Larry Brent Classic 004: Die Höllenbrut - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 004: Die Höllenbrut E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Der Satan schickt die Höllenbrut Die Stripperin Betsy tritt im "Goldenen Drachen" in Hongkong auf. Als sie nach ihrer Vorstellung am Abend, ihr Zimmer aufsucht, weiß sie, daß ein Päckchen für sie bereitliegt. Von einem Verehrer? Sie ist auf eine Überraschung gefaßt - aber nicht auf diese. Als sie das Päckchen öffnet ist innerhalb von Sekunden die Luft von Tausenden von Fliegen erfüllt. Sie krabbeln unter die Ärmel ihres Negligés, kriechen über ihr Gesicht, ihren Mund und ihre Nase. Panikerfüllt schlägt sie um sich, und will sich von den Plagegeistern befreien, doch vergebens... Sie merkt, wie die kleinen Quälgeister winzige Fleischteilchen aus ihrem Körper beißen und sie auffressen. Larry Brent erhält den Auftrag, herauszufinden, was normale Stubenfliegen mit plötzlich so aggressiv macht. Dabei lernt er die hübsche chinesische Privatdetektivin Su Hang mit ihrer frisierten Ente, einem klapprigen 2CV den jeder unterschätzt, kennen. Doch das Geheimnis hinter das die beiden kommen ist schrecklicher als sie geahnt haben, denn auch auf X-RAY-3 werden die tödlichen Insekten angesetzt. Das Totenhaus der Lady Florence In einer düsteren und unheimlichen Moorgegend geschieht das, was schon lange zu befürchten war. Das schwache Herz der alten Lady Florence versagt seinen Dienst. Der Pfarrer, der Arzt Dr. Brunk, und der Totengräber setzen die Verblichene in der Familiengruft bei. Noch am selben Tag sterben der Arzt und der Pfarrer eines unnatürlichen Todes. Trotz der ungewöhnlichen Ereignisse mietet sich der bekannte englische Krimi-Autor Richard Burling das einsame Haus der Lady Florence, und ahnt nichts von der tödlichen Gefahr, die von dort ausgeht. Er denkt er ist allein in dem großen Haus, doch das ist er nicht. Als ihn seine Tochter und deren Freundin, Miriam Brent, überraschend besuchen, ist er verschwunden, und der Tod sitzt auch den beiden Freundinnen bereits im Nacken.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 4

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-804-4

Dan Shockers Larry Brent Band 4

DIE HÖLLENBRUT

Mystery-Thriller

Der Satan schickt die Höllenbrut

von

Dan Shocker

Prolog

Die dunkle Gestalt drückte leise das Balkonfenster auf und gelangte mit einem federnden Sprung in das düstere Zimmer. Der Unbekannte roch das exotische Parfüm, das jedem Möbelstück, jedem Kleid zu entweichen schien. Auf dem Toilettentisch stand ein frisch gefüllter Flakon, in einem länglichen Behälter lagen Lippenstifte. Der Eindringling ging zur Zimmertür und legte lauschend das Ohr daran. Leise Musik und ein Gewirr von Stimmen drang aus dem unten gelegenen Barraum. An der Ecke der Straße blinkte in regelmäßigen Abständen eine giftgrüne Neonröhre, deren Licht wie der Blitz einer Fotolampe den düsteren Raum in eine helle und eine dunkle Hälfte teilte.

Die schattengleiche Gestalt bewegte sich zum Kleiderschrank. An einem Haken hing ein buntes, hauchdünnes Negligé.

Der Fremde zog aus der Manteltasche eine schmale, hohe Sprühdose. Ein zischendes Geräusch erklang. Aus dem winzigen Ventil strömte Gas, vermischt mit einer geruchlosen Flüssigkeit, die in Form mikroskopisch kleiner Tröpfchen auf dem hauchdünnen Gewebe des Negligés zurückblieb.

Das giftgrüne Neonlicht blinkte wieder auf, und diesmal stand der Eindringling in einem solchen Winkel, dass die Leuchtschrift sein Gesicht aus dem Dunkel riss. Es war ein Chinese mit schmalen Augen und harten Gesichtszügen.

Der Mann bestrich mit dem Spray das gesamte Negligé, steckte dann die Dose in die Manteltasche zurück und schlich zum Balkon. Er zog die Tür wieder bei, ließ sie nur spaltbreit geöffnet, und alles war wieder so wie zuvor. Nichts wies auf eine Veränderung hin, und doch war ein ungeheuerliches Verbrechen eingeleitet worden ...

Betsy ging die Treppen hoch. Sie trug nur einen schwarzen BH und einen knappen Slip. Sie kam geradewegs von einem Auftritt unten in der Bar.

Ihr langes, blondes Haar war zu Zöpfen zusammengebunden, die frech an der Seite herunterhingen.

Betsy war hübsch und eine Frau, die einen Mann begeistern konnte. Sie hatte die Gestalt einer Göttin und verführerischen Charme.

Betsy lebte seit einem Jahr in Hongkong. Die Menschen hier und die Stadt faszinierten sie. Sie trat seit Anbeginn im Goldenen Drachen als Stripteasetänzerin auf.

Sie erreichte die oberste Treppenstufe gerade in dem Moment, als unten, ein Stockwerk tiefer, die Hintertür zur Bar aufging und zwei Betrunkene auf den Korridor hinaustorkelten. Ein schmaler, schwacher Lichtstreifen fiel auf den untersten Treppenabsatz.

Betsy huschte auf Zehenspitzen zu ihrer Zimmertür, schloss sie auf und ging in den düsteren Raum. Der giftgrüne Schein einer Lichtreklame zuckte in regelmäßigen Abständen über die linke Wandseite und riss den unförmigen Koloss von Kleiderschrank aus dem Dunkel.

Betsy schloss hinter sich ab.

Wenige Minuten vor ihrem Auftritt hatte sie das Päckchen bekommen. Ein unbekannter Gast hatte es ihr heimlich zugesteckt. Eine Nachricht von Chung? Sie hatte keine Zeit mehr gefunden, das Päckchen zu öffnen, da ihr Auftritt unmittelbar bevorstand. Sie konnte es sich nicht leisten, sich sofort neugierig auf die Botschaft zu stürzen, die sie mit dem Päckchen erwartete. Es wäre zu auffällig gewesen – und daher zu riskant, denn es stand zu viel auf dem Spiel.

Mit einer mechanischen Bewegung griff sie nach dem bunten, hauchdünnen Negligé und warf es sich über. Ihre makellose, helle Haut schimmerte durch das duftige Gewebe.

Sie schloss die Schranktür auf und kramte im untersten Fach zwischen der schmutzigen Wäsche, bis sie den festen Widerstand zwischen ihren Fingern spürte und das in graues Papier eingewickelte Päckchen in der Hand hielt. Mit einem Blick zum Fenster bemerkte sie die angelehnte Balkontür. Die Nacht war mild und lau, sie ließ die Tür geöffnet, zog aber die dichten Vorhänge vor. Dann knipste sie die kleine Nachttischlampe an und richtete den Strahl so, dass er die flache Tischplatte voll ausleuchtete und das Licht nicht streute.

Betsy presste die Lippen zusammen. Sie war erregt. Chung hatte ihr noch heute Morgen telefonisch angekündigt, dass er eventuell in der Lage sei, belastendes Material zu liefern, noch ehe er mit ihr zusammentreffen würde.

Wenn das so war, dann würde ihre Mission nach einjähriger Dauer zu Ende sein, schneller, als sie das für möglich gehalten hatte. Und sie war nicht einmal traurig darüber.

Ihre Finger zitterten leicht, als sie die dünne Kordel aufknüpfte. Das Päckchen war leicht. Es würde nur einige Aktenstücke enthalten, doch die konnten ausreichen, um den entscheidenden Beweis zu liefern.

Das Papier raschelte, als sie es auseinanderfaltete. Sie hob den Deckel und legte ihn zur Seite. Dünnes Seidenpapier lag im Innern des Päckchens. Eine Fliege kroch über den Pappkarton. Betsy lächelte kaum merklich. Eine Fliege in einem Karton, das war ihr noch nie passiert. Sie musste beim Einpacken hineingeraten sein.

Sie verscheuchte das Insekt, das sich sofort auf ihr Negligé setzte.

Plötzlich waren zwei, drei, vier Fliegen in dem Karton, krabbelten über den Rand und setzten sich auf ihre Arme und ihre Schultern. Mit einer heftigen Bewegung wollte sie die lästigen Tiere verscheuchen. Eines erhob sich nur kurz von ihrem Ärmel, schwirrte aber sofort wieder auf sie zu.

Unwillig kniff Betsy die Augen zusammen. Die Insekten irritierten sie, was hatte das Ganze zu bedeuten?

Wieso befanden sich überhaupt Fliegen in dem Pappkarton? Wo kamen sie alle auf einmal her? Es wurden immer mehr, es waren jetzt zehn, zwanzig – und Betsy fühlte sie durch den duftigen Stoff ihres Negligés.

Die Flügel der Tiere zitterten, sie summten heftig, krabbelten über ihre Unterarme und Hände und setzten sich auf ihr Gesicht. Betsy schlug nach ihnen, der Ärmel ihres Negligés streifte ihre Stirn. Sie bemerkte nicht, dass mikroskopisch kleine Tropfen auf ihrer Haut zurückblieben. Der Stoff reizte die Fliegen und brachte sie zur Raserei.

Die Insekten krochen aus der Pappschachtel! Es gab keinen Zweifel mehr.

Betsy schlug um sich und schrie. Die Fliegen griffen an! Sie saßen auf ihrem Gesicht, und Betsy fühlte einen brennenden Schmerz. Die Fresswerkzeuge der Fliegen bohrten sich in ihre Haut und rissen winzige Fleischteilchen heraus. Warme Blutstropfen standen auf ihrer Stirn. Betsy wehrte sich verzweifelt gegen die Fliegen, doch es war vergebens. Ihr Körper war übersät von kleinen schwarzen Punkten, die sich in heftiger Erregung befanden. Die Fliegen waren in einem Zustand der Raserei, der geheimnisvolle Stoff, der das Negligé der Stripteasetänzerin tränkte, machte die Insekten wild.

Betsy schlug um sich und ergriff ein Handtuch, erschlug damit zahlreiche Fliegen. Doch es wurden immer mehr. Und plötzlich kamen sie nicht mehr aus der Pappschachtel – sondern vom Fenster her.

Der Vorhang bewegte sich. Ein Schwarm von scheinbar harmlosen Stubenfliegen ergoss sich in das kleine, nach einem exotischen Parfüm duftende Zimmer.

Betsy erreichte die Tür, ihre blutüberströmte Hand griff nach dem Schlüssel und wollte ihn herumdrehen. Sie schaffte es nicht. Ein Schwächeanfall warf sie zu Boden. Betsy schrie aus Leibeskräften, doch niemand hörte sie. In der Bar lief die Musikbox auf vollen Touren, ein Beat ließ die Wände erzittern.

Betsys Bewegungen wurden langsamer und matter. Ihr Körper war eine einzige Masse aus dunklen, summenden Fliegen, die nicht von ihrem Opfer ließen.

Um 22.15 Uhr starb in der Millionenstadt Hongkong eine junge Frau einen grausigen Tod.

Normale Stubenfliegen, die sich weder in Größe noch Form, noch Farbe von der herkömmlichen Gattung unterschieden, hatten sie getötet. Doch diese Fliegen waren nicht normal. Sie waren Raubtiere, wild und unberechenbar, sie gehorchten einem geheimnisvollen Befehl!

Um 22.25 Uhr stand, knapp fünfzig Meter vom Goldenen Drachen entfernt, an der Straßenecke ein unbeleuchteter Wagen mit geöffnetem Kofferraum. Ein Chinese verließ den dunklen Wagen, huschte über die schwach erleuchtete Straße und verschwand neben einer Mauer, die zu einem ungepflegten Grundstück unmittelbar hinter der Bar führte. Es war derselbe Mann, der an diesem Abend den Tod der Stripteasetänzerin vorbereitet hatte.

Er kletterte auf den Mauerrest neben der Hauswand und zog sich von dort aus zu dem etwas höher gelegenen Balkon, der zu Betsys Zimmer führte.

Ein hoher, dunkler Gegenstand lag in seiner Hand. Es war eine Sprühdose. Leise schob der Chinese die vorgezogenen Vorhänge zurück und hörte das erregte Summen und Schwirren der zahlreichen Fliegen, die sich in der Mitte des Zimmers zu einem großen Knäuel gesammelt hatten. Der Chinese sprühte in das Zimmer hinein.

Die Fliegen schienen Sekunden später von einer unsichtbaren Hand auseinandergerissen zu werden. Wild schwirrten sie durch das Zimmer und suchten einen Ausweg.

Der Chinese zerrte mit bebender Hand den Vorhang vollends zurück, riss die Balkontür weit auf und verharrte in einer Nische zwischen Kleiderschrank und Wand. Von dort starrte er mit zusammengekniffenen Augen auf den Schwarm, der durch die offenstehende Balkontür verschwand und sich in der dunklen, lauen Nacht verlor, die über Hongkong lastete.

Der Chinese verblieb knapp fünf Minuten im Zimmer der toten Stripteasetänzerin, nahm das Packpapier, den Karton und die Kordel an sich und warf einen kurzen Blick auf den reglosen, toten Körper, der aussah, als hätte ihn der Prankenhieb eines Löwen getroffen.

Dann verließ der geheimnisvolle Chinese das Zimmer. Niemand sah ihn, wie er lautlos an dem Mauerrest entlangschlich, die nächste Straßenecke erreichte und von dort auf seinen Wagen zuging, den Kofferraumdeckel schloss, sich hinter das Steuer seines Wagens setzte und davonfuhr. Niemand hatte zu dieser späten Abendstunde den parkenden Wagen beobachtet. In dieser einsamen, abseits gelegenen Straße herrschte kaum Verkehr, und es blieb deshalb auch im Verborgenen, dass der Kofferraum eine seltsame Fracht enthalten hatte – eine aus Fliegen.

Der Chinese fuhr zur nächsten Telefonzelle und wählte eine Nummer. »Auftrag erledigt!«

»Sie ist tot?« fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ja.«

»Du hast dich davon überzeugt?«

»Ich musste es. Schließlich war das Päckchen zurückzuholen.«

Ein dumpfes, zufriedenes Grunzen erfolgte als Antwort. »Gut«, fuhr die Stimme dann fort, von der Chinese nicht wusste, zu wem sie gehörte.

»Innerhalb einer halben Stunde muss der zweite Teil des Planes erledigt sein.«

»Ich bin bereits auf dem Weg.« Der Chinese legte auf. Wäre Betsy, die Stripteasetänzerin aus dem Goldenen Drachen Zeuge dieses Gesprächs geworden, es wäre ihr unfassbar erschienen, wie so etwas möglich sein konnte. Sie hätte die Stimme am anderen Ende der Leitung sofort wiedererkannt.

1. Kapitel

Chung war siebenundzwanzig Jahre alt. Er war in Hongkong geboren und hatte sich schon als Straßenkehrer, Tellerwäscher, Kuli und Gemüsehändler durchs Leben geschlagen. Vor einigen Monaten war er in den Goldenen Drachen gekommen, um dort als Mädchen für alles zu fungieren. Bei dieser Gelegenheit hatte er die englische Stripteasetänzerin Betsy kennengelernt.

Sie hatte sich mit Chung angefreundet, denn der Chinese kannte die Stadt wie kein zweiter. Er war mit den Verhältnissen in den Armenvierteln vertraut und kannte auch die Zustände in einigen Häusern, in denen die Reichen lebten.

Chung hatte sich mit Betsy um Mitternacht verabredet und ihr versprochen, spätestens bis zu diesem Zeitpunkt einen wichtigen Tipp zu haben, an dem sie brennend interessiert war. Es war ausgemacht, dass sie sich an einem geheimen Ort treffen wollten, wenn bis zu diesem Zeitpunkt keine Nachricht von ihm im Goldenen Drachen eintraf.

Er verließ das kleine Haus am Ende der unbeleuchteten Straße. In vielen Häusern brannte noch Licht, die Fenster standen weit offen, und nur vereinzelt waren löchrige Vorhänge vorgezogen. Musik tönte durch die Nacht, irgendwo sang eine Frau grässlich laut und falsch. Gelächter, Teller klapperten, ein Kind schrie.

Über die schmale Straße hetzte eine schwarze Katze, ihre grünen Augen leuchteten. Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte das Tier zusammen, wich fauchend zur Seite, fegte in langen Sätzen davon und verschwand in einem schmalen, rechteckigen Kellerfenster eines nahestehenden Wohnhauses. Sie war auf Mäusejagd und würde sicher fette Beute machen, denn in den Kellern gab es genug Mäuse.

Chung war trotz seiner Armut einer der wenigen, die ein Auto fuhren, ein altes, englisches Taxi – groß und schwarz. Der Chinese hatte diesen uralten Kasten vom Autofriedhof geholt und mit viel Geschick und ruheloser Jagd nach Ersatzteilen wieder intakt bekommen. Er war stolz auf dieses Gefährt, und niemand fand das Auto lächerlich. In Hongkong konnte man mit einem uralten Leiterwagen durch die Hauptgeschäftsstraßen fahren, ohne aufzufallen.

Unauffällig sah sich Chung um. Er hatte gelernt, vorsichtig zu sein, denn er kannte ein Geheimnis, das einen Erdrutsch in gewissen Kreisen auslöste, wenn er anfing zu reden.

Chung ging auf seinen Wagen zu. Aus dem Schatten einer Holzhütte lösten sich zwei dunkle Gestalten. Die Männer waren nicht zu erkennen, denn sie hatten Nylonstrümpfe über ihr Gesicht gezogen.

»Keine faulen Sachen, Chung, sonst knallt's! Und das dürfte recht unangenehm für dich werden!« klang es dumpf und gemein hinter dem Strumpf hervor.

Chung schluckte. Auf den ersten Blick erkannte er, dass es sinnlos war, sich zur Wehr zu setzen. Seine Gegner waren bewaffnet. Und die blinkenden Läufe der Pistolen redeten ihre eigene Sprache.

»Rein in die Kiste, Chung«, sagte der Wortführer wieder und winkte mit der Waffe. »Auf den Hintersitz zu meinem Kollegen, der sich ein wenig mit dir unterhalten will. Her mit den Wagenschlüsseln!«

Es ging alles wie geschmiert. Fünf Minuten später ratterte das schwarze, eckige Auto davon.

Chung fühlte die Mündung der Waffe zwischen seinen Rippen.

Er war nicht vorsichtig genug gewesen. Sie hatten etwas bemerkt – oder nur er, der Reiche, den er während der vergangenen zehn Tage nicht mehr aus den Augen gelassen hatte.

Sie fuhren durch die nächtlichen Straßen, in denen erst jetzt das Leben begann. Riesige chinesische Leuchtschriften blinkten über den Vergnügungsvierteln, Dirnen patrouillierten durch die verrufenen Straßen, ein Zuhälter verdrosch eine von ihnen nach Strich und Faden, zerrte sie durch einen dunklen Torbogen und schlug sie die steile Treppe hinauf, die in den rohen, turmähnlichen Seitenbau eines Hauses führte.

Chungs Wagen wurde von dem einen Gangster durch eine Nebenstraße gesteuert, die zum Bahnhof führte. Dort zweigte er abermals ab. Ein breiter Weg, der weder gepflastert noch asphaltiert war, führte vom Damm abwärts auf ein großes, unbebautes Grundstück zu. Der Platz, auf den dieser breite Weg mündete, war etwa dreimal so groß wie ein Sportfeld. Zelte, Karussells, eine Geisterbahn, Schießbuden- und Süßwarenstände, Schaubuden und Kabinetts waren dort aufgestellt.

Es war Jahrmarkt.

Viele Zelte und Karussells waren schon geschlossen, ein paar vereinzelte Gestalten zeigten sich in den Budenstraßen. Es waren hauptsächlich Arbeiter, die zu den Schaustellern gehörten, und die Karussells und die Buden abdeckten. Um zweiundzwanzig Uhr war der Rummel vorbei. Der Fahrer hinter dem Steuer grinste verzerrt. Es roch noch nach Bratwurst und Pommes Frites, und der Duft zog durch das Auto. »Man bekommt direkt Appetit«, meinte er zu dem Komplizen auf dem Rücksitz, ohne den Kopf zu wenden. »Wenn die Angelegenheit nicht so wichtig wäre, würde ich eine kleine Pause einlegen.«

»Das können wir nachholen«, klang es von hinten, und Chung fühlte den Druck der Waffe fester werden. »Erst die Arbeit und dann das Vergnügen!«

Die beiden Gangster lachten.

Der Fahrer steuerte den schwarzen Wagen um den Platz herum. Sie passierten den Wohnwagen eines Raubtierhändlers. Neben dem abseits stehenden Wagen, der morsch und ungepflegt aussah, erhob sich der fahrbare Gitterkäfig, in dem ein Koloss von einem Braunbär untergebracht war. Schräg daneben stand ein weiterer Käfig auf Rädern, in dem sich ein Tigerpaar befand. Abgeschlossen wurde die Reihe mit einem dritten Käfigwagen, in dem ein großer Löwe umherstrich. Es war ein besonders kräftiges und wildes Tier, und Tao Mang, der Besitzer der Raubtiere, hatte um diesen Wagen noch eine besondere Sicherung geschaffen. Ein flacher Zaun aus Pflöcken verschaffte den nötigen Abstand zum eigentlichen Käfig.

Chung atmete schwer. Der Wagen entfernte sich vom Rummelplatz und kam auf den schmalen Weg, der zu den Schrebergärten führte. Eine Reihe von ungepflegten Gärten schloss sich auf dieser Seite des Bahndamms an. Viele Grundstücke waren gar nicht eingezäunt. Schiefe Hütten, aus primitiven Brettern und Pfählen zusammengehauen, zeichneten sich im Scheinwerferlicht des herannahenden Wagens ab.

Der Fahrer fuhr weit in das Schrebergartengebiet hinein, dann stoppte er plötzlich.

»Wir sind da«, sagte er nur, doch die Stimme gab Chung zu erkennen, dass dies für ihn das Ende der Welt war.

»Was wollt ihr von mir?« fragte der junge Chinese und fühlte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren brach. Die beiden Maskierten zerrten ihn aus dem Wagen. »Keine Fragen stellen, Kleiner!«

Sie trieben ihn über einen schmalen Weg. Chung musste über einen Erdhaufen steigen. Zwischen Büschen und Obstbäumen stand eine schiefe schwarze Hütte, daneben ein flacher Schuppen, dessen Lattentür nicht verschlossen war.

Eine Fledermaus flatterte über sie hinweg, vom Rummelplatz her klangen einsam und verloren ein paar vereinzelte Geräusche.

Ein Gangster ging voran. Die Angst in Chung wuchs beständig. Er ahnte, dass er diesen Ort nicht mehr lebend verlassen würde. In einem Anfall von Hoffnung und Verzweiflung warf er sich plötzlich nach vorn. Die Reaktion seines Hintermannes erfolgte prompt. Der Knauf der Pistole traf Chung mitten ins Gesicht. Wie aus dem Boden gewachsen stand sein Bewacher vor ihm.

»Keinen Unsinn, Kleiner«, sagte er scharf. »Wir sind nicht zum Spaß hier, vergiss das nicht!«

Chung wischte sich das Blut von der Stirn. Sein Blick flackerte. »Ich weiß nicht, was ihr von mir wollt. Ich dachte, ihr würdet es mir während der Fahrt erzählen? Worum geht es? Ich weiß nicht, was hier abläuft.« Chung gab sich sicher, gelassen und kaltblütig, aber er wusste, dass ihm diese Rolle nicht stand.

Die beiden Gangster lachten. »Einem, der dem Tod entgegengeht, beantwortet man nicht mehr viele Fragen. Was für einen Sinn sollte das haben? Er kann es doch niemandem mehr erzählen. Und in der Hölle will es niemand mehr wissen!«

Sie stießen ihm die Pistolen zwischen die Rippen und trieben ihn zur Tür.

Chung ballte die Fäuste. »Wenn ich schreie, seid ihr dran! Ich weigere mich, weiterzugehen, und es bleibt euch nichts anderes übrig, als mich niederzuknallen. Die Schüsse werden die Leute auf dem Rummelplatz alarmieren.«

Der eine Maskierte baute sich vor Chung auf. Die dunklen Augen hinter der Strumpfmaske blitzten. »Du irrst dich, Kleiner.« Die Stimme klang gefährlich. »Wenn du schreist, dann hört dich niemand. Der Rummelplatz ist weit genug weg. Außerdem stopfen wir dir sofort das Maul, wenn du es aufreißt, nicht weil wir Angst vor deinem Gebrüll haben, sondern einfach deshalb, weil ich lärmempfindlich bin, besonders um diese späte Stunde. Wir ziehen dir den Knauf über den Schädel, und du gibst keinen Mucks mehr von dir. Das einzige, was wir dadurch haben, ist ein bisschen Mehrarbeit, und die möchte ich vermeiden. Du kommst auf jeden Fall dort in die Hütte, ob du nun allein reingehst oder ob wir dich hineinschleppen müssen, es kommt auf dasselbe heraus, kapiert? Wie schon gesagt: Ich belaste mich nicht gern mit Mehrarbeit, das ist bei dem Auftrag nicht drin. Die geringstmögliche Anstrengung, ein Minimum an Aufwand – das ist mein Lebensprinzip, verstanden, Kleiner?«

Er redete ihn mit Kleiner an, dabei war er selbst kaum größer als Chung. Die beiden Maskierten hatten in etwa seine Größe. Sie waren Chinesen wie er. Chung erkannte es an der Gesichtsform, die sich hinter der Maske abzeichnete, er merkte es an der Sprache.

»Und nun in die Hütte, Kleiner!« Die Stimme des Maskierten klang plötzlich messerscharf. Er schob den Riegel zurück. Das verrostete Metall knirschte. Der Maskierte zog die Tür auf. Staub und Modergeruch schlugen Chung entgegen. Eine Taschenlampe blitzte auf. Einer seiner Entführer ließ den Strahl durch die stille, alte Hütte kreisen. Gartengeräte, alte Bohlen, eine emaillierte Wanne. Mäuse huschten davon, als das Licht über den grauen Boden strich.

Chung wurde brutal nach vorn gestoßen, taumelte, es gelang ihm nicht mehr, sich zu fangen, und er stürzte zu Boden. Sein Kopf fiel direkt neben eine Harke.

Spinngewebe klebte in seinem Gesicht und an seinen Händen. Er kam nicht mehr dazu, sich zu erheben. Einer der Maskierten ließ hart den Knauf seiner Waffe auf Chungs Schädel krachen. Der junge Chinese kippte auf die Seite und rührte sich nicht mehr.

Ein Gangster zerrte einen Behälter neben dem Gartengerät hervor und öffnete den Verschluss. Er schüttete einen Teil der glasklaren Flüssigkeit über den schlaffen Körper.

Chung starb in dieser Nacht, als die Fliegen kamen. Und ein weiteres Glied in der Kette schloss sich.

Tao Mang, der Besitzer der Raubtiere, wälzte sich in seinem Bett. Sorgen hinderten ihn am Schlaf. Die Einnahmen waren wieder nur mäßig gewesen, sie reichten kaum aus, um das Futter für die Tiere zu beschaffen.

Der greise Chinese, der seit vielen Jahren mit seinen Tieren umherreiste, seufzte und drehte sich auf die andere Seite. Ein metallisches Geräusch schreckte ihn auf. Eine massive Tür quietschte schwer in den Angeln.

Tao Mang war noch ein wenig benommen, er döste im Halbschlaf vor sich hin, ehe er begriff, woher dieses Geräusch kam.

Vom Käfigwagen! Sultan, der gefährliche Löwe, rumorte in seinem Käfig. Er warf sich gegen die Gitter und brüllte.

Und dann war da wieder dieses Knirschen. Es krachte, als ob Sultan die Gitterstäbe seines Gefängnisses sprengen wolle.

Tao Mang warf die Zudecke zurück.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Er musste nachsehen. Unruhe erfüllte ihn und trieb ihn aus dem Wohnwagen. Er machte sich nicht erst die Mühe, ein Jackett oder einen Mantel über sein graues, knöchellanges Nachthemd zu ziehen, sondern nahm sich gerade noch so viel Zeit, um in seine ausgetretenen Pantoffel zu schlüpfen.

Dann schlurfte er die schmale Treppe hinunter und an den Wohnwagen, und ein leiser Aufschrei kam über seine Lippen.

Sultans Käfig war leer!

Tao Mang zitterte wie Espenlaub. Er fror plötzlich, obwohl die Nacht lau und fast windstill war.

Wie in Trance bewegte er sich auf die offenstehende Seitentür zu und starrte in den leeren Käfigwagen. Der scharfe Geruch des Raubtieres lag noch in der Luft, es schien, als ob Sultan direkt neben ihm stünde, bereit, ihn anzufallen.

Tao Mang wirbelte herum. Da war wieder das Geräusch. Taos Hände umklammerten die Käfigstangen. Mit brennenden Augen starrte er in die Dunkelheit. Da war niemand. Die Umrisse der Wagen und Buden, der Zelte und Stände zeichneten sich in der Finsternis vor ihm ab. Alles lag leer und verlassen. Nirgends brannte ein Licht.

Durch die Stille der Nacht pflanzte sich ein leises, dumpfes Geräusch fort. Es hörte sich an, als ob irgendwo in den Budenstraßen die Tür eines Wohnwagens zuklappte.

Tao Mang hielt den Atem an.

Für eine Sekunde schloss er die Augen. Er war in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Gerade heute hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Tiere zu verkaufen, um seine Schulden abzutragen und vom Rest der Summe noch einige Zeit leben zu können.

Er wandte sich plötzlich ab, klopfte und hämmerte gegen die verschlossenen Türen und Fenster der umliegenden Wohnwagen. Diese wurden geöffnet. Verschlafene Gestalten tauchten auf.

»Was ist los, Tao?« klang es von allen Seiten durch die Nacht. Der Rummelplatz füllte sich mit einem gespenstischen Leben. Lichter flammten auf, Stimmen hallten durch die Nacht.

»Sultan ist weg, er ist ausgebrochen. Wir müssen ihn suchen und die örtliche Polizei benachrichtigen, ehe etwas Schreckliches passiert.«

Niemand wusste besser als er, was geschehen würde, wenn Sultan nicht bald in den Käfig zurückgebracht wurde. Der wilde, unberechenbare Löwe würde zur Gefahr für die Bevölkerung werden. Am meisten Angst hatte Tao Mang vor der Tatsache, dass Sultan von Polizeistreifen erschossen werden könnte. Sie mussten ihn lebend fangen, der Löwe war seine größte Kapitalanlage.

Viele Nachbarn handelten sofort. Sie bewaffneten sich mit langen Stangen und Geräten, mit Latten und Schlingen. Die meisten nahmen es als heitere Abwechslung hin und viele Scherzworte klangen auf.

»Die Schrebergärten«, rief Tao Mang. »Vielleicht ist er dort. Passt auf, ihr wisst, wie er ist!«

Der Besitzer des Abnormitäten-Kabinetts, Mister Edmund Harringson, ein Amerikaner, der mit Liliputanern, Siamesischen Zwillingen und einem viereinhalb Zentner schweren Riesenweib durch Asien zog, erklärte sich bereit, in die Stadt zu fahren und die Polizei zu benachrichtigen. Fünfhundert Meter vom Festplatz entfernt stand zwar eine Telefonzelle, aber der Apparat funktionierte nicht. In der vergangenen Nacht hatten randalierende Jugendliche die Inneneinrichtung zertrümmert. Die Schausteller zogen durch die Nacht. Sie teilten sich in Gruppen auf. Die meisten waren mit Morgenmänteln unterwegs, nur die wenigsten hatten eine Hose und eine Jacke übergezogen.

Sie suchten die nähere Umgebung ab, sahen in jedem Zelt nach, unter jedem Wagen, in jeder Bude. Sie ließen auf dem Rummelplatz keinen Winkel unberücksichtigt.

Eine Gruppe zog auf den Bahndamm zu, die andere verteilte sich im Gebiet der Schrebergärten.

Noch während die Suche durchgeführt wurde, trafen die ersten Streifenwagen ein. Englische Beamte entstiegen den Autos und beteiligten sich an der Suche. Tao Mang wurde vernommen.

»Die Tür war vorschriftsmäßig versperrt. Ich bin mir keiner Schuld bewusst.« Der greise Chinese vermochte kaum zu sprechen.

Der englische Captain untersuchte den Gitterkäfig. Er betrachtete sich genau den abgebrochenen Riegel. Kopfschüttelnd nahm er die beiden Hälften in die Hand.

»Er muss mit ungeheurer Wucht gegen die Tür angestürmt sein«, bemerkte Captain Henderson leise. »Dass das niemand gehört hat, wundert mich.«

»Ich habe etwas im Halbschlaf gehört«, erwiderte Tao Mang. »Aber als ich begriff, was es sein könnte, war es schon zu spät.«

Henderson schien mit der ganzen Sache, wie sie ihm sich darstellte, nicht zufrieden zu sein. »Der Riegel muss schon angebrochen gewesen sein, daran gibt es für mich keinen Zweifel.« Seine grauen Augen musterten den alten Chinesen. »Sie haben fahrlässig gehandelt, Tao Mang! Sie hätten den Riegel besser überprüfen müssen!«

Der Angesprochene wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er schüttelte nur immer wieder den Kopf und zuckte mit den Achseln.

»Ich weiß es wirklich nicht, Captain, ich weiß es nicht«, murmelte er.

Edmund Harringson, der Inhaber des Abnormitäten-Kabinetts, trat auf Henderson zu. »Quälen Sie den alten Mann nicht so, Captain«, sagte er mit brüchiger Stimme. Seine beiden Liliputaner standen neben ihm und packten ihn am Rockzipfel. Im Hintergrund, keine zwanzig Meter weiter, blickte Elvira, das viereinhalb Zentner schwere Riesenweib aus dem Fenster ihres Wohnwagens.

»Quälen?« fragte Henderson. »Ich stelle Fragen, Mister ... Mister ...«

»Harringson!«

»Mister Harringson, Ihnen scheint die ganze Angelegenheit vollkommen klar zu sein. Mir ist sie es nicht.«

Edmund Harringson lachte leise. »Sultan ist ausgebrochen, das ist schlimm. Tao Mang leidet darunter. Und Sie stellen Untersuchungen an, als ob der Löwe gestohlen worden wäre.« Captain Henderson zog die Augenbrauen in die Höhe. »Erstaunlich, Mister Harringson, auf welche Gedanken Sie kommen.«

Er musterte den Amerikaner mit einem kalten Blick. Die beiden Männer waren sich vom ersten Augenblick an unsympathisch gewesen. Henderson, der kühle englische Offizierstyp, war genau das Gegenteil des gewandten, lebenserfahrenen und heiteren Kabinett-Besitzers.

Der Captain fuhr fort: »Es ist in der Tat so, dass mir ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen, Mister Harringson. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Löwe diesen Riegel durchbrechen konnte. Vielleicht wurde etwas manipuliert.«

»Sie können sich nicht vorstellen, welche Kraft in einem Raubtier steckt, Captain«, konterte Harringson. »Was wollen Sie eigentlich mit Ihren Andeutungen bezwecken? Glauben Sie, Tao Mang habe den Diebstahl, wie Sie es bezeichnen, vorbereitet? Soviel mir bekannt ist, ist er nicht einmal versichert.«

Tao Mang nickte. »Das stimmt, ich habe die hohen Prämien nicht mehr zahlen können. Sultans Ausbruch bringt für mich nur Unannehmlichkeiten – und einen nicht wieder gutzumachenden Verlust mit sich.«

»Sie haben Ihren Wohnwagen doch ganz in der Nähe, Mister Harringson, nicht wahr?« Henderson konnte es nicht unterlassen, weiter zu bohren. Seine schmalen Lippen unter dem dünnen Bärtchen kräuselten sich. »Sie haben gar nichts gehört, als Sultan ausbrach? Das muss doch bestimmt einen ungeheuren Lärm verursacht haben. Als der Riegel brach, als die Tür aufflog, als Sultan brüllend ins Freie stürzte!«

»Ich habe nichts gehört.« Mit diesen Worten wandte sich Harringson einfach ab und ließ den Captain stehen.

Der wies Tao Mang noch auf die deutlich sichtbaren Reifenspuren vor dem offenen Käfigwagen hin. »Ist Ihnen das hier aufgefallen, Tao Mang?« fragte er rau. »Diese Spuren zeigen sehr deutlich, dass ein Wagen bis dicht vor die Käfigtür herangefahren ist.«

Tao Mangs Augen weiteten sich. Er blickte in die Runde. »Es sind überall Spuren von Autos hier auf diesem Platz, Captain. Was wollen Sie damit sagen? Wollen Sie mich als Betrüger hinstellen?«

»Ich muss alle Dinge in Betracht ziehen«, entgegnete Captain Henderson kühl. Er wollte zu dem Vorkommnis noch eine Bemerkung machen, doch ein Zwischenfall hielt ihn davon ab.

Aus dem Dunkel rannte eine Gestalt aus der Richtung der Schrebergärten auf sie zu. Es war ein chinesischer Jugendlicher, etwa siebzehn Jahre alt, der sich an der Suche nach Sultan beteiligt hatte.

»Tao Mang! Tao Mang!« hallte seine helle Stimme durch die Nacht. Der Junge gestikulierte wild mit den Händen. Keuchend kam er bei der Gruppe um Captain Henderson an und war völlig außer Atem.

Tao Mang schöpfte neue Hoffnung. »Habt ihr ihn gefunden?« fragte er heiser. Der Junge atmete heftig, mit schweißüberströmtem Gesicht und musste erst einmal eine Pause einlegen, ehe er sprechen konnte.

»Wir haben einen Menschen gefunden, tot, Tao Mang! Er lag in einer Gartenhütte. Sultan hat ihn zerfleischt.«

Das letzte Glied in der Kette wurde um vier Uhr nachts geschlossen.

Sean Howard, ein hoher Beamter der amerikanischen Botschaft in Hongkong, lag in seinem Bett, als das Telefon klingelte. Howard drehte sich auf die andere Seite und griff nach dem Hörer. Am anderen Ende der Strippe meldete sich die aufgeregte Stimme von Patrick Ferguson, dem Botschaftssekretär. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht aus den schönsten Träumen gerissen.«

Sean Howard lachte leise. »Aus den schönsten Träumen gerade nicht, Ferguson, aber aus dem schönsten Schlaf! Ich bin erst vor zwei Stunden ins Bett gekommen, denn ich hatte noch eine anstrengende Konferenz zu leiten. Wenn Sie jedoch um diese späte Stunde – oder soll ich sagen: frühe Stunde? – hier anrufen, dann wird das bestimmt seine Bedeutung haben.«

»Ich muss Sie unbedingt sprechen!« Patrick Fergusons Stimme klang geheimnisvoll. »Es ist mir zu riskant, hier am Telefon über gewisse Dinge zu sprechen. Ich muss mit Ihnen unter vier Augen reden. Ich fürchte, wir kommen nicht umhin, eine Meldung an die Regierung in Washington weiterzureichen.« Sean Howards Gesichtsausdruck wurde ernst. »Neue Scherereien, Ferguson? Das passt mir gar nicht. Wir haben hier in Hongkong während der letzten Wochen genügend Unannehmlichkeiten gehabt. Die Briten mussten verstärkt Polizei und sogar Militäreinheiten einsetzen, um die Ruhe wiederherzustellen.«

»Wenn es nur um Dinge rein politischer Natur ginge, könnten wir zufrieden sein. Es steht etwas anderes auf dem Spiel.« Fergusons Stimme klang dumpf und müde. »Wir müssen darüber sprechen, ein Aufschub ist unmöglich. Ich erwarte Sie in meinem Haus. Noch etwas: Ich möchte verhindern, dass jemand etwas über Ihren nächtlichen Besuch bei mir erfährt. Kommen Sie durch den Hintereingang der Garage! Parken Sie Ihren Wagen direkt neben der Ausfahrt. Den Weg zur Terrasse kennen Sie ja. Ich lasse die Terrassentür offen, Sie können von dort aus direkt in mein Arbeitszimmer gelangen. Ich werde das Licht löschen, treten Sie dennoch ein! Die Dienstbotenzimmer liegen auf der anderen Seite der Villa, es ist praktisch ausgeschlossen, dass man Sie sieht.«

»Ich komme, Ferguson.«

Er war bis zum Ende der Allee gefahren. Das zweitletzte Haus bewohnte Patrick Ferguson, der Botschaftssekretär. Sean Howard ließ seinen Wagen langsam ausrollen. Die Einfahrt zur Garage war geöffnet. Der Weg fiel leicht nach unten ab. Fast lautlos hielt das Auto neben der Garage. Sean Howard stieg aus und drückte leise die Tür zu. Der Morgen dämmerte, aber noch waren die Straßen menschenleer. Die Luft war warm und windstill. Der Himmel wolkenlos. Alles kündete einen sehr heißen Tag an.

Die weiße Villa, die Ferguson bewohnte, stand etwas von der Straße zurückgebaut. Hohe, schattige Bäume verbargen das große Haus zum Teil. Hinter der Villa schloss sich ein ausgedehnter, parkähnlicher Garten an. Zwischen Hecken und dichten Büschen lag ein Swimmingpool. Das Grundstück war von einer mit Marmorplatten gekachelten Mauer umgeben.

Sean Howard ging in die offenstehende Garage. Eine schmale Seitentür ermöglichte es ihm, das Anwesen des Botschaftssekretärs zu betreten. Gepflegte Wege führten zwischen Rasen und Baumreihen hindurch.

Die Villa hatte hohe, schmale Fenster, zahlreiche Balkone und mehrere Wintergärten. Vier flache Stufen führten zu einer geräumigen Terrasse. Vögel zwitscherten im Park, es war das einzige Geräusch weit und breit.

Sean Howard wandte sich zur Seite. Die Terrassentür stand weit offen, und die Vorhänge waren zurückgezogen. Im Halbdunkel, das im Zimmer herrschte, waren die Umrisse eines schweren, eichenen Aktenschrankes zu erkennen.

Sean Howard kniff die Augen zusammen. Er erblickte den Vorhang, und ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihm breit. Der Vorhang war zerrissen und hing über der linken Terrassentür. Stoffreste lagen am Boden.

Sean Howard erstarrte in der Bewegung und griff nach dem handlichen Revolver, den er immer bei sich trug. Er näherte sich der Terrassentür und ging in das halbdunkle Zimmer. Sah den Schreibtisch, erblickte Aktenbündel und Bücher auf dem Boden, und mehrere Papierfetzen, die über dem dicken Teppich verstreut waren.

Und Blutflecken an der Wand, auf dem Boden, auf dem Papier.

»Ferguson?«

Sean Howards Stimme war nur ein Hauch. Er drehte sich langsam um die eigene Achse.

Ein eisiger Schrecken ließ ihn erstarren.

Er erblickte Patrick Ferguson in dem schwarzen, hochlehnigen Ledersessel neben der Bücherwand.

Der Botschaftssekretär war auf den ersten Blick überhaupt nicht zu erkennen. Ein grauenhaftes Bild bot sich Sean Howard.

Es war ein Anblick, den er niemals in seinem Leben wieder vergaß. Ferguson, oder das was von ihm übriggeblieben war, sah aus, als hätte ihn eine Raubkatze angefallen!

Drei Menschen waren in dieser Nacht gestorben. Betsy, die Stripteasetänzerin, Chung, der Gelegenheitsarbeiter und Patrick Ferguson, der Botschaftssekretär.

Keiner der Toten schien mit dem anderen etwas zu tun zu haben, und doch bestand zwischen ihnen ein geheimnisvoller Zusammenhang. Der Ring hatte sich geschlossen.

Noch bevor an diesem Morgen die Zeitungen mit den dreispaltigen Überschriften erschienen, die das Grauen der Nacht schilderten und vor dem Löwen warnten, der ausgebrochen war, befand sich schon eine detaillierte Meldung auf dem Weg nach den USA.

Der amerikanische Botschafter in Hongkong teilte den Tod seines Botschaftssekretärs mit. Er schilderte die Umstände, unter denen Patrick Ferguson offensichtlich zu Tode gekommen war. Das ausgebrochene Raubtier musste durch die offenstehende Terrassentür eingedrungen sein und ihn bei der Arbeit überrascht haben.

Der Botschafter erwähnte auch den Tod der beiden anderen Menschen, nachdem die Regierung in Washington nähere Erklärungen gefordert hatte.

Gerade Patrick Fergusons Tod war es, der die amerikanische Regierung veranlasste, mit dem Geheimdienst in Kontakt zu treten, der wiederum nach Konsultation mit der Regierung einen chiffrierten Bericht an die Psychoanalytische Spezialabteilung in New York schickte.

Die Stimme war nur ein Wispern. Die Männer, die Zeuge der erregenden Darbietung wurden, hielten den Atem an.

Der Raum lag vollkommen im Dunkel. In der Mitte, auf einem schwarzen Tisch, stand eine abgeblendete Lampe. Der helle Schein war auf das Gesicht einer Frau gerichtet, die in einem hochlehnigen Sessel saß und aus deren Körper jegliches Leben entwichen schien. Sie war bleich und hatte die Augen geschlossen. Es war eine hübsche und junge Frau. Larry schätzte sie nicht älter als dreiundzwanzig Jahre.

Der Hypnotiseur, der das Experiment für die anwesenden Agenten der PSA durchführte, stand hinter dem Medium. »Sie heißt Ann Turners«, erklärte er mit leiser Stimme. »Und ist dreiundzwanzig Jahre alt. Während mehrerer Sitzungen habe ich sie in verschiedene Stadien der Tiefenhypnose versetzt. Dabei stieß ich auf ein interessantes Problem. Doch hören Sie selbst.«

Sechs PSA-Agenten waren anwesend. Ein seltener Fall, dass sich eine derart große Anzahl in New York aufhielt. X-RAY-1 hatte die Gelegenheit genutzt, um seine Spezialagenten mit einem ungewöhnlichen Phänomen vertraut zu machen.

Die sechs anwesenden X-RAY-Agenten gingen fast völlig im Dunkel des Vorführraums unter.

»Wie heißen Sie?« Die Stimme des Hypnotiseurs wurde metallisch.

Die bleiche junge Frau antwortete mit kaum hörbarer Stimme: »Ann Turner.«

»Wie alt sind Sie, Ann?«

»Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt.«

Sie erklärte, wo sie wohnte, wer ihre Eltern waren, welchem Beruf sie nachging und welche Hobbys sie hatte.

»Was geschah an Ihrem 20. Geburtstag?«

Sie überlegte einen Augenblick. Dann erzählte sie mit ruhiger, beinahe monotoner Stimme einige Begebenheiten dieses Tages.

»Sie sind zehn Jahre alt, Ann«, sagte der Hypnotiseur plötzlich nach einer kleinen Pause. Er stand wie eine Statue hinter dem Medium, seine langen, schmalen Hände lagen auf ihren Schultern. »Sie denken wie eine Zehnjährige, Sie sind Ann Turner, als Sie zehn Jahre alt waren.« Und plötzlich veränderte er seine Stimme. Er sprach zutraulich wie zu einem kleinen Mädchen, mit ruhiger, väterlicher Art. »Du bist zehn Jahre alt, Ann, hörst du mich?«

Sie nickte. »Ja, ich höre dich.«

Larry Brent, der neben Iwan Kunaritschew saß, beugte sich unwillkürlich vor. Der Atem stockte ihm. Die Blicke der beiden Freunde begegneten sich. Larry las in den Augen des bärenstarken Russen, der ein unschlagbarer Aikido- und Taekwondo-Kämpfer war, das gleiche Erstaunen.

»Sie spricht, als wäre sie zehn, Towarischtsch«, flüsterte der Russe, und er griff mit einer mechanischen Bewegung in seine Brusttasche, um eine seiner gefürchteten, selbstgedrehten Zigaretten aus dem Etui zu entnehmen. Der Russe, der die Deckbezeichnung X-RAY-7 trug, war mit dem Eintritt in die PSA Larry Brents Freund geworden. Den einen oder anderen Fall hatten die beiden schon gemeinsam bestanden.

Larry warf einen Blick auf die selbstgedrehte Zigarette, die sich der Russe zwischen die Lippen steckte. Der Tabak war schwarz wie die Nacht, und Iwan Kunaritschew hatte bis zur Stunde noch nicht preisgegeben, woher er dieses ungeheuerliche Kraut, das einen starken Raucher in Angst und Schrecken versetzen konnte, bezog. »Sie ist eine Zehnjährige, daran gibt es keinen Zweifel«, erwiderte Larry. Sein ruhiges, energisches Gesicht spannte sich. »Wenn man sie jetzt fragen würde, was sie an ihrem 20. Geburtstag erlebt hat – sie wüsste es nicht mehr.«

»Was siehst du, Ann?« fragte der Hypnotiseur. »Erzähl uns, was du siehst, womit du spielst, berichte uns über deine Spielsachen, die du in deinem Zimmer hast.«

Ann Turner nickte. Wie ein verlegenes kleines Mädchen erhob sie sich plötzlich, faltete die Hände vor dem Bauch und spielte mit der imaginären Schleife eines Kleides. »Ich habe gerade Onkel Toms Hütte gelesen. Ich bin traurig. Sie haben den Neger geschlagen. Warum haben sie ihn geschlagen?«

Der Hypnotiseur erklärte ihr die Zusammenhänge, führte sie aber dann von diesem Pfad herunter und ließ sich die Umgebung schildern, in der die Zehnjährige aufwuchs. Mit mädchenhafter, reiner Stimme schilderte Ann bereitwillig all das, was man von ihr verlangte. Mit der Gestik und den Bewegungen eines zehnjährigen Kindes.

Der Hypnotiseur ging einen Schritt weiter. Es war so ruhig in dem kleinen Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Die Demonstration stieß auf allergrößtes Interesse.

»Du bist drei Jahre alt, Ann, hörst du mich?«

Das Gesicht von Ann Turner machte einen ungeheuerlichen Wandel durch. Sie öffnete plötzlich die Augen, schloss sie aber sofort wieder, ihr Gesicht schien die Spannkraft zu verlieren. Es wurde fast rundlich, trotzig, und dann schrie sie und trampelte auf den Boden.

«Bäh ... bäh ...«

Der Hypnotiseur, der auf diese Reaktion vorbereitet war, griff hinter sich. Er reichte Ann Turner einen großen bunten Ball, und drückte ihn in ihre Hände. Die Miene des Mädchens veränderte sich. Freude und Erleichterung spiegelten sich darauf, und wieder rief Ann: »Mein Ball, mein Ball! Du hast ihn gefunden!« Sie drückte ihn an sich und liebkoste ihn.

Die Männer der PSA waren eigentümlich berührt von dem Schauspiel, das sich ihren Blicken bot.

Der Hypnotiseur trat zwei Schritte vor, er sprach zu den Anwesenden, und Ann Turner stand in diesen Sekunden da wie eine schöne, große, verlassene Puppe.

»Es ist mir gelungen, Menschen in der Tiefhypnose bis in frühe Kindheitsstadien zurückzuführen«, sagte der Hypnotiseur. Er war ein stattlicher, älterer Mann, Professor der Medizin. Die Energie und die Intelligenz des Mannes waren äußerlich sichtbar an dem markanten Kinn, der hohen Stirn und den klugen, aufmerksamen Augen, denen nichts entging und die tiefer in die Seele eines Menschen geblickt hatten, als sich ein Außenstehender vorstellen konnte.

Die Agenten der PSA hatten während ihrer Dienstausübung schon manches Unwahrscheinliche erlebt. Das, was ihnen jedoch in diesem Augenblick geboten wurde, sprengte ihre Vorstellungskraft. X-RAY-1 hatte sich bewusst zu dieser Demonstration entschlossen.

»Ann Turner ist ein solcher Fall. Ich werde Ihnen eine ungeheuerliche Tatsache demonstrieren, und danach werden Sie Gelegenheit haben, Fragen an mich zu richten und ...«

Da blinkte das rote Alarmlicht in der vordersten Ecke des Raumes auf.

Die Blicke der sechs anwesenden Agenten schweiften sofort ab.

Eine ruhige, sympathische Stimme klang durch das Dunkel. »Demonstration sofort unterbrechen! Neue Anweisung abwarten! X-RAY-3 bitte sofort in Ihr Einsatzbüro!«

2. Kapitel

Larry Brent brauchte keine zwei Minuten, um in den Raum zu gelangen, der mit seinem Decknamen gekennzeichnet war.

Das Hauptquartier der PSA befand sich mitten in Manhattan, unmittelbar unter dem berühmten Tanz- und Speiserestaurant Tavern-on-the-Green im Central Park.

Unter den Kellerräumen lagen zwei Etagen, die der geheimnisvollen Abteilung zur Verfügung standen. Hier arbeiteten die Computer Tag und Nacht und werteten Berichte aus aller Welt aus.

Bei seiner Anwesenheit im Hauptquartier stand jedem PSA-Agenten ein eigener Raum zur Verfügung. Von hier aus konnte jeder Agent mit seinem direkten Vorgesetzten, dem rätselhaften X-RAY-1, den niemand kannte, Kontakt aufnehmen.

Larry aktivierte sofort die Sprechanlage.