7,99 €
Ein atemberaubender Thriller um Erniedrigung, Hilflosigkeit und Psychoterror
Eine Frau wird entführt, gedemütigt und langsam um den Verstand gebracht. Sie weiß, dass am Ende des qualvollen Wegs der Tod auf sie wartet: Nur durch einen Zufall kann sie ihrem Peiniger entkommen. Doch nach ihrer Rückkehr in die Welt der Lebenden muss sie feststellen, dass niemand ihre Geschichte glaubt. Der wahre Albtraum hat für sie gerade erst begonnen ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 556
Eine Frau wird entführt, gedemütigt und langsam um den Verstand gebracht. Sie weiß, dass am Ende des qualvollen Wegs der Tod auf sie wartet: Nur durch einen Zufall kann sie ihrem Peiniger entkommen. Doch nach ihrer Rückkehr in die Welt der Lebenden muss sie feststellen, dass niemand ihre Geschichte glaubt. Der wahre Albtraum hat für sie gerade erst begonnen ...
Nicci French - hinter diesem Namen verbirgt sich das Ehepaar Nicci Gerrard und Sean French. Seit über 20 Jahren sorgen sie mit ihren außergewöhnlichen Psychothrillern international für Furore und verkauften weltweit über 8 Mio. Exemplare. Besonders beliebt sind die Bände der Frieda-Klein-Serie. Die beiden leben in Südengland.
»Nicci French liefert präzise Innenansichten von Menschen in Gefahr und macht spürbar, was nackte Angst wirklich bedeutet.« Annabelle
Nicci French
In seiner Hand
Roman
Aus dem Englischen von Birgit Moosmüller
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2002 by Joint-Up Writing
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003
beim C. Bertelsmann Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: buerosued, München
unter Verwendung eines Motivs von
Arcangel.com/Joel Robison
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-24605-1V001
www.cbertelsmann.de
FÜR TIMMY UND EVE
Dunkelheit. Lange Zeit nichts als Dunkelheit. Augen auf und zu, auf und zu. Noch immer Dunkelheit, in mir und um mich herum.
Ich hatte geträumt. Wurde umhergeworfen in einem tosenden, schwarzen Meer. Eingekreist auf einem nächtlichen Berg. Ein Tier, das ich nicht sehen konnte, schnüffelte um mich herum. Ich spürte eine feuchte Nase auf meiner Haut. Wenn einem bewusst wird, dass man träumt, wacht man auf. Manchmal gleitet man sofort weiter in den nächsten Traum, aber wenn man aufwacht und sich nichts ändert, dann muss es sich wohl um die Realität handeln.
Dunkelheit. Eine Dunkelheit, in der etwas lauerte. Schmerz. Erst noch weit von ihr entfernt, kam er näher, wurde ein Teil von ihr. Ein Teil von mir. Ich war erfüllt von einem stechenden, quälenden Schmerz. Trotz der Dunkelheit konnte ich den Schmerz sehen. Gelbe, rote und blaue Blitze, die lautlos hinter meinen Augen explodierten.
Ich begann nach etwas zu suchen, ohne wirklich zu wissen, wonach. Ich wusste nicht, wo es steckte oder was es eigentlich war. Nightingale. Farthingale. Es kostete mich große Anstrengung, als müsste ich ein schweres Paket aus einem tiefen dunklen See hieven. Plötzlich hatte ich es. Abigail. Das klang vertraut. Mein Name war Abigail. Abbie. Tabbie. Abbie the Tabbie. Der andere Name war schwieriger. In meinem Kopf fehlten ein paar Dinge, und mein Nachname schien verloren gegangen zu sein. Ich erinnerte mich an eine Klassenliste. Auster, Bishop, Brown, Byrne, Cassini, Cole, Daley, Devereaux, Eve, Finch, Fry. Nein, halt. Zurück. Finch. Nein. Devereaux. Ja, der war es. Ein Reim fiel mir ein. Ein Reim aus einer längst vergangenen Zeit. Nicht Deverox wie Box. Nicht Deveruh wie Schuh. Sondern Devereaux wie Show. Abbie Devereaux. Ich klammerte mich an den Namen wie eine Ertrinkende, als hätte mir jemand bei stürmischem Seegang einen Rettungsring zugeworfen. Dabei spielte sich der Seegang hauptsächlich in meinem Kopf ab: Eine Schmerzwelle nach der anderen rollte herein und klatschte gegen die Innenseite meines Schädels. Ich schloss die Augen erneut, ließ meinen Namen los.
Alles lief ineinander. Alles existierte gleichzeitig. Wie lange dauerte das an? Minuten. Stunden. Dann aber begannen sich die Dinge wieder zu trennen und wie Gestalten aus einem Nebel zu lösen. Ich hatte einen metallischen Geschmack im Mund und einen metallischen Geruch in der Nase, aber der Geruch bekam rasch eine modrige Note, die mich an Gartenschuppen, Tunnel und Keller denken ließ, an feuchte, schmutzige, vergessene Orte.
Ich lauschte. Nichts als das Geräusch meines eigenen Atems, unnatürlich laut. Ich hielt die Luft an. Stille. Nur noch mein Herzschlag. War das überhaupt ein Geräusch oder bloß das Blut, das durch meinen Körper gepumpt wurde und von innen gegen meine Ohren drängte?
Ich fühlte mich unwohl. Mein Rücken schmerzte, ebenso mein Becken und meine Beine. Ich drehte mich um. Nein, ich drehte mich nicht um. Ich konnte mich gar nicht bewegen. Ich hob die Arme, als müsste ich etwas abwehren. Nein. Die Arme bewegten sich nicht. War ich gelähmt? Ich spürte meine Beine nicht. Meine Zehen. Ich konzentrierte mich ganz auf meine Zehen. Die linke große Zehe rieb an ihrer Nachbarzehe. Die rechte große Zehe tat es ihr nach. Kein Problem. Die Zehen ließen sich bewegen. Sie steckten in Socken. Ich trug keine Schuhe.
Meine Finger. Ich drückte sie nach unten. Die Fingerspitzen berührten etwas Raues. Zement oder Stein. War ich in einem Krankenhaus? Verletzt. Ein Unfall. Oder lag ich irgendwo und wartete darauf, gefunden zu werden? Ein Eisenbahnunglück. Das Wrack eines Zugs. Wrackteile auf mir. In einem Tunnel. Hilfe unterwegs. Ich versuchte mir den Zug ins Gedächtnis zu rufen, konnte mich aber nicht erinnern. Oder ein Flugzeug. Ein Auto. Spät nachts am Steuer eingeschlafen. Ich kannte das Gefühl, hatte mich oft genug selbst in den Arm gekniffen, um wach zu bleiben, das Fenster geöffnet, um kalte Luft hereinzulassen. Vielleicht hatte es diesmal nicht geklappt. Von der Straße abgekommen, eine Böschung hinuntergerast. Vielleicht hatte sich der Wagen überschlagen. Wann würde mich jemand als vermisst melden?
Ich durfte nicht warten, bis jemand kam und mich rettete. Womöglich würde ich vorher sterben, während ein paar Meter von mir entfernt die Leute zur Arbeit fuhren. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich aufzurappeln. Wenn ich bloß etwas sehen könnte. Kein Mond, keine Sterne. Vielleicht waren es bloß zwanzig Meter. Eine Böschung hinauf. Wenn ich meine Zehen spüren konnte, dann konnte ich mich auch bewegen. Als erstes musste ich mich umdrehen. Den Schmerz ignorieren. Ich versuchte es, aber diesmal spürte ich, dass mich etwas zurückhielt. Ich war festgebunden. An den Fußgelenken und auf Höhe der Oberschenkel. An den Unterarmen und knapp über den Ellbogen. Über der Brust. Zumindest konnte ich ein wenig den Kopf heben, wie beim kläglichen Versuch eines Situps. Da war noch etwas anderes. Nicht nur Dunkelheit. Es war dunkel, aber nicht nur das. Mein Kopf war bedeckt.
Ich versuchte, klar zu denken. Es musste einen Grund dafür geben. Gefängnisinsassen wurden festgebunden. Manchmal auch Krankenhauspatienten, um sie vor weiterem Schaden zu bewahren. Beispielsweise, wenn sie auf einem Rollbett zu einer Operation gefahren wurden. Ich hatte einen Unfall gehabt.
Einen Autounfall, das war am wahrscheinlichsten. Ernst, aber nicht lebensbedrohlich. Trotzdem konnte jede abrupte Bewegung gefährliche innere Blutungen zur Folge haben. Bestimmt wartete ich bloß auf die Schwester oder den Anästhesisten. Vielleicht hatte man mir das Narkosemittel schon verabreicht. Oder ein Mittel, das mich auf die Narkose vorbereitete. Daher die Lücken in meinem Gedächtnis. Seltsam, dass es so still war, aber man hört ja oft von Leuten, die im Krankenhaus stundenlang auf einem Rollbett herumliegen, bis ein Operationssaal frei wird.
Aber irgendetwas stimmte nicht. Ich schien nämlich nicht auf einem Rollbett zu liegen. Ganz zu schweigen von diesem Geruch nach Feuchtigkeit und Schimmel, nach alten, vor sich hin modernden Dingen. Meine Finger ertasteten nichts als Beton oder Stein. Mein Körper lag auf etwas Hartem. Ich versuchte nachzudenken. Nach großen Katastrophen wurden die Leichen oft in improvisierten Leichenhallen gelagert. In Sporthallen von Schulen. Gemeindesälen. Vielleicht war ich ein Katastrophenopfer. Vielleicht hatte man jeden freien Fleck genutzt, um die Verletzten unterzubringen – festgebunden, um sie vor weiteren Verletzungen zu bewahren. Aber zog man Katastrophenopfern Kapuzen über den Kopf? Chirurgen trugen kapuzenartige Kopfbedeckungen, jedoch nichts über den Augen. Vielleicht ging es darum, Infektionen zu vermeiden.
Ich hob erneut den Kopf. Mit dem Kinn erfühlte ich ein Shirt. Ich war bekleidet. Ja. Ich spürte Kleidung auf meiner Haut. Ein Shirt, eine Hose, Socken. Keine Schuhe.
Irgendwo in meinem Hinterkopf tauchten andere Gedanken auf. Grausame Gedanken. Gefesselt. Umgeben von Dunkelheit. Eine Kapuze über dem Kopf. Lächerlich. Konnte es sich um einen Scherz handeln? Würden gleich alle aus ihren Verstecken springen, mir die Binde von den Augen reißen und »April April!« schreien? Aber war überhaupt April? Ich konnte mich an kaltes Wetter erinnern. War der Sommer schon vorbei, oder stand er erst noch bevor? Eigentlich eine dumme Frage, denn natürlich gab es immer einen Sommer, der schon vergangen war, und einen neuen, der bevorstand.
Lauter Sackgassen. Ich ging sie alle ab, ohne fündig zu werden. Irgendetwas war passiert, so viel wusste ich immerhin. Möglicherweise handelte es sich dabei um etwas Lustiges, auch wenn es sich nicht lustig anfühlte. Vielleicht hatte sich aber auch etwas Schlimmes ereignet, und von offizieller Seite wurden gerade geeignete Maßnahmen ergriffen. Die Kapuze – oder der Verband, ja, wahrscheinlich handelte es sich um einen Verband. Das war plausibel. Vielleicht hatte ich eine Kopfverletzung davongetragen, meine Augen oder Ohren hatten Schaden genommen, und mein gesamter Kopf war zu meinem eigenen Schutz mit Verbänden umwickelt. Sie würden bald entfernt werden. Es würde ein wenig brennen. Eine freundlich dreinblickende Krankenschwester würde sich über mich beugen. Keine Sorge, es besteht kein Grund zur Sorge, würde sie zu mir sagen.
Es waren noch andere Möglichkeiten denkbar. Furchtbare Möglichkeiten. Ich musste an den Steinboden unter meinen Fingern denken, an die feuchte Luft, wie in einer Höhle. Bis jetzt war da nur der Schmerz und das Chaos meiner Gedanken gewesen, aber plötzlich spürte ich noch etwas anderes. Angst sickerte wie Schlamm in meine Brust. Ich gab ein Geräusch von mir, ein leises Stöhnen. Offenbar war ich in der Lage zu sprechen. Obwohl ich nicht wusste, wen ich rufen oder was ich sagen sollte, versuchte ich es ein wenig lauter. Ich hoffte, das Echo oder die Schärfe des Geräusches würde mir etwas über meinen Aufenthaltsort verraten, aber mein Ruf wurde durch die Kapuze gedämpft. Ich rief erneut, diesmal so laut, dass mein Hals schmerzte.
Nicht weit von mir entfernt bewegte sich etwas. Neue Gerüche stiegen mir in die Nase. Schweiß und Rasierwasser. Ich hörte jemanden atmen, polternd auf mich zukommen. Plötzlich war mein Mund voller Stoff. Ich bekam kaum mehr Luft, nur noch durch die Nase. Irgendetwas wurde fest um mein Gesicht gebunden. Heißer Atem streifte meine Wange, dann drang aus der Dunkelheit eine Stimme an mein Ohr. Es war kaum mehr als ein Flüstern, heiser, gepresst und so undeutlich, dass ich mich anstrengen musste, um die Worte zu verstehen.
»Nein«, sagte die Stimme. »Noch ein Mucks, und ich binde dir auch noch die Nase zu.«
Ich musste würgen. Der Stoff füllte meinen ganzen Mund aus, rieb gegen meinen Gaumen. Mein Hals schmeckte plötzlich nach Fett und ranzigem Kohl. Ein Krampf durchzuckte mich, und Übelkeit stieg wie Feuchtigkeit in mir auf. Ich durfte mich nicht übergeben. Verzweifelt schnappte ich nach Luft, versuchte vergeblich, durch den Stoff zu atmen. Es ging nicht, mein Mund war völlig verstopft. Ich zerrte mit beiden Armen an den Fesseln und versuchte gleichzeitig Luft zu holen. Ich fühlte mich, als würde sich mein ganzer Körper auf dem rauen Steinboden zuckend aufbäumen, als wäre kein bisschen Luft mehr in mir, nur noch schmerzhaftes Vakuum und grelles Rot hinter meinen hervorquellenden Augen, und ein Herz, das hektisch durch meinen Hals nach oben drängte, während ein seltsam heiseres Geräusch aus meiner Kehle drang, wie ein Husten, der nicht zustande kommen wollte. Ich war ein sterbender Fisch. Ein Fisch, der sich auf dem harten Boden hin und her warf. Gefesselt hing ich am Haken, aber in meinem Inneren schien sich alles zu lösen, als würden meine gesamten Eingeweide zerrissen. Fühlt sich das so an? Wenn man stirbt? Wenn man lebendig begraben wird?
Ich musste atmen. Wie atmet man? Durch die Nase. Er hatte etwas von meiner Nase gesagt. Der Mann hatte gesagt, er werde mir als nächstes die Nase zubinden. Ich musste durch die Nase atmen. Jetzt. Es ging nicht, ich bekam auf diese Weise nicht genug Luft. Wieder versuchte ich, mich keuchend mit Luft voll zu saugen. Meine Zunge war zu groß, um in dem winzigen Raum Platz zu finden, der in meinem Mund noch übrig war. Sie stieß immer wieder gegen den Stoff des Knebels. Ich spürte, wie sich mein Körper erneut aufbäumte. Langsam atmen. Ganz ruhig. Ein und aus, ein und aus. Immer weiter, bis ich nichts anderes mehr fühlte. Nur so würde ich am Leben bleiben. Atme, befahl ich mir selbst. Dicke, modrige Luft strömte in meine Nasenlöcher, ölige Fäulnis lief meinen Rachen hinunter. Ich versuchte, nicht zu schlucken, aber dann ließ es sich nicht länger vermeiden, und wieder schwappte Ekel in mir hoch, füllte meinen Mund. Ich konnte es nicht ertragen. Doch, ich konnte. Ich konnte, ich konnte, ich konnte.
Atme ein und aus, Abbie. Abbie. Ich bin Abbie. Abigail Devereaux. Ein und aus. Denk nicht nach. Atme. Du bist noch am Leben.
Der Schmerz in meinem Schädel wich ein Stück zurück. Ich hob den Kopf ein wenig an, der Schmerz strömte hinter meine Augen. Ich blinzelte ein paarmal. Dieselbe tiefe Dunkelheit, egal, ob ich die Augen offen oder geschlossen hatte. Meine Wimpern drückten gegen die Kapuze. Mir war kalt, so viel spürte ich inzwischen. Meine Füße fühlten sich in den Socken wie Eiszapfen an. Waren das meine eigenen Socken? Sie kamen mir so groß und rau vor, gar nicht vertraut. Meine linke Wade schmerzte. Ich versuchte die Beinmuskeln zu bewegen, um dieses Gefühl eines Krampfes loszuwerden. Plötzlich begann eine Stelle an meiner Wange unter der Kapuze zu jucken. Ein paar Sekunden lang lag ich reglos da, konzentrierte mich nur auf das Jucken, dann wandte ich den Kopf zur Seite und versuchte, die Stelle mit meiner hochgezogenen Schulter zu berühren. Ohne Erfolg. Ich verdrehte den Kopf, bis ich mein Gesicht über den Boden reiben konnte.
Außerdem war ich nass. Zwischen den Beinen und an den Oberschenkeln. Ich spürte die klamme Kälte unter meiner Hose. War das überhaupt meine Hose? Ich lag in meiner eigenen Pisse, umgeben von Dunkelheit, eine Kapuze über dem Kopf, gefesselt und geknebelt. Atme ein und aus, befahl ich mir selbst. Atme immer weiter, ein und aus. Versuch, die Gedanken langsam herauszulassen, einen nach dem anderen, damit du nicht darin ertrinkst. Ich spürte den Druck der in mir aufgestauten Angst, mein Körper fühlte sich wie eine zerbrechliche Muschelschale an, zum Bersten gefüllt mit tosenden Wassermassen. Ich zwang mich, nur an die Atemluft zu denken, die durch meine Nasenlöcher ein und aus strömte. Ein und aus.
Jemand – ein Mann, der Mann, der den Knebel in meinen Mund gerammt hatte, hatte mich an diesen Ort gebracht. Er hatte mich hier festgebunden, ich war seine Gefangene. Warum? Darüber konnte ich noch nicht nachdenken. Ich lauschte, ob irgendetwas zu hören war, abgesehen vom Pfeifen meines Atems, dem Schlagen meines Herzens und dem kratzenden Geräusch, das meine Hände und Füße auf dem rauen Boden verursachten, wenn ich mich bewegte. Vielleicht war er noch hier, kauerte irgendwo im Raum. Aber es war kein anderes Geräusch zu hören. Im Moment war ich allein. Ich lag da und lauschte meinem Herzen. Die Stille erdrückte mich.
Ein Bild flatterte durch meinen Kopf. Ein gelber Schmetterling, der sich mit zitternden Flügeln auf einem Blatt niederließ. Es kam mir vor, als wäre plötzlich ein Sonnenstrahl auf mich gefallen. War das etwas, woran ich mich erinnern konnte, ein Augenblick, den ich aus der Vergangenheit herübergerettet und bis jetzt irgendwo aufbewahrt hatte? Oder war dieses Bild bloß ein zufälliges Produkt meines Gehirns, eine Art Reflex oder Kurzschluss?
Ein Mann hatte mich an einem dunklen Ort festgebunden. Offenbar hatte er mich entführt und dann hierher gebracht.
Doch ich konnte mich nicht daran erinnern. Ich zermarterte mir den Kopf, aber er war leer – ein leerer Raum, ein verlassenes Haus, kein Widerhall. Nichts. In meinem Hals kroch ein Schluchzen hoch. Ich darf nicht weinen, ermahnte ich mich. Ich muss nachdenken, aber vorsichtig, ohne die Angst nach oben zu lassen. Ich darf nicht in die Tiefe gehen. Ich muss an der Oberfläche bleiben. Nur über das nachdenken, was ich weiß. Fakten. Langsam werde ich mir ein Bild zusammensetzen, und dann werde ich auch in der Lage sein, es mir anzusehen.
Mein Name ist Abigail. Abbie. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und ich lebe mit meinem Freund Terry, Terence Wilmott, in einer winzigen Wohnung in der Westcott Road. Das ist es: Terry. Terry wird sich Sorgen machen. Er wird die Polizei anrufen, mich als vermisst melden. Sie werden mit Blaulicht und heulenden Sirenen herfahren und die Tür einschlagen. Licht und Luft werden hereinfluten. Nein, nur Fakten. Ich arbeite für Jay & Joiner, entwerfe Büroeinrichtungen. Ich habe einen Schreibtisch mit einem weißblauen Laptop, einem kleinen grauen Telefon, einem Stapel Papier, einem ovalen Aschenbecher voller Büroklammern und Gummibänder.
Wann war ich das letzte Mal dort? Das alles erschien mir unglaublich weit weg, wie ein Traum, der einem entgleitet, sobald man versucht, ihn zu fassen zu bekommen. Wie das Leben eines anderen Menschen. Ich konnte mich nicht erinnern. Wie lange lag ich schon hier? Eine Stunde, einen Tag, eine Woche? Es war Januar, das wusste ich inzwischen – zumindest glaubte ich es zu wissen. Draußen war es kalt, und die Tage waren kurz. Vielleicht hatte es geschneit. Nein, ich durfte nicht an Dinge wie Schnee denken, Sonnenlicht auf weißen Flächen. Ich musste mich auf das konzentrieren, was ich wusste: Januar, aber ob Tag oder Nacht konnte ich nicht sagen. Vielleicht war inzwischen schon Februar. Ich versuchte an den letzten Tag zu denken, an den ich mich klar erinnern konnte, doch das war, als würde ich in einen dichten Nebel blicken, in dem sich lediglich undeutliche Schatten abzeichneten.
Ich beschloss, mit dem Silvesterabend zu beginnen. Ich hatte mit Freunden getanzt, und um Mitternacht waren sich alle um den Hals gefallen. Ich hatte alle möglichen Leute auf den Mund geküsst, Leute, die ich gut kannte, und Leute, die ich erst ein paarmal getroffen hatte, sogar Fremde, die mit ausgebreiteten Armen und einem erwartungsvollen Lächeln auf mich zukamen, weil man sich an Silvester nun mal küsst. Aber an all das wollte ich jetzt nicht denken. Nach Neujahr, ja, da regte sich noch etwas in meinem Gedächtnis. Tage im Büro, klingelnde Telefone, Spesenrechnungen in meinem Eingangsfach. Tassen mit kalt gewordenem, bitterem Kaffee. Aber vielleicht war das vorher gewesen, nicht danach. Oder vorher und nachher, tagein, tagaus. Alles erschien mir verschwommen und bedeutungslos.
Ich versuchte mich zu bewegen. Meine Zehen waren vor Kälte ganz steif, mein Nacken schmerzte, und in meinem Kopf pochte es. Ich hatte einen widerlichen Geschmack im Mund. Warum war ich hier, und was würde mit mir geschehen? Wie ein Opferlamm lag ich auf dem Rücken, Arme und Beine festgebunden. Eine Welle der Angst durchlief meinen Körper. Er konnte mich verhungern lassen. Mich vergewaltigen. Foltern. Er konnte mich töten. Vielleicht hatte er mich schon vergewaltigt. Ich presste mich gegen den Boden und wimmerte ganz leise, tief unten in meinem Hals. Zwei Tränen stahlen sich aus meinen Augen. Ich spürte das Kitzeln und Brennen auf meiner Haut, als sie zu meinen Ohren hinunterliefen.
Nicht weinen, Abbie. Du darfst nicht weinen.
Denk an den Schmetterling, der nichts als Schönheit bedeutet. Ich stellte mir den gelben Schmetterling auf seinem grünen Blatt vor. Ich ließ meinen ganzen Kopf voll werden von diesem kleinen Wesen, das so zart und leicht auf dem Blatt saß, dass es jeden Moment weggepustet werden konnte wie eine Feder. Ich hörte Schritte. Sie klangen weich, als wäre der Mann barfuß. Sie kamen näher, brachen ab. Dann hörte ich jemanden heftig atmen, fast keuchen, als hätte er ein Stück klettern müssen, um zu mir zu gelangen. Starr vor Angst lag ich in der Stille. Er stand jetzt über mir. Ich hörte ein Klicken, und trotz meiner Kapuze war mir klar, dass er eine Taschenlampe eingeschaltet hatte. Ich konnte noch immer nichts erkennen, aber ich sah durch den Stoff, dass es nicht mehr völlig dunkel war. Offenbar stand er über mir und leuchtete mit einer Taschenlampe auf meinen Körper hinunter.
»Du hast dich nass gemacht«, murmelte er. Zumindest kam es mir durch meine Kapuze wie ein Murmeln vor. »Dummes Mädchen.«
Ich spürte, wie er sich zu mir herunterbeugte. Ich hörte ihn atmen. Mein eigenes Atemgeräusch wurde lauter und schneller. Er schob die Kapuze ein wenig hoch und befreite mich erstaunlich sanft von dem Knebel. Ich spürte eine Fingerspitze auf meiner Unterlippe. Ein paar Sekunden lang konnte ich bloß erleichtert keuchen, die Luft in meine Lungen saugen. Dann hörte ich mich selbst »Danke« sagen. Meine Stimme klang leise und schwach. »Wasser.«
Er löste die Fesseln an meinen Armen und über meiner Brust, nun waren nur noch meine Beine gefesselt. Dann schob er einen Arm unter meinen Nacken und zog mich in eine sitzende Position. Eine neue Art von Schmerz pulste durch meinen Kopf. Ich wagte mich nicht zu bewegen, sondern ließ teilnahmslos über mich ergehen, dass er mir die Arme hinter den Rücken legte und an den Handgelenken zusammenband – so fest, dass mir die Schnur ins Fleisch schnitt. Handelte es sich überhaupt um eine Schnur? Es fühlte sich härter an, wie eine Wäscheleine oder Draht.
»Mach den Mund auf«, sagte er in seinem gedämpften Flüsterton. Ich tat, wie mir geheißen. Er schob einen Strohhalm unter die Kapuze und steckte ihn mir zwischen die Lippen. »Trink.«
Das Wasser war lauwarm und hinterließ einen schalen Geschmack in meinem Mund.
Er legte eine Hand auf meinen Nacken und begann ihn zu massieren. Ich saß da wie gelähmt. Ich durfte weder aufschreien noch irgendein anderes Geräusch machen. Ich durfte mich auch nicht übergeben. Seine Finger drückten sich in meine Haut.
»Wo tut es weh?« fragte er.
»Nirgends.« Meine Stimme war nur ein Flüstern.
»Nirgends? Du wirst mich doch nicht anlügen?«
Wut fegte durch meinen Kopf wie ein herrlicher, tosender Wind, stärker als die Angst. »Du widerliches Stück Scheiße!«, schrie ich mit der schrillen Stimme einer Wahnsinnigen. »Lass mich los, lass mich sofort los, ich bringe dich um, du wirst schon sehen …«
Der Knebel wurde mir wieder in den Mund gerammt.
»Du bringst mich um. Das ist gut. Das gefällt mir.«
Lange Zeit konzentrierte ich mich nur aufs Atmen. Ich hatte von Menschen gehört, die sich in ihrem eigenen Körper eingesperrt fühlten wie in einem Gefängnis. Sie wurden von der Vorstellung gequält, niemals entkommen zu können. Mein Leben war nun reduziert auf das bisschen Luft, das durch meine Nasenlöcher strömte. Sollte mir diese Luftzufuhr auch noch abgeschnitten werden, würde ich sterben. Es gab solche Fälle. Leute wurden gefesselt und geknebelt, ohne dass ihre Entführer die Absicht hatten, sie umzubringen. Nur ein kleiner Fehler beim Binden – der Knebel zu nahe an der Nase –, und sie bekamen keine Luft mehr und starben.
Ich zwang mich, gleichmäßig zu atmen, ein eins-zwei-drei, aus eins-zwei-drei. Ein, aus. In einem Film, einer Art Kriegsfilm, den ich einmal gesehen hatte, hatte sich ein supertaffer Soldat vor dem Feind in einem Fluß versteckt und nur durch einen einzigen Strohhalm geatmet. Der Gedanke, dass ich nun in der gleichen Situation war, ließ meine Brust schmerzen, und mein Atem ging wieder stoßweise. Ich musste mich beruhigen. Statt an den Soldaten zu denken und daran, was passiert wäre, wenn irgendetwas den Strohhalm verstopft hätte, versuchte ich an das Wasser des Flusses zu denken, das in der glitzernden Morgensonne so kühl und ruhig ausgesehen hatte, so träge und schön.
In meinem Kopf floß das Wasser immer langsamer, bis es schließlich zum Stillstand kam. Ich stellte mir vor, wie die Oberfläche langsam zu Eis erstarrte, hart und klar wie Glas, so dass man die Fische darunter lautlos umherschwimmen sehen konnte. Ich konnte nicht anders. Ich sah mich durch das Eis einbrechen, sah mich darunter gefangen. Ich hatte irgendwo gelesen oder gehört, dass zwischen Eisfläche und Wasser eine dünne Luftschicht liegt, und dass man, wenn man einbricht und das Loch nicht mehr findet, diese Luft atmen kann. Aber dann? Vielleicht wäre es besser, einfach zu ertrinken. Vor dem Ertrinken hatte ich immer besondere Angst gehabt, bis ich irgendwann gelesen oder gehört hatte, dass es sich in Wirklichkeit um eine angenehme Todesart handelte. In diesem Moment erschien mir das sehr plausibel. Unangenehm und schrecklich war bloß der Versuch, nicht zu ertrinken. Angst ist der Versuch, dem Tod zu entrinnen. Sich dem Tod zu ergeben ist wie Einschlafen.
Eins – zwei – drei, eins – zwei – drei. Langsam wurde ich ruhiger. Manche Menschen, wahrscheinlich mindestens zwei Prozent der Bevölkerung, wären schon vor Panik oder Luftmangel gestorben, wenn ihnen widerfahren wäre, was mir gerade passierte. Demnach schlug ich mich immerhin tapferer als so manch anderer. Ich lebte noch. Ich atmete.
Jetzt lag ich wieder ausgestreckt, an Händen und Füßen gefesselt, einen Knebel im Mund und eine Kapuze über dem Kopf.
Doch ich war nirgendwo mehr festgebunden. Ich kämpfte mich in eine hockende Position, stand dann ganz langsam auf. Versuchte aufzustehen. Mein Kopf stieß gegen ein Dach. Demnach war der Raum höchstens einen Meter fünfzig hoch. Keuchend vor Anstrengung, ließ ich mich wieder auf den Boden sinken.
Wenigstens konnte ich mich bewegen. Mich krümmen und winden wie eine Schlange im Staub. Was ich mich kaum traute. Ich hatte das Gefühl, irgendwo weit oben zu sein. Wenn er den Raum betrat, befand er sich unter mir. Die Schritte und seine Stimme kamen von unten. Er musste irgendwo hinaufsteigen, um zu mir zu gelangen.
Vorsichtig streckte ich die Füße nach vorne aus, spürte aber nur den Boden. Mühsam drehte ich mich herum. Mein T-Shirt hatte sich hochgeschoben, und die nackte Haut meines Rückens schabte schmerzhaft über den rauen Untergrund. Ich streckte erneut die Beine aus. Immer noch Boden unter meinen Füßen. Ganz langsam schlängelte ich mich vorwärts, ständig mit den Füßen tastend. Plötzlich spürte ich nichts mehr – nichts Hartes mehr unter mir. Ausgestreckt über einem freien Raum, einer Leere. Liegend schob ich mich weiter, Zentimeter um Zentimeter. Meine Beine baumelten bereits bis zu den Knien in der Luft. Ich winkelte sie an. Wenn ich jetzt den Oberkörper aufrichtete, würde ich über einem Abgrund sitzen, am Rand einer Klippe. Mein Atem begann panisch in meiner Brust zu flattern. Ich robbte rückwärts. Mein Rücken schmerzte, in meinem Kopf dröhnte und pochte es. Ich schlängelte und schleppte mich weiter rückwärts, bis ich gegen eine Wand stieß.
Ich setzte mich auf, presste meine gefesselten Hände gegen die Wand. Die Fingerspitzen spürten grobe, feuchte Ziegel.
Aufrecht schob ich mich an der Wand entlang, bis ich auf die Ecke stieß, und bewegte mich dann in der Gegenrichtung zurück. Meine Muskeln brannten vor Anstrengung. Der Raum musste etwa drei Meter breit sein. Und etwa eins zwanzig tief.
Es fiel mir schwer, klar zu denken, weil der Schmerz in meinem Kopf mir immer wieder in die Quere kam. Hatte ich einen Schlag auf den Kopf bekommen? Eine tiefe Schramme davongetragen? Oder war mit meinem Gehirn etwas nicht in Ordnung?
Die Kälte ließ mich zittern. Ich durfte nicht aufhören nachzudenken, musste meinen Kopf beschäftigt halten, ohne an die falschen Dinge zu denken. Auf irgendeine Art war ich entführt worden. Gegen meinen Willen wurde ich festgehalten. Warum wurden Menschen entführt? Wegen Geld oder aus politischen Gründen. Mein gesamtes Vermögen belief sich – nach Abzug der Beträge, die ich in letzter Zeit mit Kreditkarte bezahlt hatte – auf etwa zweitausend Pfund, wovon die Hälfte in meinem rostigen alten Wagen steckte. Politische Gründe kamen wohl auch nicht in Frage, ich war Beraterin in Sachen Büroeinrichtung, keine Botschafterin. Andererseits konnte ich mich an nichts erinnern. Womöglich befand ich mich in Südamerika oder im Libanon. Dagegen sprach, dass der Mann definitiv ein britisches Englisch gesprochen hatte, Südenglisch, soweit ich das anhand des leisen, undeutlichen Geflüsters beurteilen konnte.
Welche anderen Gründe konnte es geben? Ich hatte mich in eine Richtung manövriert, in der alles richtig übel aussah. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Beruhige dich. Beruhige dich, Abbie. Du darfst keine verstopfte Rotznase bekommen.
Er hatte mich nicht getötet. Das war ein gutes Zeichen. Obwohl es nicht notwendigerweise ein wirklich gutes Zeichen sein musste – langfristig gesehen konnte es auch ein schlechtes Zeichen sein. Allein bei dem Gedanken wurde mir speiübel. Doch so war die Situation, mehr wusste ich nicht. Vorsichtig spannte ich meine Muskeln an, spürte meine Fesseln. Ich wusste nicht, wo ich war, wusste auch nicht, wo ich entführt worden war, oder wann oder wie. Oder aus welchem Grund. Ich konnte nichts sehen. Ich wusste nicht mal, wie der Raum aussah, in dem ich lag. Er fühlte sich feucht an. Vielleicht war es ein Keller oder ein Schuppen. Auch über den Mann war mir nichts bekannt. Oder die Männer. Oder wer sonst noch damit zu tun hatte. Wahrscheinlich hielt er sich ganz in der Nähe auf. Ich wusste weder, ob ich ihn kannte, noch wie er aussah.
Das war vielleicht gut so. Wenn ich ihn identifizieren könnte, dann würde er wahrscheinlich … wie auch immer, auf jeden Fall wäre das weniger gut. Profi-Entführer trugen Masken, damit die Geisel ihr Gesicht nicht zu sehen bekam. Dass er mir eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte, lief vielleicht auf dasselbe hinaus, bloß andersherum. Er tat auch irgendetwas mit seiner Stimme, dämpfte sie irgendwie, damit sie nicht wie eine menschliche Stimme klang. Es war sogar denkbar, dass er vorhatte, mich bloß eine Weile festzuhalten und dann wieder freizulassen. Er konnte mich in irgendeinem anderen Stadtteil von London aussetzen, und es wäre mir völlig unmöglich, ihn je wiederzufinden. Ich würde nichts über ihn wissen – nicht das Geringste. Das war die erste zumindest ansatzweise gute Nachricht.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon hier war, maximal konnten es drei Tage sein, vielleicht sogar nur zwei. Ich fühlte mich schrecklich, aber nicht besonders schwach. Ich war hungrig, aber noch nicht krank vor Hunger. Vielleicht zwei Tage. Terry hatte mich bestimmt schon als vermisst gemeldet. Ich war nicht zur Arbeit erschienen, sie hatten Terry angerufen, er hatte erstaunt versucht, mich auf meinem Mobiltelefon zu erreichen. Wo das wohl abgeblieben war? Unter Umständen hatte man die Polizei schon nach wenigen Stunden verständigt. Bestimmt war mittlerweile eine große Suchaktion im Gang. Scharen von Polizisten, die Ödland durchkämmten. Absolute Urlaubssperre. Spürhunde. Hubschrauber. Ein weiterer vielversprechender Gedanke. Man kann einen erwachsenen Menschen nicht einfach von der Straße zerren und irgendwo verstecken, ohne Aufsehen zu erregen. Bestimmt waren Polizisten unterwegs, die Häuser durchsuchten, mit Taschenlampen in dunkle Winkel leuchteten. Es konnte nicht mehr lang dauern, dann würde ich sie hören, sie sehen. Ich brauchte bloß am Leben zu bleiben, bis … einfach nur am Leben bleiben. Am Leben bleiben.
Ich hatte ihn angeschrien. Ich hatte gesagt, ich würde ihn umbringen. Sonst hatte ich nichts zu ihm gesagt, zumindest konnte ich mich an nichts erinnern, außer »danke«, als er mir das Wasser zu trinken gab. Inzwischen hasste ich mich dafür, dass ich mich bei ihm bedankt hatte. Als ich ihn angeschrien hatte, war er wütend geworden. Was hatte er noch geantwortet? »Du willst mich umbringen? Das ist gut!« Irgendetwas in der Art. Nicht sehr vielversprechend. »Du willst mich umbringen?« Vielleicht hatte er das deswegen so lustig gefunden, weil er seinerseits vorhatte, mich umzubringen.
Ich versuchte mich mit einem anderen Gedanken zu trösten. Vielleicht amüsierte ihn meine Drohung bloß deswegen, weil ich mich so vollkommen in seiner Gewalt befand, dass ihm die Idee, ich könnte es ihm heimzahlen, völlig lächerlich erschien. Auf jeden Fall war ich mit meinen heftigen Worten ein Risiko eingegangen. Ich hatte ihn wütend gemacht. Er hätte mich foltern oder schlagen oder alles Mögliche mit mir anstellen können. Aber er hatte nichts dergleichen getan. Das war unter Umständen eine wichtige Erkenntnis. Er hatte mich entführt, hatte mich gefesselt, und ich hatte ihn bedroht. Womöglich fühlte er sich unterlegen und unfähig, mir etwas anzutun, solange ich ihm die Stirn bot. Vielleicht, dachte ich, ist das die beste Art, ihn zu manipulieren. Indem ich mich nicht seinem Willen unterwarf. Möglicherweise hat er eine Frau entführt, weil er Angst vor Frauen hat und darin die einzige Möglichkeit sieht, zumindest eine Frau unter Kontrolle zu haben. Wahrscheinlich erwartet er, dass ich um mein Leben bettle und ihm auf diese Weise die Macht über mich gebe, die er sich erhofft. Doch wenn ich nicht kapituliere, dann läuft es nicht nach seinem Plan.
Vielleicht ist aber auch das Gegenteil der Fall. Womöglich hat ihm meine Reaktion bloß gezeigt, dass er mich völlig in der Hand hat. Es ist ihm egal, was ich sage. Er findet es lediglich komisch, hält ansonsten aber an seinem Plan fest. Bestimmt ist es entscheidend, ihm zu zeigen, dass ich ein Mensch aus Fleisch und Blut bin, damit es ihm schwerer fällt, mir etwas anzutun. Doch falls das auf ihn bedrohlich wirkt, macht es ihn womöglich nur noch wütender. Ich konnte nichts tun. Ich konnte mich weder zur Wehr setzen noch fliehen. Ich konnte nur Zeit schinden.
Wie stellte ich das am besten an? Indem ich ihn provozierte? Indem ich alles tat, damit er zufrieden war? Indem ich versuchte, ihm Angst zu machen?
An der Schwärze um mich herum veränderte sich etwas. Ich nahm ein Geräusch und einen Geruch war. Dann hörte ich wieder dieses heisere, krächzende Geflüster.
»Ich werde jetzt deinen Knebel herausnehmen. Wenn du schreist, schneide ich dir wie einem Vieh die Kehle durch. Wenn du verstanden hast, was ich gesagt habe, dann nicke mit dem Kopf.«
Ich nickte hektisch. Die Hände – große, warme Hände – machten sich hinter meinem Nacken zu schaffen. Der Knoten wurde gelöst, der Knebel grob aus meinem Mund gezerrt. Sofort begann ich zu husten. Eine Hand hielt meinen Kopf fest, und ich spürte, wie mir der Strohhalm in den Mund geschoben wurde. Ich saugte, bis mir ein zischendes Geräusch verriet, dass kein Wasser mehr da war.
»Da«, sagte er. »Da steht ein Kübel. Willst du ihn benutzen?«
»Wie meinen Sie das?« Ich musste ihn zum Reden bringen. »Du weißt schon. Toilette.«
Er klang verlegen. War das ein gutes Zeichen?
»Ich möchte auf eine richtige Toilette.«
»Du gehst entweder auf den Eimer oder bleibst in deiner eigenen Pisse liegen, Süße.«
»Also gut.«
»Ich werde dich neben den Eimer stellen. Du kannst ihn mit deinen Füßen berühren. Dann gehe ich ein Stück weg. Wenn du Faxen machst, schneide ich dich in Stücke. Verstanden?«
»Ja.«
Es klang, als würde er ein paar Stufen hinuntersteigen, dann spürte ich seine Arme unter meinen Achseln, an meinem Rücken. Harte, starke Hände. Ich rutschte auf ihn zu, wurde gegen ihn gepresst. Er roch nach Tieren, Schweiß, etwas anderem, das ich nicht definieren konnte. Ein Arm schob sich unter meine Oberschenkel. Ekel stieg in mir hoch. Einen Moment später wurde ich seitwärts geschwungen und dann sanft auf einem rauen, sandigen Boden abgestellt. Ich richtete mich auf. Meine Beine und mein Rücken schmerzten fürchterlich. Eine Hand packte mich an den Haaren, und ich spürte etwas Hartes, Kaltes an meinem Hals.
»Du weißt, was das ist?«
»Nein.«
»Die Klinge eines Messers. Ich werde jetzt den Draht lösen, mit dem deine Hände zusammengebunden sind. Der kleinste Mucks, und ich benutze das Messer.«
»Ich tu nichts. Ich will nur, dass Sie mich allein lassen.«
»Es ist dunkel. Ich gehe ein Stück weg.«
Ich spürte, wie sich hinter meinem Rücken der Draht lockerte. Er trat zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde spielte ich mit dem Gedanken, doch einen Fluchtversuch zu unternehmen, aber dann wurde mir klar, wie sinnlos das war: noch immer teilweise gefesselt, eine Kapuze über dem Kopf, in einem dunklen Raum mit einem Mann, der ein Messer hatte.
»Nun mach schon«, sagte er.
Ich hatte kein dringendes Bedürfnis, auf die Toilette zu gehen. Nur den Drang nach Bewegung. Ich befühlte meine Sachen. T-Shirt, Hose. Ich konnte das nicht.
»Du kriegst den Kübel erst morgen früh wieder.«
Morgen früh. Gut. Wenigstens eine Information. Also gut, also gut. Er behauptete, dass es dunkel war. Ich machte Knopf und Reißverschluss auf, zog Hose und Slip nach unten und setzte mich auf den Eimer. Bloß ein Tröpfeln. Ich stand wieder auf, zog die Hose hoch.
»Kann ich was sagen?«
»Was?«
»Ich weiß nicht, was das alles soll. Aber Sie dürfen das nicht. Sie werden nicht ungeschoren davonkommen. Ihnen ist vielleicht nicht klar, was passieren wird, wenn sie mich finden. Noch können Sie mich gehen lassen. Fahren Sie mich irgendwohin. Lassen Sie mich frei. Das war’s dann. Bestimmt bin ich schon als vermisst gemeldet, sie werden nach mir suchen. Ich weiß, dass Sie mit mir machen können, was Sie wollen, und dass wahrscheinlich nichts Gutes für mich dabei herauskommt, aber man wird Sie erwischen. Wenn Sie mich gehen lassen, können wir beide einfach unser Leben weiterleben. Andernfalls werden Sie erwischt.«
»Das sagen sie alle. Wenn sie überhaupt etwas sagen.«
»Was?«
»Halt still.«
»Alle?«
Ich spürte, wie meine Hände wieder gefesselt wurden. Anschließend wurde ich hochgehoben und wie ein kleines Kind auf einem hohen Regal abgesetzt. Wie eine Puppe.
»Rühr dich nicht von der Stelle«, befahl er. »Und keinen Mucks!«
Ich blieb reglos sitzen. Ich hoffte, dass er jetzt wieder gehen würde.
»Mach den Mund auf.«
Er war neben mir. Der Knebel wurde mir in den Mund geschoben, ein anderes Stück Stoff fest um mein Gesicht gebunden. Ich hörte Schritte, dann spürte ich plötzlich, wie sich etwas um meinen Hals legte. Fest und eng. Ich wurde nach hinten gezerrt, bis ich die Wand in meinem Rücken spürte.
»Hör zu«, sagte die Stimme. »Das um deinen Hals ist eine Drahtschlinge. Sie ist hinter dir an einem Haken an der Wand befestigt. Hast du mich verstanden? Nicke mit dem Kopf.« Ich nickte.
»Du befindest dich auf einer Plattform. Verstanden?« Ich nickte.
»Wenn du dich von der Stelle rührst, fällst du hinunter, der Draht wird dir die Luft abschnüren, und du wirst sterben. Verstanden?«
Ich nickte.
»Gut.«
Dann herrschte Stille. Nur noch Stille. Mein Herz aber toste wie das Meer. Der Draht an meinem Hals brannte. Ich atmete, ein und aus, ein und aus.
Ich stand auf einem hölzernen Steg, vor mir ein spiegelglatter See. Nicht ein Hauch von Wind. Tief unter mir sah ich glatte Kieselsteine, rosa, braun und grau. Ich ging leicht in die Knie, um meine Arme in das kühle, ruhige Wasser zu tauchen, als sich plötzlich etwas um meinen Hals legte, mich mit einem scheußlichen Ruck nach vorne kippen ließ, aber gleichzeitig von hinten festhielt. Das Wasser verschwand, verwandelte sich in tintenschwarze Dunkelheit. Die Schlinge grub sich in meinen Hals. Ich richtete mich auf. Für einen Moment war in mir nur Leere, dann durchflutete mich die Angst, strömte in alle Winkel meines Körpers. Mein Herz raste, mein Mund war trocken. Unter der Kapuze lief der Schweiß über meine Stirn, und ich spürte feuchte Haarsträhnen an meinen Wangen. Am ganzen Körper war mir kalter Angstschweiß ausgebrochen, ich fühlte mich zittrig und klebrig. Ein säuerlicher Geruch stieg mir in die Nase. Meine Angst war jetzt so real, dass ich sie riechen konnte.
Ich war eingeschlafen. Wie war das möglich? Wie konnte ich schlafen, wenn ich eine Schlinge um den Hals hatte wie ein Huhn, das wartete, bis ihm das Genick gebrochen wurde? Ich hatte mich immer gefragt, wie Gefangene in der Nacht vor ihrer Hinrichtung noch Schlaf fanden, doch ich hatte tatsächlich geschlafen. Wie lange? Ich hatte keine Ahnung, vielleicht ein paar Minuten, vielleicht aber auch ein paar Stunden oder noch länger. Ich wusste nicht, ob es noch Nacht war oder schon Morgen. Die Zeit war stehen geblieben.
Natürlich war die Zeit nicht stehen geblieben. Sie lief weiter, lief mir davon. In meinen Ohren dröhnte die Stille. Irgendetwas würde passieren, das wusste ich, auch wenn ich nicht wusste, was und wann. Vielleicht jetzt gleich, sowie ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, vielleicht erst in einer Ewigkeit, nach einem endlosen Sumpf von Tagen. Mir fielen seine Worte wieder ein, und mit ihnen überfiel mich ein scharfes Brennen in der Magengegend. Es war, als säße in meinem Inneren ein räudiges Nagetier, das meine Eingeweide fraß. »Das haben sie alle gesagt.« Was hieß das? Ich wusste, was es hieß. Vor mir hatte es schon andere gegeben. Sie waren tot, und ich war die Nächste, die hier mit einer Schlinge um den Hals auf einem Mauervorsprung saß, und nach mir – nach mir …
Atme und denke nach. Lass dir etwas einfallen. Fluchtpläne zu schmieden war sinnlos. Alles, was ich hatte, waren mein Verstand und die Worte, die ich zu ihm sagte – wenn er mir diesen widerlichen Lumpen aus dem Mund zog. Ich begann im Geiste zu zählen. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Zählte ich zu schnell oder zu langsam? Ich versuchte, mein Tempo zu drosseln. Ich hatte Durst. Das Innere meines Mundes fühlte sich weich und faulig an. Sicher stank mein Atem mittlerweile schon. Ich brauchte Wasser, eiskaltes Wasser. Literweise klares Wasser aus einer Quelle tief unter der Erde. Ich hatte überhaupt keinen Hunger mehr, aber sauberes kaltes Wasser in einem großen Glas mit klirrenden Eiswürfeln, das wünschte ich mir jetzt. Ich zählte weiter. Ich durfte nicht aufhören.
Eine Stunde, achtundzwanzig Minuten, dreiunddreißig Sekunden. Wie viele Sekunden waren das insgesamt? Ich versuchte weiterzuzählen und gleichzeitig die Summe auszurechnen, aber alles geriet durcheinander, und ich verlor beides, die Zeit und die Summe. Tränen liefen mir über die Wangen.
Ich schob die Beine nach vorn, streckte meinen Körper so weit ich konnte aus, und legte den Kopf in den Nacken, bis mir die Schlinge direkt unter dem Kinn in die Haut schnitt. Ein Balanceakt auf dem Mauervorsprung, dessen Kante sich hart in meinen Rücken drückte, während der untere Teil meines Körpers bereits überhing. Demnach musste der Draht knapp einen Meter lang sein. Ich glich einer Wippe, ich konnte nach hinten kippen, um wieder dazusitzen, abzuwarten und die Sekunden, Minuten und Stunden zu zählen, ich konnte aber auch nach vorn in die Dunkelheit kippen. Irgendwann würde er hereinkommen und mich dort hängen sehen, die Drahtschlinge um den Hals. Auf diese Weise würde ich ihm ein Schnippchen schlagen. Der Zeit ein Schnippchen schlagen. So einfach wäre das.
Ich schob mich in eine sitzende Position zurück. Mein Körper zitterte vor Anstrengung. Ich konzentrierte mich auf die Atmung, ein und aus. Ich dachte an den See aus meinem Traum, mit seinem ruhigen Wasser. Dann dachte ich an den Fluss mit seinen Fischen. An den gelben Schmetterling auf dem grünen Blatt. Bebend saß er dort, fast so leicht wie die ihn umgebende Luft. Schon der kleinste Windhauch würde ihn hinunterblasen. So ist das Leben, dachte ich. Auch mein Leben ist nun so zart und zerbrechlich.
Mein Name ist Abbie. Abigail Devereaux. Abbie. Ich wiederholte im Geist meinen Namen, versuchte ihn mir laut ausgesprochen vorzustellen, doch der Klang verlor rasch seine Bedeutung. Was bedeutete es schon, Abbie zu heißen? Nichts. Bloß eine Zusammenfügung von Silben. Zwei Silben. Zweimal ein Mund voll Luft.
»Ich hatte einen Traum«, sagte ich. Meine Stimme klang heiser und schwach, als hätte die Drahtschlinge bereits meine Luftröhre beschädigt. »Ich bin eingeschlafen und habe geträumt. Haben Sie auch etwas geträumt? Oder träumen Sie nicht?« Ich hatte mir diese Sätze zurechtgelegt, während ich auf ihn wartete. Ich wollte ihm nichts Persönliches über mich erzählen, weil mir das gefährlich erschien, wollte andererseits aber auch nichts Konkretes über ihn erfahren, denn wenn ich etwas über ihn wusste, konnte er mich nicht mehr gehen lassen. Ich fragte ihn nach seinen Träumen, weil Träume etwas Persönliches und zugleich Abstraktes sind. Sie erscheinen uns wichtig, aber ihre Bedeutung ist oft vage, schwer greifbar. Nun aber, als ich meine geprobten Sätzchen laut aussprach, klangen sie bloß töricht.
»Doch, manchmal«, antwortete er neben mir. »Trink dein Wasser aus, dann kannst du auf den Kübel.«
»Haben Sie letzte Nacht geträumt?« fragte ich beharrlich weiter, obwohl ich wusste, dass es zu nichts führen würde. Er war nur ein paar Zentimeter von mir entfernt. Wenn ich den Arm ausstreckte, könnte ich ihn berühren. Ich widerstand dem plötzlichen Drang, ihn zu packen und aufheulend um Gnade zu bitten.
»Wenn man nicht schläft, kann man auch nicht träumen.«
»Sie haben nicht geschlafen?«
»Trink.«
Ich nahm wieder nur ein paar kleine Schlucke, um das Trinken so lange wie möglich hinauszuzögern. Mein Hals schmerzte. Es war Nacht gewesen, doch er hatte nicht geschlafen. Was hatte er getan?
»Leiden Sie unter Schlaflosigkeit?« Ich bemühte mich um einen mitfühlenden Ton, aber meine Stimme klang schrecklich gekünstelt.
»So ein Blödsinn«, antwortete er. »Man arbeitet, und dann schläft man, wenn einem danach ist. Egal, ob Tag oder Nacht. Das ist alles.«
Durch die Kapuze drang ein schwaches, körniges Licht. Wenn ich den Kopf anhob und nach unten blickte, konnte ich vielleicht etwas sehen, seine ausgestreckten Beine neben mir, seine Hand auf der Kante des Mauervorsprungs. Ich durfte nicht schauen. Ich durfte nichts sehen, nichts wissen. Ich musste im Dunkeln bleiben.
Ich begann mit gymnastischen Übungen. Zog die Knie hoch und ließ sie wieder sinken. Fünfzigmal. Dann streckte ich die Beine aus und versuchte, mich aus dem Liegen aufzusetzen. Es gelang mir nicht. Kein einziges Mal.
Gefangene in Einzelhaft wurden oft verrückt, das hatte ich mal gelesen. Bestimmt hatte ich mir damals vorzustellen versucht, wie es sich anfühlen mochte, ganz allein eingesperrt zu sein. Manchmal sagten solche Menschen dann Gedichte auf, aber ich kannte keine Gedichte, zumindest fiel mir keines ein. Ich kannte ein paar Kinderreime. Mary hatte ein kleines Lamm. Hickory, dickory, dock. Der fröhliche, drängende Rhythmus erschien mir obszön und wahnsinnig, ein beharrliches Pochen im Inneren meines schmerzenden Kopfes. Ich könnte selbst einen Vers dichten. Was reimte sich auf dunkel? Gemunkel? Furunkel? Ich konnte nicht dichten, hatte es noch nie gekonnt.
Ich versuchte noch einmal, mein Gedächtnis zu durchforsten – nicht mein Langzeitgedächtnis, die Erinnerungen an meine Jugend, meine Freunde und meine Familie, an die Dinge, die mich zu dem Menschen machten, der ich war, das Verstreichen der Jahre, die sich wie die Ringe eines Baumstamms aneinanderreihten – nein, daran wollte ich nicht denken. Ich musste mich auf mein Kurzzeitgedächtnis konzentrieren, die Erinnerungen, die mir sagen würden, wie ich in den Raum gekommen war, in dem ich mich jetzt befand. Aber da war nichts. Eine dicke Wand trennte mein Hier und Jetzt von meiner Zeit davor.
Ich begann in Gedanken das Einmaleins aufzusagen. Eine Weile ging es gut, dann verhedderte ich mich. Alles geriet durcheinander. Ich fing erneut zu weinen an. Lautlos.
Ich schob mich vorwärts, bis ich unter meinen Füßen die Kante spürte. Ich kämpfte mich in eine sitzende Position. So hoch konnte das doch nicht sein. Er hatte unter mir gestanden und mich hinuntergehoben. Eins zwanzig, vielleicht eins fünfzig, mehr bestimmt nicht. Ich versuchte, meine gefesselten Füße zu bewegen, holte tief Luft und bewegte mich noch ein paar Zentimeter vor, so dass ich auf dem Rand saß. Ich würde bis fünf zählen, dann würde ich springen. Eins, zwei, drei, vier …
Ich hörte ein Geräusch. Am anderen Ende des Raums. Pfeifendes Lachen. Er sah zu. Wie eine Kröte kauerte er in einer Ecke und beobachtete, wie ich jämmerlich auf der Plattform herumzappelte. In meiner Brust stieg ein Schluchzen hoch. »Nur zu! Spring!«
Ich wich ein Stück zurück.
»Du wirst schon sehen, was passiert, wenn du fällst!«
Noch ein Stück weiter zurück. Meine Beine befanden sich jetzt wieder auf dem Mauervorsprung. Ich schob mich bis zur Wand zurück, wo ich zusammensank und liegen blieb. Unter der Kapuze liefen mir die Tränen über die Wangen.
»Manchmal macht es mir Spaß, dich zu beobachten«, erklärte er. »Das merkst du gar nicht, stimmt’s? Du weißt nicht, wann ich hier bin und wann nicht. Ich kann ziemlich leise sein.«
In der Dunkelheit lauerten also Augen, die mich beobachteten.
»Wie spät ist es?«
»Trink dein Wasser.«
»Bitte. Ist noch Vormittag oder schon Nachmittag?«
»Das spielt keine Rolle mehr.«
»Kann ich …?«
»Was?«
Was? Ich wusste es nicht. Worum sollte ich bitten? »Ich bin nur ein ganz normaler Mensch«, sagte ich. »Nicht gut, aber auch nicht schlecht.«
»Jeder erreicht irgendwann den Punkt, an dem er nicht mehr kann«, antwortete er. »Das ist das Entscheidende.«
Kein Mensch weiß vorher, was er in einer solchen Situation tun würde. Kein Mensch kann das wissen. Ich dachte an den See, den Fluß und den gelben Schmetterling auf dem grünen Blatt. Danach stellte ich mir einen Baum vor, einen Baum mit einem silbrig glänzenden Stamm und hellgrünen Blättern. Eine Weißbirke. Ich platzierte sie auf einem sanft geschwungenen grünen Hügel und ließ einen leichten Wind durch sie hindurchfahren, raschelnd ihre Blätter umdrehen, dass sie glitzerten und leuchteten, als würden zwischen den Ästen Lichter aufblinken. Dann ließ ich eine kleine weiße Wolke genau über dem Baum Halt machen. Hatte ich so einen Baum schon einmal gesehen? Ich konnte mich nicht erinnern.
»Mir ist sehr kalt. Könnte ich eine Decke haben? Irgendetwas zum Zudecken.«
»Bitte.«
»Was?«
»Du musst bitte sagen.«
»Bitte. Bitte geben Sie mir eine Decke.«
»Nein.«
Plötzlich war ich wieder von einer rasenden Wut erfüllt. Mein Zorn war so groß, dass ich das Gefühl hatte, daran zu ersticken. Ich schluckte schwer, musste unter meiner Kapuze blinzeln. Ich stellte mir vor, wie er mich betrachtete, während ich reglos dasaß, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, den Hals in einer Schlinge, den Kopf mit einer Kapuze bedeckt. In der Zeitung sah man manchmal Fotos von Leuten, die auf einen Platz geführt wurden, um dort von einer bereitstehenden Reihe bewaffneter Männern erschossen zu werden. So kam ich mir auch vor. Wenigstens konnte er meinen Gesichtsausdruck unter der Kapuze nicht sehen. Er wusste nicht, was ich gerade dachte. Ich bemühte mich, meine Stimme möglichst ausdruckslos klingen zu lassen.
»Dann eben nicht«, sagte ich.
Würde er mir wehtun, wenn der Zeitpunkt gekommen war? Oder würde er mich einfach langsam zugrunde gehen lassen? Ich war nicht besonders tapfer im Ertragen von Schmerzen. Bei einer Folterung würde ich sofort zusammenbrechen und jedes Geheimnis preisgeben, da war ich sicher. Doch meine Situation war noch viel schlimmer. Sollte er mich tatsächlich foltern, konnte ich nichts tun, um ihn zum Aufhören zu bewegen, weil ich keine Informationen preiszugeben hatte. Vielleicht würde er ja Sex von mir wollen. In der Dunkelheit auf mir liegen und mich dazu zwingen. Mir die Kapuze vom Kopf zerren, mein nacktes Gesicht betrachten, den Knebel aus meinem Mund ziehen und seine Zunge hineinschieben. Seinen … Ich schüttelte heftig den Kopf. Der Schmerz in meinem Schädel war fast eine Erleichterung.
Ich hatte mal gelesen oder gehört, dass eine Gruppe von Soldaten, die sich einer besonderen Elitetruppe anschließen wollten, den Befehl bekamen, eine weite Strecke mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken zu laufen. Sie rannten und rannten, und als sie schließlich ihr Ziel erreichten, dem Zusammenbruch nahe, gab man ihnen den Befehl, die ganze Strecke wieder zurückzulaufen. Man glaubt, man kann nicht mehr, aber man kann.
In jedem Menschen steckt mehr, als man denkt. Verborgene Tiefen. Zumindest redete ich mir das ein. Wo lag wohl meine eigene Belastungsgrenze?
Ich wachte auf, weil mir jemand eine Ohrfeige verpasste. Ich wollte nicht aufwachen. Wozu auch? Wofür lohnte es sich noch aufzuwachen? Ich wollte mich bloß zusammenrollen und schlafen. Weitere Ohrfeigen. Die Kapuze wurde hochgeschoben, der Knebel aus meinem Mund gezogen.
»Bist du wach?«
»Ja. Hören Sie auf.«
»Ich habe Essen für dich. Mach den Mund auf.«
»Was für Essen?«
»Was zum Teufel spielt das für eine Rolle?«
»Erst trinken. Mein Mund ist so trocken.«
Gemurmel in der Dunkelheit. Sich entfernende Schritte. Das war gut. Ein winziger Sieg. Ein klitzekleines Stück Kontrolle. Ich hörte ihn wieder zu mir heraufkommen. Der Strohhalm schob sich in meinen Mund. Ich war furchtbar durstig, hatte aber auch das starke Bedürfnis, die Fasern und Flusen des schrecklichen alten Lumpens wegzuspülen, der mich so lange am Atmen gehindert hatte.
»Mund auf!«
Ein Metalllöffel wurde mir in den Mund geschoben. Er war mit irgendetwas Weichem beladen. Plötzlich erschien mir die Vorstellung, etwas zu essen, das ich nicht sehen konnte und das mir von diesem Mann in den Mund geschoben wurde, der mich irgendwann umbringen würde, derart ekelhaft, dass ich das Gefühl hatte, gleich auf rohem Menschenfleisch herumkauen zu müssen. Ich begann zu würgen und zu spucken. »Verdammt noch mal!«, fluchte er. »Entweder du frisst jetzt dieses Zeug, oder ich streiche dir für einen Tag das Wasser!«
Einen Tag. Das war gut. Wenigstens hatte er nicht vor, mich schon heute umzubringen.
»Moment, gleich!«, sagte ich und holte ein paarmal tief Luft. »Jetzt geht es.«
Der Löffel kratzte in einer Schüssel, ich spürte ihn wieder in meinem Mund. Ich leckte ihn ab und schluckte. Es war etwas Haferbreiartiges, bloß fader, weicher und leicht süßlich. Es schmeckte wie einer dieser laschen Babybreis, die man aus Pulver anrührt. Vielleicht war es aber auch eine der Spezialzubereitungen, wie man sie in der Apotheke kaufen kann, gedacht für Leute, die sich gerade von einer schweren Krankheit erholen. Ich schluckte. Eine weitere Portion Brei wurde mir in den Mund geschoben. Insgesamt vier Löffel voll. Er wollte mich offenbar nicht mästen, bloß am Leben erhalten. Als ich fertig war, bekam ich noch ein wenig Wasser.
»Pudding?« fragte ich.
»Nein.«
Mir kam ein Gedanke. Ein wichtiger Gedanke.
»Wann sind wir uns begegnet?«
»Wie meinst du das?«
»Seit ich hier aufgewacht bin, habe ich ganz schreckliche Kopfschmerzen. Waren Sie das? Haben Sie mir auf den Kopf geschlagen?«
»Worauf willst du hinaus? Willst du mich verarschen? Versuch das bloß nicht! Denk dran, was ich dir antun könnte.«
»Ich will Sie nicht verarschen. Das ist überhaupt nicht meine Absicht. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann … nicht einmal da bin ich sicher. Es ist alles so verschwommen. Ich weiß noch, dass ich im Büro war, und ich erinnere mich an …« Ich wollte sagen »meinen Freund«, da schoss mir durch den Kopf, dass das vielleicht keine so gute Idee war, weil er vermutlich eifersüchtig werden würde. »Ich erinnere mich an meine Wohnung. Dass ich irgendetwas in meiner Wohnung gemacht habe. Dann bin ich hier aufgewacht und weiß weder, wie ich hergekommen bin, noch, wie wir uns kennengelernt haben. Ich wollte Sie lediglich bitten, mir davon zu erzählen.«
Eine ganze Weile herrschte Stille. Ich fragte mich schon, ob er gegangen war, da hörte ich plötzlich ein pfeifendes Geräusch, das ich geschockt als Lachen identifizierte.
»Was?« fragte ich. »Was ist daran so lustig?«
Sprich weiter, Abbie. Halte die Kommunikation aufrecht. Und denk nach. Die ganze Zeit dachte ich krampfhaft nach. Ich musste daran denken, am Leben zu bleiben, daran denken, nichts zu fühlen, denn irgendwo in meinem Hinterkopf wusste ich instinktiv, wie fatal es für mich wäre, wenn ich mir gestattete, etwas zu fühlen – als würde ich mich von einer Klippe in die Dunkelheit stürzen.
»Ich geh dir nicht auf den Leim«, sagte er.
»Auf den Leim?«
»Du trägst eine Kapuze. Du kannst mein Gesicht nicht sehen. Deswegen versuchst du, clever zu sein. Du glaubst, wenn du es schaffst, mir einzureden, du hättest mich nie gesehen, lasse ich dich vielleicht gehen.« Wieder dieses pfeifende Lachen. »Darüber denkst du nach, während du hier liegst, nicht wahr? Denkst du wirklich daran, in die Welt zurückzukehren?«
Schlagartig fühlte ich mich so elend, dass ich beinahe losgeheult hätte. Aber seine Worte verrieten mir auch, dass wir uns tatsächlich schon über den Weg gelaufen waren. Er hatte mich nicht einfach in einer dunklen Gasse hinterrücks gepackt und mir eines über den Schädel gezogen. Kannte ich diesen Mann? Würde mir sein Gesicht vertraut vorkommen, wenn ich es sehen könnte? Würde ich seine Stimme wiederkennen, wenn er normal mit mir spräche?
»Wenn Sie mir sowieso nicht glauben, dann spielt es doch keine Rolle, wenn Sie mir davon erzählen, oder?«
Der Lumpen wurde mir wieder in den Mund gerammt. Ich wurde hinuntergehoben und zum Eimer geführt. Zurückgetragen. Wieder auf dem Mauervorsprung abgesetzt. Diesmal ohne Drahtschlinge. Ich schloss daraus, dass er nicht vorhatte, das Gebäude zu verlassen. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht, nahm deutlich seinen Geruch wahr.
»Du liegst hier und versuchst dir auf alles einen Reim zu machen. Das gefällt mir. Du glaubst, wenn du mich davon überzeugen kannst, dass du nicht in der Lage bist, mich zu identifizieren, dann werde ich bloß eine Weile mit dir spielen und dich dann laufen lassen. Aber du verstehst nicht. Du begreifst nicht, worum es mir geht. Trotzdem gefällt mir das.«
Ich lauschte seinem kratzigen Flüstern, horchte in mich hinein, ob mir die Stimme irgendwie bekannt vorkam. »Jede ist anders. Kelly beispielsweise. Nehmen wir Kelly.« Er rollte den Namen in seinem Mund herum, als wäre es ein Karamellbonbon. »Sie hat nur geheult, die ganze Zeit geflennt. Es war von mir gar nicht geplant, sie flennte bloß dauernd. Da war es eine gottverdammte Erleichterung, ihr einfach das Maul zu stopfen.«
Nicht weinen, Abbie. Du darfst ihm nicht auf die Nerven gehen. Du darfst ihn nicht langweilen.
Der Gedanke kam aus der Dunkelheit. Er hat mich bis jetzt am Leben erhalten. Das hieß aber nicht, dass er meinem Leben nicht trotzdem schon ein Ende gesetzt hatte. Ich befand mich nun seit zwei, drei oder vier Tagen in diesem Raum. Man kann wochenlang ohne Nahrung leben, aber wie lange kommt ein Mensch ohne Wasser aus? Wenn ich einfach nur in diesen Raum gesperrt worden wäre, ohne dass sich jemand um mich gekümmert hätte, dann wäre ich jetzt bereits tot oder läge im Sterben. Das Wasser, das ich getrunken hatte, war sein Wasser. Das Essen in meinem Bauch war sein Essen. Ich war wie ein Tier auf seinem Bauernhof. Ich gehörte ihm und wusste nichts über ihn. Außerhalb dieses Raums, draußen in der Welt, galt dieser Mann wahrscheinlich als häßlich, abstoßend, als Versager. Vielleicht war er zu schüchtern, um mit Frauen zu reden, vielleicht schikanierten ihn seine Kollegen.
Hier aber war ich sein Eigentum. Er war mein Gebieter, mein Vater und mein Gott. Wenn ihm danach zumute war hereinzukommen und mich lautlos zu erdrosseln, konnte er das tun. Ich musste jede wache Minute darauf verwenden, über die Frage nachzudenken, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Wie ich ihn dazu bringen konnte, mich zu lieben oder zumindest zu mögen oder aber Angst vor mir zu haben. Falls es ihm darum ging, den Willen einer Frau zu brechen, bevor er sie tötete, dann musste ich stark bleiben. Falls er Frauen wegen ihrer Feindseligkeit ihm gegenüber hasste, dann musste ich nett zu ihm sein. Falls er gern Frauen quälte, die ihn zurückwiesen, dann musste ich … was? Ihn annehmen? Welcher Weg war der richtige? Ich wusste es nicht.
Auf jeden Fall und vor allen Dingen musste ich aufhören, mir einzubilden, dass es wahrscheinlich keine Rolle spielte, was ich tat.
Ich zählte nicht, wie viele Minuten ich die Drahtschlinge nicht trug. Es erschien mir nicht wichtig. Nach einer Weile kam er wieder herein. Ich spürte seine Gegenwart. Eine Hand auf meiner Schulter ließ mich erschrocken zusammenfahren. War er gekommen, um nachzusehen, ob ich noch lebte?
Ich hatte zwei Möglichkeiten. Ich konnte der Situation mithilfe meiner Phantasie entfliehen. Der gelbe Schmetterling. Kühles Wasser. Wasser zum Trinken und zum Untertauchen. Ich versuchte, in Gedanken meine alte Welt wieder auferstehen zu lassen. Meine Wohnung. Ich ging durch die Räume, betrachtete die Bilder an der Wand, berührte den Teppich, benannte die Gegenstände in den Regalfächern. Ich ging durch das Haus meiner Eltern. Es gab seltsame Leerstellen. Den Gartenschuppen meines Vaters, die Schubladen von Terrys Schreibtisch. Trotzdem. Es gab so viel in meinem Kopf. So viele Dinge. Dort drinnen und dort draußen. Aber manchmal, wenn ich durch diese imaginären Räume wanderte, verschwand plötzlich der Boden unter meinen Füßen, und ich fiel. Diese Gedankenspielchen würden mich vielleicht davor bewahren, wahnsinnig zu werden, doch es ging nicht nur darum, dem Wahnsinn zu entgehen. Ich musste vor allem am Leben bleiben. Ich musste Pläne schmieden und versuchen, meinen Wunsch, ihn zu töten, in die Tat umzusetzen. Ich wollte ihn verletzen, ihm die Augen auskratzen, ihn zu Brei stampfen. Alles, was ich brauchte, war eine Gelegenheit, aber ich sah keine Möglichkeit, wie sich eine solche ergeben sollte.