Hugo. Der unwerte Schatz - Tino Hemmann - E-Book

Hugo. Der unwerte Schatz E-Book

Tino Hemmann

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Beschreibung

Deutschland 1931 bis 1941. Hugo Hassel ist der nette, kleine Junge von nebenan. Hemmann beschreibt das Leipziger Kind und dessen Psyche bis ins Detail. Allmählich erst begreift der Leser, in welcher Gefahr der Junge ist. Hugo, von seinem Vater brutal misshandelt, lässt Fritz entstehen, ein Ebenbild des aufgeweckten Jungen. Fritz ist lange Zeit der einzige Vertraute. Es fällt auf, dass Hugo äußerst intelligent ist, ebenso bemerkt ein Arzt bei Hugos Einschulungsuntersuchung die zweite Persönlichkeit. Der Junge wird fortan von Professoren der Kinderpsychiatrie beobachtet. Zeitgleich rüstet sich die Regierung im Deutschen Reich für den größten Krieg seit Menschengedenken und parallel dazu für die Ausrottung unwerten Lebens. Hitlers Kindereuthanasie kommt in Gang. Unzählige Kinder sterben in Kinderfachabteilungen, aber auch in den Gaskammern, die von der Berliner T4-Zentrale im gesamten Reich eingerichtet werden. Ein Meldebogen entscheidet über die »Behandlung« der Kinder. Der Leipziger Universitätsprofessor von Rasch sieht seine Chance, mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Problematik multipler Persönlichkeitsspaltung, berühmt zu werden. Er fälscht Hugos Meldebogen und macht den Weg frei für Hugos Transport in die Vernichtungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Doch gibt es auch mutige Mitmenschen, die den Jungen zu beschützen versuchen. Hemmanns Buch »Hugo. Der unwerte Schatz« ist eine ergreifende Erzählung, die in jüngster Zeit über die NS-Verbrechen veröffentlicht wurde. Empfohlen von Lehrerverbänden für den Einsatz im Unterricht für Schüler von 14 Jahren an.

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Tino Hemmann

Der unwerte Schatz

Erzählungen einer Kindheit

Dritte überarbeitete Auflage

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Die Hintergründe zu diesem Buch wurden durch mich sorgfältig recherchiert. Einige Personen werden mit ihrem realen Namen genannt. Dies scheint mir wichtig, um die historischen Begebenheiten verständlich zu machen. Die Ereignisse haben so stattgefunden. Der Leipziger Junge Hugo Hassel ist das Pseudonym für unzählige ermordete Kinder, Professor von Rasch das Pseudonym der Mörder. Für das Buch wurden die Ergebnisse der Auswertung von Krankenakten und Erzählungen der Verwandten der Betroffenen auf wenige Protagonisten reduziert.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN der Erstauflage 3-938288-41-8 Copyright (2005) Engelsdorfer Verlag

Zweite überarbeitete Auflage ISBN 978-3-86901-555-2 Copyright (2007)

Tino Hemmann

Impressum der vorliegenden Ausgabe

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag in Leipzig

Coverfoto © Tino Hemmann

Alle Rechte beim Autor

Abschlusslektorat Birgit Rentz

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

www.engelsdorfer-verlag.de und www.tino-hemmann.de

Die letzte Fahrt (heimlich fotografiert, 1941)

Beispiel eines Rundschreibens

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Über das Buch

Impressum

Prolog

1931

1940

1941

Epilog

Quellen

Bibliografie von Tino Hemmann

Ein Buch, das Tote lebendig macht,

wird nie geschrieben werden.

Durchaus aber ist ein Buch dazu fähig,

Lebende vor dem Tod zu bewahren.

Prolog

Sahst du, mein Bruder, den leuchtend blutroten Himmel? Da die Sonne unterging, als wollte sie warnen: Die Nacht kommt, und es wird Blut regnen, viel Blut. Das Blut wird eines Tages trocknen, verkrusten, sich in Staub auflösen. Zurückbleiben wird die Leere in den Adern, der Schmerz aller Schmerzen, das Rauschen in den Ohren und die verblassende Narbe.

Nein, mein Freund, man kann schweigen, der eigenen Ruhe wegen. Doch wer allzu lang schweigt, den trifft die Ignoranz der Taubgewordenen!

Ich besitze nicht die Kraft, denken zu können; ungeboren noch, und doch gestoßen in eine Zeit des Sinnfremden; da die höllischen Schotte geöffnet wurden und sie sich aufschwangen zu Göttern, und zum Unwerten erklärten, was doch der größte Schatz sein muss. Für alle Zeit!

In jenem Jahr kam die Blüte der Obstbäume zeitig. In jenem Jahr wurde sie zerstört von den Eisheiligen. Und doch sollte es Obst geben, das unreif gegessen wurde. In jenem Jahr folgte ein Sommer dem Frühling, und es kam der Herbst, der Blätter welken und fallen ließ, der Stürme in das Land schickte, den Menschen Angst zu machen, weil der Winter ein Hungerwinter werden würde. Dieser ewige Winter, der die vorausgesagten eintausend Jahre jedoch nicht überdauern sollte und doch lang genug war, all das Leiden über mich zu bringen.

Denn das Frühjahr darauf würden viele Menschenkinder nicht erleben...

»Hugo, sag, erinnerst du dich an die Zeit vor deiner Geburt?« Der Lehrer blickte den Jungen ernst an, und Hugo wusste sogleich, dessen Frage war auch ernst gemeint.

»Erinnern?– Nein! Bestimmt nicht, Herr Mengen. Aber geträumt habe ich davon.« Hugo lächelte. »Es war nur ein Traum, wissen Sie, nur ein Schein des Wahren.– Ich war ein dreiviertel Jahr in meiner Mutter, sie hütete und liebte mich, so gut es nur ging. Die Wärme und Ruhe, die Geborgenheit... glauben Sie mir, ein ganzes Leben lang hätte ich sie genossen. Doch einen Tag vor Heiligabend lief das Fruchtwasser von mir, ich fühlte mich kalt und verletzlich– als wäre ich bereits in der Zukunft verloren.«

»In der Zukunft? Du wusstest damals von der Zukunft?– Und Fritz? Was war mit Fritz?«

So viele Fragen, die er stellte!

»Wir alle wissen von der Zukunft, Herr Mengen, schließlich entsteht sie aus dem, was wir tun. Nicht nur aus dem, was wir selbst tun. Großen Einfluss haben auch die anderen.– Und Fritz? Fritz... Vielleicht war da eine Berührung! Ein fremdes Ärmchen stach mir, wie versehentlich, in die Seite, ein zweites Herz schlug neben meinem! Vielleicht sah ich seine winzigen Finger, die kleinen Füße, das helle, klebrige Haar, eingepackt im zähen Schleim, die schwebenden Nabelschnüre zwischen unseren Blicken.– Vielleicht glaubte ich, er hätte gelächelt.« Das Kind fasste die Hand des Lehrers, als wollte es den Mann niemals wieder loslassen.

Habe ich mit ihm gesprochen? Vielleicht sagte ich: »Bruder, mein Bruder, du sollst gemeinsam mit mir das Licht der Welt erblicken! Lass uns unvoreingenommen hinausgehen, lass uns unsere Familie begrüßen und das Leben genießen! Lass uns Freunde sein! Ein ganzes Menschenleben lang.«

Und er antwortete mir: »Freunde, ja Freunde!«

»Wie lang ist so ein Menschenleben?«, fragte ich. »Du meinst, es ist lang genug für eine Freundschaft?«

»Lang genug, wenn es dir nicht genommen wird«, sagte Fritz.

»Wer soll es mir nehmen? Es ist doch mein Leben!«

»Dein Leben? Dass ich nicht lache, Hugo. Es gibt so viele, die glauben, es dir nehmen zu dürfen. Die Krankheiten und die Menschen selbst, Halunken und Mörder, Gesetzgeber und Herrscher, die Soldaten, die Kanonenkugeln, die Bomben, ja selbst die Ärzte und Professoren.«

»Auch die Ärzte?«, fragte ich ungläubig.

»Sie denken, sie tun ihre Pflicht.«

»Und niemand weiß, wann es geschehen wird?«

1931

»Und wenn es nun doch ein Junge wird?« Oda Hassel fuhr mit einer Hand sanft über den eigenen gewölbten Bauch. Wieder erschauderte sie in einem Wehenkrampf. Sie war froh, dass dieses Kind in ihrem ausgehungerten Bauch überlebt hatte.

»Ach was!« Der Ehemann, Adolf Hassel, legte ihr den derben Mantel von der Wohlfahrt über die Schultern. »Ich weiß gar nicht, wie das Kind in deinen Bauch kam. Jedenfalls will ich keinen Jungen, Oda. Außerdem ist es bisher immer noch ein Mädchen geworden.– Kannst du überhaupt laufen?«

Das Gesicht der Frau färbte sich in einem leichten Rot. Der sechsundzwanzigjährige Adolf stützte sie trotzdem, als bemerkte er nichts von ihrer Scham. »Es ist irgendwann passiert, Adolf.– Warum willst du keinen Jungen? Jeder Mann wünscht sich einen Sohn! Und wenn es nun ein Junge wird? Sie wollen von mir den Namen wissen.«

Er überlegte kurz. »Wenn es doch ein Knabe wird? Natürlich wird er dann Hugo heißen.« Hugo hieß Adolfs Vater, auf den Adolf nach dem großen Krieg lang und vergeblich gewartet hatte. »Aber du wirst sehen, es wird kein Knabe sein.«

»Hugo... Natürlich.« Oda Hassel hielt sich beim Gehen mit beiden Händen den Bauch. »Und die Mädchen? Was ist mit meinen Mädchen?«

»Hermine und Margaret sind unten bei Adelheid. Es geht ihnen gut.«

Es ging die ausgetretenen Stufen der knarrenden Treppe hinab. Ein eisiger Luftzug fuhr durch das Treppenhaus. Oda hielt sich drei Etagen lang am geschwungenen, gedrechselten Geländer fest. »Du wirst ganz bestimmt nach ihnen sehen?«

»Aber natürlich werde ich das.« Typisch Oda. Bekommt ein Kind und sorgt sich um die anderen Bälger. »Los jetzt, Weib, sonst fährt der Paul noch ohne uns!« Hastig musste die Frau die ausgetretenen Treppenstufen nehmen.

»Paul? Paul Henschel? Mit seinem Automobil?«

»Was dachtest du, Oda, willst du etwa zur Station laufen?« Er lachte übertrieben.

»Du weißt, ich kann Henschel nicht sonderlich gut leiden. Wir hätten auch eine Hebamme kommen lassen können.«

»Ach was. Papperlapapp. Du magst Paul nicht, weil er in der Partei ist. Was meinst du, wer uns helfen wird? Die da oben? Nein!– Die regieren Deutschland doch kaputt.« Seine Stimme wurde sofort wieder leise. »Nein, nein, nicht jetzt! Keine Diskussion in seiner Gegenwart. Versprichst du mir das? Versprichst du es mir?«

Oda Hassel nickte und schwieg fortan.

Sie traten aus dem düsteren Flur ins Freie, Schneeflocken fielen vom Himmel. Sollte es wider Erwarten eine weiße Weihnacht geben?

Draußen stand ein warm bekleideter Mann im besten Alter. Schwarz war er; Hut, Schnurrbart, Mantel, Hosen und die Schuhe, selbst seine Augen wirkten schwarz.

»Guten Abend, Herr Henschel!« Adolf Hassel verbeugte sich tief. »Mein lieber Herr Henschel. Ich danke Ihnen herzlichst, dass Sie das für uns tun.«

Henschel kam ohne Umschweife zur Sache: »Ich habe ein altes Laken auf die Rückbank gelegt, wegen der Schweinereien. Und hab Geduld, Oda, bis wir auf der Station angekommen sind! Ich möchte keinesfalls, dass du es in meinem Fahrzeug erledigst.« Dabei hielt Paul Henschel die Tür auf und ließ Oda Hassel nach hinten klettern. »Adolf, du gehst auf den Beifahrersitz!« Er lief um das Fahrzeug, und schon startete er sein Automobil, das sich mit dem lauten Knall einer Fehlzündung rasant in Bewegung setzte.

Die Männer redeten miteinander. Oda klagte und stöhnte währenddessen auf der Rückbank.

»Und, Adolf, du hast noch immer keine Arbeit?« Henschel hatte gut reden. Er war im Vorstand der Gussfabrik, und es gehörte ihm auch ein Teil des Unternehmens.

Adolf Hassel schüttelte den Kopf. Während der Fahrt nahm er den alten Hut vom Kopf.

»Und keine Arbeitslosenversicherung?«

»Nein.«

»Also lebt ihr von der Wohlfahrt?«

»Ja, es ist zum Verzweifeln!«

»Und du machst ihr ein drittes Kind?«

»Keiner weiß, wo dieses Balg herkommt!«, antwortete Adolf zynisch. »Es ist passiert.«

Paul Henschel schaute den Beifahrer grinsend an. Dann klopfte er ihm gegen die Schulter und lachte. »Red nicht so daher, Adolf!– Passiert!– Sei stolz! Lass uns erst an die Macht kommen, dann werden deine Dienste um den völkischen Nachwuchs geehrt und gewürdigt! Glaub mir das!«

»Wenn wir nur mehr zu essen hätten...«

»Es sind Gejammer und Tatenlosigkeit, die unser Land in den Ruin schicken«, belehrte der Fünfunddreißigjährige. »Kommunistische Idioten, die jene Arbeiter, die noch von ihren Firmen bezahlt werden können, zu Streiks verführen. Als würde sich damit etwas bessern!« Henschel holte tief Luft. »Sie sagen uns nach, wir wären gegen die Demokratie! Idioten, wie die Sozialdemokraten. Keine Ahnung haben die, wie ein Land regiert werden muss. Keine Ahnung. Als unser Sennes im April einen Staatsstreich forderte, um Brüning und die verfluchten Parlamentarier abzusetzen, waren es Hitler und Goebbels, die das zu verhindern wussten.– Nein, nein, in der NSDAP herrscht Demokratie! Nicht mehr lange, dann wird das deutsche Volk geschlossen hinter uns stehen.– Adolf Hitler wird in fünf Jahren die Olympischen Spiele als Reichspräsident eröffnen. Du wirst es sehen. Die Wahlen in Oldenburg haben das gezeigt. Dort ist die NSDAP als stärkste Partei in den Landtag eingezogen! Ebenso die in Hessen. Und wir werden etwas für unsere Arbeiter tun. Nicht umsonst sind wir die Arbeiterpartei. Dieses russische, kommunistische, jüdische Gespenst werden wir verjagen. Ein für alle Mal! Die Männer unserer Zukunft heißen Hitler, Hugenberg und Seldte. Thyssen, Krupp von Bohlen und Halbach und viele andere Industrielle stehen hinter uns. Die Banken ziehen nach. Es kann schlussendlich nicht sein, dass unser Deutsches Reich jetzt, nachdem wir all die Aufbürdungen des Krieges abgeschüttelt haben, an Juden und Kommunisten kaputtgeht.– Für Familien wie euch, mein lieber Adolf, für die wird meine Regierung Land zur Verfügung stellen, dass ihr euch ein Haus bauen könnt.«

»Wovon soll ich ein Haus bezahlen?«, wagte Adolf Hassel zu fragen. »Es reicht vorn und hinten nicht.«

»Hör auf mit deinem Gejammer! Tu lieber etwas gegen die Verursacher der widrigen Umstände!« Henschel gab Gas, der Wagen rutschte und Oda schrie kurz auf. »Es ist genügend Geld da. Die Juden sammeln es in ihren Schatztruhen, die Parlamentarier werfen es zum Fenster raus... Die Kraft unseres Volkes wird nicht redlich ausgeschöpft. Glaub mir, Adolf, uns allen könnte es viel besser gehen. Es fehlt nur an dem richtigen Führer.«

Adolf Hassel atmete tief durch. Unmittelbar vor dem Klinikeingang stoppte der Wagen. Der junge Mann half seiner Frau ungeschickt hinaus. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Adolf Hassel beugte sich noch einmal in das Fahrzeug. »Danke, Herr Henschel, und frohe Weihnachten Ihrer Familie. Den Rückweg geh ich dann zu Fuß.« Schon wollte er die Tür zuwerfen, doch Henschel hielt ihn noch auf.

»Komm in den nächsten Tagen zu mir, Adolf«, meinte er beschwörend. »Vielleicht hab ich ja was für dich.«

Adolf nickte lächelnd. Dann schlug er kräftig die Kraftfahrzeugtür zu und griff der Frau unter die Arme. Der Gehsteig war glatt und die Luft äußerst kalt. Der Schnee blieb bereits liegen.

»Oh mein Gott!«, rief Oda Hassel und hielt sich den Bauch. »Ich glaube, es geht schon los. Ich fühle es! Es kommt!«

Gerade noch schafften sie es hinein; man störte die katholischen Schwestern beim Nachtgebet zum Heiligen Abend.

Eine der Schwestern half Oda Hassel auf ein Rollbett. »Gehen Sie nach Hause, junger Mann und kommen Sie zu Weihnachten wieder!«, raunte die Schwester, mit dem Holzkruzifix am Zwirn um den Hals, dem Vater zu und lachte. »Dann bekommen Sie Ihr Christkind zu sehen!« Nun verschwand sie mitsamt der werdenden Mutter hinter einer zweiflügeligen Tür, die noch ein paarmal auf- und zuschlug, bis Stille einkehrte.

Adolf Hassel hielt den Hut in den Händen. Minuten später erst machte er kehrt und lief im Schnee zurück durch Leipzig, Schweiß war auf seiner Stirn. Er durchquerte den Stadtwald und einige Straßen im Norden, bevor er das Mietshaus erreichte. Im zweiten Stockwerk hielt er inne und klingelte bei der sechzigjährigen Adelheid Müller, wie er es Oda versprochen hatte.

Hermine und Margaret schliefen längst. Frau Müller war ausgesprochen neugierig. Aus diesem Grund lud sie den jungen Mann zu einer Tasse Ersatzkaffee und einem Likör ein, um alle Neuigkeiten zu erfahren.

Später betrat Adolf Hassel die Mietwohnung, legte zwei Scheite Holz in den Herd und setzte sich an den Küchentisch.

Bevor es warm wurde, war er eingeschlafen.

»Erzähl’ mir mehr von deiner Geburt, Hugo«, flüsterte Herr Mengen. »Erzähl mir alles, woran du dich erinnern kannst.«

»Da waren nur die Träume... Ich erinnere mich nur an die Träume, Herr Lehrer.« Hugo flüsterte geheimnisvoll. »Ich habe oft davon geträumt.– Es war am Heiligen Abend 1931. Man sagte, wir würden das Licht der Welt erblicken. War die flackernde Birne das Licht der Welt? Sie zogen mich heraus, erst den Kopf und dann den Rest, trennten meine letzte Bindung zu Mama recht ungeschickt, sodass mein Bauchnabel jetzt weit herausschaut. Sehen Sie?« Hugo zog das Hemd aus der Hose und zeigte lächelnd den Nabel. »Die Welt war kalt, außerdem schlug man mir kräftig auf den Po. Ich schrie mit aller Kraft, denn bis dahin hatte mich niemand geschlagen, ich glaube fast, ich wollte mich nicht beruhigen. Erst als sie mich auf Mamas warme Haut legten, erst als ich ihren Schweiß roch, erst als ich ihre Hand auf meinem Rücken spürte, erst da beschloss ich, mein Schreien zu beenden. Ich begann, mich für die Welt zu interessieren. Doch was ich sah, war dichter Nebel.« Hugo kniff die Augen zusammen.

»Was hast du in deinen Träumen gefühlt, Hugo?– Erzähl es mir!«

»Gefühlt?... Ich weiß nicht mehr, was ich gefühlt habe. Als Mama mich berührte, war es Wärme, die ich fühlte.«

»Einen süßen Fratz haben Sie zur Welt gebracht, Frau Hassel. Wie soll das Kind denn heißen?«

»Bärbel soll es heißen«, hauchte Oda Hassel und drückte lächelnd das Würmchen an sich.

Die Schwester lachte auf. »Gott bewahre, Frau Hassel, es ist doch ein Junge geworden! Ein Junge und nicht schon wieder ein Mädchen!«

Über das Gesicht der niedergekommenen Frau glitt ein sanftes Lächeln. »Ein Junge? Tatsächlich ein Junge? Das wird den Adolf nicht erfreuen.– Ausgerechnet ein Junge. Wenn es so ist, dann soll er Hugo heißen. Ich will, dass mein Sohn Hugo Hassel heißt.« Ihre Hand fuhr sanft über den Rücken des Neugeborenen. »Mein kleiner Hugo.«

»Einen wunderschönen Namen haben Sie sich da ausgesucht.– Hugo... Das kommt von Geistlichkeit, Sinnlichkeit und Verstand.– Na, ich lass Sie jetzt allein mit Ihrem Christkind. Wir werden für Sie und den Jungen beten, Frau Hassel. Morgen früh gehen Sie ins Wöchnerinnenzimmer. Und den Kleinen legen Sie immerzu an. Es ist kalt geworden, ich werde ihn warm einwickeln.– Möge der Herr mit Ihnen sein!«

Widerwillig gab Oda Hassel den Jungen heraus. Sie sah die hellen Flusen auf dem Köpfchen. Ein blonder Junge. Das erste blonde Kind in der ganzen Familie Hassel.

Die Schwester bettete den Säugling neben Oda, hantierte noch einige Zeit im Zimmer, dann ging sie hinaus und löschte das elektrische Licht.

»Mein Hugo...«, flüsterte Oda Hassel immer wieder. So schlief sie lächelnd neben ihrem Kindchen ein.

Hugo Hassel kam auf die Welt, als sich Deutschland in einer schweren Wirtschaftskrise wieder fand. Die Reparationszahlungen an die Gewinnerstaaten des Ersten Weltkrieges hinterließen ihre Spuren, die deutsche Wirtschaft schien ausgeblutet und war auf ausländisches Kapital angewiesen. Armut und Kriminalität nahmen sprunghaft zu, Elend machte sich breit. Die Resignation und Verzweiflung vieler Millionen Menschen brachte den politischen Parteien, die rechts und links außen standen, neues Wählerpotential. Eine dieser Parteien war die NSDAP, die von dem österreichischen Staatsbürger Adolf Hitler und seinem Propagandisten, dem Gauleiter von Berlin-Brandenburg, Joseph Goebbels, angeführt wurde.

Am 15. Februar 1932 gab das Reichsarbeitsministerium bekannt, dass über sechs Millionen Menschen ohne Lohn und Brot seien. Tage später erklärte Goebbels, Hitler würde sich für die nächste Reichspräsidentenwahl bereithalten. Achtundvierzig Stunden nach Goebbels’ Bekanntmachung ernannte die Braunschweiger Regierung Adolf Hitler zum Regierungsrat und verlieh ihm damit die deutsche Staatsbürgerschaft, die Hitler den Weg zur Präsidentenwahl ermöglichte. Doch Hindenburg gewann im zweiten Wahlgang, ließ Adolf Hitler ein wenig und den Kommunisten Ernst Thälmann deutlich hinter sich.

Auch in Leipzig, der fünftgrößten deutschen Stadt, nutzten immer mehr Arbeitslose das Angebot der Regierung, für einen Lohn von zwei Reichsmark täglich für den Staat zu arbeiten.

Der kleine Hugo entwickelte sich prächtig, auch wenn die Lebensmittel knapp waren. Paul Henschel sorgte dafür, dass Hugos Vater vom 1. Januar 1932 in der Kreisleitung der NSDAP Leipzig angestellt wurde. Adolf Hassel war für die Verbindung zur Gauleitung Sachsens zuständig. Um die Stelle– die mäßig gut bezahlt wurde– zu bekommen, musste Adolf Hassel zunächst die rassekundlichen Unterlagen über sich und seine Frau Oda vorlegen, die bis ins Jahr 1880 sauber waren, was Paul Henschel in seiner Wahl bestätigte.

Hugos Vater war trotz der neuen Tätigkeit unzufrieden. Unter seinem jähzornigen Charakter litt die ganze Familie. Ging etwas schief, so suchte Adolf einen Sündenbock, an dem er den Unmut ausleben konnte. Daheim glichen seine Reden denen, die Oda bisher nur von Paul Henschel kannte. Die beiden Töchter ließ Adolf in Ruhe, wenn sie nur gehorchten. Stritten die Mädchen laut, setzte es allerdings eine Tracht Prügel. Um den kleinen Hugo kümmerte sich Adolf nur selten. Fast schien es, als würde der Junge für ihn nicht existieren. Gelegentlich– vor allem, wenn Hugo weinte– sagte Adolf: »Das ist dein Kind!« Oda Hassel schämte sich sodann, als würde Adolf wissen, dass er nicht Vater des Kindes war. Und sie wusste, dass sie sofort für die nötige Ruhe zu sorgen hatte.

Bald schon kroch Hugo auf allen Vieren, um seine kleine Welt zu erkunden. Die fünf- und dreijährigen Schwestern Hermine und Margaret zwangen ihn gern zurück in das hölzerne Gitterbett. Hugo wehrte sich mit intensivem Plärren gegen die Unterdrückung seiner Entdeckungsreisen.

Später, nachdem Oda Hassel mitgeteilt hatte, dass sie erneut schwanger sei, begab sich ihr Mann Adolf auf Anweisung der Parteileitung– in Person Henschels– zur Maifeier anlässlich des 1. Mai 1932, während der es in einer Leipziger Lokalität zu einem kräftigen Handgemenge zwischen Kommunisten und Nationalisten kam. Da Hassel die folgenden vier Wochen in einem Leipziger Krankenhaus verbringen musste, erfuhr der Vater nicht, dass Hermine ihr Brüderchen in einem Anfall von Mütterlichkeit mit Blumenerde gefüttert hatte, was dem Kleinen Bauchschmerzen und Verdauungsstörungen einbrachte.

Während der Vater ebenso das Bett hütete wie sein Söhnchen, wählte der Landtag von Anhalt in Dessau, unweit der Stadt Leipzig, mit Alfred Bernard Freyberg den ersten nationalsozialistischen Ministerpräsidenten Deutschlands.

Freudestrahlend besuchte Paul Henschel– der es mit seiner NSDAP in Leipzig wahrlich nicht einfach hatte– den fast genesenen Adolf Hassel im Krankenhaus.

»Das Kabinett ist zurückgetreten!«, rief er schon von der Zimmertür und weckte damit all die anderen Erkrankten auf. »Brüning hat den Hut geworfen! Endlich haben wir uns den Weg freigekämpft!– Was für ein herrlicher Tag, Adolf! Endlich ein Grund zum Feiern!«

Nun, ganz so frei war der Weg noch nicht, denn Hindenburg beobachtete argwöhnisch, was um ihn herum geschah. Allerdings wurden die elf Ressorts der Regierung nun ausschließlich von deutschnationalen Adligen besetzt.

Im Juni 1932 ging es Hugo wieder gut. Er lag in seinem Laufstall und brabbelte fleißig vor sich hin. Immer wieder war ein »Fitz... Fitz« zu hören. Und mitunter sprach der kleine Hugo auch von Mama und Papa.

Interessanter für Adolf Hassel aber war, dass am gleichen Tag die Frankfurter Eintracht in einem verbissen geführten Match den FC Bayern München besiegte und deutscher Fußballmeister wurde.

Warum auch immer, ob durch Hunger oder Verstopfung, Hugo litt an jenem Abend unter schrecklichen Magenschmerzen. Um dies der Umwelt mitzuteilen, schrie der Junge wie am Spieß.

Oda Hassel war nicht anwesend, Adolf musste die Aufsicht über die drei Kinder führen.

Zunächst versuchte der Vater, das Kind durch lautes Zureden zu beruhigen, doch Hugos Magenschmerzen wurden damit nicht beseitigt. So begann der Vater, befehlend zu schreien. Da auch das nicht half, schlug er auf das acht Monate alte Kind ein, zunächst mit der flachen Hand. Er legte es bäuchlings auf den Küchentisch. Die Tür sperrte er sorgfältig zu, damit Hermine und Margaret im Schlafzimmer nicht aufwachen würden.

Hugos Stimme wurde durch die Schläge nur noch lauter. Der Vater drehte das Kind auf den Rücken und musste nun das puterrote Gesicht ansehen. Zunächst dachte er daran, dem Kind den Mund zuzuhalten, kam von dieser Idee aber ab. Er ging ins Wohnzimmer und nahm die Zeitung zur Hand.

Hugo brüllte ununterbrochen.

Nun stieg Adolf Hassel die Zornesröte ins Gesicht. Er warf die Zeitung wütend auf den Boden, lief in die Küche, zog den heißen Schürhaken aus der Küchenmaschine und schlug ein paar Mal auf den Jungen ein. Der Schürhaken traf den Bauch des Kindes, den sich Hugo zuvor freigestrampelt hatte.

Kurze Zeit später war Ruhe. Hugo schwieg. Adolf brachte ihn in das Gitterbettchen.

Mein Lehrer sagte: »Wenn du willst, Hugo, dann komm einfach vorbei. Anna wird sich darüber sehr freuen, und wir können reden!«

Mama kam immer spät von der Arbeit. Anfangs stellte Hugo den Ranzen bei Onkel Mutzmann im Geschäft unter, das im Parterre war, dann lief er über die große Straße und rannte zwei Querstraßen weiter. Hier wohnte Herr Mengen, Hugo konnte ihn besuchen, wann immer er wollte. Wenn der Lehrer nicht zu Hause war, kümmerte sich Anna um ihn. Anna war die Frau des Lehrers.

»Wann tauchte Fritz wieder auf, Hugo?«, fragte Mengen, als sie erneut in seiner Küche saßen.

Hugo dachte angestrengt nach. »Fritz? Ich weiß es nicht genau, Herr Mengen. Ich glaube... Vielleicht war es... wegen Papa?«

Ich wälzte mich in meinem Bettchen herum. Etwas berührte vorsichtig meine Schulter. »Mama?!«, rief mein plärrendes Stimmchen. Nein, nein, das war nicht Mama. Ich riss meine Augen auf, so weit es ging. Und ich erkannte ihn wieder! Es..., es war Fritz! Fritz hatte mich endlich gefunden. Ich beobachtete lange Zeit sein schlafendes Gesicht. Die Nasenlöcher gingen auf und zu, wenn er atmete. Seine langen, schwarzen Wimpern lagen über den geschlossenen Augen, die Augenbrauen blond und kaum sichtbar. Es war, als verarbeitete er einen schrecklichen Traum. Ich sprach ihn flüsternd an.

Was hast du erlebt, Fritz?– Nun wälzte er sich in Schmerzen hin und her!– Was ist geschehen, Fritz?

Meinst du, es ist, weil du Papa kennenlernen musstest? Meinst du, es ist, weil Mama keine Regung zeigte? Papa mag uns nicht leiden können. Wir haben ihm doch nichts getan.

Ich werde bei dir sein, Fritz. Du musst dich nicht fürchten. Niemals. Und vorsichtig legte sich mein Ärmchen auf ihn. Fritz spürte mich, wurde ruhiger, schlief nun traumlos, schlief einfach so.

Nur schlafen.

Ich hörte Margarets Schnarchen, Hermines Husten und Papas Grunzen. Doch der warme Atem, der mein Gesicht berührte, war der von Fritz.

Fritz überlebte die Tortur. Nur die Narben auf seinem Bauch erinnerten an das Geschehene.

Laut knallten die Sektkorken. Soeben erfuhr Paul Henschel, dass der neue Reichskanzler Franz von Papen die Schutzstaffel und die– auch als einstige Turn- und Sportabteilung der Partei bekannte– Sturmabteilung seit dem 28. Juni wieder legitimiert hatte.

»Was meinst du, Adolf, die SS, das wär’ doch was für dich. Die nehmen aber nur die Besten der Besten, die Treuesten der Treuen. Seite an Seite mit Adolf Hitler... Stell dir das einmal vor!« Henschel hielt seinem Freund das Glas entgegen, beide stießen miteinander an. Längst hatte die Überzeugungsarbeit beim siebenundzwanzigjährigen Adolf Hassel gefruchtet.

»Nee, nee!«, antwortete der, nachdem er an seinem Glas genippt hatte. »Dann gehe ich wohl lieber zur SA. Meine Armbinde hab ich ja schon! Und mit jungen Männern weiß ich gut umzugehen.«

Beide lachten laut, denn Henschel hatte die Armbinde mit dem Hakenkreuz auf das kürzlich überreichte Geburtstagsgeschenk Hassels gelegt. Nicht ohne den Hinweis, dass Adolf Hassel die Binde gut aufheben sollte, denn eines Tages würde er sie gut gebrauchen können.

»Aber in dieser verrückten Stadt musst du dich hüten. Nur geschlossen kommen wir den Rot-Front-Schweinen bei.– Was ist, willst du zu Röhm wechseln, Adolf? Ich könnte dich in der Jugendarbeit unterbringen. Da suchen wir verlässliche Männer. Nur wirklich gute, deutsche Leute, versteht sich.«

»Gib mir ein paar Tage Bedenkzeit, Paul! Nur ein paar Tage. Ist das in Ordnung?«

Der ältere Henschel griff Hassel um die Schultern. »Überleg nicht zu lange! Und lass dir von deinem Frauenzimmer nichts erzählen, mein Freund, denn ich weiß längst, wie du dich entscheiden wirst!«

Nur wenige Tage vergingen, da marschierten die ersten Braunhemdkolonnen durch Leipzigs Straßen. Und zwischen ihnen, stolz in der neuen Uniform, Adolf Hassel, der in Kürze selbst der Führer einer SA-Gruppe werden sollte.

Je mehr zusammenkamen, desto näher wagten sich die Braunhemden an die kommunistischen und sozialdemokratischen Zentralen heran. Es gab deftige Schlägereien zwischen den Braunen und anderen Gruppierungen. Und Adolf Hassel war stets an vorderster Front dabei. Am 31. Juli 1932 sollte der Reichstag neu gewählt werden. Im Vorfeld der Wahl glich Deutschland einem vom Bürgerkrieg heimgesuchten Schlachtfeld. Ernst Röhm, von Hitler zum Stabschef der SA geschlagen, gelang es, fast eine halbe Million Braunhemden um sich zu sammeln, eine beachtliche parteiinterne Armee der Nationalsozialisten, die Stärke und Geschlossenheit gern öffentlich unter Beweis stellte. Trafen sich die Roten zu einer Wahlveranstaltung oder zur Demonstration, so zogen die Formationen der SA in streng disziplinierter Marschordnung durch die Straßen, um erst im letzten Augenblick auszubrechen und mit ungezügelter Gewalt die Versammlungen der Gegner aufzulösen. Häufig gab es Verletzte und manchmal auch Tote auf beiden Seiten. Der Gipfel des Wahlkampfes ereignete sich im preußischen Hamburg-Altona, als die SA durch das kommunistische Arbeiterviertel marschierte und eine Schießerei begann, in deren Verlauf an die zwanzig Menschen getötet wurden. Die Reichsregierung erließ am nächsten Tag ein Verbot aller Demonstrationen unter freiem Himmel und setzte zwei Tage später die preußische SPD-Regierung wegen Unfähigkeit ab.

Die Sowjetunion unterzeichnete derweil mit Polens Regierung einen Nichtangriffspakt.

»Du hast Angst vor deinem Vater, nicht wahr, Hugo?« Der Mengen fragte immerzu.

»Ja, Herr Mengen. Ich glaube, schon immer hatte ich Angst vor ihm.«

»Kannst du dir vorstellen, warum er so zu dir ist?«

»Ich glaube es zu ahnen. Alle in unserer Familie haben dunkle Haare, niemand hat blaue Augen. Mit Papa habe ich keine Ähnlichkeit. Doch der Michalak von nebenan, der Mama immer die Kohleneimer aus den Händen nimmt und bis in unsere Küche bringt, der sieht aus wie ich. Und Papa war immer sehr zornig auf ihn.«

»Wusstest du damals schon davon?«

Ich musste nachdenken, um die passende Antwort zu finden. »Nein. Ich erfuhr es erst später. Außerdem hasste Papa nicht nur mich.«

Ich schaute Fritz an, und er mich. Wir legten beide unsere Stirn in Falten. Papas laute Stimme machte uns Angst, gehörige Angst. Bestimmt hatten wir gleichzeitig unsere Windeln nass gemacht.

»Heute haben wir’s denen wieder gegeben.« Er stand in der Tür, Mama hatte mich auf dem Schoß und spielte hoppe, hoppe Reiter.

»Du hast gesagt, ihr wollt Sport treiben, lernt das Autofahren und Reiten«, sagte Mama, und ich hörte auch Angst aus ihrer Stimme. »Stattdessen prügelt ihr euch herum. Man hört immer wieder, dass es Tote und Verletzte gibt.– Der Josef Mutzmann hat sich schon beschwert. Er findet nicht gut, was du tust.«

»Ha!« Papas schreiende Stimme ließ Fritz und mich zusammenschrecken. Margaret begann zu weinen. »Mutzmann! Ewig hat er uns betrogen, dieser... dieser Jude, dieser! Hat uns das Geld aus der Tasche gezogen. Soll sich nur beschweren! Mutzmann!« Die letzten Worte brüllte Papa.

»Was soll das, Adolf?« Mama brachte mich aus der Gefahrenzone und setzte mich in das Laufgitter neben Fritz. »Hast du alles vergessen? Als wir kein Geld hatten, da hat er uns geholfen, hat mir immer was gegeben. Und wenn Hermine bei ihm einkauft, dann bekommt sie stets etwas Süßes dazu.« Mama sah Papa fragend an.

Papa hob den Zeigefinger. »Mit vollem Bewusstsein macht der Mutzmann das! Mit vollem Bewusstsein! Der weiß doch genau, wo wir unser Geld hinbringen,wenn wir welches haben. Die Miete kassiert der, und wir kaufen auch noch bei ihm ein.– Ich will nicht, dass du weiterhin bei diesem Juden einkaufst!«

»Und warum sollte ich es nicht tun?«, fragte Mama. »Ich hab es schließlich immer getan!«

»Weil..., weil...« Papa suchte nach Worten. »Es bringt Unglück, bei einem Juden zu kaufen!«

»Unglück... So, so. Seit wann bist du abergläubisch?– Dann müsste ich doch die unglücklichste aller Frauen sein, denn ich gehe immer zu ihm. Seit Jahren! Er verkauft in unserem Haus! Es ist ein Katzensprung. Und Mutzmann ist und bleibt ein guter Mensch.«

Papas Stimme wollte erst aufbrausen, und ich versteckte mich hinter den Gitterstäben, doch dann wurde er ganz ruhig. Er setzte sich neben Mama, fuhr ihr ganz sanft über den schon wieder dicken Bauch und flüsterte. »Schatz, glaub mir, vielleicht ist er einer von den besseren Juden. Aber da gibt es größere, mächtigere, die zerstören unser Land. Die sind raffgierig, die bekämpfen uns mit fremdländischem Glauben, die sind nicht deutsch. Meine Partei ist auf dem besten Weg, die Regierung zu übernehmen, die Arbeitslosenzahlen sinken bereits, Hitler hält viel von Jugendarbeit und viel davon, diese Umtriebe aus Deutschland fernzuhalten. Er wird auch etwas für die Kinder tun. Es ist besser für uns, wenn wir uns nicht mit Juden einlassen.– Du möchtest doch auch, dass es uns eines Tages besser geht, als es uns in den letzten Jahren ging? Möchtest du das, Oda?«

Nun lächelte Mama wieder, umhalste Papa und gab ihm einen Kuss. »Ich hab nur manchmal Angst um dich, du bist jetzt immer so...« Sie suchte nach einem passenden Wort. »So militärisch. Du redest schon fast wie Henschel. Ich kann es nicht leiden, wenn du so redest wie der Henschel.«

Papa legte Mama einen Finger auf den Mund, sodass sie schweigen musste.

Hermine und Margaret lachten und spielten wieder mit den Puppen, die Mama genäht und mit Stroh gefüllt hatte. Fritz nahm den kleinen Gummiball und rollte ihn zu mir. Dabei grunzte er zufrieden. Ich warf ihm den Ball an den Kopf, doch das störte Fritz nicht. Im Gegenteil, er lachte. Und deshalb lachte ich auch.

Adolf ging ab August 1932 in Henschels Eisengießerei arbeiten. Die Tätigkeit war hart und schwer. In der Eisengießerei wurde viel getrunken. Am Abend war Adolf wütend und so betrunken, dass er Hugo des Nachts nicht schreien hörte, nachdem er ihn mit Schlägen traktiert hatte. Hugo schrie dann sehr laut. Und die Mutter konnte sich nicht erklären, warum dies so war.

Am 4. November 1932 trat eine Verordnung in Kraft, die den Diebstahl von Autos mit hohen Strafen belegte. Schließlich entwickelte es sich zum Volkssport, dass mit gestohlen Fahrzeugen Spritztouren unternommen wurden. Am gleichen Tag nahm Hermine ihren kleinen Bruder, zog ihn hoch auf die wackligen Beinchen und ließ ihn einfach so stehen, weil es ihr Spaß machte, ihn fallen zu sehen. Hugo stand im Wohnzimmer, schwankte hin und her, dann setzte er einen Fuß nach vorn. Schließlich versuchte es Hugo mit dem nächsten, bis er endlich die gegenüberliegende Wand erreichte, zunächst ins Leere griff, umfiel, und mit dem Köpfchen gegen die Wand stieß. Hugo fand trotz der Beule Gefallen an dem neuen Spiel.

Am Abend begrüßte er den Vater auf eigenen Beinen. Der bemerkte jedoch nicht, dass sich der Sohn zum aufrechten Gang entschlossen hatte. Er war betrunken.

Das Jahr ging dahin, und Hugo erhielt noch eine Schwester, sodass er zum Heiligabend nicht der jüngste Gast seines ersten Geburtstages war.

Dem kleinen Hugo wuchsen prächtig blonde Haare, er lief sehr viel herum und beschäftigte die geplagte Mutter. Er brabbelte oft, und Hugos blaue Augen schienen immer etwas fragen zu wollen. Dem Vater jedoch wurde Hugo immer unähnlicher, was dieser natürlich bemerkte, was schlussendlich auch zu handgreiflichen Streitigkeiten zwischen Adolf und Oda führte.

Am 20. Februar des folgenden Jahres lud Hermann Göring einige der größten Vertreter der deutschen Wirtschaft zu einem geheimen Treffen mit Adolf Hitler ein. Die Reichstagswahl stand kurz bevor, die NSDAP benötigte dringend Gelder für den Wahlkampf. Für Hitler lief das Treffen recht erfolgreich ab, denn drei Millionen Reichsmark flossen auf die Konten seiner Partei.

Irgendwer hatte kurz darauf den Reichstag angezündet. Göring gelang es schnell, den Täter, einen Niederländer, der im Auftrag der Kommunisten gehandelt haben soll, zu verhaften. Im Zuge der nunmehr von Hindenburg erzwungenen Notverordnungen wurde der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann in Berlin verhaftet. Die absolute Mehrheit erreichte die NSDAP trotzdem nicht, als am 5. März der Reichstag gewählt wurde. Dies war für Adolf Hassel Grund genug, auf seinen kleinen Sohn einzuprügeln. Hugo zog eine Tischdecke vom Beistelltisch. Dabei zerbrach eine Pferdeporzellanfigur. Der kleine Unfall war Auslöser der harten Schläge. Die sich anschließenden Tage musste Hugo in der Wohnung verbringen, denn Oda wagte es nicht, die blauen Flecken in Hugos Gesicht der Öffentlichkeit zu zeigen.

Die Mehrheit für den Reichstag holten sich die Nationalsozialisten, nachdem die KPD per Notverordnung verboten wurde. Dem folgte im Juni folgerichtig das Verbot der sozialdemokratischen Partei. Da sich all die anderen Parteien aufgelöst hatten und die NSDAP ein Parteigründungsverbot durchsetzen konnte, war sie nunmehr alleiniger politischer Herrscher im Reich. Dies hinderte Fortuna Düsseldorf jedoch nicht daran, durch ein ungefährdetes 3:0 über Schalke 04 den Meistertitel im Fußball zu holen. Hitler derweil verbündete sich mit Italien, das wiederum den Schulterschluss mit der Sowjetunion wünschte und fand.

Im August 1933 suchte der anderthalbjährige Hugo Hassel das erste Mal das Weite. Es war sehr warm an jenem Tag, dem gleichen, an dem Goebbels seinem deutschen Volk den neuen Volksempfänger offerierte.

Mengen grinste. »Du bist ihnen entwischt?– Wie konnte das passieren, Hugo?«

»Mama hat die Tür nicht verriegelt. Und ich habe es gleich bemerkt.«

»Fritz«, murmelte ich. »Mama...« Ich wollte Fritz zeigen, dass Mama die Tür nicht richtig verschlossen hatte, was sie sonst immer tat, wenn sie auf den Hof ging, um Wäsche zu machen. »Komm, Fritz!«

Ich ließ ihn nicht seine Gedanken sammeln. Ich zeigte ihm stattdessen, wie man ganz einfach aus dem Laufstall ausbrechen konnte, lehnte mich gegen die Stäbe, klemmte einen Arm über den Rand, schwang ein Beinchen nach oben und ließ mich hinübergleiten. Mama hatte die Mädchen mit draußen, nur das neue Baby schlief in seiner Wiege.

»Komm!« Ich winkte Fritz zu. Und siehe da, er machte es mir nach und kletterte über die Umzäunung.

Wir schlichen zur Wohnungstür, ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streckte mich, bis meine Finger die goldene Klinke erreichten, die sich kalt anfühlte. Kurz darauf standen wir im dunklen Treppenhaus. Nun kam das Schlimmste, die hohen Stufen. Wir knieten uns hin und krochen rückwärts hinunter, Stufe um Stufe. Fritz zog sich dabei einen Splitter ein und wollte weinen. Ich tröstete ihn, denn sein Weinen hätte uns verraten können.

Endlich erreichten wir den kühlen Hausflur. Es roch nach Müll. Ich hörte Mamas Stimme vom Hof. Fritz wollte zu ihr laufen. Das konnte er jedoch nicht, weil ich ihn an der Hand hielt und zur Straßentür zog. »Komm, Fritz!«

Die Tür zur Straße stand ein wenig offen. Wir zwängten uns hindurch. Die Sonne ließ uns blinzeln, sie stand hoch über uns, über den Dächern der Häuser. Es war sehr warm, noch viel wärmer als in der Wohnung. Wir hatten ein dünnes Hemd an und eine ganz kurze Hose.

Die Stadt! Da standen wir, draußen auf dem Gehweg, und sahen die Stadt mit all ihren Menschen, Automobilen und der quietschenden Elektrischen.

Neben der Haustür waren zwei Stufen zu Onkel Mutzmanns Laden. Mama kaufte trotz Papas Verbot noch immer bei ihm ein und nahm mich oft mit. Die Ladentür, an der eine Glocke war, stand offen. Also stiegen wir die kleine Treppe hoch und gingen hinein.

»Na, Hugo!– Was machst du denn hier?«, fragte Onkel Mutzmann erstaunt. »Willst dir wohl etwas Süßes holen?– Wo ist denn deine Mama?«

Der alte Mutzmann beugte sich weit über die Theke. Hugo Hassel gaffte ihn mit großen, blauen Augen an, als hätte er seinen Fehler, den Laden zu betreten und damit die Flucht zu verraten, gerade erst begriffen.

Mutzmann kam um die Theke herum, klaubte eine Zuckerstange aus dem Glas neben der Kasse und nahm den kleinen Hugo an die Hand. »Na, komm, mein Junge, bevor dich noch ein Automobil überfährt!« Und er ging mit Hugo in den dunklen Hausflur, nachdem er sich auf dem Gehweg kurz umgeschaut hatte, und brachte ihn zu Oda Hassel, die auf dem Hof mit ihrer Wäsche beschäftigt war.

»Ich bring dir einen kleinen Ausreißer, Oda«, meinte Mutzmann, und Hugo war es gar nicht wohl dabei.

»Hugo, wie...«, rief die Mama und ließ ein sauberes, klammes Laken auf den schmutzigen Boden fallen. Natürlich standen die beiden Schwestern sogleich Gewehr bei Fuß, mit den Händen in den Hüften.

»Mama..., ich...«, brabbelte Hugo.

»Danke, Herr Mutzmann!«, rief Oda Hassel dem Händler nach, der wieder im Hausflur verschwand. Kaum war der um die Ecke, holte Oda aus und gab Hugo einen kräftigen Schlag auf den Po, sodass der kleine Junge der Länge nach hinfiel und die Zuckerstange davonflog. Hugo sah vom Boden aus das hämische Grinsen der Schwestern.

»Muss ich dich etwa anbinden?«, wetterte die Mutter. »Na, warte, wenn Papa davon erfährt!«

Sie brachte Hugo hinauf in die Wohnung, die für den Jungen in ein Gefängnis umfunktioniert wurde. Hermine war die Wachmannschaft, die Tür wurde doppelt verschlossen. Hugo saß still im Laufstall. Er schluchzte oft, denn der Po tat ihm weh. Seine Angst vor Papas Heimkehr stieg, während Hermine an seiner Zuckerstange lutschte. Der kleine Junge wusste nur zu genau, dass der Vater seine eigene Art zu strafen hatte. Entweder er benutzte den zischenden Teppichausklopfer oder den eisernen Schuhlöffel. Hugos Angst vor beiden Waffen war unermesslich groß.

Letztere bekam Hugo am Abend zu spüren. Adolf Hassel zog Hugo die Hose hinunter, legte ihn über den Küchentisch, dass nur die Beine in der Luft baumelten, und schlug mit dem schmiedeeisernen Schuhlöffel zu. Hugo schrie wie am Spieß. Zwischen seinen eigenen Schreien hörte er die des Vaters, schrill und exakt: »Gehorsam! Vertrauen! Zucht!« Zum Glück traf Adolf Hassel nur den nackten Po des Sohnes, sodass Hugo die Striemen und Schwielen nicht sehen konnte, nur fühlen musste, dass die Haut in der Nacht aufplatzte.

Hugo versprach unter Tränen, gehorsam zu sein.

»Ich wollte das nicht, Fritz«, flüsterte er schluchzend in der tiefen Nacht. »Ich wollte nicht, dass er dich haut.«

Fritz schwieg, während Hugo ein Ärmchen um den Freund legte, um schließlich kraftlos einzuschlafen, immer und immer wieder geweckt durch die starken Schmerzen.

Gehorsam war auch das deutsche Volk, das mit neunzig Prozent dafür stimmte, dass das Deutsche Reich aus dem Völkerbund austreten sollte. Ebenso bei der Wahl zum Reichstag, bei der man nur noch mit »Ja« oder »Nein« für oder gegen die NSDAP und Hitler stimmen konnte.

Am ersten Dezember machte sich die NSDAP per Gesetz zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Damit war die Partei gleichzeitig der Staat.

Goebbels hielt die Silvesteransprache und testete damit seine sogenannten Goebbelsschnauzen, die hölzernen Volksempfänger in den deutschen Stuben.

Am 26. Januar des Jahres 1934 schlossen Deutschland und Polen einen Nichtangriffspakt. Die deutschen Länder verloren ihre Selbständigkeit, Reichsstatthalter wurden eingesetzt.

Kurz darauf nahm das Unheil seinen Lauf. Hugo erlebte erneut einen Tiefschlag.

»Gib mir meine Puppe wieder!«, schrie Hermine. »Gib sie mir!«

Hugo hatte die Puppe erobert, die von Hermine auf den Namen Hanni getauft worden war. Aus Hermines Blicken schoss der Zorn.

»Du tust Hanni weh! Gib sie mir!«

Hugo hielt die Puppe mit beiden Händen an einem Arm fest, Hermine zog an dem anderen Arm.

»Das nur Puppe. Hat kein Aua!«, gab Hugo von sich.

»Hat sie doch!« Hermine zog noch kräftiger.

Plötzlich fiel Hugo nach hinten um. Sägespäne aus der zweigeteilten Puppe schneiten ins Wohnzimmer.

Zunächst hielt Hermine inne, schwieg für einen Moment. Dann erst hallte ihre Stimme durch die Wohnung: »Mama! Mama! Hugo hat meine Puppe zerrissen!« Und anschließend brüllte sie wie am Spieß.

Oda Hassel erschreckte sich. Sie glaubte, etwas Ernsthaftes wäre passiert. Sie war eben mit dem Sonntagsessen beschäftigt. Adolf würde bald von einer SA-Versammlung zurückkommen, und neuerdings legte der Familienvater sehr viel Wert auf Pünktlichkeit. Es passte der Mutter nicht, dass sie in den Vorbereitungen gestört wurde. Erzürnt betrat sie das Zimmer und traute ihren Augen nicht. Überall hatten sich die Sägespäne verteilt. Die Beweise waren erdrückend, der kleine Hugo hielt den abgerissenen Arm der Puppe in der rechten Hand, sein Gesicht schien versteinert.

»Was hast du getan, Hugo? Was hast du schon wieder angerichtet? Du bist ein Teufel! Ein Teufel bist du, Hugo!« Und sie hob den kleinen Hugo aus dem Laufstall und schüttelte ihn in der Luft.

Hermine heulte derweil wehleidig, und Margaret stimmte in das Klagen ein. Kurz darauf begann auch das Baby, mit lautem Organ zu schreien. Das Chaos war perfekt. Zudem drang Qualm aus der Küche. Oda Hassel ließ den Jungen einfach fallen. »Du bringst das alles wieder in Ordnung! Hast du verstanden, Hugo? Alles! Wenn Papa kommt, dann...« Sie rannte in die Küche.

Hugo nickte unter Tränen. »Papa aua mit Hugo«, flüsterte er, wohlwissend, was kommen würde. Seine Blicke erreichten die der Schwestern, deren Heulen augenblicklich verstummte und sich in ein hämisches Grinsen wandelte.

Hugo war gerade zwei Jahre alt.

»Warum?«, fragte mein Lehrer. »Warum hast du deiner Schwester die Puppe weggenommen?«

»Ich hab sie ihr nicht weggenommen«, erklärte Hugo.

Wir hatten nichts zum Spielen. Darum holte ich Hermines Puppe Hanni. Wir bauten ihr ein Bett in unserem Gefängnis und waren ganz leise, sodass Hanni in Ruhe schlafen konnte.

Und dann kam plötzlich Hermine, machte einen großen Aufstand und weckte Hanni, die sofort weinte. Fritz wollte die Puppe beruhigen, doch Hermine riss ihm Hanni weg.

Fritz besaß erstaunlich viel Kraft. Und weil Hermine so an ihrer Puppe zerrte, ging Hannis Körper kaputt, und ziemlich viele Sägespäne und Wollreste verteilten sich im Zimmer.

Mama kam in die Stube, weil Hermine so laut schrie. Sie nahm Fritz hoch und schüttelte ihn furchtbar. Dann ließ sie ihn wie einen Stein fallen, dass er sich das Bein verstauchte.

»Papa wird mich hauen«, flüsterte ich ängstlich. »Vielleicht bin ich dann tot.«

»Dann gehe ich, soll er mich doch hauen, mir ist das ganz egal«, flüsterte Fritz.

»Das würdest du tun für mich?«

»Bestimmt, Hugo. Du bist schließlich mein bester Freund.«

Selbstverständlich ließ Adolf Hassel Hugos Verbrechen an Hanni nicht ungesühnt. Zumal er an jenem Tag äußerst schlechtgelaunt war. Dem gestandenen SA-Ausbilder erschien der Schuhlöffel in einem solch ernsten Fall für die Züchtigung als nicht mehr ausreichend. Daher griff er zum Schürhaken, um dem zweijährigen Hugo ausreichend Zucht und Gehorsam einzubläuen.

»Bitte, Adolf«, bedrängte Oda ihren Mann schließlich.

Doch der schob die Frau zur Seite. »Verschwinde, wenn du es nicht mit ansehen willst!«

Der Junge weinte nicht, sein kleiner Körper zuckte unter den Hieben. Und einmal schien es gar, in dem Moment, als die Haut aufplatzte und Blut über die Beinchen lief, als wollte sich ein Lächeln in Hugos Gesicht zeigen. Kurz darauf blieb er ohnmächtig liegen.

Adolf Hassel schwitzte am ganzen Körper, die Züchtigung hatte ihn viel Kraft gekostet. Fast machte es den Anschein, als wollte er nicht nur Hugo, sondern all die anderen bestrafen, die ihm Rivalen waren. Erschöpft warf er den Schürhaken in die Ecke neben die Küchenmaschine und zerrte den Jungen vom Tisch. Er hielt ihn vor sich hin, denn Hugo, dem das Blut an den noch von Babyspeck gezierten Schenkeln hinunterlief, war noch immer nicht bei Bewusstsein.

»Ich hoffe, du merkst dir, was es heißt, nicht zu gehorchen!« Adolf wandte sich an seine Frau. »Und du wirst ihm jetzt nicht helfen, Oda! Der Junge muss leiden, sonst wird er es niemals begreifen!«

Oda nickte folgsam, obwohl Tränen über ihre Wangen liefen.

Adolf ließ den Jungen in den Laufstall fallen, nahm den Mantel vom Haken und verschwand aus der Wohnung. Oda Hassel wusste, dass er die Stehbierhalle aufsuchen würde.

Hugo erwachte Minuten später aus der Ohnmacht, als Oda die Wunden versorgte, den Sohn jedoch nicht ins Bett zu bringen wagte.

Tränen quollen aus Hugos Augen und tropften auf die übrig gebliebenen Sägespäne. Hugo flüsterte Worte, die niemand hörte.

»Es hat ihm so schrecklich wehgetan«, sagte Hugo und schaute den Lehrer Mitleid suchend an.

»Ihm? Und was hast du getan? Erinnerst du dich?«, fragte der Mengen und hielt dabei Hugos Hand. »Du hast mit Fritz geredet?«

»Mir tat es nicht weh, Herr Mengen. Papa hat doch nur Fritz geschlagen.«

Bald regierten in Europa verschiedene faschistische Diktaturen. Nicht nur Deutschland ging diesen Weg, auch Italien und Spanien verfolgten ihn. Ja, selbst in Großbritannien erwachten die britischen Faschisten. Der Italiener Mussolini begann mit der Eroberung Afrikas, und die Welt schaute weg. Schließlich war Italien Fußballweltmeister.

Derweil wurden die deutschen Juden aus dem öffentlichen Leben verbannt. Hitler ließ an verschiedenen Orten Konzentrationslager einrichten, die sich rasch vergrößerten. Kommunisten, Sozialdemokraten und Künstler, die sich nicht mit den Nazis einlassen wollten, wurden weggesperrt oder aus dem Land gewiesen. Im Juli 1934 unterstellte Hitler die Konzentrationslager Himmler und ließ sie von Wachmannschaften der SS besetzen.

Dann musste die Familie Hassel erfahren, wie falsch es war, dass Adolf Hassel sich einst für die Sturmabteilung und nicht für die SS entschieden hatte. Denn der Stabschef der SA und langjährige Freund Hitlers– Ernst Röhm– wollte aus der auf vier Millionen Mitglieder angewachsenen Sturmabteilung eine selbständige Truppe als zukünftige Volksmiliz machen. Er folgte dem Gedanken, eine gigantische Armee unter Waffen zu schaffen, die die Reichswehr verdrängen sollte. Hitler benötigte jedoch eine ihm persönlich in allen Belangen ergebene Truppe. Und dazu hatte er längst die Schutzstaffel auserwählt, die SS gründete außerdem einen kasernierten Kampfverband, der »Verfügungstruppe« genannt wurde. Die Konzentrationslager des Deutschen Reiches wurden nunmehr von den Totenkopfverbänden der SS bewacht, die gemeinsam mit der Verfügungstruppe den Kern einer späteren Waffen-SS bilden sollten. Die SS wurde Hitlers Machtinstrument. Nicht zuletzt dadurch, dass er mit deren Hilfe im Juni 1934 die Führungsspitze und etliche Angehörige der SA verhaften und hinrichten ließ. Bekanntlich unterstand die SS bis dahin der SA-Führung, nun wurde sie aus der SA ausgegliedert und in eine selbständige Organisation umgewandelt. Die daraufhin zahlenmäßig stark reduzierten Sturmabteilungen hatten in erster Linie die Aufgabe, als Statisten bei Hitlers monumentalen Auftritten mitzuwirken und sich um die vormilitärische Erziehung der Jugend zu kümmern, der der Leitspruch »Kraft durch Freude« eingehämmert werden musste.

Hugo interessierte sich natürlich noch nicht für diese politischen Dinge. Und doch lauschte der Junge bedächtig den Klängen, die aus dem hölzernen Kasten drangen, den Papa gekauft hatte. Zu Hause gab es einen handfesten Streit, weil Mama mit der Anschaffung nicht einverstanden war.

Am Abend des 30. Juni 1934 klopfte es hart an der Eingangstür der Villa des Leipziger Industriellen Paul Henschel.

»Öffnen Sie!«, schrie eine Stimme.

Henschels Hauswirtschafterin, ein gerade siebzehnjähriges Mädchen, das dem obligatorischen Pflichtjahr nach der Schulzeit nachkam, öffnete ängstlich die Tür und wurde von zwei bewaffneten Herren zur Seite gedrängt.

»Heil Hitler!«, rief einer der Männer. »Paul Henschel?– Sie sind verhaftet! Ihnen wird die Teilnahme an einem Putsch gegen unseren Führer vorgeworfen!– Folgen Sie uns freiwillig?«

Henschel wischte sich den Mund an einer Serviette ab. Seine Frau zitterte am ganzen Körper, wagte nicht, sich zu erheben. Henschels Kinder, die ebenfalls am Tisch saßen, schwiegen ängstlich.

»Ich?«, fragte Henschel erstaunt. »Den Führer?– Was erlauben Sie sich? Wissen Sie nicht, wen Sie vor sich haben?«

»Folgen Sie uns nun freiwillig, oder...?«

»Ja, ja...«, raunte Henschel und zog sich das Jackett über. Dann wandte er sich an die Ehefrau. »Es wird sich alles klären, in spätestens einer Stunde bin ich zurück.« Drei Kinder schauten dem Vater nach, als der von den beiden SS-Männern hinausgeleitet wurde.

Paul Henschel kam nicht zurück, nicht nach einer Stunde und nicht irgendwann. Frau und Kinder warteten vergebens. Henschel wurde gemeinsam mit der gesamten SA-Führung und einigen hundert angeblichen Mitläufern hingerichtet.

Adolf Hassel wurde ebenfalls verhört. Am Abend kam er verstört nach Hause und schlug mehrfach auf Hugo ein. Der Kleine versteckte sich schließlich unter dem Bett, um den Launen des Vaters zu entkommen.

Die Eisengießerei wurde von einem Konsortium Industrieller übernommen, das Hitler nahe stand und von der angedachten Waffenproduktion profitierte. All diejenigen, die mit Henschel gut Freund waren, wurden entlassen, unter ihnen auch der vierfache Vater Adolf Hassel.

Vom 1. August an erhielten Mitglieder der Hitler-Jugend samstags schulfrei, um sich währenddessen militärsportlich zu ertüchtigen. Doch nicht nur der schulfreie Tag war Grund dafür, dass Hitlers Jugendorganisation einen großen Zuwachs zu verzeichnen hatte.

Von nun an gab es nur noch einen Führer im Deutschen Reich, und der Gruß »Heil Hitler!«, den sich der Führer vom einstigen römischen Imperator Cäsar abgeschaut hatte, setzte sich mehr und mehr durch.

Am 2. August starb Hindenburg im Alter von sechsundachtzig Jahren. Hitler riss sogleich das damit freigewordene Amt des Reichspräsidenten an sich, nannte sich fortan ›Führer‹ und ›Reichskanzler‹.

Inzwischen hatten sich die bewaffneten Formationen der Reichswehr und der SS zu einer großen Truppe zusammengeschlossen, viel größer, als es nach dem Ersten Weltkrieg von den damaligen Siegermächten im Versailler Vertrag forciert wurde. Letztendlich schien es nur die Engländer zu stören, aber auch die reagierten bestenfalls halbherzig darauf. Noch weniger interessierte es die internationale Staatengemeinschaft, dass Hitler im Februar 1935 die Luftwaffe als dritte Waffengattung ins Leben rief. Hitler gewann auf ganzer Strecke. Die meisten seiner Gegner wurden ausgebürgert, eine wirkungsvolle Opposition gab es nicht mehr. Selbst in den Gemeinden wurde die Selbstverwaltung eingeschränkt und durch die nationalsozialistische Gauverwaltung ersetzt. Bei jeder Gelegenheit jubelte man sich zu, das Tief der Weimarer Republik war endlich überwunden!

Zudem wuchs das Deutsche Reich erheblich, denn neunzig Prozent der Bevölkerung des vom Völkerbund verwalteten Saargebietes wollten heim ins Reich, der Anschluss wurde am 1. März 1935 vollzogen. Auch im Sudetenland und in Österreich kochte die Suppe. Eben hatte Hitler die Einführung der Wehrpflicht verkündet, wollte ein Heer aufbauen mit fast 600.000 Mann. Die Reaktion der Westmächte blieb verhalten, obwohl damit der Versailler Vertrag in allen Vereinbarungen gebrochen wurde. Die deutsche Rüstungsindustrie wurde angekurbelt, und Hitler erklärte, dass nur ein starkes, wehrhaftes Deutsches Reich den Frieden sichern könne. Dabei schielte er bereits auf die polnischen und tschechischen Gebiete, in denen deutsche Minderheiten lebten, und auf die österreichischen– wo sich die Deutschen lautstark bemerkbar machten.

Hugo zog sich mehr und mehr zurück. Er sprach nur selten mit Mama und ebenso selten mit den Schwestern und nie mit Papa. Außerdem verhielt er sich in den Augen der Eltern äußerst seltsam. Oda Hassel beobachtete, dass Hugo ununterbrochen Selbstgespräche führte und oft mit einem imaginären Freund spielte, den er Fritz nannte. Sie wollte dem Jungen ein solch abartiges Verhalten verbieten, doch es gelang ihr nicht. Im Gegenteil: Hugos Selbstgespräche wurden immer intensiver. Fast in jeder Nacht machte der Junge ins Bett und tat Dinge, die sich niemand erklären konnte.

Adolf Hassel versuchte es redlich, die verwirrenden Dispositionen aus dem fast Vierjährigen herauszuprügeln, doch auch ihm gelang es nicht. So weigerte sich Hugo mit aller Vehemenz, den Vater mit »Heil Hitler« zu grüßen, wie dies die Schwestern anständig taten. Stattdessen lief Hugo– trotz des strikten väterlichen Verbotes– oft hinunter in des Juden Mutzmanns Laden, um unsichtbar zu sein.

Mit Mutzmann redete Hugo gern, der Ladenbesitzer hörte ihm aufmerksam zu und stellte kaum Fragen. Mehrmals rannte Hugo hinunter, weil ihm durch den Vater Prügel drohte.

Nachdem Mussolini in Abessinien Giftgas eingesetzt hatte, nachdem Propagandaminister Goebbels– angesichts anhaltender Lebensmittelknappheit– dem deutschen Volk erklärt hatte, dass man zur Not auch einmal ohne Butter, nie aber ohne Kanonen auskommen würde, nachdem die Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen stattgefunden hatten, nachdem das Luftschiff »LZ 129« mit dem Namen »Hindenburg«– als größtes seiner Art– zu einem Transatlantik-Flug gestartet war, nachdem der 1. FC Nürnberg durch einen Sieg über Fortuna Düsseldorf deutscher Fußballmeister geworden war, während in Spanien der Bürgerkrieg ausbrach und der spanische General Francisco Franco offen von Mussolini und Hitler unterstürzt wurde, nachdem Hitler mit pompöser Propaganda vor einhunderttausend Zuschauern im Berliner Olympiastadion die Olympischen Spiele von 1936 eröffnet hatte, nachdem sich Stalin in Moskau seiner politischen Gegner entledigt hatte, nachdem die Wehrdienstzeit in Deutschland von einem auf zwei Jahre verlängert worden war, nachdem die Wehrmacht ihre ersten großen Manöver seit dem Weltkrieg durchgeführt und Hitler den tausendsten Kilometer deutscher Autobahnen freigegeben hatte, die in erster Linie von den Zwangsverpflichteten des Reichsarbeitsdienstes gebaut worden waren, nachdem Deutschland mit Japan einen Pakt gegen die Sowjetunion geschlossen hatte, nachdem die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend für Jungen ab dem vierzehnten Lebensjahr zur Pflicht geworden war, und genau an dem Tag, da die katholischen deutschen Bischöfe ihre Unterstützung Hitlers im Kampf gegen den Kommunismus erklärt hatten, an diesem Tag– der selbstverständlich ein Heiligabend war– wurde Hugo fünf Jahre alt.

Und ausgerechnet an jenem, von Hugo mit großer innerer Spannung erwarteten Tag, war es wieder einmal so weit, dass der Junge seinen Freund, den Juden Mutzmann, aufsuchen musste.

Adolf Hassel war mittlerweile in das deutsche Heer eingetreten, den Einsprüchen seiner Frau Oda zum Trotz. Er besaß zwar einen niederen Dienstgrad, wurde jedoch nach wenigen Wochen– angesichts seiner hervorragenden Tätigkeit zur Unterstützung der Wehrertüchtigung der Jugend in den Reihen der SA, wo er es immerhin zum Scharführer brachte– zu einem Feldwebel befördert. An jeder Maßnahme beteiligte er sich, wollte sich von nun an mit aller Kraft die Dienstgradleiter hinaufarbeiten.

An diesem 24. Dezember 1936 brachte Adolf eine Tafel Schokolade mit. Solch eine Tafel Schokolade war schon etwas Besonderes in Zeiten knapper Lebensmittel. Sie sollte Hugos Geburtstagsgeschenk sein. Also stellte sich der Vater vor seinen Sohn und hielt ihm die Tafel hin, die er wahrscheinlich aus einem Versorgungslager der Wehrmacht bekommen hatte. Die Schokolade war keinesfalls sehr groß, sie verschwand fast in Papas Hand.

»Das ist dein Geburtstagsgeschenk. Du kannst es erhalten, wenn du mich richtig grüßt, Hugo.– Ich gehe noch einmal aus dem Zimmer, und wenn ich wieder hereinkomme, dann grüßt du mich. Richtig, versteht sich! Tust du es, bekommst du dein Geschenk.– Hast du das verstanden, Hugo?«

Hugo lief das Wasser im Mund zusammen. Die Stimme des Jungen war schüchtern und hoch. Er sah den strengen Vater ängstlich an und flüsterte: »Ja, Papa.«

Adolf Hassel verließ das Wohnzimmer und kam kurz darauf zurück. Der Vater und die drei Schwestern schauten Hugo erwartungsvoll an.

Und was machte Hugo? Der nickte anständig, hielt dem Vater die kleine rechte Hand hin und murmelte: »Guten Tag, Papa.«

Das aber war die falsche Begrüßungsformel! Denn Adolf holte mit der Hand aus, in der er keine Schokolade hielt, und schlug den Jungen zu Boden.

»Heil Hitler!«, rief Hermine, lachte und sprang auf dem Sofa herum, während sich Hugo am Boden die rote Wange hielt.

Der Vater ging zu Hermine, fuhr ihr durch die Haare und lächelte. Er gab die Tafel Schokolade seinen Mädchen, beugte sich mit ernstem Gesicht zu Hugo hinunter, riss ihn am Kragen und flüsterte: »Aus dir wird nie ein Deutscher. Du bist eine Schande für unsere Familie und dieses Land. Du bist und bleibst ein Idiot!«

Hugo weinte bitterlich und sah mit verschwommenen Blicken, dass die Schwestern seine Schokolade genüsslich aufaßen und lachten.

Zu allem Überfluss kam Oda ins Zimmer und sprach: »Bitte nicht heute, Adolf.«

Das hätte sie besser nicht tun sollen, denn Adolf Hassel schlug daraufhin erneut auf Hugo ein und brüllte dabei, dass es auch die Nachbarn hören mussten: »Er muss es endlich begreifen! Und wenn nicht so, dann eben so! Heute und jeden Tag, wenn es sein muss!«

»War es wieder Fritz, der geschlagen wurde?«, fragte Herr Mengen.

Hugo nickte. »Dabei haben wir uns so auf den Geburtstag und auf Weihnachten gefreut. Aber dann...«

»Guten Tag, Papa«, sagte ich, lächelte ihn an und machte einen besonders ordentlichen Diener. Nun würde er uns die Schokolade geben, dachte ich.

Doch dann sah ich einen Blitz, der aus seinen Augen kam, Fritz traf und ihn zu Boden warf. Die Wange von Fritz war plötzlich knallrot.

Ich kniete mich neben Fritz und sagte: »Es war doch eine Falle. Ich hab’s dir ja gesagt. Es war doch eine Falle!«

Dann sah ich, dass Papa wieder auf Fritz einschlug. Als er uns für einen Moment aus den Augen ließ, ergriff ich Fritz’ Hand, zog ihn hoch, wir rannten an Mama vorbei, die weinend im Zimmer stand, und stürzten zur Tür, die nicht verriegelt war.

Stufe um Stufe sprangen wir hinunter, und unten schlug Fritz ganz aufgeregt gegen die Tür von Onkel Mutzmanns Wohnung, der wie immer ganz allein sein würde. Ich hörte unsere Herzen klopfen.

»Du kommst sofort zurück!«, vernahmen wir Papas schreiende Stimme im Treppenhaus.

Die Türkette klapperte, die Tür öffnete sich eine Handbreit. »Hugo!«, raunte Onkel Mutzmann erstaunt. »Zum Heiligabend. Was ist denn los?– Moment noch!« Er löste die Kette und sagte: »Komm schnell rein, Hugo!«

»Darf Fritz auch?«, fragte ich.

»Aber natürlich, mein Junge, bring ihn mit!– Was ist denn geschehen, deine Nase blutet, und deine Wange ist ganz rot. Gab es wieder Ärger? Komm, komm!« Onkel Mutzmann warf noch einen Blick ins Treppenhaus, dann schloss er die Tür und schob uns in ein Zimmer, in dem viele interessante Dinge aufbewahrt wurden.

»Hast du keinen Weihnachtsbaum?«, fragte Fritz und setzte sich auf einen bezogenen Hocker.

»Nein, mein Junge, ich brauche keinen Weihnachtsbaum, um mich an Gott zu erinnern.– Hier, halte das vor die Nase und mach den Kopf nach oben! So ist das gut. Es wird bald aufhören. Wie ist das denn passiert?«

»Papa hat ihn gehauen, weil er nicht ›Heil Hitler‹ gesagt hat«, antwortete ich, obwohl Fritz gerade erzählen wollte, dass er sich gestoßen hätte.

»Das hat er getan?– Heute?«

Ich nickte ein wenig mit dem Kopf. »Obwohl heute unser Geburtstag ist.«

»Ach ja? An einem solchen Tag sollte man sehr lieb mit seinen Kindern sein, egal, was sie sonst so auf dem Kerbholz haben. Und was hat dein Papa dir geschenkt?«

Wieder antwortete ich: »Er hat ihn nur gehauen. Ganz doll! Das war sein Geschenk.«

Onkel Mutzmann kniete sich auf einmal vor mich nieder, dass ich seinen runden Hut sehen konnte, und nahm meine Hände in seine rauen, derben, alten. »Hugo, erzähl mir mehr von deinem Freund Fritz!«

»Fritz?« Ich nahm den Zellstoff von der Nase und schaute darauf. »Fritz, das ist mein Freund. Wir kennen uns schon lange.«

»Ach..., so ist das also mit euch beiden...«, murmelte Onkel Mutzmann. »Ich war schon verwundert. Wartet, ihr zwei...« Er lächelte und erhob sich.

Dann brachte er aus einer Kiste zwei Zuckerstangen. »Hier, die eine ist für dich und die andere für Fritz. Und das hier«, er hielt einen glänzenden Stein inseiner Hand, »das ist ein Glücksstein. Ich habe ihn mein Leben lang bei mir gehabt. Nun bin ich alt, ich brauche ihn nicht mehr. Ich denke, ihr habt ihn nötiger als ich.«

»Oh danke!«, rief ich und hielt den Stein zwischen meinen Fingern. »Onkel Mutzmann. Verrätst du mir etwas?«

»Was willst du wissen, Hugo?«

»Wer ist Hitler? Und warum soll ich ›Heil Hitler‹ sagen?«, fragte ich, während ich den Stein im Licht betrachtete.

Onkel Mutzmann kratzte sich an seinem Kinn, dann setzte er sich auf einen uralten Stuhl. »Ja, was ist Hitler...«, flüsterte er. »Wer ist das eigentlich? Ich will es dir erklären, auch wenn ich nicht weiß, ob du alles verstehst.