Ich Ich Ich - Robert Gernhardt - E-Book

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Robert Gernhardt

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Beschreibung

»Ich Ich Ich« – schon der Titel deutet es an: In diesem Roman steht eine einzige Person im Mittelpunkt. Der Maler Robert G kann keine Ruhe mehr finden, flüchtet in die Toskana und widmet sich dort schreibend seiner tragikomischen Existenz. Mit viel Selbstironie hat Robert Gernhardt einen Künstlerroman verfasst, der zugleich eine brillante und bitterböse Satire auf den Kulturbetrieb ist. Ein Klassiker aus der spitzen Feder von Robert Gernhardt.

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Seitenzahl: 308

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Robert Gernhardt

Ich Ich Ich

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoIchDuErEr, Forts.SieEsHinweis und Dank

Die Ochsen sind starke und geduldige Tiere.

Die Waffen sind gefährlich in den Händen der Kinder.

Die Dichter und Maler sind Künstler.

 

M. Alani, Lehrbuch der italienischen Sprache

Ich

Eigentlich sollte ich vor der Staffelei sitzen und malen, das wäre die einzige Tätigkeit, die mich jetzt noch retten könnte. Nur malend könnte ich wieder zur Ruhe kommen. Malen! Man stellt irgendein Stilleben zusammen – eine alte Blechbüchse, eine Flasche und einen Schwamm, nein, keinen Schwamm, Schwämme kann man nicht malen, sie sehen einem Käse zu ähnlich, später stehen dann die Leute vor dem Bild und sagen: »Die Blechbüchse und die Flasche sind ja halbwegs getroffen, aber warum hat der Idiot den Käse dazugelegt?« Keinen Schwamm also, der gibt auch formal nichts her, schwammig wie er ist und voller Löcher, wir nehmen lieber etwas mit klarem Umriß, etwas, das einen präzisen Schatten werfen kann, einen kleinen Schuhkarton? Gut, einen kleinen Schuhkarton, dann setzen wir uns vor unser Stilleben und malen das Ganze ab. Gleich werden wir ruhiger. Wir schauen auf die Gegenstände, wir schauen auf das Bild, wir mischen etwas Grün an, ja Grün, die Flasche ist nämlich grün, viel Auswahl gibt es bei Flaschen nicht, entweder sind sie grün oder braun oder farblos, ich werde das nicht ändern, Sie werden das nicht ändern, Sie schon gar nicht – aber ich wollte nicht ausfallend werden. Im Gegenteil. Von der Ruhe möchte ich reden, ach was, ich rede von der Ruhe, von jener einzigartigen Ruhe, die den Maler überkommt, je länger er malt. Von jener meditativen Gelassenheit, mit der er der Welt der flüchtigen Erscheinungen eine intensivere, dauerhaftere Realität gegenüberstellt. Er schaut auf die Dinge und mischt etwas Farbe an, er schaut auf die Leinwand und setzt die Farbe, er schaut nochmals auf die Dinge und wischt die Farbe wieder weg – er hat sich beim Mischen vertan, zuviel Gelb, die Flasche aber ist grün –, er lehnt sich zurück und schaut abermals auf die Dinge, gleich wird er einschlafen.

Schön wär’s. Denn in Wirklichkeit wird der Maler, kaum daß er sich zum Malen hinsetzt, von der allerschrecklichsten Unruhe gepackt. Je schweigsamer er seiner Arbeit nachzugehen sucht, desto lauter wird es im Kopf des Malers, je stiller es in seinem Atelier ist, desto geräuschvoller brandet der Dreck des Tages und der Schlamm der Welt gegen die berstenden Wände. Kein besonderer Dreck und kein auserlesener Schlamm, beileibe nicht; außer der Tatsache, daß er malt, ist an einem Maler nichts Außergewöhnliches. Nein, ich rede von jenem Allerweltsdreck und Einheitsschlamm, der tagtäglich über jedem von uns ausgeleert und in jeden von uns hineingepumpt wird – angefangen von ganz realen Alltagsbeleidigungen bis hin zu so irrealen Scheußlichkeiten wie Diskontsatzerhöhungen, Neuverschuldungen des Bundes und Bewegungen auf dem Petrodollarmarkt. Wenn wenigstens die Opec-Länder Ruhe gäben! Doch nein, die tagen ja schon wieder, um den Preis für den Barrel Rohöl – aber was um Himmels willen ist ein Barrel? Und wer wird sich durchsetzen? Die Gemäßigten um Minister Jamani? Oder die Vertreter der harten Linie, an deren Spitze sich der Iraner Moinfar gesetzt hat? Oder war es Gaddafi? Und wie schreibt man den überhaupt – gehörte nicht irgendwo ein »h« hin? Aber wohin? Hinter das »G«? Hinter das »f«? Und warum tue ich so, als ob mich diese Frage irgend etwas angeht?

Weil sie mich etwas angeht. Weil alles mit allem heillos verknüpft ist. Weil unsere hochtechnisierte, kleiner gewordene Welt nicht mehr den ichverliebten Wolkenkuckucksheimmaler, sondern den mündigen, rundum informierten Zeitkünstler erfordert. Weil …

Doch je mehr ich mich zu informieren trachte, desto weniger begreife ich. Das einzige, was ich begreife, ist, daß ich mich mehr informieren müßte. Und wann soll ich bitte sehr malen? Und wie soll man bitte schön Ruhe bewahren – denn nichts anderes tut Malerei, die diesen Namen verdient: sie bewahrt die Ruhe – in einer derart bewegten Zeit? Wie Ruhe finden, wenn man nicht zur Ruhe kommt?

Doch der Maler kann gar nicht zur Ruhe kommen. Er steht im Abseits, Ruhe aber herrscht nur im Zentrum des Taifuns. Und wo könnte es ruhiger sein als in jenen Hochhäusern der Bürostadt Niederrad, an denen ich nie ohne Neid vorbeifahren kann, seit mir Almut die Geschichte vom Kampf zwischen Scheibletten-Körner und Käseecken-Hartmann erzählt hat. Beide waren Produktmanager der Firma Krafft, doch das Schicksal hatte sie an verschiedene Fronten gestellt. Da kämpften sie nun. Hartmann für das Überleben der traditionsreichen Käseecken, die jahrelang das tragfähigste Käsebein des Hauses gewesen waren, bis veränderte Verbrauchergewohnheiten den Siegeszug der Scheibletten – einzeln der Folie entnehmbar, da getrennt abgepackt – eingeleitet hatten. Ein Siegeszug, den Körner nach Kräften zu unterstützen und zu beschleunigen trachtete. Denn Körner kämpfte für das Neue, in einer Welt des Wandels, so Körner – doch was sauge ich mir aus den Fingern? Ich will nicht mehr lügen, natürlich beneide ich die beiden Deppen überhaupt nicht. Wenn ich mir freilich vorstelle, wie sie abends nach Hause kommen und ihren Frauen sagen können: »Na, heute hab ich’s dem Körner – respektive Hartmann – aber gegeben. Ich bin während der Vertretertagung einfach aufgestanden und habe mit Hilfe des Overhead-Projektors anhand von Schautafeln ein für alle Mal klargestellt …«

»Ach Liebling, das ist ja herrlich!«

»Nicht wahr? Das muß gefeiert werden!«

»O ja, Liebling, aber wie?«

»Nun – erst ein Gläschen Schampus, dann wird etwas Extrafeines wegschnabuliert und schließlich … na, du weißt schon!«

»Ach Liebling!«

Und wenn ich mir dann ausmale, wie diese Ignoranten herrlich kopulieren, bis der Frust des Tages sich in eitel Orgasmus auflöst, während der Maler …

Der Maler hat keine natürlichen Feinde. Ihm stellen sich keine festumrissenen Gegner in den Weg. Gewiß, es gibt die Kollegen, die Händler, die Kritiker, doch sie alle können keinen Körner – respektive Hartmann – ersetzen. Für letztere zählt nur die Gegenwart. Sie siegen entweder hier und heute oder sie gehen für immer unter. Der Maler aber denkt an van Gogh, der zu Lebzeiten ein einziges Bild verkauft hat, und fühlt sich noch in seiner Mission bestätigt, wenn er Absagen, schlechte Kritiken oder die Erfolge anderer Maler einstecken muß. Vereinsamt durch seinen selbstgewählten Auftrag, gelähmt durch seine selbstverschuldete Unkenntnis, verstrickt in sein selbstgesponnenes Lügensystem ist der Maler um so schutzloser dem Biß der Spinne »Erinnerung« ausgesetzt, die ihn stets anfällt, kaum daß er damit beginnt, seine Tuben auszudrücken:

 

– Quälst du mich schon wieder, Spinne Erinnerung?

– Wer spricht von Quälen … Ich schau dir doch nur zu, du Dummerchen. Was drückst du denn da für eine Tube aus?

– Grüne Erde.

– So, so – Grüne Erde. Ähnelt ein wenig der Farbe jener Strumpfhose, findest du nicht?

– Welcher Strumpfhose?

– Welcher Strumpfhose, welcher Strumpfhose? Stell dich nicht so an! Welcher Strumpfhose?!

– Ja! Welcher Strumpfhose!

– Ich rede natürlich von Waltrauts Strumpfhose.

– Laß mich in Ruhe mit deiner Waltraut.

– Deiner Waltraut immer noch. Denn du hast ja auch versucht, ihr die Strumpfhose auszuziehen.

– Ich? Die Strumpfhose?

– Na gut. Dann muß ich wohl deutlicher werden. Wer wollte sich an dem armen Mädchen vergehen – du oder ich?

– Vergehen! Armes Mädchen! Sie hat doch selber angefangen! Sie hatte mich dazu aufgefordert, mit mir noch ihr Meerschweinchen anzuschauen.

– Ach so … Wir haben uns also um zwei Uhr nachts auf einmal für Meerschweinchen interessiert, wie? Verhaltensforschung, was? Auf Konrad Lorenz’ Spuren, oder? Mit dem feinen Unterschied, daß dem die Graugänse hinterherlaufen, während du der Blaugans hinterhergestiefelt bist – nicht wahr?

– Welcher Blaugans denn?

– Komm, jetzt langt’s mir aber. Hast du ein stockbetrunkenes Mädchen zum Zwecke der fleischlichen Vereinigung abgeschleppt – ja oder nein?

– Ich hatte etwas getrunken. Ich hatte einen schweren Tag hinter mir. Ich wollte eigentlich

– Du warst noch Herr deiner Sinne. Sie aber war randvoll. Und du wußtest das. Darauf hattest du ja deinen ganzen widerlichen Plan aufgebaut.

– Plan? Als ich ins Lokal kam, wollte ich lediglich

– Aha! Der große Verhaltensforscher läuft also noch um elf Uhr nachts in der Kneipe ein, um Blaugänse abzuschleppen.

– Ich wurde abgeschleppt!

– Ach ja? Bubi wurde abbetleppt, um noch das droße twazze Meertweinchen tu treicheln? Du hast dich einen Dreck um das Meerschweinchen gekümmert. Nicht einmal angeschaut hast du es, du geiler Patron!

– Sie war geil.

– So geil, daß sie in deinen Armen einschlief, stimmt’s?

– Nicht gleich. Erst hat sie noch

– Erspar mir bitte deine pornographischen Fantasien. Sie schlief sogleich und sofort in deinen verlangenden Armen ein, worauf du versucht hast, einer Schlafenden

– Hör auf!

– Einer Schlafenden die grüne Strumpfhose abzustreifen. Einer Schlafenden!

– Na ja … Sie war nicht mehr die wachste …

– Sie schnarchte bereits, o du mein Beglücker der Frauen. Und du hast es nur ihrer endgültigen Hingelagertheit, die nicht von dieser Welt war, zu verdanken, daß dein Plan, der schwersten aller Schlafenden die Strumpfhose abzustreifen, um dich sodann an einer Schlafenden

– Gib endlich Ruhe!

Die Spinne aber duckt sich, ihre acht Beinchen zittern vor Angriffslust, gleich wird sie vorschnellen.

 

So kann man nicht malen. Der Tropfen Grüne Erde, den ich ausgedrückt habe, vertrocknet auf dem Malteller, zusammen mit den anderen Farbtupfern, die ich am Tellerrand aufgereiht hatte: Titanweiß, Casslerbraun, Style de grain brun, Umbra grünlich, Umbra gebrannt, Krapplack, Ultramarin, Königsblau dunkel, Permanentrot, Neapelgelb rötlich, Neapelgelb hell, Gebrannte Siena, Lichter Ocker und Kadmiumgelb, das ich allerdings fast nie benutze. Die Farbtropfen trocknen unterschiedlich rasch ein, die Haut des grünlichen Umbra ist bereits nach einem Tag so fest, daß ich es wieder abkratzen und neu auftragen müßte, wollte ich weitermalen. Doch das kann ich ja gar nicht. Durch das Atelier gehe ich schnell, fast gehetzt, in der Ecke sitzt noch immer die Spinne, die noch immer ihre Beißer putzt. Oder schon wieder?

 

– Hör zu – vergessen wir doch die dumme grüne Strumpfhose! Fragen wir lieber: Wer von uns hält im Nachtkampf das hessische Bergland, den Spessart, den Odenwald und das Fichtelgebirge? Du vielleicht?

 

Was faselte sie da?

 

– Und was geschieht, wenn der Gegner mit starken Kräften durch die Wälder und Ortschaften vorgeht?

 

Der Gegner? Welcher Gegner denn?

 

– Sind wir heute gewillt, das bedeckte Gelände ausreichend zu verteidigen?

 

Woher kannte ich diese Fragen?

 

– Wer aber säubert dann die ausgedehnten Waldzonen der Heide, aus denen der Gegner

 

Da endlich erinnerte ich mich. Das Nachrichtenmagazin! Natürlich! Wissensdurst und Informationshunger hatten mich am Montag wieder einmal zugreifen lassen. Schon als ich es tat, wußte ich, daß ich damit einen schweren Fehler beging. Mein zweiter Fehler war es gewesen, das unnatürlich aufgedunsene Heft überhaupt aufzuschlagen. Drittens hätte ich den Aufsatz mit der Überschrift »Wer wirft den Feind aus der Rhön? Von Bundeswehrgeneral Franz Uhle-Wettler« sogleich überblättern müssen. Viertens hätte ich spätestens bei dem Satz »Wer kämpft die Knickhalslandschaft Schleswig-Holsteins und die zahlreichen Dörfer, Städte, Fabriken und Industriezonen aller deutschen Landschaften frei?« die Lektüre einstellen müssen. Ich hätte fünftens

 

– Das alles hörst du wohl nicht so gerne?

 

Natürlich hatte ich es nicht gerne gehört. Wer läßt sich schon gerne von einem offensichtlich Wahnsinnigen, den er, der Lesende, auch noch mit seinen Steuergeldern ins Brot setzt, Satz um Satz in seinen ausweglosen Wahn hineinlocken? Wer stößt sich schon gerne den Kopf blutig an Fragen wie »Was geschieht also, wenn der Gegner die Engen, die keine Engen sind, umgeht, spätestens wenn er sich am frontalen Vorgehen durch die ›Enge‹ gehindert sieht?« Wer

 

– Komm, komm. Tu doch nicht so, als ob dich der Inhalt der Sätze auch nur einen Augenblick lang betroffen gemacht hätte! Gib doch zu, daß du während der Lektüre überhaupt nicht in der Lage warst, ganze Sätze wahrzunehmen. Daß deine Gedanken ganz woanders weilten! Daß dich lediglich einzelne Wörter schreckten, bestimmte Wörter, jene Wörter

– Welche Wörter?

– Nun: Nachtkampf … Waldstück … Enge … durchstoßen … hineingehen …

 

Welch unqualifiziertes Geraune! Wie schwer ihr das Reden zu fallen schien! Wie still es auf einmal in dem Atelier wurde! So still, daß ich das erste Mal seit Tagen wieder etwas sah. Bilder. Da standen ja Bilder! Eigentlich gar nicht so schlecht, dieses angefangene Bild dort. Schon ganz schön, wie sich die sonnenbeschienene Mauer langsam rundete, um in der rechten Bildhälfte in eine blaugraue, stille Schattenzone überzugehen. Ein Jahr war es her, daß ich den ersten Pinselstrich getan hatte. Was hinderte mich eigentlich, noch heute, nein, jetzt gleich da weiterzumalen, wo ich den Pinsel vor einem halben Jahr hatte sinken lassen? Warum tat ich es nicht? Weshalb wollte ich unbedingt recht behalten?

 

– Du irrst. Was dieser General da zusammenfantasiert, betrifft mich sehr wohl. Wenn er etwa schreibt: »Mit Rücksicht auf die Bevölkerung werden wir das Gefecht um die großen Ballungsräume zu vermeiden suchen«, dann klingt das im ersten Moment für den Bewohner eines großen Ballungsraumes – und Frankfurt ist ein großer Ballungsraum – geradezu beruhigend, nicht wahr?

– Wie? Was? Ach ja? Doch, doch!

 

Diese Unsicherheit! Diese Deckungsfehler! Jetzt war sie zu packen, und ich zögerte nicht, blitzschnell nachzuhaken.

 

– Ich bin noch nicht fertig, Verehrteste! »Aber das Aussparen hat seine Grenzen. Was soll eine Brigade tun …«

– Eine Brigade? Welche Brigade denn?

 

Oh, schon lange hatte ich sie nicht mehr derart schwach und unaufmerksam erlebt. Ich glänzte vor Freude, als ich fortfuhr:

 

– »Was soll eine Brigade tun, die um Städte oder Industriezonen von der Größe Wolfsburgs und Peines, des Volkswagenwerks, Fuldas, Göttingens, Schweinfurts oder Hofs kämpfen soll?«

 

Ich machte eine Pause und sagte dann mit Nachdruck:

 

– Göttingen … Denn da wohnt nämlich zufällig meine Mutter …

 

Jetzt war sie ganz klein und runzlig. Ja – gab es sie überhaupt noch? War sie nicht lediglich ein eingetrocknetes Häufchen Farbe, das ich jederzeit mit dem Palettenmesser abkratzen konnte, sofern mir der Sinn danach stand?

 

– Red nicht so einen Stuß! schrie das vermeintliche Häufchen Farbe plötzlich. Und hör endlich damit auf, von deiner gottverdammten Impotenz abzulenken!

 

Jetzt hatte ich sie!

 

– Interessant! Erst bin ich ein geiler Patron und jetzt impotent!

– Sehr interessant! Ja, du bist ein geiler Patron und impotent. Denk nur an den Abend nach der Lesung!

– Ich denk nicht daran!

– Natürlich denkst du daran. Ständig denkst du daran. Sie wollte, doch du

– Ich wollte ausnahmsweise mal nicht. Das wird doch wohl noch erlaubt sein!

– War es nicht so, daß du nicht konntest?

– Ich konnte sehr wohl. Doch ich möchte meinen Gedankengang fortsetzen, wenn es recht ist: »Mit dem Terminus bewegliche Gefechtsführung lassen sich diese Fragen nicht ausreichend beantworten. Der Terminus würde sonst zur Phrase …«

– Selber Phrase! Wo war denn deine bewegliche Gefechtsführung, als du sie einmal brauchtest? He?

– Hör mal – es gibt nicht nur den Beischlaf. Es gibt auch so etwas wie Zärtlichkeit. Einfach daliegen … einander anfassen … einander streicheln … miteinander reden …

– Und trotz des ganzen Geschleimes keinen hochkriegen – war es nicht so?

– Jeder kann mal impotent sein. Leonardo da Vinci war es sogar dauernd, glaubt man seinen Biographen. Oder Menzel. Oder denk an Max Frisch … »Impotent (das erste Mal) mit fünfunddreißig Jahren …« Daran ist nichts Ungewöhnliches! Das passiert und legt sich dann wieder.

– Bei Max Frisch. Der hat noch mit sechzig Jahren einer Studentin beigewohnt.

– Nein, nein – ich sprach von mir.

– Und was war nach der Lesung? Na?

 

So spielen wir uns die Bälle zu, indes die Wand des gegenüberliegenden Hauses aufstrahlt und die Schatten der Simse länger werden. Ein Freundschaftsspiel, nichts weiter. Sexuelle Bedürfnisse und Ängste einzugestehen ist ja heutzutage keine Schande mehr, im Gegenteil. Zumal sich meine Probleme keineswegs von den Durchschnittsproblemen des Durchschnittsmannes unterscheiden, das ist belegbar. Warum aber hatte mich das Eingeständnis des alten Herrn Frisch so betroffen gemacht? Weshalb war mir von der ganzen »Montauk«-Lektüre kein anderer Satz wortwörtlich in Erinnerung geblieben? Und wieso entpuppten sich Franz Uhle-Wettlers Wahnvorstellungen beim nochmaligen Durchlesen in der Tat als der kaum kaschierte Klagegesang des Impotenten? Als Lamento, das um so obszöner wirkte, je sachbezogener der Panzerbrigadenkommandeur und Nato-Planungschef daherzureden glaubte?

 

»Die Panzerabwehrlenkrakete (!) aber ist im Wald (!) nicht einsetzbar. Es bleibt nur die 20 mm (!) Kanone des Marder(!) … In anderen Teilen Deutschlands aber würde eine solche Taktik zwingen, in die bedeckten Räume (!) hineinzugehen (!). Hierzu aber sind unsere Panzergrenadierverbände viel zu schwach (!) … Der ganze rückwärtige (?) Apparat (!), der Schaft (!) des Speers (!), zu dem wir unsere besten Wehrpflichtigen einberufen, verliert Sinn und Daseinsberechtigung, wenn die Spitze (!) des Speeres stumpf(!) bleibt …«

 

Eigentlich müßte ich aufstehen und dafür sorgen, daß dieser Mann sofort in ärztliche Behandlung kommt, anstatt sich im Nato-Hauptquartier, angestachelt von ebenso unzurechnungsfähigen Leidensgefährten, immer weiter in seine selbstzerstörerischen und allgemeingefährlichen Fantasien hineinzusteigern. Doch was wäre damit gewonnen, einen einzigen zu retten, solange die Krankheitsherde und Zentren des Wahnsinns weiterbestehen? Und wo war die Waffe, die etwas gegen dieses Heer mörderisch rotierender Windmühlen ausrichten könnte?

Ich musterte rasch meinen Waffenschrank – ach, auch meine Speere waren stumpf, aber waren das überhaupt Speere? Diese Schleudern ohne Gummi, diese verstopften Blasrohre? Waren es überhaupt Waffen? Malen, Zeichnen, Schreiben – welch steinzeitliche Ausrüstung! Welch aussichtsloser Kampf, da doch der unfaßbare Gegner millionenfach Keime des Irrsinns ausschied, die jedermann infizierten, der ihm zu nahe kam, selbst den Widerstandsfähigsten. Ich aber war bereits geschwächt, brauchte eigentlich dringend Erholung, mußte schleunigst von hier weg. Ich rief dann trotzdem bei der Redaktion an: Es gehe um diesen Beitrag von Franz Uhle-Wettler. Ob noch Platz sei für einen kurzen Kommentar? Der Redakteur, der die Ausführungen des Generals ebenfalls gelesen hatte – »Das is ja ’n Ding, was?« –, winkte bedauernd ab. Das Heft sei bereits im Druck, sagte er und fragte höflich, ob man damit rechnen könne, mich am späteren Abend im Lokal zu sehen. Die Aussicht, dort auch die falschen Freunde wiederzusehen, ließ mich diese Frage sofort bejahen. Ob Uhle-Wettler nicht auch noch für das nächste Heft was hergebe, wollte der Redakteur abschließend wissen, doch ich wehrte verstört ab. So lange wolle ich nicht vorausplanen, ich benötigte eigentlich dringend Erholung, müßte schleunigst von hier weg, hätte genau gesehen gar nicht die erforderliche Widerstandskraft, mich auch noch um General Uhle-Wettler zu kümmern. Sollte der doch selber sehen, wie er klarkam.

Kaum hatte ich den Hörer aufgelegt, da begann im Dritten Programm des Hessischen Rundfunks die allabendliche Sendung für italienische Gastarbeiter in der Bundesrepublik. Die Wand des gegenüberliegenden Hauses war nun eine einzige Pracht. Die tiefstehende Junisonne machte alles zu Gold und ließ auch noch den geringsten Vorsprung einen nicht enden wollenden blauen Pfeil werfen. Ich wandte betroffen das Gesicht ab und hörte der Nachrichtensprecherin zu.

Es waren wundervolle Nachrichten. Vieles von dem, was die Sprecherin ebenso geschwind wie melodisch vortrug, ging mich nichts an, da es sich auf undurchschaubare inneritalienische Zustände bezog. Manches verstand ich nur zur Hälfte, da mir die Worte fehlten. Wieder andere Vorgänge begriff ich zwar, doch milderten die schönen, fremden Laute das Entsetzliche, das da zur Sprache kam. So ließ sich vermittelte Welt gerade noch ertragen, so wohlklingend, so entrückt, so verschleiert. Und gab es nicht ein Land, in dem die Rundfunkstationen nicht erst um 19 Uhr, nein den ganzen Tag über derart hilfreich verrätselte Nachrichten sendeten? Ja, das gab es. Flüchten oder Standhalten? Ja, was wohl.

Ach, daß doch der wahre Freund ins Zimmer träte und mir sagte, was ich zu tun habe. Doch wie soll er den Wall der falschen Freunde durchbrechen, die mich dichtgedrängt umstehen? Wie soll er sich bemerkbar machen in dem Geschrei, das mir Hören und Sehen verschlägt? Wie kann er mir Rat geben, wenn alle etwas von mir wollen?

 

– Wer will etwas von dir? Niemand will etwas von dir. Tagelang starrst du auf das Telefon in der Hoffnung, jemand wolle etwas von dir.

– Das ist nicht wahr! Gerade heute wollte wieder jemand etwas von mir. Gerade heute!

– Du meinst doch hoffentlich nicht Direktor Gottfried Pratschke aus A-1060 Wien, Hirschengasse 9?

– Jawohl! Ich meine Direktor Gottfried Pratschke aus A-1060 Wien, Hirschengasse 9!

– Direktor Pratschke! Jetzt kommt dieser Schlappschwanz auch noch mit Direktor Pratschke!

 

Was sollte dieser Hohn? Hatte mich Direktor Pratschke heute morgen nicht schon ausreichend beleidigt?

»Sehr geehrter Herr Gernhardt,

ich weiß, daß auch Sie zu den in dieser Epoche selten gewordenen Menschen zählen, die um die Verbreitung guter Ideen vor allem durch das ›verdichtete‹ Wort bemüht sind« hatte er mir in einem Vordruck mitgeteilt, um fortzufahren:

»In dieser sensationshungrigen, nach rein materialistischen Grundsätzen ausgerichteten Epoche, in der die meisten Verlage nur die für einen normalen Menschen kaum verständlichen Werke abwegig Veranlagter fördern, muß endlich wieder eine Literatur erscheinen, die nicht neue Wunden schlägt, vor allem aber wieder gute Gedanken verbreitet.«

Und dann hatte er sich bereit erklärt, eines meiner unveröffentlichten Werke für DM 900,– Spesen plus einer Garantieabnahme von 200 Exemplaren gleich einer Vorauszahlung von etwa DM 5000,– in seine Buchreihe die stillen im lande aufzunehmen:

»Gerne höre ich recht bald von Ihnen und freue mich auf Ihr Manuskript. Bis dahin mit freundlichen Grüßen Ihr sehr ergebener

Direktor Gottfried Pratschke

A-1060 Wien, Hirschengasse 9«

 

– Na und? Ist doch sehr aufmerksam von dem Herr Direktor.

– Aufmerksam? Ja, spürst du die in dem Brief enthaltene Beleidigung denn gar nicht?

– Beleidigung? Welche Beleidigung denn?

– Die Beleidigung, die darin liegt

– Worin liegt?

– Einen Maler um ein Manuskript anzugehen?

– Welchen Maler?

– Welchen Maler wohl?

– Wenn du ein Maler sein willst, dann male gefälligst. Malerei kommt vom Malen. Dein Gerede ist widerwärtig.

 

»Ja, es ist widerwärtig, gütiger Vater, Ihr seht vor Euch den Widerwärtigsten aller Sterblichen. Ich suche Frieden, doch alles, was ich anfasse, gerät mir zu Lärm und Abscheulichkeit. Neulich beim Tanken beispielsweise: Ich hatte an der BP-Tankstelle mal wieder für dreißig, können auch vierzig Mark gewesen sein, getankt. Kurz zuvor aber hatten, das muß ich noch erzählen, Tauben mein Auto verunreinigt, Almut war dabei, den Taubendreck abzuwaschen, läßt man ihn trocknen, geht er nie wieder ab, heiliger Vater, und selbst wenn man ihn abkriegt, bleiben Lackschäden zurück, der Lack wird stumpf, und mein Auto, halten zu Ehren, liegt mir nun mal am Herzen, bin halt so gebaut, wie man zu sagen pflegt, immer geradeaus …«

»Du und geradeaus!« Der falsche Freund neben mir litt. Ich sah es ihm an, wie er litt, und ich litt mit ihm. Aber ich muß in solchen Situationen weiterreden, bin zwar meist feinfühlig wie selten einer, manchmal aber sticht mich ganz einfach der Haber, wie es so schön heißt – »Nicht schon wieder!« In die Augen des falschen Freundes trat ein gehetzter Zug, doch er selbst hatte mich schließlich zum Staretz gelockt. Ohne ihn hätte ich jetzt ganz ruhig hinter meiner Staffelei gesessen und nicht in diesem Lokal, am Tisch des Bärtigen, dem ich, da ich nun einmal hier saß, auch partout gefallen wollte, bin halt gefallsüchtig, kann nichts dafür, rede den Leuten nach dem Munde, wie man – In diesem Augenblick hätte der falsche Freund sich nicht endgültig abwenden und der Staretz nicht so gütig dreinblicken dürfen, vielleicht hätte ich die Kurve noch gekriegt, doch so haspelte ich eilfertig weiter: »Almut also wäscht den Taubendreck ab, ich zahle, da sagt die Tankwartsfrau doch tatsächlich: Sie – der Schwamm ist aber nur fürs Fensterputzen da, nein, schlimmer noch, sie sagte: ›Für die Frontscheibenreinigung‹, und bei diesem Wort sah ich schon rot, ›Die Wagenwäsche mit ihm hat zu unterbleiben.‹ Ich: Was kostet der Schwamm? Sie: Ich will Ihr Geld nicht. Sie will mein Geld nicht, verehrungswürdiger Vater, sie, der ich im Lauf der Jahre schon tausende, ach was, zehntausende rübergereicht habe, tank dort doch schon seit zehn Jahren, bin sozusagen Stammkunde. Mich sehen Sie hier sobald nicht wieder, sage ich, gehe raus, da kommt mir der Tankwart nach. Ich sage zu Almut, nein, vorher, das muß ich noch kurz einschieben …«

Bei diesen Worten schien auch der Bärtige die Geduld zu verlieren, er tuschelte mit einem jüngeren Mann, der bis zu diesem Moment schweigend neben ihm gesessen hatte, ein Umstand, der mich freilich nicht zum Einhalten, sondern zu noch flinkerem Fabulieren veranlaßte: »Der Tankwart also macht geltend, er habe dem Wasser für DM 1,20 Reinigungsmittel zugesetzt, und wenn da jeder kommen würde …«

Nun kann ich mir selber kaum noch zuhören, warum muß ich auch noch die Geschichte von dem Mercedes einflechten, den ich am Vortag gerammt hatte, nicht gerammt, ich war ganz langsam und sehr geistesabwesend auf ihn aufgefahren … »Da steigt der Kerl also aus und sagt: Wenn Sie mir so kommen – ich hatte nämlich überhaupt keinen Schaden feststellen können –, wenn Sie mir so kommen, dann rufe ich jetzt erst mal die Polizei. Und schuld daran, gütigster Vater, war der Besuch, den ich bei den Winckelmanns gemacht hatte, ich war ganz friedlich hingefahren, doch als Frau Winckelmann auf irgendein bräsig wucherndes Grünzeug zeigte und dazu erklärte ›So etwas wächst hier ganz von selbst‹, da schlugen bei mir schon einige Sicherungen durch, das können Sie mir glauben, und als sie dann noch den Tintoretto auflegte und triumphierend sagte, bei dieser Musik schalte sie das Telefon regelmäßig auf Auftragsdienst, sie sei nun mal so frei, sich bei einer solchen Musik nicht stören lassen zu wollen, selbst von den besten Freunden nicht, wie ich diese allen gesellschaftlichen Anstandsregeln widersprechende Kühnheit denn fände, na? da sah ich …«

Aber nun fuhren sie alle hoch, der falsche Freund ganz grün im Gesicht, der Staretz und sein Jünger: Tintoretto? Das sei doch wohl ein Maler?

»Ein Maler, natürlich! Hab ihn nur so aus Pikanterie hinzugefaselt. Wollt sehen, ob mir überhaupt noch jemand zuhört …«

Das war der Moment, in dem sich meine Zuhörer endgültig von mir abwandten. Ich prüfte, ob ich mich bei einem anderen Tisch anbiedern konnte, hier war wohl nichts mehr zu holen, irgendwie schien ich verspielt zu haben. Der Staretz fuhr sich mit der einen Hand durch den Bart, mit der anderen winkte er der Kellnerin, um einen weiteren gespritzten Apfelwein zu ordern. Dann begann er mit der Tischrunde irgendwelche Geschäftigkeiten zu erörtern, um einen Umzug ging es oder einen Transport, nein, um einen Messestand für die Euroback oder die Interstoff, oder war es die Anuga oder gar die Buchmesse? Gleichviel – es ging um Fakten, und von denen wollte ich an diesem Abend nichts mehr hören, ich hielt es mehr mit den Meinungen, von denen hatte ich eine Menge, und sie ödeten mich alle gleicherweise an. Daher wagte ich es auch nicht, unbedacht den Tisch zu wechseln. Ich hätte mich natürlich zu den beiden Fernsehmenschen vom Kinderprogramm setzen und in den üblichen Unfug zu dem Thema »Was ist kindgerecht« einstimmen können:

»Es ist ein großer Irrtum zu glauben, man dürfe es sich leicht machen, wenn man für Kinder arbeitet …«

»Genau! Wer für Kinder arbeitet, hat eine ganz besonders schwere Verantwortung. Leichtes Arbeiten – von wegen! Grade für Kinder muß man sich besonders anstrengen!«

»Richtig! Kästner hat einmal gesagt: ›Für Kinder arbeite ich mit dem gleichen Einsatz wie für Erwachsene‹ …«

»Mit dem Unterschied …«

»Jawohl! ›Mit dem Unterschied, daß ich mir doppelte Mühe gebe!‹ Doppelte! So sieht das nämlich aus!«

Und dabei würden diese Troglodyten schmerzlich ihre Augen verdrehen, wohl wissend, daß sie für immer ins Nachmittagsprogramm verbannt waren und keine Sau auch nur zur Kenntnis nahm, ob sie sich doppelte oder dreifache Mühe gaben, ausgenommen einige Kollegen, die in der gleichen Sackgasse gelandet waren und nun verzweifelt versuchten, ihrem völligen menschlichen und beruflichen Bankrott durch Meetings, Intrigen und windelweiche Theorien noch irgendeinen Glanz zu verleihen. Indes die Kinder kekseknabbernd die Fernsteuerung bedienten und auf das Abendprogramm warteten, auf Kojak oder Derrick oder den Kommissar oder wie diese Serien zur Zeit alle heißen mögen, ich habe nämlich keinen Fernseher.

 

Wohin also? Weshalb saß ich überhaupt hier? Warum starrte ich angeekelt auf das grauenerregende Wandbild, das angeblich »Venezia« darstellte? Wieso wandte ich nicht wenigstens den Kopf?

Eine gute Frage, eine berechtigte Frage, eine Frage, die ich nicht versäumen werde, sogleich auf das hundertprozentigste zu beantworten: Weil an der gegenüberliegenden Wand ein noch schrecklicheres Wandbild hing, »Königsberg«, ebenfalls ein Werk des Herrn R. Weigl. Der hatte mächtig auf seiner riesigen Palette herumgefuhrwerkt, auf meinem kleinen Malteller aber vertrockneten die Farben. Selbst der Krapplackklecks mußte nun schon ganz hart sein, und die Lacke trocknen am langsamsten.

Für einen Moment erwog ich, mich zum Adornoschüler an die Theke zu stellen, ich kenne zwei Adorno-Zitate, die kein Adornoschüler kennt – jedenfalls keiner, den ich kenne –, zwei Zitate, mit denen ich stets Ehre einlege und Gelächter errege. (In dem einen geht es darum, daß Adorno den Pantoffel als emanzipatorisches Schuhwerk feiert, da man ihn überstreifen kann, ohne sich zu bücken; in dem anderen datiert er den Verfall des Hotelwesens von dem Zeitpunkt an, an dem in der Antike die bis dahin traditionelle Einheit von Hotel und Bordell sich auflöste …)

 

– Kannst du denn nicht wenigstens für fünf Minuten still sein?

– Du hast recht. Ich laß es. Mag’s ja selber nicht mehr hören. Doch da du mir ständig Gewissensfragen stellst – erlaubst du auch einmal eine Gegenfrage?

– Nur zu … nur zu!

 

Viel Zeit blieb mir nicht. Der Staretz und die Seinen hatten zwar noch immer ihre Köpfe zusammengesteckt, doch eben betraten der Kunststudent und seine blutjunge Freundin das Lokal, schauten sich um und marschierten auf unseren Tisch los. Gleich würde es mit der Ruhe endgültig vorbei sein, ich mußte mich beeilen:

 

– Sag mal, wieso merkt hier eigentlich niemand, daß ein Prinz unter ihnen sitzt? Daß ich brenne? Daß ich herabgestiegen bin von den Bergen? Warum ist da keiner, der mich erkennt?

– Was Prinz? Wer brennt?

– Ich … Ich bin doch schließlich ein Künstler.

– Du? Weißt du denn überhaupt, was es bedeutet, ein Künstler zu sein?

 

O ja, ich wußte es. Es bedeutete Einsamkeit, Entsagung, Mißachtung, Leid sowie Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Und was kam bei der ganzen Plackerei heraus? Kunstwerke. Ich aber wollte leben.

– Ich will leben! Ich will tanzen. Ich will Chicachaca! Ich – Was willst du?

 

Natürlich wollte ich nichts dergleichen. Ich wollte noch einen doppelten Korn. Ich wollte meine Ruhe. Ich wollte endlich einmal als der wahrgenommen werden, der ich sein könnte, und endlich einmal nicht als der, der ich war. War das etwa zuviel verlangt?

 

– Woher sollen die Leute denn wissen, wer du sein könntest?

– Na, wer das nicht spürt, der kann mir aber leid tun!

– Peter Weiss scheint ja wohl nichts gespürt zu haben.

– Peter Weiss? Welcher Peter Weiss denn?

 

Daß sie mir damit kam, war verabscheuungswürdig, ja unfair. Ich hatte den Kulturbetrieb schließlich immer gemieden. War nur widerstrebend zum Geburtstag der Lektorin gegangen …

 

– Du standst sofort auf der Matte, kaum daß sie dich eingeladen hatte.

– Stand ich nicht. Ich stand die ganze Zeit am kalten Büfett, ohne mich unter die Feiernden zu mengen. Lehnte es sogar ab, Peter Hamm vorgestellt zu werden und

– Wolltest aber unbedingt Peter Weiss vorgestellt werden!

– Wollte ich nicht! Die Lektorin wollte mich ihm vorstellen, ausgerechnet in dem Moment, in dem er sich in Begleitung des Verlegers zum Gehen wandte. Sie sagte: Herr Weiss, das ist der Herr Gernhardt, der mit seiner Frau zusammen immer diese schönen Kinderbücher macht.

– Und Peter Weiss, in dessen Augen die schiere Panik aufglomm

– Nichts glomm. Peter Weiss hielt sich bewundernswert ruhig, er gab mir die Hand, ich sagte ›Guten Abend, Herr Weiss‹, und er brummte kurz im Vorbeigehen, ganz im Banne des überirdisch braunen und mächtig davonschreitenden Verlegers. Ich hatte vollstes Verständnis für ihn. Was sollte er auch sagen? Wer bin ich schon?

– Ich denke, du bist ein Prinz?

– Ja richtig! Ein Prinz bin ich. Ich! Und nicht dieser Peter Weiss, bei dem es nicht mal bis zum Maler gelangt hat!

 

Borges fiel mir ein und seine ungemein scharfsichtige Feststellung: »Wie alle Künstler maß er die Fähigkeiten der anderen an dem, was sie geleistet hatten – erwartete aber, daß die anderen ihn nach dem beurteilen sollten, was er ahnte oder plante.« Was wußte ich eigentlich von den Plänen eines Peter Weiss? Wie ungerecht ich war! Wie gut mir meine Ungerechtigkeit tat. Für einen Moment spürte ich, wie die alte Kraft mir wieder den Brustkorb weitete. Sollten sie nur kommen! Alle beiß ich in den Bauch!

Während ich solch stärkenden Gedanken nachhing, hatte sich eine hochexplosive Mischung um unseren Tisch versammelt. Jetzt saßen da neben den bereits Erwähnten auch der Kunststudent und seine blutjunge Freundin, zwei Frauen, die das Wochenende im Vogelsberg verbracht hatten, ein durchreisender Lektor, der gerade aus der Spätvorstellung von »Tod in Venedig« kam, sowie der obligate Redakteur. Wie zu erwarten, geriet das Gespräch rasch in ein ungutes Fahrwasser. Der Kunststudent vereitelte geschickt den Versuch der beiden Frauen, etwas darüber zu erzählen, wie »toll« es gerade jetzt auf dem Lande sei, und begann rücksichtslos damit, seine Beziehung zu problematisieren: »Helga erwartet von mir Geborgenheit, während ich – gerade jetzt, nach der Geschichte mit Antje, meinen emotionalen Freiraum« – und schon hatte er die Frauen so weit, daß sie verständnisvoll nickten, ja ihm sogar mit Fragen zur Hand gingen, was ihn zu immer flegelhafteren Intimitäten ermutigte, während Helga, die es sichtlich genoß, im Mittelpunkt derart problematischer Vorgänge zu stehen, mir mit aufgerissenen Augen die ebenso rhetorische wie verworfene Frage stellte: »Ich bin nämlich erst achtzehn – findest du das schlimm?« Worauf ich mich brüsk ab- und dem links neben mir sitzenden Lektor zuwandte, den ich hilfesuchend fragte, wie er denn den Visconti gefunden habe. Freilich nur, um unvermittelt vom Regen in die Traufe zu kommen, da der Angesprochene mir auseinanderzusetzen begann, ihn interessierten Visconti und die ganze spätbürgerliche Kunst nicht, ihn interessiere ausschließlich, was dem streikenden Chemiearbeiter nütze.

Ob es dem was nütze, daß der Lektor nach der ohnehin späten Spätvorstellung auch noch seine mitternächtlichen Biere einwerfe, wollte ich wissen. Ob er nicht eigentlich schon längst ins Bett gehöre, da er doch sicher mit klarem Kopf und blitzwachen Äuglein zur traditionell in aller Frühe stattfindenden Revolution stoßen wolle. Und schon hatte ich den schönsten Streit vom Zaun gebrochen, meine Stimme wurde schrill und meine Hände zitterten – sieh nur: Sie zittern ja jetzt noch, wenn ich nur daran zurückdenke. Wie soll man da malen?

 

– Wollten wir uns nicht strikt und ständig an die Wahrheit halten?

– Ja! Wollten wir! Warum?

– Weshalb lügen wir dann schon wieder?

– Wer wir? Was lügen?

– Du lügen. Nicht der Lektor hatte dich aufgeregt, das Mädchen regte dich auf.

– Ich bin erst achtzehn – findest du das schlimm? Wen soll das nicht aufregen?

– Dich hat lediglich aufgeregt, daß du sie bereits in festen Händen wußtest. Du hättest jedes ihrer Worte gutgeheißen, hätte nur ein noch so matter Schimmer der Möglichkeit auch nonverbaler Kommunikation bestanden. Nicht was das junge Ding sagte, raubte dir die Ruhe, sondern daß es so ein junges Ding überhaupt gab. Du wärest

 

Nun stimmt es in der Tat, daß mich die sich rapide vermehrende Zahl junger Menschen beunruhigt. Wo kamen die eigentlich alle her? Einmal hatte ich sogar versucht, meine beunruhigenden Beobachtungen zu einem Text zusammenzufassen, der mit den Worten begann:

Eines Tages bemerkte G, daß ein Großteil der Menschen, denen er bei seinen Wegen durch die Stadt begegnete, jünger war als er selber. Das war nicht immer so gewesen, und anfangs hatte sich G geweigert, diesem Phänomen erhöhte Beachtung zu schenken. Vor mehr als zehn Jahren, in den späten 60ern, war er bereits einmal von einer Jugendbewegung in Frage gestellt worden. »Trau keinem über dreißig« – dieses Verdikt hatte ihn, den gerade über Dreißigjährigen, zwar geschmerzt, doch hatte er in der Folgezeit voller Genugtuung mitverfolgen können, wie die meisten Sprecher dieser Bewegung sich in rundliche Dozenten verwandelten, denen langsam die zu langen Haare ausgingen.

Zugleich hatte G, in den späten 60ern, für jene seiner Altersgenossen nur Verachtung übriggehabt, die gefahrlos und parasitär an der Bewegung teilzunehmen suchten, indem sie sich mit deren kulturrevolutionären Insignien schmückten. Für jene, die auf einmal in Jeans-Anzügen zur Arbeit kamen und Tom-Wesselmann-Siebdrucke an ihre Bürowand pinnten – die Che-Guevara-Posters trauten sie sich denn doch nicht mitzunehmen, mit denen dekorierten sie die Wohnlandschaften ihrer Altbauwohnungen, wo die Revolutionsikone neben solarisierten Beatles-Fotos, psychedelischen Peter-Max-Montagen und Meckseper-Grafiken hing, während auf dem Plattenteller Iron Butterfly lief, die Beziehung kriselte und ein trockener Weißwein entkorkt wurde: »Ja, die Statue da ist ein Berrocal, die Polizeimütze neben dem mexikanischen Lebensbaum hat uns ein Freund von der letzten Demo mitgebracht.«

Nein, von dieser Jugendbewegung hatte G keine Gefahr gedroht, doch die Jugendlichen, denen er nun begegnete, waren wirklich beunruhigend. Zwar wußte G, daß es sie geben mußte – irgendwer sollte ja den Generationenvertrag erfüllen und dereinst seine Rente sichern –, doch wenn G auf seine Vertragspartner stieß – und er stieß überall auf sie –, dann schienen diese sauberen Partner alles mögliche im Kopf zu haben, nur nicht seine Rente. Um die zu garantieren, hätten sie arbeiten, zumindest lernen müssen, sie aber zogen es offensichtlich vor, in glitzernden Jäckchen – woher hatten sie eigentlich diese glitzernden Jäckchen? – auf Motorräder gelehnt – hatte denn G in diesem Alter ein Motorrad gehabt? – ihren Kopf an gleichaltrigen Mädchen zu reiben – rieb G etwa seinen Kopf an gleichaltrigen Mädchen? Wobei er unter gleichaltrigen Mädchen Mädchen ihres Alters verstand, Mädchen seines Alters wären ja keine Mädchen mehr gewesen, und Mädchen sollten es schon sein, an denen er seinen Kopf rieb. Hätte man ihn nach seinen Vorstellungen vom Generationenvertrag gefragt, so hätte er wahrheitsgemäß und unter Berufung auf Italo Svevo antworten müssen, daß der sich darin erfülle, daß er, die Wange an ein gleichaltriges Mädchen gelehnt, im Austausch etwas von seiner Lebenserfahrung weitergäbe – und die umfaßte immerhin weitgespannte Themenbögen, von »Als ich das erste Mal in Italien war, seinerzeit 1953« bis hin zu »Man soll nicht alles durcheinander trinken«.

Damals, in den späten 60