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Mit dem Bergpfarrer Sebastian Trenker hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Sein größtes Lebenswerk ist die Romanserie, die er geschaffen hat. Seit Jahrzehnten entwickelt er die Romanfigur, die ihm ans Herz gewachsen ist, kontinuierlich weiter. "Der Bergpfarrer" wurde nicht von ungefähr in zwei erfolgreichen TV-Spielfilmen im ZDF zur Hauptsendezeit ausgestrahlt mit jeweils 6 Millionen erreichten Zuschauern. Wundervolle, Familienromane die die Herzen aller höherschlagen lassen. Die ›Pension mit Herz‹, wie das ›Gästehaus Wachnertaler Hof‹ von vielen Menschen in St. Johann und im Wachnertal bezeichnet wurde, war bereit, die ersten Gäste aufzunehmen. Roland Wiedermann hatte zusammen mit Mareile Frischholz die Idee gehabt, Rentnern ein Angebot zu machen, über einen längeren Zeitraum zu einem erschwinglichen Preis bei ihnen die Seele baumeln zu lassen. Mareile und Roland hatten mit verschiedenen Hindernissen zu kämpfen gehabt, unter anderem waren sie sogar mit Vandalismus konfrontiert worden. Doch hier hatte glücklicherweise der Bergpfarrer eingegriffen und die Person, die er für den Initiator gehalten hatte, dazu veranlasst, den Unfug sein zu lassen. Nun hatten Mareile und Roland zur Einweihungsfeier laden können. Der Umbau und die Renovierung waren abgeschlossen, die Außenanlagen zum größten Teil fertiggestellt, es hatte bereits erste Anmeldungen gegeben. Jeder, der in irgendeiner Weise am Umbau des früheren ›Gästehaus Feilhuber‹ beteiligt gewesen war, hatte zur Einweihungsfeier eine Einladung erhalten und war auch erschienen. Nach einer kurzen Rede hatte Roland Wiedermann das Wort an Bürgermeister Bruckner weitergegeben. Nachdem der Gemeindevorsteher seiner Begeisterung Ausdruck verliehen hatte, war Pfarrer Trenker an der Reihe gewesen und hatte das Gästehaus gesegnet. Ein Alleinunterhalter sorgte für Stimmung. Es wurde getanzt, gelacht, gegessen, getrunken, und jeder der Anwesenden war bester Laune. Soeben stimmte der Musiker einen Walzer an, und Pfarrer Sebastian bat Mareile um den Tanz. Sie stimmte zu, ihr Lebenspartner, Roland Wiedermann, hatte auch nichts dagegen einzuwenden, und so schwebten der Pfarrer und Mareile gleich darauf im Dreivierteltakt über das Parkett im Speisesaal der Pension. Der Bergpfarrer war ein hervorragender Tänzer, und wenn sich die Gelegenheit bot, frönte er diesem Vergnügen mit derselben Hingabe, mit der er seinen Beruf als Geistlicher ausübte. »Sie werden Leut' einstellen müssen, Mareile«, begann Sebastian ein Gespräch während des Tanzes. »Zimmermädchen und Servicepersonal, Köche und vielleicht auch einen Hausmeister. Alleine können S' den Betrieb hier net stemmen. Sie werden, wenn das Haus ausgebucht ist, ständig um die zwanzig Gäste zu versorgen haben.«
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Seitenzahl: 130
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Die ›Pension mit Herz‹, wie das ›Gästehaus Wachnertaler Hof‹ von vielen Menschen in St. Johann und im Wachnertal bezeichnet wurde, war bereit, die ersten Gäste aufzunehmen. Roland Wiedermann hatte zusammen mit Mareile Frischholz die Idee gehabt, Rentnern ein Angebot zu machen, über einen längeren Zeitraum zu einem erschwinglichen Preis bei ihnen die Seele baumeln zu lassen.
Mareile und Roland hatten mit verschiedenen Hindernissen zu kämpfen gehabt, unter anderem waren sie sogar mit Vandalismus konfrontiert worden. Doch hier hatte glücklicherweise der Bergpfarrer eingegriffen und die Person, die er für den Initiator gehalten hatte, dazu veranlasst, den Unfug sein zu lassen.
Nun hatten Mareile und Roland zur Einweihungsfeier laden können. Der Umbau und die Renovierung waren abgeschlossen, die Außenanlagen zum größten Teil fertiggestellt, es hatte bereits erste Anmeldungen gegeben.
Jeder, der in irgendeiner Weise am Umbau des früheren ›Gästehaus Feilhuber‹ beteiligt gewesen war, hatte zur Einweihungsfeier eine Einladung erhalten und war auch erschienen.
Nach einer kurzen Rede hatte Roland Wiedermann das Wort an Bürgermeister Bruckner weitergegeben. Nachdem der Gemeindevorsteher seiner Begeisterung Ausdruck verliehen hatte, war Pfarrer Trenker an der Reihe gewesen und hatte das Gästehaus gesegnet.
Ein Alleinunterhalter sorgte für Stimmung. Es wurde getanzt, gelacht, gegessen, getrunken, und jeder der Anwesenden war bester Laune. Soeben stimmte der Musiker einen Walzer an, und Pfarrer Sebastian bat Mareile um den Tanz. Sie stimmte zu, ihr Lebenspartner, Roland Wiedermann, hatte auch nichts dagegen einzuwenden, und so schwebten der Pfarrer und Mareile gleich darauf im Dreivierteltakt über das Parkett im Speisesaal der Pension.
Der Bergpfarrer war ein hervorragender Tänzer, und wenn sich die Gelegenheit bot, frönte er diesem Vergnügen mit derselben Hingabe, mit der er seinen Beruf als Geistlicher ausübte.
»Sie werden Leut’ einstellen müssen, Mareile«, begann Sebastian ein Gespräch während des Tanzes. »Zimmermädchen und Servicepersonal, Köche und vielleicht auch einen Hausmeister. Alleine können S’ den Betrieb hier net stemmen. Sie werden, wenn das Haus ausgebucht ist, ständig um die zwanzig Gäste zu versorgen haben.«
»Das war sowohl mir als auch Roland klar«, antwortete Mareile, eine achtundzwanzigjährige, dunkelhaarige Schönheit, gepflegt und charismatisch, die auf ihr Umfeld große Faszination ausübte. »Wir haben bereits einige Stellen ausgeschrieben. Wie Sie eben schon sagten: Jobs als Zimmermädchen, Servicekräfte, Köche und auch einen Hausmeister. Die Stellenausschreibungen sind bereits im ›Kurier‹, in der Süddeutschen Zeitung, in verschiedenen österreichischen Tageszeitungen und sogar in der ›Neuen Südtiroler Tageszeitung‹ erschienen.«
»Habt ihr denn schon Bewerbungen?«, erkundigte sich der Pfarrer.
Mareile nickte. »Einige. Ein paar der Leute, die sich beworben haben, kommen für uns nicht infrage, einige sind aber dabei, die unser Interesse geweckt haben. Wir haben diese Leute in der kommenden Woche zu einem Gespräch einladen. Wir werden sehen. Wenn nötig, schreiben wir die eine oder andere Stelle noch einmal aus.«
»Ihr macht das schon so, dass es passt«, brachte Sebastian seine Überzeugung zum Ausdruck. »Jedenfalls ist das ›Gästehaus Wachnertaler Hof‹ eine Bereicherung für St. Johann. Dass ich von vornherein von Ihrer Idee begeistert war, muss ich ja nimmer extra betonen.«
»Ohne Ihr Verhandlungsgeschick wären der Roland und ich wahrscheinlich nie Geschäftspartner geworden und die Sache wäre aus finanziellen Gründen gescheitert.
»Geschäftspartner?«, kam es von Sebastian und ein hintergründiges Lächeln schlich sich in seine Züge.
»Ja, Geschäftspartner«, versetzte Mareile lachend. »Der Rest hat sich von selbst ergeben.« Das glückliche Strahlen in ihren Augen verriet, wie es um ihr Gefühlsleben bestellt war.
Der Tanz endete und Sebastian führte Mareile zu ihrem Platz zurück, bedankte sich bei ihr und Roland, wandte sich ab und wäre um ein Haar gegen Bürgermeister Markus Bruckner geprallt, der wie aus dem Boden gewachsen vor ihm stand.
Der Gemeindevorsteher lachte und sagte: »Rennen S’ mich nur net über den Haufen, Hochwürden. Sie haben heut’ ja wieder einen Elan …«
»Du musst ganz ruhig sein, Markus«, konterte Sebastian. »Du kommst ja selber kaum zum Sitzen, weil du fast ununterbrochen das Tanzbein schwingst.«
Bruckner verzog das erhitzte Gesicht. In seinen Augenhöhlen glitzerte feiner Schweiß. »Es gehört zu meinem Job als Bürgermeister, jede der anwesenden Damen mindestens einmal zum Tanz aufzufordern«, erklärte er. »Ich will doch niemand benachteiligen. Ich opfere mich gewissermaßen, denn ich weiß, dass ich in den nächsten drei oder vier Tagen kaum noch die Füß’ heben und auch net vernünftig auftreten kann, weil mir die Fußsohlen brennen. Aber was tut man net alles, um zu zeigen, dass man für jedes einzelne seiner Gemeindemitglieder da ist? – Das wissen S’ ja, Hochwürden, dass wir in zwei Wochen schon wieder Gewehr bei Fuß stehen müssen, wenn der Willi seinen Junggesellenabschied feiert. Die Einladung haben S’ doch gewiss schon erhalten.«
»Hab’ ich, Markus. Den Termin hab’ ich vermerkt, und ich hab’ deinem Neffen auch mein Kommen zugesagt. – Tja, mein Bester, du bist halt ziemlich aus der Übung. Dein Bauch wird immer dicker, und wenn er noch ein bissel wächst, dann bringst du deine Hose nimmer zu. Ein bissel Bewegung tät’ dir net schaden. Aber ich kenn’ deine Devise. Du hältst es mit Churchill, der sinngemäß gesagt hat, dass Sport Mord ist. Natürlich ist’s bequemer, sich net von der Couch zu rühren, als sich beim Laufen, Radfahren oder bloßem Bergwandern abzuquälen.«
Bruckner winkte ab. »Ich kenn’ Ihre Einstellung, Hochwürden, und ich kenn’ Sie. Wahrscheinlich kenn’ ich Sie besser als Sie sich selber. Sie lieben es, in den Bergen herumzukraxeln, Ihre Wege auf Schusters Rappen oder auf dem Fahrradl zurückzulegen und irgendwelche Leut’ hinauf zur Kandereralm, zu Streusachhütte oder zur Kachlachklamm zu führen. Es ist für Sie eine Art Lebenselixier.« Er seufzte. »Ich lieb’ die Berge ja auch, aber ich schau sie mir lieber von unten an. Außerdem bin ich tagtäglich im Rathaus eingespannt, und wenn ich mal die Gelegenheit hab’, alle fünfe gerade sein zu lassen, dann nehm’ ich sie wahr.«
»Dann darfst du dich auch net beklagen, dass dir nach ein paar Tänzen die Füß’ schwer werden und die Fußsohlen brennen, Markus.«
»Was mich net umbringt, macht mich nur noch härter, Hochwürden«, erwiderte das Gemeindeoberhaupt. »So, und jetzt würd’ ich unsere verehrte Gastgeberin gern zum Tanz bitten – vorausgesetzt, der Herzallerliebste hat nix dagegen.« Fragend schaute er Roland an, der das Meiste von dem Gespräch des Pfarrers mit Markus Bruckner mitbekommen hatte. Roland grinste und sagte:
»Net dass Sie sich übernehmen, Herr Bruckner. Wir wollen doch net, dass Sie für die Gemeinde ausfallen.«
»Das wünsch’ ich euch auch net«, versetzte Bruckner, der auf den Spaß einging. »Denn dann ging’s in St. Johann drunter und drüber. – Darf ich Sie um diesen Tanz bitten, Frau Frischholz? Es wär’ mir eine Ehre.«
Mareile erhob sich. »Gerne, Herr Bruckner.«
Ein triumphierender Blick des Bürgermeisters erst zu Roland, dann zu Sebastian, dann bot er Mareile seinen Arm und geleitete sie auf die Tanzfläche. Soeben hatte der Alleinunterhalter einen Zwiefachen zu spielen begonnen …
»Hoffentlich kriegt er keinen Herzinfarkt«, brummte Roland vor sich hin.
»Der Markus ist zäher, als es den Anschein hat«, gab Sebastian zurück.
*
Eine Woche war vergangen, ein weiteres Wochenende verstrich, eine neue Woche brach an. Am frühen Montagmorgen holte Sandra Anzenberger die Zeitung aus dem Briefkasten. Sie hatte schon geduscht, die Zähne geputzt und sich angezogen, nun setzte sie sich an den Kaffeetisch und schlug die Zeitung auf. Politik und Wirtschaftsmeldungen interessierten die Sechsundzwanzigjährige nicht. Sie suchte gezielt die Seite mit den Stellenangeboten, fand sie und begann sie zu studieren. Ab und zu trank sie einen Schluck von ihrem Kaffee, den sie schon auf den Tisch gestellt hatte, ehe sie die Zeitung hereinholte. Die Angebote, die für sie von Interesse waren, kennzeichnete sie mit einem Kugelschreiber.
Eine der Annoncen stach ihr besonders ins Auge. Da suchte eine Pension in St. Johann, im Wachnertal in den bayrischen Alpen gelegen, Zimmermädchen sowie Köche und Servicekräfte für eine ganzjährige Anstellung. Sie, Sandra, hatte in den zurückliegenden drei Jahren hier in Bozen in einem großen Hotel als Zimmermädchen gearbeitet, und ihre Eignung für diesen Job konnte wohl kaum in Frage gestellt werden. Bei Interesse, hieß es, könne man gerne anrufen und einen Vorstellungstermin vereinbaren. Die Telefonnummer war angegeben. Eine schriftliche Bewerbung wurde nicht gefordert.
Sie wollte weg aus dem Hotel, in dem sie arbeitete, sie wollte weg aus Bozen, sie wollte nach Deutschland zurück. Sandra stammte aus Heidelberg. Sie hatte damals, vor mehr als drei Jahren, der Liebe wegen alle Brücken hinter sich abgebrochen und war nach Bozen umgesiedelt. Das Gefühl, zu lieben und geliebt zu werden, hatte sich nach und nach in Nichts aufgelöst, und nun wollte sie nur noch vergessen, erneut sämtliche Brücken abbrechen und irgendwo neu beginnen.
Das Stellenangebot war eine gute Chance, die sie unter allen Umständen wahrnehmen wollte.
Nachdem sie den Kaffee getrunken hatte, fasste sie sich ein Herz und rief an. Eine weibliche Stimme ertönte: »Frischholz, Pension Wachnertaler Hof, was kann ich für Sie tun?«
»Grüß Gott, Frau Frischholz. Mein Name ist Anzenberger – Sandra Anzenberger. Ich rufe Sie von Bozen aus an. Ich hab’ nämlich in der Südtiroler Tageszeitung Ihr Stellenangebot gelesen und hätt’ Interesse an einer Arbeit als Zimmermädchen.«
»Schön, das freut mich«, erwiderte Mareile. »Haben Sie denn Erfahrung in diesem Job?«
»Ich arbeite seit etwas mehr als drei Jahren in einem großen Hotel hier in Bozen als Zimmermädchen. Vorher war ich in Heidelberg in der Hauswirtschaft beschäftigt.«
»Sind Sie denn Deutsche?«
»Ja. Ich bin in Heidelberg aufgewachsen.«
»Was hat Sie denn nach Bozen verschlagen?«, wollte Mareile wissen.
»Ach, das ist so eine Geschichte. Ein Mann … Es war ein Fehler. Leider habe ich das erst nach fast drei Jahren bemerkt. Er arbeitet in dem gleichen Hotel wie ich, und ich muss ihn tagtäglich sehen. Drum möchte ich weg von hier.«
»Wie alt sind Sie denn?«, fragte Mareile.
»Sechsundzwanzig Jahre.«
»Ich würde Wert auf eine persönliche Vorstellung legen«, erklärte Mareile. »Ich möchte die Leute, die ich beschäftige, kennen und mit ihnen sprechen. Könnten Sie nach St. Johann kommen? Ich würde Ihnen natürlich die entstehenden Kosten erstatten.«
»Wenn Interesse von Ihrer Seite besteht, komm’ ich gern, Frau Frischholz.«
»Auf jeden Fall. Jemanden wie Sie kann ich wahrscheinlich ohne große Anlernung einsetzen. Daran ist mir gelegen. Ich war übrigens in Frankfurt auch in einem großen Hotel beschäftigt. Von daher sind wir gewissermaßen Kolleginnen.«
»Das hört sich gut an«, gab Sandra zu verstehen. »Reicht es, wenn ich am Freitag zu Ihnen komm’? Von einer Stunde auf die andere wird man mir bei meinem jetzigen Arbeitgeber keinen Urlaub gewähren.«
»Natürlich reicht das. Bis wann kann ich denn mit Ihnen rechnen?«
»Mittags. Wär’ das für Sie in Ordnung?«
»Gewiss. Ich freue mich schon auf Sie.«
»Brauchen Sie irgendwelche Referenzen? Ich meine Arbeitszeugnisse, Prüfungszeugnisse und dergleichen.«
»Wenn Sie so etwas haben, können Sie es mir gerne vorlegen«, erklärte Mareile. »Es ist aber nicht notwendig. Ich mache mir lieber selber ein Bild von den Leuten, die sich bei mir vorstellen. Ich erwarte Sie also am Freitag um die Mittagszeit.«
»Und ich werde heute gleich für das Wochenende Urlaub beantragen«, sagte Sandra. »Sollte irgendetwas Unvorhergesehenes dazwischenkommen, was ich nicht hoffe, werde ich Sie telefonisch informieren.«
»Ja, bitte.«
»Vielen Dank dann, Frau Frischholz. Auf Wiedersehen.«
»Servus, bis zum Freitag«, kam es zurück, und zwar in einer Weise, die Sandra Zuversicht verlieh. Nach dem verhältnismäßig kurzen Gespräch mit Mareile Frischholz glaubte Sandra sicher zu sein, dass man mit ihr gut auskommen konnte. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie selbst den Erwartungen Mareiles entsprechen möge.
Frohen Mutes verließ sie wenig später ihre kleine Wohnung, um zum Hotel zu fahren und ihren Job zu machen. Als Erstes aber wollte sie für den kommenden Freitag und das Wochenende Urlaub beantragen. Es war ihr sehr, sehr wichtig, den Vorstellungstermin in St. Johann wahrnehmen zu können.
*
Sandra erhielt den Urlaub genehmigt und fuhr am Freitagmorgen von Bozen los. Über den Brennerpass gelangte sie nach Österreich, von Innsbruck aus wandte sie sich in Richtung Garmisch-Partenkirchen, und um die Mitte des Vormittags erreichte sie St. Johann. Sie hatte während der Woche in der Pension Stubler ein Zimmer gebucht, und ihr Navi führte sie zum Tannenweg, wo die Pension lag. Vor dem Haus bestand die Möglichkeit, das Auto zu parken, und Sandra machte natürlich davon Gebrauch.
Schon als sie über den Pass gekommen war, hatte sie sich von der Schönheit des Wachnertals ein Bild machen können. Jetzt, im Frühling, wo Laubbäume und Büsche ihr erstes zartes Grün hervorbrachten und in den Gärten der Häuser die Kirschbäume und Forsythien blühten, war die Gegend besonders reizvoll. Die Bauern hatten die Felder und Äcker bestellt und erdiger Geruch lag in der Luft.
Rund um das Wachnertal erhoben sich wie versteinerte, stumme Wächter die vegetationslosen, zerklüfteten Felsgiganten des Hochgebirges, denen bewaldete Berge vorgelagert waren. Hoch droben lag noch Schnee. Über allem spannte sich ein blauer Himmel, über den einige weiße Wolken von einem lauen Wind träge nach Osten getrieben wurden.
Die Bewohner von St. Johann hatten die Blumenkästen an den Balkonen ihrer Häuser und auf den Fensterbänken bereits mit Geranien, Petunien und anderen Blumen bepflanzt, viele der Fassaden wiesen Lüftlmalereien auf, auf vielen Dächern saßen kunstvoll gearbeitete Dachreiter aus Holz, was dem alpenländischen Baustil eine besondere Note verlieh. Überhaupt war an den Häusern viel Holz verbaut worden. In den Vorgärten blühten Narzissen, Osterglocken, Stiefmütterchen, Tulpen und Aurikel um die Wette.
Die Urlaubssaison hatte noch nicht begonnen, und so vermittelte St. Johann ein hohes Maß an Ruhe und Beschaulichkeit.
Mindestens genauso schön wie Bozen oder Meran, dachte Sandra, aber um ein Vielfaches ruhiger. Hier, denke ich, ist die Welt in Ordnung.
Sie holte eine kleine Reisetasche vom Rücksitz des Autos und betrat die Pension. Die kleine Rezeption neben der Treppe war verwaist, aber da stand eine Glocke, die Sandra ohne zu zögern benutzte. Sogleich ging am Ende des Korridors eine Tür auf und Ria Stubler näherte sich, ein Lächeln auf dem gutmütigen Gesicht. »Da ich nur einen einzigen Gast erwart’«, sagte sie, »müssen Sie die Frau Anzenberger aus Bozen sein.«
Ria sah eine schlanke, mittelgroße Frau Mitte zwanzig mit dunklem, langem Haar, das in weichen Wellen auf ihre Schultern fiel; sehr attraktiv, sehr fraulich und ausgesprochen gepflegt. Die Augen hatten die Farbe dunkelbraunen Samts, die Nase war klein und gerade, der Mund schön geschnitten. Das runde, feminine Kinn passte zu dem Gesicht mit dem leicht gebräunten Teint. Was Ria sah, gefiel ihr.
Die spontane Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Sandra fasste zu der mütterlichen Pensionsbesitzerin sofort Vertrauen. »Grüß Gott, Frau Stubler«, grüßte sie freundlich. »Sie haben recht, ich bin Sandra Anzenberger. Bin ich etwa zu früh angekommen?«
»Iwo. Wir haben doch im Moment keine Gäst’, und sämtliche Zimmer sind gerichtet. Ich hoff’, sie hatten eine ruhige Fahrt von Südtirol herauf.«
»Ja, es war recht angenehm.«
Ria war an die kleine Rezeption gegangen und fuhr jetzt den Computer hoch. »Möchten S’ vielleicht ein Tasserl Kaffee, Frau Anzenberger?«, fragte sie. »Dort, die nächste Tür, führt in den Aufenthaltsraum. Da steht ein betriebsbereiter Kaffeeautomat. Sie können sich herauslassen, was Ihr Herz begehrt: Americano, Milchkaffee, Cappuccino …«
»Vielen Dank, aber im Moment bin ich wunschlos glücklich. Ich will mich nur ein bisschen frisch machen. Heut’ Mittag hab’ ich nämlich ein Vorstellungsgespräch beim ›Gästehaus Wachnertaler Hof‹, wo ich mich als Zimmermädchen beworben hab’.«
»Ah, wie interessant«, sagte Ria. »Das war ja eine geniale Idee, die die Mareile Frischholz gehabt hat.« Ria schmunzelte. »Sie hat hier im vorigen Jahr ihren Urlaub verbracht, sich in St. Johann und ins Wachnertal regelrecht verliebt, das frühere ›Gästehaus Feilhuber‹ erworben und daraus das ›Gästehaus Wachnertaler Hof‹ gemacht. Morgen werden’s zwei Wochen, dass die Pension eingeweiht worden ist. Sie wird im Lauf des Monats Mai noch den Betrieb ausweiten.«