche Hände fallen. Nein, nein. Das wäre nicht gut.« Das Lächeln verflüchtigte sich.
Kovacs war viel zu verblüfft, um zu reagieren, selbst als die Pistole hochkam und die Mündung auf sein Herz zielte.
Marinesko konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte auf dem Kommandoturm des S-13 gestanden und standhaft dem eisigen Wind und der Gischt getrotzt, die ihm ins Gesicht peitschte, als der dichte Schneefall nachließ und er die riesige Silhouette eines Ozeandampfers erblickte. Der Dampfer schien von einem kleineren Schiff begleitet zu werden.
Das Unterseeboot lief an der Wasseroberfläche durch schwere Seen. Seine Mannschaft befand sich auf Gefechtsstation, seit Lichter von Schiffen gesichtet worden waren, die sich von der Küste wegbewegten. Der Kapitän hatte Befehl gegeben, den Auftrieb des U-Boots zu verringern, damit es tiefer im Wasser lag und einer Radarortung entging.
Aus der Überlegung heraus, dass die Schiffe niemals einen Angriff von der Küste aus erwarten würden, befahl er seiner Mannschaft, das Boot hinter den Konvoi zu manövrieren und auf einen Kurs parallel zum Ozeandampfer und seinem Begleitschiff zu gehen. Zwei Stunden später lenkte Marinesko das S-13 auf sein Ziel zu. Während das U-Boot sich der Backbordseite des Dampfers näherte, gab er den Befehl zum Feuern.
In schneller Folge verließen drei Torpedos ihre Bugrohre und jagten dem ungeschützten Rumpf des Ozeandampfers entgegen.
Die Tür öffnete sich, und Karl betrat die Kabine. Er hatte draußen gewartet und dem Gemurmel männlicher Stimmen gelauscht. Er war verwirrt, als er eine Frau mit dem Rücken zu ihm vor sich stehen sah. Er blickte zu Kovacs, der immer noch das Handtuch festhielt, und las die Angst im Gesicht des Professors.
Der Russe spürte den Schwall kalter Luft durch die offene Tür. Er wirbelte herum und schoss, ohne zu zielen. Karl war eine Millisekunde schneller als er. Er hatte längst den Kopf gesenkt und rammte ihn dem Russen in den Leib.
Der Stoß hätte dem Schützen eigentlich die Rippen brechen müssen, doch der dicke Pelzmantel und das steife Korsett, das er trug, wirkten wie eine gepolsterte Panzerung. Der Kopfstoß trieb ihm lediglich die Luft aus den Lungen. Er krachte rückwärts auf die Koje und landete auf der Seite. Seine Perücke rutschte vom Kopf, und darunter kamen schwarze Haare zum Vorschein. Er konnte einen zweiten Schuss abfeuern, der Karls rechten Schultermuskel am Halsansatz streifte.
Karl stürzte sich auf den Schützen und streckte die linke Hand nach seiner Kehle aus. Blut aus seiner Wunde besudelte sie beide. Der Russe holte mit dem Fuß aus und trat Karl gegen die Brust. Er wurde zurückgeschleudert, stolperte und stürzte rücklings zu Boden.
Kovacs fischte sich die Suppenschüssel aus dem Waschbecken und zielte damit auf das Gesicht des Schützen. Die Schüssel prallte, ohne eine sichtbare Wirkung zu hinterlassen, von der Wange des Mannes ab. Er lachte. »Um Sie kümmere ich mich als Nächstes.« Er zielte mit der Pistole auf Karl.
Va-room!
Eine gedämpfte Explosion brachte die Wände zum Vibrieren. Der Fußboden kippte in scharfem Winkel nach Steuerbord. Kovacs wurde auf die Knie geworfen. Da er an die hochhackigen Stiefel an seinen Füßen nicht gewöhnt war, verlor der Russe das Gleichgewicht. Er fiel mit seinem gesamten Gewicht auf Karl, der die Hand des Mannes packte, sie an seinen Mund zog und seine Zähne in Knorpel und Muskeln grub. Die Pistole landete polternd auf dem Fußboden.
Va-room! Va-room!
Das Schiff erschauderte unter zwei weiteren Explosionen. Der Russe versuchte aufzustehen, verlor jedoch abermals das Gleichgewicht, als das Schiff sich diesmal nach Backbord neigte. Fast hätte er es geschafft, sicheren Stand zu finden. Karl trat ihm gegen den Fußknöchel. Der Russe stieß einen undamenhaften Schrei aus und krachte auf den Boden. Sein Kopf landete neben dem stählernen Rahmen der Koje.
Karl stemmte sich gegen die Waschbeckenrohre und rammte seinen genagelten Stiefel gegen die Kehle des Mannes und zerquetschte seinen Kehlkopf. Der Mann wehrte mit wild rudernden Armen Karls Bein ab, seine Augen quollen hervor, sein Gesicht färbte sich dunkelrot, dann violett, und dann starb er.
Karl richtete sich schwankend auf.
»Wir müssen schnellstens raus hier«, sagte er. »Das Schiff wurde von Torpedos getroffen.«
Er zog Kovacs aus der Kabine und in den Korridor, wo Chaos ausgebrochen war. Der Gang war vollgepfropft mit in Panik geratenen Passagieren. Ihre Schreie und Rufe hallten von den Wänden wider. Das schrille Klingeln der Alarmglocken steigerte den allgemeinen Lärm. Die Notbeleuchtung brannte, doch dichte Rauchschwaden von den Explosionen erschwerten die Sicht.
Der Hauptkorridor war mit einem Gewimmel entsetzter Passagiere hoffnungslos verstopft. Viele waren einfach stehen geblieben und würgten krampfhaft, nachdem sie den beißenden Qualm eingeatmet hatten.
Die Menschenmenge versuchte, sich der Wasserflut, die die Treppen herunterstürzte, entgegenzuwerfen. Karl öffnete eine neutrale Stahltür, zerrte Kovacs in einen dunklen Raum und schloss die Tür hinter sich. Der Professor spürte, wie seine Hand auf eine Leitersprosse gelegt wurde.
»Klettern Sie«, befahl Karl.
Kovacs gehorchte blindlings und stieg aufwärts, bis sein Kopf gegen eine Luke stieß. Karl rief ihm von unten zu, die Luke zu öffnen und weiterzuklettern. Sie nahmen eine zweite Leiter in Angriff. Kovacs stieß eine weitere Luke auf. Eisige Luft und vom Wind gepeitschte Schneeflocken malträtierten sein Gesicht. Er zwängte sich durch die Lukenöffnung und half dann Karl heraus.
Kovacs schaute sich verwirrt um. »Wo sind wir?«
»Auf dem Schiffsdeck. Hier entlang.«
Auf dem eisigen, schräg geneigten Deck war es gespenstisch still, verglichen mit dem Horror in der dritten Klasse. Bei den wenigen Leuten, die sie sahen, handelte es sich um die privilegierten Passagiere, deren Kabinen sich auf dem Schiffsdeck befanden. Einige drängten sich um eine mit einem Motor ausgestattete Pinasse, ein stabiles Boot, mit dem gewöhnlich Ausflüge in die norwegischen Fjorde unternommen wurden. Angehörige der Schiffsbesatzung bearbeiteten mit Äxten und Hämmern die dicke Eisschicht auf den Davits.
Als die Haken der Davits endlich freigelegt waren, schwangen die Besatzungsmitglieder sich an Bord und stießen dabei Frauen, von denen einige schwanger waren, beiseite. Kinder und verwundete Soldaten hatten keine Chance. Karl zog seine Pistole und feuerte einen Warnschuss in die Luft. Die Matrosen hielten inne, doch nur für eine Sekunde, ehe sie ihren Kampf um einen Platz im Rettungsboot fortsetzten. Karl feuerte einen weiteren Schuss ab und tötete den ersten Matrosen, der es geschafft hatte, ins Boot zu klettern. Die anderen rannten um ihr Leben.
Karl hob eine Frau und ihr Baby ins Boot, dann reichte er dem Professor eine Hand, ehe er selbst das Boot bestieg. Er ließ einige Matrosen einsteigen, damit sie den Toten hinauswerfen und das Boot zu Wasser lassen konnten. Die Haken der Halteleinen wurden gelöst und der Motor gestartet.
Das schwer beladene Boot schlingerte, während es langsam durch die See stampfte und auf die fernen Lichter eines Frachters zuhielt, der in ihre Richtung unterwegs war. Karl befahl, das Rettungsboot zu stoppen, um Menschen aufzunehmen, die im Wasser trieben. Schon bald war das Boot gefährlich überladen. Einer der Matrosen protestierte.
»Im Boot ist kein Platz mehr!«, brüllte er.
Karl schoss ihm zwischen die Augen. »Jetzt ist wieder Platz«, sagte er und befahl den anderen Matrosen, ihren toten Kameraden über Bord zu werfen. Zufrieden, dass er dieses kurze Aufbranden einer Meuterei unter Kontrolle gebracht hatte, drängte er sich neben Kovacs.
»Geht es Ihnen gut, Professor?«
»Den Umständen entsprechend.« Er starrte Karl verwundert an. »Sie sind ein erstaunlicher Mensch.«
»Ich gebe mir Mühe. Man darf seinen Feinden niemals verraten, was sie von einem zu erwarten haben.«
»Ich meine nicht dies. Ich habe gesehen, wie Sie den Frauen und den Verwundeten geholfen haben. Dieses Baby haben Sie im Arm gehalten, als wäre es Ihr eigenes gewesen.«
»Die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen, mein Freund.« Er griff in seinen Mantel und holte ein Paket hervor, das in eine wasserdichte Gummihülle verpackt war. »Nehmen Sie diese Papiere an sich. Sie sind nicht mehr Lazlo Kovacs, sondern ein Reichsdeutscher, der in Ungarn gelebt hat. Sie haben nur einen leichten Akzent und müssten damit jederzeit durchkommen. Ich will, dass Sie in der Menge verschwinden. Werden Sie einer von ihnen, ein Flüchtling. Sehen Sie zu, dass Sie sich irgendwie zu den englischen und den amerikanischen Linien durchschlagen.«
»Wer sind Sie?«
»Ein Freund.«
»Warum soll ich das glauben?«
»Wie ich schon sagte, die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen. Ich gehöre zu einer Gruppe, die schon lange vor den Russen den Kampf gegen die Nazibestien aufgenommen hat.«
Die Augen des Professors weiteten sich. »Der Kreisauer Kreis?« Er hatte gerüchteweise von dieser geheimen Widerstandsgruppe gehört.
Karl legte einen Finger auf die Lippen. »Wir sind noch immer in Feindesland«, sagte er mit leiser Stimme.
Kovacs umklammerte Karls Arm. »Können Sie auch meine Familie in Sicherheit bringen?«
»Ich fürchte, dazu ist es zu spät. Ihre Familie gibt es nicht mehr.«
»Aber die Briefe…«
»Sie waren raffinierte Fälschungen, damit Sie nicht den Mut verlieren und Ihre Arbeit aufgeben.«
Kovacs starrte mit einem Ausdruck hilfloser Verzweiflung in die Nacht.
Karl packte den Professor bei den Revers seines Mantels und flüsterte ihm ins Ohr: »Sie müssen Ihre Arbeit zu Ihrem eigenen Nutzen und zum Wohle der Menschheit vergessen. Wir können nicht das Risiko eingehen, dass sie in falsche Hände fällt.«
Der Professor nickte stumpf. Das Boot stieß gegen den Rumpf des Frachters. Eine Leiter wurde herabgelassen. Karl befahl den widerstrebenden Matrosen, das Boot zu wenden und weitere Überlebende aus dem Wasser zu fischen. Vom Deck des Frachters aus verfolgte Kovacs, wie das Boot sich entfernte. Karl winkte ihm noch einmal zu, und das Boot verschwand hinter einem wallenden Vorhang dicker Schneeflocken.
In der Ferne sah Kovacs die Lichter des Passagierdampfers, der sich auf die Backbordseite gelegt hatte, so dass der Schornstein parallel zur Wasseroberfläche stand. Der Kessel explodierte, als das Schiff etwa eine Stunde, nachdem es von den Torpedos getroffen worden war, unterging. In dieser kurzen Zeit verloren auf der Wilhelm Gustloff fünfmal mehr Menschen ihr Leben als auf der Titanic.
1
Atlantischer OzeanGegenwart
Niemand nahm denjenigen, die die Southern Belle zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, übel, wenn sie sich fragten, ob die Person, die dem riesigen Frachtdampfer seinen Namen gegeben hatte, über einen besonders verschrobenen Humor verfügte oder nur unter starker Kurzsichtigkeit litt. Trotz eines eleganten Namens, der an mit den Wimpern klimpernde, vorbürgerkriegstypische Weiblichkeit denken ließ, war die Belle, offen gesagt, eine stählerne Monstrosität mit nichts, das auch nur entfernt an weibliche Schönheit erinnerte.
Die Southern Belle gehörte zu einer neuen Generation schneller, seetüchtiger Schiffe, die nach Jahren, in denen die Vereinigten Staaten anderen Schiffe bauenden Nationen hinterhergehinkt waren, in amerikanischen Werften vom Stapel liefen. Sie war in San Diego entworfen und in Biloxi gebaut worden. Mit zweihundertdreißig Metern war sie länger als zwei Fußballfelder und bot genügend Raum, um fünfzehnhundert Container aufzunehmen.
Der wuchtige Kasten wurde von einem hoch aufragenden Aufbau auf seinem Achterdeck aus gesteuert. Das über dreißig Meter breite Deckhaus, das einem Apartmenthaus glich, enthielt die Quartiere und Messehallen für Mannschaft und Offiziere, ein Hospital und Behandlungszimmer, Frachtbüros und Konferenzsäle.
Mit ihren leuchtenden Reihen sechsundzwanzig Zoll großer berührungssensitiver Monitorschirme erinnerte die Brücke der Belle an einen Spielsaal in Las Vegas. Das geräumige Operationszentrum reflektierte die neue Ära im Schiffsbau. In jedem Bereich der integrierten Systeme und Funktionen wurden Computer eingesetzt.
Aber alte Gewohnheiten sterben nur langsam aus. Der Kapitän des Schiffs, Pierre »Pete« Beaumont, blickte durch ein Fernglas und traute immer noch seinen Augen mehr als den raffinierten elektronischen Spielereien, die ihm zur Verfügung standen.
Von seinem Aussichtsplatz auf der Brücke hatte Beaumont einen ungehinderten Blick auf das schrecklich schöne Panorama des atlantischen Unwetters, das um sein Schiff herum tobte. Heftige Winde mit Orkanstärke peitschten Wellen auf, die so hoch waren wie Häuser. Die Brecher ergossen sich über den Bug und überspülten die an Deck festgezurrten Container bis fast zur Mitte des Schiffs.
Das extreme Ausmaß von elementarer Gewalt, die um das Schiff herum wütete, hätte kleinere Schiffe verzweifelt Schutz suchen lassen und ihren Kapitänen schwitzende Hände beschert. Aber Beaumont war so ruhig, als schipperte er in einer Gondel durch den Canal Grande.
Der freundliche Südstaatler liebte Stürme. Er ergötzte sich an dem Geben und Nehmen zwischen seinem Schiff und den Elementen. Anzusehen, wie die Belle in einer atemberaubenden Demonstration von Kraft durch die Wellen pflügte, war für ihn schon fast ein sinnliches Vergnügen.
Beaumont war der erste und einzige Kapitän des Schiffs. Er hatte zugesehen, wie es gebaut wurde, und kannte jede Niete und jede Schraube auf dem Schiff. Es war für den regelmäßigen Verkehr zwischen Europa und Amerika konstruiert worden, eine Route, die es durch einige der wildesten und unangenehmsten Ozeanregionen der Erde führte. Er vertraute darauf, dass der Sturm innerhalb der Skala der Naturgewalten rangierte, denen zu widerstehen das Schiff gebaut worden war.
Das Schiff hatte in New Orleans seine Ladung aus synthetischem Gummi, Faserstoffen, Kunststoffgranulat und Maschinenteilen übernommen und war dann um Florida herum bis zu einem Punkt an der Atlantikküste gedampft, wo es auf seinen schnurgeraden Kurs nach Rotterdam einschwenkte.
Der Wetterbericht hatte mit seiner Vorhersage genau ins Schwarze getroffen. Wind mit Sturmstärke war angekündigt worden, der sich zu einem atlantischen Orkan entwickeln sollte. Das Unwetter erwischte das Schiff etwa dreihundert Kilometer vom Festland entfernt. Beaumont war kein bisschen beunruhigt, auch als der Sturm noch an Stärke zunahm. Das Schiff hatte schon viel schlimmeres Wetter ohne Probleme überstanden.
Er suchte den Ozean ab, als er plötzlich erstarrte und fast in sein Fernglas hineinkroch. Er ließ das Fernglas sinken, setzte es wieder an die Augen und murmelte etwas. Er wandte sich an seinen Ersten Offizier.
»Schauen Sie sich mal diesen Teil des Ozeans an. Etwa bei zwei Uhr. Sagen Sie mir, ob Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt.«
Der Offizier war Bobby Joe Butler, ein talentierter junger Mann, der aus Natchez stammte. Butler machte kein Geheimnis aus seinem Wunsch, eines Tages ein Schiff wie die Belle zu führen. Vielleicht sogar die Belle selbst. Indem er der Aufforderung des Kapitäns nachkam, betrachtete Butler den Ozean bei dreißig Grad Steuerbord.
Er sah nur graues, aufgewühltes Wasser, das sich bis zum nebelverhangenen Horizont erstreckte. Dann, etwa zwei Kilometer vom Schiff entfernt, gewahrte er eine weiße Linie aus Schaum, mindestens doppelt so hoch wie der Seegang dahinter. Noch während er rätselte, was es mit dieser Erscheinung auf sich haben könnte, wuchs die Wasserwand erschreckend schnell in die Höhe, als ob sie ihre Energie aus den Wellen ringsum gewann.
»Das sieht aus wie ein ziemlich großer Brecher, der da auf uns zurollt«, sagte Butler in seinem schleppenden Mississippiakzent.
»Was schätzen Sie, wie hoch?«
Der jüngere Mann blickte durch das Fernglas. »Die durchschnittliche Wellenhöhe beträgt etwa zehn Meter. Diese dort scheint doppelt so hoch zu sein. Donnerwetter! Haben Sie schon mal etwas so Mächtiges gesehen?«
»Noch nie«, antwortete der Kapitän. »In meinem ganzen Leben nicht.«
Der Kapitän wusste, dass sein Schiff mit der Welle fertig würde, wenn die Belle mit dem Bug hineintauchte, um ihr die Wucht einer Breitseite zu nehmen. Der Kapitän befahl dem Steuermann, den Autopiloten darauf zu programmieren, den Bug direkt auf die Welle auszurichten und vorerst diesen Kurs zu halten. Dann ergriff er das Mikrofon und betätigte einen Schalter auf dem Armaturenbrett, der die Brücke mit allen auf dem Schiff verteilten Lautsprechern verband.
»Alle Mann Achtung! Hier spricht der Kapitän. Eine Monsterwelle wird gleich aufs Schiff treffen. Jeder sucht sich einen sicheren Ort, möglichst weit entfernt von losen, eventuell herumfliegenden Gegenständen, und wartet ab. Der Aufprall wird heftig. Ich wiederhole. Der Aufprall wird heftig.«
Als Vorsichtsmaßnahme befahl er dem Funker, einen SOS-Ruf abzusetzen. Das Schiff konnte immer noch eine Entwarnung senden, falls der Hilferuf sich als unnötig erweisen sollte.
Die grüne, mit weißen Schaumflocken gekrönte Welle war noch etwa einen Kilometer vom Schiff entfernt. »Sehen Sie sich das an«, sagte Butler. Der Himmel wurde von einer Serie greller Lichterscheinungen erhellt. »Blitze?«
»Schon möglich«, erwiderte der Kapitän. »Viel mehr Sorgen macht mir allerdings dieser verdammte Brecher!«
Das Profil der Welle war mit nichts zu vergleichen, was der Kapitän je in seinem Leben gesehen hatte. Im Gegensatz zu den meisten Wellen, die von der oberen Kante schräg abfallen, war diese von oben bis unten völlig glatt und gerade wie eine sich vorwärtsschiebende Wand.
Der Kapitän hatte den seltsamen Eindruck einer außerkörperlichen Wahrnehmung. Ein Teil von ihm betrachtete die heranrollende Welle auf eine desinteressierte, eher wissenschaftliche Art und Weise, fasziniert von ihrer Höhe und ihrer geballten Energie, während der andere Teil, über die ungeheure, drohende Wucht staunend, hilflos dastand.
»Sie wächst sogar noch«, murmelte Butler mit einem Ausdruck unverhohlener kindlicher Ehrfurcht.
Der Kapitän nickte. Er schätzte die Höhe der Welle mittlerweile auf gut dreißig Meter, fast dreimal so hoch wie zu dem Zeitpunkt, als er sie entdeckt hatte. Sein Gesicht war aschfahl. Sein solides, unerschütterliches Selbstvertrauen bekam deutliche Risse. Ein Schiff mit den Ausmaßen der Belle konnte nicht auf der Stelle wenden, und sie lag immer noch ziemlich schräg zu der Welle, als sie sich aufzubäumen schien wie ein lebendiges Wesen.
Er erwartete den Aufprall der Welle und war völlig unvorbereitet, als sich vor ihm im Ozean ein Abgrund öffnete, der groß genug war, um sein Schiff zu verschlingen.
Der Kapitän starrte fassungslos in die Grube, die vor seinen Augen erschienen war. Das ist das Ende der Welt, dachte er.
Das Schiff kippte in den gigantischen Trog, glitt an seiner Innenwand hinab und bohrte den Bug in den Ozean. Der Kapitän stürzte nach vorne gegen die vorderen Schotts.
Anstatt frontal zuzuschlagen, kippte die Welle von oben auf das Schiff und begrub es unter Tausenden Tonnen Wasser.
Die Fenster des Steuerhauses implodierten unter dem Druck, und der gesamte Atlantische Ozean schien sich in die Brücke zu ergießen. Die Wassermassen erwischten den Kapitän und die anderen Männer auf der Brücke mit der Gewalt von hundert Feuerwehrschläuchen. Die Brücke verwandelte sich in ein Gewirr von Armen und Beinen. Bücher, Schreibstifte und Sitzpolster wurden herumgewirbelt.
Ein Teil des Wassers strömte durch die Fenster hinaus, und der Kapitän kämpfte sich zurück zum Steuerstand. Sämtliche Kontrollmonitore waren tot. Radar, Kreiselkompasse und Funkanlage des Schiffs waren ausgefallen. Aber was viel schlimmer war, auch die Energiezufuhr war unterbrochen. Alle Instrumente waren durch Kurzschluss lahmgelegt. Die Steuerelektronik war nutzlos.
Der Kapitän ging zum Fenster, um das Ausmaß der Schäden zu begutachten. Der Bug war zerstört, und das Schiff hatte Schlagseite. Er vermutete, dass der Rumpf ein Leck aufwies. Die Rettungsboote auf dem Vorderdeck waren aus den Davits gerissen worden. Das Schiff schlingerte wie ein betrunkenes Flusspferd.
Die Riesenwelle schien das Meer aufgewühlt zu haben wie ein Demagoge, der den Straßenmob zur Raserei aufstachelt. Brecher rollten über das Vorderdeck. Weitaus gefährlicher war, dass das Schiff, da seine Maschinen stillstanden, in eine schlimmstmögliche Position quer zu den auflaufenden schweren Seen trieb.
Nachdem es die Welle überstanden hatte, lag das Schiff wie ein waidwundes Tier auf der Seite, bereit, den Gnadenschuss zu erhalten oder, wie es im bildhaften Jargon der Seefahrt hieß, »abzusaufen«.
Der Kapitän bemühte sich, seinen Optimismus zu behalten. Die Southern Belle konnte überleben, auch wenn einige ihrer Sektionen überflutet waren. Jemand hatte sicherlich den SOS-Ruf gehört. Wenn nötig, konnte das Schiff tagelang treiben, bis Hilfe eintraf.
»Käpt’n!« Der Erste Offizier unterbrach seine Gedanken.
Butler blickte durch das geborstene Fenster. Seine Augen starrten ungläubig auf einen fernen Punkt. Der Blick des Kapitäns folgte Butlers ausgestrecktem Finger, und er begann zu zittern, als er von Angst übermannt wurde.
In weniger als vierhundert Metern Entfernung entstand eine weitere horizontal verlaufende Schaumkrone.
Das erste Flugzeug traf zwei Stunden später ein. Es kreiste über dem Meer und erhielt bald Gesellschaft in Gestalt anderer Flugzeuge. Dann näherten sich die ersten Hilfsschiffe, die ihre jeweiligen Routen verlassen hatten. Die Schiffe hielten Abstände von fünf Kilometern zueinander und durchkämmten das Meer wie ein Suchtrupp, der in einem Wald nach einem verlaufenen Kind Ausschau hält. Selbst nach tagelanger Suche fanden sie nichts.
Die Southern Belle, eins der modernsten und leistungsfähigsten Frachtschiffe, die je konstruiert und gebaut wurden, war ganz einfach spurlos verschwunden.
2
Seattle, Washington
Der pfeilschlanke Kajak flog über die saphirblaue Oberfläche des Puget Sound, als wäre er von einer Bogensehne abgeschossen worden. Der breitschultrige Mann in dem engen Sitz schien mit dem Holzboot zu einer Einheit verwachsen zu sein. Er tauchte die Schaufeln seines Paddels mit lockeren, fließenden Bewegungen ins Wasser und konzentrierte die Kraft seiner muskulösen Arme in präzis abgezirkelte Züge, die den Kajak mit gleichmäßigem Tempo vorwärtstrieben.
Schweiß glänzte auf den markanten, sonnenverbrannten Gesichtszügen des Bootsfahrers. Seine durchdringenden, hellblauen Augen, die an die Farbe von Korallen unter Wasser erinnerten, erfassten die weite Fläche der Meerenge, die nebelverhangenen San Juan Islands und, in der Ferne, die schneebedeckten Olympic Mountains. Kurt Austin pumpte die salzige Luft in seine Lungen und verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen. Es tat gut, zu Hause zu sein.
Austins Pflichten als Direktor des Spezialteams für Sonderaufgaben bei der National Underwater and Marine Agency führten ihn ständig an die abgelegensten Orte der Welt. Verliebt ins Meer und alles, was damit zu tun hat, hatte er sich jedoch in den Gewässern um Seattle, wo er geboren war. Der Puget Sound war ihm so vertraut wie ein alter Jugendschwarm. Er war auf der Meerenge gesegelt, seit er laufen konnte, und an einem Rennen hatte er das erste Mal im Alter von zehn Jahren teilgenommen. Seine große Liebe gehörte Rennbooten. Er besaß vier davon: einen Acht-Tonnen-Katamaran, der Geschwindigkeiten von über hundertsechzig Kilometern in der Stunde schaffte, ein kleineres Außenbord-Hydroplane, ein Zwanzig-Fuß-Segelboot und ein Rennskiff, mit dem er am liebsten frühmorgens auf dem Potomac ruderte.
Der letzte Zuwachs seiner Flotte war ein maßgefertigter Guillemot-Kajak. Er hatte ihn während einer früheren Reise nach Seattle gekauft. Ihm gefielen die Holzkonstruktion und die elegante Form des schlanken Rumpfs, der sich an einem auf den Aleuten gebräuchlichen Bootstyp orientierte. Wie all seine Boote war es schnell und schön zugleich.
Austin war so sehr damit beschäftigt, die vertraute Umgebung und ihre typischen Gerüche in sich aufzunehmen, dass er fast vergaß, dass er nicht alleine war. Er blickte über die Schulter. Eine Flottille von fünfzig Kajaks folgte mit deutlichem Abstand seiner perlenschnurähnlichen Kiellinie. Die schweren, doppelsitzigen Glasfiberkajaks trugen jeweils einen Erwachsenen – meistens ein Elternteil – und ein Kind. Sie waren sicher und schwerfällig und keine Konkurrenz für Austins Rennpferd. Er nahm seine türkisfarbene NUMA-Baseballmütze ab, die einen Wust vorzeitig ergrauter, fast platinweißer Haare enthüllte, und schwenkte sie über dem Kopf hin und her, um seine Verfolger anzutreiben.
Austin hatte keinen Moment gezögert, als sein Vater, der reiche Inhaber einer internationalen, in Seattle ansässigen Bergungsfirma, ihn gebeten hatte, das alljährliche Wohltätigkeits-Kajakrennen anzuführen, das er sponserte, um Spenden einzusammeln. Austin hatte sechs Jahre lang für Austin Marine Salvage gearbeitet, ehe er in eine nur wenig bekannte Abteilung der CIA hineingelockt worden war, die sich auf Unterwasserspionage spezialisiert hatte. Nachdem der Kalte Krieg beendet war, hatte die CIA die Spionageabteilung geschlossen, und Austin wurde von James Sandecker engagiert, der die NUMA leitete, ehe er Vizepräsident der Vereinigten Staaten wurde.
Austin tauchte sein Paddel ins Wasser und steuerte den Kajak auf zwei Boote zu, die knapp fünfhundert Meter voraus mit einem Abstand von dreißig Metern zueinander vor Anker lagen. In den Booten befanden sich Rennfunktionäre und Presseleute. Zwischen den beiden Booten spannte sich ein breites, rot-weiß gestreiftes Plastikbanner mit der Aufschrift FINISH. Jenseits der Ziellinie lag eine aus einem Lastkahn und einem Fährschiff zusammengekoppelte Insel im Wasser. Am Ende des Rennens würden die Kajaks auf den Lastkahn gezogen, und die Rennteilnehmer würden auf dem Fährschiff zu Mittag essen. Austins Vater beobachtete das Rennen von einem achtundvierzig Fuß langen Powerboot aus, auf dessen schneeweißem Rumpf die Aufschrift White Lightning sowohl Name wie auch Programm war.
Austin erhöhte seine Schlagzahl und bereitete seinen Endspurt vor, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Er schaute nach rechts und gewahrte eine große gebogene Flosse, die durch die Wellen schnitt und auf ihn zukam. Gleichzeitig tauchten plötzlich mindestens zwanzig weitere Flossen dahinter aus dem Wasser auf.
Der Puget Sound bot mehreren Herden Orcas, die sich von Lachsen ernährten, ausreichend Lebensraum. Sie waren zu örtlichen Maskottchen aufgestiegen und stellten mittlerweile einen wesentlichen Wirtschaftsfaktor dar, indem sie Touristen aus aller Welt anlockten. Sie kamen in Scharen nach Seattle, um mit Booten hinauszufahren und die Wale zu beobachten oder um an Kajaktouren teilzunehmen. Die Mörderwale kamen dicht an die Kajaks heran und veranstalteten oft eine große Show, erhoben sich halb aus dem Wasser oder vollführten spektakuläre Sprünge. In der Regel schwammen die Orcas anschließend harmlos vorbei, oft nur wenige Schritte von den Booten entfernt, ohne sie anzugreifen.
Als die erste Flosse nur noch knapp zwanzig Meter weit entfernt war, stellte der Orca sich auf seine Schwanzflosse. Er ragte fast mit seiner vollständigen Größe von acht Metern Länge aus dem Wasser. Austin ließ das Paddel ruhen, um das Schauspiel zu verfolgen. Er hatte dieses Manöver schon des Öfteren beobachten können, aber es war immer wieder ein atemberaubender Anblick. Der Wal, der sich für ihn interessierte, war ein großer Bulle, wahrscheinlich der Chef der Herde, und wog mindestens sieben Tonnen. Wasser perlte glitzernd an seinem glatten, schwarz-weißen Körper herab.