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Halef ist am Westrand des Persischen Golfs unterwegs, um sich in Basra mit seinem Sihdi und Sir David zu treffen. Auf dem Weg dorthin stößt er auf einen tödlich verletzten Mann, der ihm eine Pergamentrolle entgegenstreckt.Das geheimnisvolle Schriftstück zeigt die Ruinen der antiken Stadt Palmyra im Süden der syrischen Wüste.Damit beginnt ein weiteres großes Abenteuer mit Kara Ben Nemsi.
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Seitenzahl: 309
Kara Ben NemsiDER BLICK DES TETRAPYLON
In dieser Reihe bisher erschienen
1801 Die Rückkehr des Schut
1802 Die Rache des Schut
1803 Der Fluch des Schut
1804 In der Gewalt des Schut
1805 Das Geheimnis des Schut
1806 Der Krieg des Schut
1807 Die Schatzräuber und die Felsenstadt
1808 Das Königsgrab in der Felsenstadt
1809 Das Vermächtnis aus der Felsenstadt
1810 Die Shejitana
1811 Im Reich der Shejitana
1812 Königin Shejitana
1813 Die Reise zum Toten Meer
1814 Die Stadt am Toten Meer
1815 In der roten Wüste
1816 Die El-Wahabiya-Bande
1817 Karawanentod
1818 Auf dem Weg zu Halef
1819 Im Tal der Herba Juvenilis
1820 Der Blick des Tetrapylon
Kara Ben Nemsi
Der Blick desTetrapylon
Eine Reiseerzählung nach den Charakterenvon Karl May
Aufgeschrieben von Axel J. Halbach
Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Ralph KretschmannUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-130-4Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!
„El Hamdullilah! Ein Gebüsch! Ein Schatten! Beim Bart des Propheten – endlich eine Erlösung von den Qualen der unbarmherzigen Sonne, auch wenn ich sie ja eigentlich gewohnt sein müsste! Allah ist mit den wahren Gläubigen! Dieses Bakk Bela Mar – diese Sandwüste, dieses Meer ohne Wasser – es hat endlich ein Ende!“
Es war Halef oder, genauer gesagt, Hadschi Halef Omar ben Hadschi Abul Abbas – nein, seinen ganzen Namen müssen wir hier nicht unbedingt wiederholen! Allerdings darf man ihn auch nie Abu el Hadascht Scharin – Vater der elf Barthaare – nennen, denn dann bekommt man es im wahrsten Sinne mit ihm zu tun! Halef also, Sheik der Haddedihn vom Stamm der Schammar, hatte vor drei Tagen sein heimatliches Dorf im Nordosten Arabiens verlassen, um einige dringende geschäftliche Angelegenheiten in Basra, am Zusammenfluss von Euphrat und Tigris, zu erledigen.
Außerdem erwartete er dort Besuch – seinen Sihdi Kara ben Nemsi und Sir David Lindsay, den skurrilen Lord aus dem Vereinigten Königreich und häufiger Reisebegleiter von ihm und seinem Sihdi. Die beiden waren mit der Jacht Lindsays ebenfalls auf dem Weg nach Basra und man hatte ein Wiedersehen etwa zu der Zeit vereinbart, zu der auch er, Halef, dort eintreffen würde.
Hanneh, Halefs Frau im Duar der Haddedihn, würde sicher wieder einmal für längere Zeit allein sein. Aber das war sie ja nachgerade gewohnt – und wirklich allein wäre sie schließlich auch nicht, denn ihr gemeinsamer Sohn Kara ben Halef, der jetzt gerade das Laufen lernte, würde auch sie zweifellos ausreichend auf Trab halten.
„Allah kherim – gnädiger Gott! Er hat mich wieder einmal gerettet! Lob und Preis dem Allmächtigen!“
Mit einem Seufzer blickte Halef auf die Wasserfläche des Persischen Golfs, den er endlich erreicht hatte. Von hier aus würde es nur noch etwa ein Tagesritt bis zu den Ausläufern von Basra sein und das schattige Gebüsch vor seinen Augen bot jetzt, am späteren Nachmittag, nicht nur die lang ersehnte Ruhepause, sondern verbarg hoffentlich auch einen bequemen und geschützten Ruheplatz für die Nacht.
Er hatte Glück. Von dichtem begrüntem Gestrüpp umgeben lag ein schöner sandiger, fast kreisrunder Platz vor ihm, an dessen Seiten sogar schütteres Gras seinem Hedschihn ein wenig Nahrung versprach. Halef saß ab und gab seinem Reittier die Freiheit, sich nach Belieben zu bewegen. Es würde immer in seiner Nähe bleiben. Vorher allerdings hatte er dem Tier noch sein Gepäck abgenommen und natürlich auch das in einem Futteral an der Seite des Sattels untergebrachte Gewehr, bei dem es sich im Unterschied zu seiner früheren altertümlichen Donnerflinte um ein doppelläufiges Gewehr modernster Bauart handelte – ein Geschenk seines Sihdi, das er inzwischen recht gut zu handhaben wusste.
Den Weg bis hierher hatte Halef ohne nennenswerte Zwischenfälle überstanden, aber das war nicht selbstverständlich. Niemand wusste besser als er, dass allerlei zwielichtige Gestalten die Wüste bevölkerten, und mit der immer geringeren Entfernung zu Basra würden diese Zeitgenossen eher mehr denn weniger werden.
Halef trat an das Ufer des Golfs und überblickte die Wasserfläche gen Süden. Im Augenblick war kein Schiff in Sicht – weder das kleine Boot eines Fischers noch eine Dahabijeh, ein eher behäbiger Segler, oder vielleicht auch ein Sandal, eine lang gebaute und gut bemannte Barke, die bei ausreichendem Wind so schnell segeln kann, dass sie es fast mit einem der modernen Dampfschiffe aufnimmt, von denen derzeit aber auch keines in Sicht war. Das Ufer vor ihm am Golf bestand aus reinem, fast vegetationslosem Sandboden. Erst in etwa 300 oder 400 Meter Entfernung verdeckte erneut ein aus Schilf, Ried und kleineren Sträuchern bestehender Grünflecken die Sicht auf den weiteren Verlauf des Ufers.
In diesem Augenblick bewegte sich etwas im entfernten Grün. Die Zweige des Gebüschs gerieten in heftige Unordnung und plötzlich stürzte ein Mann aus dem Gestrüpp hervor und rannte am Ufer entlang auf Halef zu. Dieser hatte mit einem Griff sein Gewehr in der Hand und wartete die weitere Entwicklung ab, als sich das Gebüsch erneut teilte und ein zweiter Mann erschien, der offenbar den ersten verfolgte und im Unterschied zu diesem bewaffnet war. Nach etwa fünfzig Metern blieb dieser Mann abrupt stehen, zielte und schoss. Der vor ihm Flüchtende stürzte und blieb liegen, nur noch etwa 200 Meter von Halef entfernt, und machte ein paar Hilfe suchende Armbewegungen zu Halef hin. Halef selbst sah im gleichen Moment, wie der Verfolger erneut seine Waffe hob, um dem Verletzten mit einem weiteren Schuss den Rest zu geben.
Er hatte aber nicht mit Halef gerechnet! Das war kaltblütiger Mord und das würde Halef nie zulassen! Blitzschnell hatte er seinen doppelläufigen Karabiner im Anschlag – der erste Schuss schlug dem Angreifer das Gewehr aus der Hand – die dabei sicher nicht unverletzt blieb – und der zweite traf ihn ins Bein. Auch der Angreifer ging jetzt als Folge zu Boden, rappelte sich aber wieder auf und schleppte sich in das Gebüsch zurück. Halef kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern eilte zu dem Verletzten, der nur noch etwa 150 Meter von ihm entfernt am Boden lag.
Eine schwache Handbewegung begrüßte ihn. Halef gab den Gruß zurück und untersuchte die Verletzung – Allah kherim – das sah nicht gut aus! Der Schuss hatte das linke Schultergelenk zerschmettert und war noch tiefer eingedrungen. Möglicherweise waren Splitter in die Lunge gelangt und auch das Herz schien betroffen. Der Verletzte konnte nur mit großer Mühe noch Atem holen und aus seinem Mund kam ein kleines Rinnsal Blut.
„Allah ia sillib – allmächtiger Gott! Wer hat dir das angetan? Wer bist du? Was kann ich tun?“
Der Schwerverwundete murmelte etwas Unverständliches und zog dann mit seiner rechten Hand und viel Mühe eine Pergamentrolle aus seinem sandfarbenen Kaftan und streckte sie Halef entgegen.
„Nimm ... sehr ... w... wichtig ... mit mir ... bald ... zu Ende ...“
„Was ... was ist das? Was soll ich damit machen?“
„Der ... der ... Blick ist ... ein Pfeil ... folge ... folge ihm ... und ... und vernichte ... vernichte ... das Böse! Dir ... dir ist ... große Belohnung ... gewiss ...“
Halef ergriff die Pergamentrolle.
„Was meinst du damit? Ich verstehe nicht – was haben deine Worte zu bedeuten? Was ist das? Wie kann ich dir helfen?“
„K... keine ... Hilfe ... mehr ... möglich ... aber ... aber ... hüte ... hüte dich ... vor ... vor ... Al-Kadir ... Al-Kadir ...“
Das waren die letzten Worte des Schwerverletzten. Ein sichtbares Zittern ging plötzlich durch seinen ganzen Körper, ein letztes kurzes Aufbäumen folgte – und dann lag er still, totenstill. Er hatte diese Welt verlassen.
Halef war erschüttert und starrte auf die Pergamentrolle in seinen Händen, ohne zu begreifen und ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Diese fast Schockstarre dauerte aber nicht lange. Er musste etwas tun, natürlich, und sofort, denn die Abendsonne neigte sich schon bedenklich dem Horizont zu. Eine kurze Untersuchung des Toten – ja, hier war kein Leben mehr. Hoffentlich war dem vielleicht dreißigjährigen Unbekannten im Jenseits ein besseres Schicksal beschieden. Und unbekannt blieb er – der Tote hatte keinerlei identifizierende Papiere oder ähnliches bei sich.
Für Halef war klar – er konnte den Leichnam auf keinen Fall so liegen lassen. Er hatte aber auch keinerlei Gerätschaften zur Verfügung, um ein halbwegs akzeptables Grab zu schaufeln. So blieb ihm nur, mit den bloßen Händen eine ausreichende Vertiefung in den Sand zu graben, den Toten dann hineinzulegen und mit einem kleinen Sandhügel zu bedecken – in der Hoffnung, dass die Tiere der Nacht ihn nicht entdecken und ausgraben würden.
Die Pergamentrolle, die er beiseitegelegt hatte, nahm er wieder zur Hand, unschlüssig, was er damit tun sollte. Natürlich würde er sie mitnehmen – aber die nähere Betrachtung müsste bis Basra warten. Jetzt war es ohnehin schon zu dunkel und sein Sihdi würde dann gegebenenfalls am besten wissen, was das alles zu bedeuten hatte und was zu tun war.
Er ging zum Lagerplatz zurück. Sein Hedschihn hatte sich schon hingelegt und nach einem kurzen Imbiss folgte auch Halef dessen Beispiel. Bald senkte sich die Nacht über beide. Der Mörder des armen Toten blieb verschwunden.
*
Am Abend des folgenden Tages war Halef gut in Basra angekommen, ohne dass es erneut irgendwelche Zwischenfälle oder andere besondere Ereignisse gegeben hätte. Allerdings hatte er ein paar Mal das Gefühl gehabt, als ob ihm jemand folgte – aber auch wenn er sich mehrmals abrupt umdrehte, war niemand zu sehen. Es war wohl nur Einbildung oder ein unbestimmtes Gefühl, dass der Verbrecher des Vortags vielleicht nicht allein gewesen war. Halef hatte sich zwar noch am Morgen danach zu dem Gestrüpp begeben, aus dem Opfer und Täter hervorgekommen waren, und dabei nur feststellen können, dass sich die Spuren des von ihm angeschossenen Mannes zunächst im Sand jenseits des Riedgebüschs fortsetzten, sich dann aber verloren.
In Basra kam er in Hafennähe in der ihm bereits bekannten Herberge Bir es Schukr – Brunnen der Dankbarkeit – unter. Dieser Name war wohl eine Anspielung auf die Gefahren der See, die auf dem Persischen Golf sowohl von den Wetterverhältnissen als auch von bestimmten Menschen ausgehen konnten sowie auf die Dankbarkeit, die man nach sicherer Ankunft im Hafen empfand. Sein Sihdi und Sir David, die jetzt eigentlich jederzeit ebenfalls in Basra eintreffen müssten, wussten natürlich Bescheid, wo man ihn treffen würde.
Es war schon spät – ein kleiner Imbiss und dann ein erholsamer Schlaf in einem richtigen Bett konnten nach den vergangenen Nächten unter freiem Himmel sicher nicht schaden! Und so geschah es dann auch – erst am folgenden Morgen nahm sich Halef dann endlich die Pergamentrolle vor. Ausgerollt hatte das Ziegenleder ein Format von etwa vierzig mal fünfzig Zentimetern und etwa in der Mitte dieses Vierecks befand sich eine in das Leder eingeritzte seltsame Zeichnung. Sie bestand aus sechzehn schlanken Säulen, von denen jeweils vier eine überdachte Nische bildeten, in denen sich jeweils eine Statue befand. Alle diese Statuen blickten nach innen – mit einer Ausnahme, bei der der Kopf nach außen gedreht war und der Blick der Statue in eine der vier Himmelsrichtungen ging.
Halef erinnerte sich an die Worte des Sterbenden: Der Blick ist ein Pfeil – folge ihm! Was hatte das zu bedeuten? Und unterhalb dieser Zeichnung stand auch noch in arabischer Schrift ein Wort: Palmyra. Palmyra – davon hatte Halef schon gehört, eine antike Ruinenstadt in der syrischen Wüste, etwa auf der Hälfte der Strecke zwischen dem Mittellauf des Euphrat im Osten und dem Mittelmeer bei Homs im Westen. Dort gewesen war er noch nie. Wieder zerbrach er sich den Kopf, ohne irgendeine Antwort zu finden. Nein – er würde sich jetzt nicht unnötigerweise den Kopf zerbrechen, das sollte sein Sihdi tun, der ja jetzt bald hier sein würde und der immer auf alles eine Antwort oder Erklärung hatte.
Aber halt – was hatte der Sihdi ihm immer wieder bei den verschiedensten Anlässen eingeprägt? Wenn du etwas Wertvolles hast, das nicht verloren gehen darf, dann fertige eine Kopie an, damit die Information als solche dir, uns erhalten bleibt! War dieses Pergament wertvoll? Vermutlich, nach den Worten des Sterbenden zu urteilen. Also gut, sagte sich Halef, dann mache ich eben eine Kopie!
Er besorgte sich festes Pergamentpapier im nahe gelegenen Basar und begann mit der Abschrift. Ganz so einfach war das für seine ungeübten Finger zwar nicht, aber die Kopie gelang doch einigermaßen originalgetreu. Dann rollte er diese Abschrift ebenso wie das Original zusammen, verstaute ersteres in seinem Gepäck und verbarg das Original in einer der inneren Seitentaschen seines Haiks. Das Original wollte er auf keinen Fall einer vielleicht ungewissen Zukunft im Brunnen der Dankbarkeit überlassen.
So weit so gut – aber was nun? Da sein Sihdi und Sir David noch nicht angekommen waren, bot sich ein abwechslungsreicher Aufenthalt im nahe gelegenen Souk an, dessen buntes Treiben sicher genug Abwechslung bot. Außerdem war es inzwischen Mittag geworden und der Magen verlangte nach etwas Essbarem. Halef brach auf und befand sich schon nach nur wenigen Minuten im dichten Gewühl orientalischen Lebens.
Für Halef war das mehr als bunte Treiben, diese Vielfalt, zwar nicht neu, aber es war doch immer wieder faszinierend – Kupfer- und Silberschmiede, Glasbläser, Schmuckhändler, Anbieter von allerlei Kuriositäten und Antiquitäten, immer wieder Stände und kleine Läden für Modeartikel und andere Kostbarkeiten, dazu praktisch alle Produkte des täglichen Bedarfs, dann Teller, Kannen, Töpfe, Schalen, Kleidung, Tuche, Teppiche aller Art und natürlich immer wieder wahre Gewürzwolken, die die Nase verwöhnten – Kardamom und Koriander, Zimtrinde und Gewürznelken, Muskatnüsse und Aniskörner, Jasmin, Moschus, Wacholder und Lavendel – es war ein unüberschaubares Durcheinander.
Natürlich blieb Halef bei seinem Gang durch die Menschenmenge nicht unangesprochen – hier wurde ihm Ma el Furkan, das Wasser der Erlösung, angepriesen, dort versprach ein Blumenhändler, dass seine Rosen direkt aus dem Garten des Propheten stammten, und kunstvoll verzierte Schalen und Töpfe versprachen, Nur es Dunje, das Licht der ganzen Welt, widerzuspiegeln. Da Halef jedoch keine Anstalten machte, hier oder da etwas zu erstehen, wurden ihm durchaus auch Schimpfworte hinterhergerufen wie etwa: Sefil bodur es Asdar – elender Wicht und Geizhals! Du krummer Sohn und Enkel einer Gurke! Geh zum Teufel und werde gefressen von seiner Großmutter!
Auch das war für Halef nicht neu und kümmerte ihn wenig. Andererseits machte sich jetzt aber doch das Knurren seines Magens stärker bemerkbar. Gerade kam er an einem Kaffeehaus vorbei, dessen süße Düfte – Ramazan-Kuchen aus Reismehl mit Puderzucker und Rosenwasser, Serailsbrot aus Mandeln, Honig und Butter, Baklava mit Nüssen, Pistazien und Sirup – sein Inneres in Aufruhr versetzten. Aber Halef wollte etwas Herzhafteres. Ein wenig weiter kam er an einer kleinen Gaststube mit dem Namen Menzil er Mochalla Dschennet – Gasthaus zum wohlriechenden Paradies – vorbei, aus der die verführerischen Düfte eines Hammelrückens seine Nase umschmeichelten und seinen Magen unbezwingbar revoltieren ließen. Hier konnte und wollte er nicht widerstehen.
Bevor er sich aber in dem nur halbwegs besetzten Innenraum nach einem geeigneten Sitzplatz umsah, verspürte er ein menschliches Rühren und machte sich durch die Hintertür auf die Suche nach einem gewissen Örtchen. Die Tür führte ihn in einen schmalen und dunklen Gang, in den nur schwach ein wenig Oberlicht drang. Dann kam erneut eine Tür, hinter der ein nicht weniger dunkler schuppenähnlicher Raum und danach ein schmuddeliger Hinterhof vor ihm lagen, der mit allerlei Gerätschaften gefüllt war. Gerade wollte Halef sich suchend umsehen, als ihn ein heftiger, ein sehr heftiger Schlag auf den Hinterkopf traf. Nur ganz kurz verspürte er dessen intensiven Schmerz, bevor er zu Boden und in Ohnmacht fiel.
*
Gegen Abend des gleichen Tages kam ich, Kara ben Nemsi, zusammen mit meinem Freund Sir David Lindsay wohlbehalten im Hafen von Basra an. Nachdem die Jacht sicher in einem Nebenbecken des Hafens vertäut war – auch deren Mannschaft, Kapitän, Steuermann, der Erste Offizier und zwei Deckhands blieben bis auf Weiteres an Bord – machten wir beide uns sofort auf die Suche nach Halef. Auf unser Wiedersehen freute ich mich schon lange. Ich wusste ja, dass er im Bir es Schukr, dem Brunnen der Dankbarkeit, unterkommen und dort auch für uns zwei Zimmer reservieren wollte, sodass wir uns direkt dorthin begeben konnten.
Ich trug den landesüblichen Haik, der aber nicht weiß, sondern sandfarben war – diese Farbe bot in der Wüste und Wüstensteppe einen wesentlich besseren Sichtschutz, falls dieser einmal notwendig sein sollte. Auf dem Kopf jedoch hatte ich weder einen Turban noch das Kefije, das Tuch der Beduinen, sondern einen breitkrempigen Hut nach Western-Art, der nicht nur den besten Sonnenschutz gab, sondern auch die Gesichtszüge ein wenig verbarg, falls dies einmal vorteilhaft sein sollte. Dies war wohl das einzige Kleidungsstück, das mich als Fremden ausweisen konnte, denn ansonsten – von meinem fließenden, akzentfreien Arabisch her und dem Kennen der lokalen Sitten und Gebräuche – konnte ich durchaus als Araber oder Beduine durchgehen.
Sir David allerdings war in seiner üblichen und in diesem Klima völlig unpassenden Art gekleidet: Von Kopf bis Fuß, von Hut und Halstuch bis hin zu den Socken und Gamaschen war er die dem Leser zur Genüge bekannte graukarierte Gestalt. Mir war klar, dass hier eine Anpassung an das örtliche Klima erfolgen musste – jedoch war ich erfahren genug, um bei dem Lord hierzu die passende Gelegenheit abzuwarten. Während unserer langen Seefahrt über Mittelmeer, Suezkanal, Rotes Meer, um die Südküste Arabiens herum und in den Persischen Golf war es natürlich als Folge des See- und Fahrtwinds nicht so unerträglich gewesen, wie es jetzt in den nächsten Tagen zweifellos werden würde – ich wusste, dass die Temperaturen rings um Basra oft in erstaunliche Höhen stiegen; von Landschaft und Klima her ist Basra alles andere als erquicklich.
Beim Brunnen der Dankbarkeit wartete eine arge Überraschung auf uns. Wie uns die Wirtin mitteilte, hatte Halef die Herberge schon gegen Mittag verlassen und war seitdem nicht wieder aufgetaucht. Das war jetzt mehr als sieben Stunden her und für uns Anlass zur Sorge, denn er erwartete uns ja. Ich wandte mich an meinen Gefährten.
„Sir David – was meinen Sie? Was machen wir?“
„By Jove, Master Nemsi – unangenehme Situation! Muss irgendwo sein! Maybe – ihn suchen?“
„Ich fürchte, ihm ist etwas zugestoßen! Ihn suchen – natürlich! Aber wo?“
„No idea – oder vielleicht doch? Gegen Mittag verschwunden. Hatte Hunger, certainly. Vielleicht im Souk nearby? Um etwas zu essen?“
„Richtig, Mylord ... eine naheliegende und sehr gute Idee! Allerdings ist das kein leichtes Unterfangen ... so ein Souk ist wie ein Irrgarten.“
„That’s true – aber bessere Idee? No! Man braucht auch Glück, right?“
„Wieder richtig – und auf das werden wir uns jetzt verlassen!“
Wir ließen unser Gepäck im Zimmer von Halef und begaben uns unverzüglich auf die Suche. Der Souk war, wie erwähnt, nicht weit entfernt und immer noch sehr belebt, wenn auch sicher etwas weniger als zur Mittagszeit der Fall. Verkaufsstände und Läden ließen wir außer Acht und konzentrierten uns auf die Etablissements, die in halbwegs gemütlicher Atmosphäre etwas Essbares anboten.
Unsere ersten Kontakte waren ergebnislos – aber nein, doch nicht ganz, denn zwei unserer Gesprächspartner erinnerten sich zumindest an den vorbeilaufenden Halef, den ich so genau wie möglich beschrieb. Wir wussten damit also, dass er tatsächlich den Souk aufgesucht hatte.
Und dann hatten wir es irgendwann doch, unser oft sprichwörtliches Glück! Als wir im Menzil er Mochalla Dschennet zum wievielten Mal auch immer unsere Frage stellten, antwortete uns ein sehr aufgeregter Wirt: „Allah ia sillib – allmächtiger Gott, ich danke dir! Der Kleine hat Freunde! Seid ihr seine Freunde?“
„Die besten, die es je gab, verehrter Vater der Aufrichtigkeit! Wir suchen ihn seit Langem! Was weißt du? Was ist ihm geschehen?“
„Ia Allah, ia Fasa, ia Hajaran – oh Gott, oh Schreck, oh Entsetzen, wenn ich daran denke! Er betrat meinen Gastraum, ging aber sofort wieder hinaus, durch die Tür dort hinten! Sie führt in einen Hinterhof, der an einen wenig ansehnlichen und oft von unangenehmen Gestalten bevölkerten Teil unseres sonst so schönen Souks grenzt ... und dort ... und dort ...“
„Was war dort? Schnell, rede ... es ist wichtig!“
„Esch el Musibedi – welches Unglück! Dort lag er ... bewusstlos ... und großes Blut am Hinterkopf! Sein Haik war zerrissen und sein grüner Turban, der ihn als Mekka-Pilger ausweist, lag zerknüllt daneben!“
„Und? Und? Weiter!“
„Oh, der arme Kleine! Nicht tot, nein – aber niedergeschlagen und sicher beraubt! Brutal! Ich bin ein Abu l’Agal, ein Vater der Schnelligkeit! Ich sofort Sanitäter gerufen und ihn ins Krankenhaus bringen lassen ... Transport aber teuer ... sehr teuer ...“
„Das hast du gut, sehr gut gemacht und das soll nicht dein Schaden sein!“
„Certainly not!“
Sir David hatte schon seine Geldbörse in der Hand und gab dem Wirt ein sicherlich sehr großzügiges Trinkgeld.
Ich bedankte mich mit herzlichen Worten und ließ mir noch den Weg zur Krankenstation erklären. Dann verabschiedeten wir uns mit Allah jimaßik bilcher – Allah schenke dir einen glücklichen Abend – und machten uns so schnell wie möglich auf den Weg zu Halef.
Es dauerte ein wenig in dem Gewirr der Gassen, aber schließlich hatten wir unser Ziel erreicht. Und da lag er, der arme Tropf, auf einer Pritsche – und ich bemerkte sofort den Bluterguss an seinem Hinterkopf, unter dem sich eine prächtige Beule zu bilden begann. Er war offenbar immer noch bewusstlos, atmete aber ruhig. Dem Personal hatte ich erklärt, wer wir seien, und man war froh, uns mit ihm allein lassen zu können, um Zeit für die anderen Kranken zu haben.
Da! Halef bewegte sich! Waren wir gerade im richtigen Augenblick gekommen? Jetzt versuchte er, sich aufzurichten ...
„Jawasch, Halef – langsam, sachte!“
Halef hielt, ein wenig auf die Ellenbogen gestützt, inne und öffnete seine Augen.
„Sihdi! Du bist da! Adschab Allah – Wunder Gottes! Ich bin wieder auf der Erde!“
„Du hast sie nie verlassen, lieber Halef! Aber langsam, langsam! Du hast offenbar eine erhebliche Gehirnerschütterung abbekommen ...“
Halef richtete sich jetzt vollständig auf und saß vor uns auf der Pritsche.
„Natürlich habe ich sie verlassen! Ich war im Himmel, im siebten Himmel – und es war fürchterlich langweilig dort! Deshalb bin ich ja so froh, wieder auf der Erde zu sein!“
„Halef! Es ist ja schön, wenn du kurzzeitig im Himmel warst und nicht in der Dschehenna gelandet bist – aber jetzt bist du wirklich wieder hier bei uns!“
„Kull Schejatin – alle Teufel! Ich war wirklich im Himmel und der hat mir gar nicht gefallen!“
„Gut, gut ... aber nun bist du wieder hier ...“
„Ich will ... ich muss dir ... oh, Sir David, unser guter Lord, ist auch da! Ich muss euch erzählen ...“
„Halef – langsam, wie ich schon sagte! Aber wenn du uns erzählen willst ...“
„Ich will, ich muss, Sihdi! Denn es war ziemlich deprimierend ...“
„Das verstehe ich nicht! Jeder wünscht sich doch, in den Himmel zu kommen?“
„Weil sie nicht wissen, was sie dort erwartet! Aber ich weiß es jetzt! Höre zu! Du sitzt also auf einer kleinen Wolke im siebten Himmel ... und um dich herum sind noch ein paar andere kleine Wolken, aber fast alle leer! Nur hier und da siehst du vielleicht noch jemanden auf so einer Wolke sitzen ...“
„Nun ja – es scheinen eben nicht viele in den siebten Himmel zu kommen! Das ist ein Privileg!“
„Eben! Aber ein verdammt langweiliges! Nichts zu tun, niemand da, um sich zu unterhalten!“
„Aber ... auf einigen der anderen Wolken ...“
„Ich habe es versucht! Man konnte aber nicht fliegen – ich hatte ja auch keine Flügel –, sondern man konnte sich immer nur irgendwohin wünschen – und dann war man schon da!“
„Na – das ist doch sehr praktisch! Und dann?“
„Die wenigen anderen waren offenbar schon so von der Langeweile aufgefressen worden, dass sie kaum Sabahdi kher – guten Tag – oder Es-Salam alek – Friede sei mit dir – zu mir sagten! Wer weiß, wie lange die schon dort auf ihrer Wolke hockten! Und überhaupt – es gibt dort gar keine Zeit! Ich hatte selbst das Gefühl, schon für immer und ewig dort gewesen zu sein! Ein ganz schreckliches Gefühl!“
„Das ist ... das ist wirklich ...“
„Sihdi – du kannst es dir nicht vorstellen! Und dann die Engel ...“
„Nun – die gab es also immerhin ...“
„Ja, aber nicht viele! Sie flogen zwar ab und an vorbei, aber eine interessante Unterhaltung mit ihnen war nicht möglich! Überhaupt – sie konnten zwar als einzige wirklich richtig fliegen, denn sie hatten ja Flügel ... aber sonst ... durchsichtig ... wenig an ... aber nichts darunter ... genauso durchscheinend wie die Wolke, auf der ich saß!“
„Das ist nun wirklich bedauerlich ... aber ...“
„Nur einer der Engel war einmal ein bisschen nett! Er hat mir gesagt, ich sollte mich doch – und sei es nur für eine kurze Zeit – in einen der anderen Himmel wünschen – und das habe ich dann auch getan!“
„Und? Was war dort?“
„Ich war im sechsten, fünften, vierten Himmel und so weiter – und es wurde immer voller, kaum dass ich noch eine freie Wolke für mich fand! Aber ansonsten – überall dasselbe! Und dazu immer und ewig diese langweilige Musik, Harfen und Schalmeien, egal in welchem Himmel ...“
„Das muss nun wirklich sehr frustrierend gewesen sein! Und wie ging es dann weiter?“
„Oh – das habe ich fast vergessen! Ein Engel im Himmel Sieben hatte mir gesagt, im Himmel Eins dürfte ich mich nie bis an den Rand der letzten Wolke begeben beziehungsweise wünschen, das sei streng verboten! Dort befände sich El Halak, der Abgrund des Verderbens! Selbst im Himmel ist also nicht alles erlaubt! Abgesehen davon, dass man einfach nicht weiß, was man tun soll!“
„Aber dann ...“
„Genau! Natürlich habe ich mich jetzt erst recht an den Rand der letzten Wolke gewünscht – und schwupps! – war ich auch schon da! Und was meinst du, was ich dort sah?“
„Keine Ahnung! Vielleicht herunter, bis zu uns, auf die Erde?“
„Nein! Aber tief unter mir und dennoch ganz klar und deutlich zu erkennen befand sich ein runder, fester, dicht bevölkerter Platz, an dessen einer Seite sich ein dunkles Loch befand, aus dem Rauch und Qualm herauskamen ... und manchmal auch eine rötliche Flamme ...“
„Das war also ...“
„Richtig, Sihdi! Die Vorhölle! Durch das dunkle Loch ging es wohl direkt in die richtige Dschehenna! Aber diese Vorhölle war gar nicht so übel! Zum einen: Es gab ja festen Boden dort unten! Nicht mehr dieses elende Gewaber wie im Himmel oben, wo nichts greifbar war und alles durch alles hindurchging! Natürlich muss es ziemlich warm dort unten gewesen sein, denn die Männer ... und auch die Frauen ... waren alle mit freiem Oberkörper ... und vor allem dann: Es wurde eine recht flotte Musik gespielt! Und schließlich erkannte ich auch einige Bösewichter, mit denen wir es im Verlauf unserer Abenteuer zu tun hatten, die aber offenbar nicht so verderbt waren, um sie gleich in die richtige Hölle zu schicken! Solche Erzschurken aber wie den Schut oder die beiden Aladschy oder Al-Kadir, die habe ich dort nicht gesehen – die schmorten wohl von Anfang an im Inneren der Dschehenna!“
„Du meine Güte, lieber Halef ... Deine Phantasie ...“
„Nix Phantasie, Sihdi! Das habe ich wirklich alles gesehen und erlebt! Aber dann ...“
„Dann?“
„Dann habe ich mich zu ... zu weit über den Rand dieser letzten Wolke gebeugt ... und bin heruntergefallen ... immer tiefer ... direkt auf den Platz der Vorhölle zu ... auf den ich dann aufgeschlagen bin ... au, verdammt ...!“
Halef fasste sich an seine blutunterlaufene Beule.
„Hier, Sihdi, hier bin ich aufgeschlagen! Du siehst es selbst! So war es!“
„Gut, gut, Halef – nun beruhige dich wieder! Jedenfalls sind Sir David und ich froh, dass du wieder bei uns bist! Bist du jetzt in der Lage, mit uns zu kommen, zu deiner, unserer Herberge Bir es Schukr? Dort können wir dann alles Weitere besprechen.“
„Na... natürlich, Sihdi! Aber ... halt ... mein Haik ... er hängt dort über dem Stuhl! Da muss ... da muss ... in der Innentasche eine ... eine Pergamentrolle sein ... kannst du mal ...“
Ich ging, holte den Haik – aber von einer Pergamentrolle war nichts zu sehen oder zu finden. Ich sagte es Halef.
„Nichts, gar nichts? Tausend Teufel und deren Großmütter! Ich muss sie verloren haben, als ich von dem Wolkenrand herunterfiel! Bei allen dreimal geschwänzten Krokodilen und Stachelschweinen ...“
„Was hat es denn mit dieser Rolle auf sich?“
„Das ... das ... ach, das ist eine lange Geschichte! Ich erzähle sie später! Aber ... aber ... die Rolle war wichtig, wertvoll!“
„Dann war sie der Grund, dass man dich überfallen und beraubt hat!“
„Du ... du meinst ... ja, wirklich – du könntest recht haben!“ Halef befühlte seine Wunde und Beule. „Man hat mich niedergeschlagen! Der Aufenthalt im Himmel war wohl nur die Folge davon! Ia mussibe, ia ghumm, ia elehm, ia rezalet – oh Unglück, Kummer, Schmerz und Schande! So ein verdammtes Pech!“
„Halef – reg dich nicht auf! Du wirst mir erzählen und wir werden darüber sprechen – aber erst im Bir es Schukr. Und jetzt komm – es wird Zeit, dass wir diese wenig gastliche Umgebung verlassen.“
„Du hast recht, Sihdi – alles hat seine Zeit! Und wir ganz besonders!“
Auch der gute Lord, der der Erzählung von Halef ohne zu unterbrechen gefolgt war, ließ sich jetzt vernehmen: „Zounds! Halef, certainly – egal welcher Himmel – seems to be a rather boring place! Die Vorhölle – well, probably ein bisschen hot! Aber hier nicht anders, damn it all! Und – apparently – die Schurken hier auf der Erde auch nicht weniger, by Jove!“
Dann machten wir uns auf den Weg, wobei Sir David und ich Halef in die Mitte nahmen und ihm auch den grünen Turban zurückgaben, den er beim Überfall verloren hatte. Es ging langsam, aber es ging und im Brunnen der Dankbarkeit nahmen wir erst einmal alle drei einen kräftigen und erfrischenden Schluck zu uns, bis Halef nicht mehr an sich halten konnte und zu erzählen begann – diesmal aber nicht vom Himmel, sondern von seinen handfesten Erlebnissen hier auf der Erde.
Als er vom Überfall auf den Unbekannten, von dessen wenigen Worten und der ihm, Halef, gereichten Pergamentrolle, die jetzt fehlte, berichtete, war mir sofort klar: Dieses Pergament war die Ursache der Überfälle auf den Fremden wie auch auf Halef. Ich brachte dies zum Ausdruck und fragte: „Worum handelt es sich denn überhaupt bei diesem Pergament? Was stand darauf? War es eine Schatzkarte? Sie muss ja eine irgendwie geheime Botschaft vermittelt haben?“
„Ach, Sihdi – eigentlich war da alles ganz übersichtlich und nicht geheim. Sechzehn Säulen, ein paar Figuren und darunter der Schriftzug Palmyra ...“
„Zum Teufel – es wird wohl etwas mehr gewesen sein und jetzt ist sie weg! Hatte ich dir nicht einmal gesagt, dass es sich empfiehlt, von solchen Dokumenten in bestimmten Fällen ...“
„... eine Kopie anzufertigen? Ja, das hattest du gesagt.“
„Und warum hast du es nicht getan?“
„Wer sagt denn, dass ich es nicht getan habe? Natürlich habe ich eine Kopie gemacht – aber du hast mich ja gar nicht ausreden lassen!“
„Oh Halef, verzeih! Du bist der Beste – und ich zu vorschnell! Hol sie, die Kopie – vielleicht wissen wir dann doch etwas mehr.“
Halef begann, in seinem Gepäck zu kramen, und reichte mir dann die dem Leser bereits bekannte Abschrift. Ich studierte sie aufmerksam und verband die Zeichnung mit den letzten Worten des Sterbenden, wie sie Halef mir berichtet hatte. Dabei kam mir zugute, dass ich versucht hatte, mich während der langen Schiffsreise mit Sir David ein wenig mit dem Land, mit Syrien und seiner Geschichte, vertraut zu machen. Und dabei spielte natürlich auch Palmyra eine Rolle ... plötzlich ging mir ein weiteres Licht auf. Ich musste meinen Gefährten erzählen, was ich wusste und dachte.
„Hört zu – ich kann einiges hierzu sagen. Palmyra ist eine antike Ruinenstadt in der syrischen Wüste, auf halber Strecke vom Euphrat über die Oase Al-Dumair nach Damaskus gelegen. Die ersten Funde dort gehen bis auf die Jungsteinzeit zurück. Innerhalb des Römischen Reiches hatte Palmyra eine gewisse Autonomie und Bedeutung. Im dritten Jahrhundert war der Ort ein regionales Zentrum des Nahen Ostens, denn er liegt an einer wichtigen Karawanenstraße. Palmyra war eine der Stationen der Seidenstraße. Zwei Quellen spenden dort inmitten der Wüste Wasser und ermöglichten Landwirtschaft mit Ackerbau und Viehzucht. Geografisch liegt Palmyra im Zentrum des Hochlands von Aleppo und ist nördlich und südwestlich von Bergketten eingeschlossen, während sich im Süden und Osten die syrische Wüste erstreckt.
Die Kultur der dortigen früheren Bewohner war von den Römern, Griechen und Persern beeinflusst. Verehrt wurden lokale, mesopotamische und arabische Gottheiten. All das spiegelt sich in der Vielzahl der Ruinen wider, darunter zahlreiche Tempel, das Hadrianstor mit Kolonnaden, eine arabische Zitadelle auf einem Hügel und ...“
„Sihdi – wir sind hier weder in der Schule noch Archäologen! Was hat das alles mit dem Pergament zu tun?“
„Genau darauf wollte ich jetzt kommen. Das, was hier auf dem Original-Ziegenleder abgebildet wurde, nennt man ein Tetrapylon. Ein Tetrapylon markiert die Kreuzung zweier wichtiger Handelsstraßen und dieses hier, in Palmyra, gilt als das schönste, das die Römer je gebaut haben. Es besteht aus sechzehn schlanken Säulen aus rosafarbenem Granit, der aus Assuan stammt, und je vier dieser Säulen bilden eine überdachte Nische, in denen sich Statuen befinden.
Und jetzt kommt der für uns entscheidende Punkt: Diese Statuen blicken nach innen, auf die Reisenden, deren Weg sie durch das Tetrapylon führt. Das ist auch bei dieser Zeichnung hier der Fall – mit einer Ausnahme: Eine der vier Figuren hat den Kopf gedreht und blickt in eine der vier Himmelsrichtungen. Welche das ist, können wir nicht sagen, denn es gibt auf diesem Papier keinen Hinweis, wo Norden oder Süden liegen. Und dieser gedrehte Kopf wiederum verbindet sich mit den Worten des Sterbenden: Der Blick ist ein Pfeil – folgt ihm. Dort, wohin dieser Blick, dieser Pfeil zeigt, befindet sich das Böse ... aber dort befindet sich auch die reiche Belohnung, wenn man das Böse vernichtet ...“
„Allahu akbar, Sihdi – du liest diese Zeichnung wie ein Buch! Ob die Römer diesen einen Kopf schon so gedreht haben?“
„Das glaube ich nicht.“
„Dann hat man es erst jetzt getan?“
„Auch das glaube ich nicht, das wäre wohl auch nur schwer möglich, ohne die ganze Statue ernsthaft zu beschädigen. Ich nehme an, dass zwar alles so ist, wie es die Römer geschaffen haben, dass man aber den Kopf, der auf dem Ziegenleder gedreht ist, irgendwie gekennzeichnet hat. So kann dann derjenige, der das Pergament vor sich hat und richtig interpretiert, feststellen, in welche Richtung der Blick bei dem gedrehten Kopf gehen würde.“
„Maschallah! Und wir ...“
„Wir?“
„Wir werden das Böse vernichten und eine reiche Belohnung erhalten!“
„Meinst du wirklich? Nur weil du durch Zufall ...“
„Ha! Ich wurde niedergeschlagen, ausgeraubt! Meinst du, ich lasse das einfach so auf mir sitzen? Und du bist doch längst auch entschlossen!“
„Ich? Hm – nun ja ... was meinen Sie denn dazu, Mylord?“
„Ich? Well, certainly – bin dabei! Fantastic adventure! Halef hat vollkommen recht – wann brechen wir auf?“
„Nun – das scheint mir alles ein bisschen zu schnell zu gehen. Auch habe ich noch eine Frage an dich, Halef. Als du uns von deinem Traum als Folge der Gehirnerschütterung erzähltest, erwähntest du auch die Schurken, die wir vor einigen Jahren bekämpft und ins Jenseits geschickt haben, nämlich den Schut, die beiden Aladschy – aber dann nanntest du auch einen Al-Kadir, den Mächtigen! Wer ist das? Von dem habe ich noch nie gehört, mit einem Al-Kadir hatten wir bisher noch nie zu tun!“
„Oh Sihdi – ich erinnere mich! Und ich vergaß, es euch zu erzählen! Der ... der Sterbende ... seine letzten Worte ... seine allerletzten Worte waren: Hüte dich ... hüte dich vor Al-Kadir ... vor Al-Kadir! Deshalb habe ich wohl diesen Namen zusammen mit den anderen Schurken genannt.“
„Aha! Dann scheint mir eines ziemlich klar zu sein: Dieser Al-Kadir, dieser Mächtige, wie er sich offenbar nennen lässt, dürfte mit dem Bösen identisch sein, das der Unglückliche kurz vor seinem Tod erwähnte!“
„Richtig, Sihdi! Und diesen Kerl werden wir erledigen, so wie wir die anderen von mir genannten Schurken zur Strecke gebracht haben!“
„Yes, by all means – diese neue Aufgabe hat uns die Vorsehung geschickt, no doubt!“, ließ sich der Lord vernehmen.
„Hm. Damit scheint ihr beide ja wirklich einer Meinung zu sein und so ganz abgeneigt bin ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin. Aber das wird kein Spaziergang und wir müssen für einen längeren Aufenthalt in Wüste und Steppe gerüstet sein. Das heißt, dass wir vor unserem Aufbruch noch allerlei zu erledigen haben, besorgen müssen ...“
„Natürlich, Sihdi! In der Wüste gibt es keinen Souk, aber hier! Wir müssen uns beeilen – der Überfall auf mich und der Raub des Pergaments sprechen dafür, dass die Täter zu der Al-Kadir-Bande gehören oder sie zumindest kennen und vielleicht schon auf dem Weg dorthin sind.“
„Das sehe ich genauso. Ich schlage also vor: Heute ist es schon sehr spät, bestenfalls begeben wir uns jetzt noch einmal zu einer kleinen Mahlzeit in den Souk. Morgen dann besorgen wir eben dort, was wir alles für unsere Expedition für nötig halten ... und am Tag darauf könnte es dann in aller Frühe losgehen. Unsere Waffen und Munition in ausreichender Menge haben wir wohl schon bei uns.“