Larry Brent Classic 020: Dämonenbrut - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 020: Dämonenbrut E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Dämonenbrut Ein grauenhafter Mord in der Wohnung der Familie Morgen. Mrs. Falkner, die auf ihren Enkel Danny aufpassen sollte, wurde auf bestialische Weise umgebracht. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Denn es gibt keinen Hinweis auf ein gewaltsames Eindringen. Ed Morgan entdeckt Blutspuren unter den Fingernägeln seines Sohnes und hat einen schrecklichen Verdacht: der Fünfjährige ist nicht sein Sohn. Weitere Mordfälle häufen sich. Larry Brent und Morna Ulbrandson sollen dem ein Ende machen. Sie kommen der Dämonenbrut auf die Spur und folgen ihr zu einem alten Hotel, in dessen Nähe vor Jahren ein Meteorit einschlug ... Amöba saugt die Menschen aus Mordanschlag auf Larry Brent! Getroffen sinkt der PSA-Agent zu Boden. Drei Kugeln feuerte der eiskalte Killer ab. Auch Iwan Kunaritschew stand auf der Liste des Mörders, konnte dem Attentat jedoch knapp entkommen. Das Motiv liegt im Dunkeln. Eigentlich wollten die Agenten Urlaub auf einem russischen Forschungsschiff machen. Iwan tritt die Reise alleine an und steuert mit der Crew der Dmitri Schostajow direkt in einen Alptraum. Denn mit Amöba wartet das Grauen in den Tiefen des Ozeans ...

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 20

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-820-4

Dan Shockers Larry Brent Band 20

DÄMONENBRUT

Mystery-Thriller

Dämonenbrut

von

Dan Shocker

Prolog

Sie schreckte plötzlich aus dem Schlaf, wischte sich über die Augen und war sofort hellwach. Kamen ihre Tochter und der Schwiegersohn schon nach Hause? Plötzlich erfüllte ein gellendes, nervenaufreibendes Kreischen die Wohnung.

Das Kind war wach geworden. Mrs. Falker zwängte sich aus dem Sessel, in dem sie während des Fernsehfilms eingeschlafen war. Die Sendung war zu Ende, aber der Apparat war nicht abgeschaltet. Der Bildschirm flackerte noch. Im Vorübergehen drückte die Frau auf die Aus-Taste.

»Ich komme, Danny!«, rief sie durch den dunklen Flur. Sie vertrat heute Abend die Eltern, die im Theater waren, und Danny war ein lieber Junge. Der Fünfjährige ließ sich gut beaufsichtigen und machte nur wenig Umstände.

Er war auch nicht so zornig wie die anderen Kinder. Dass er jetzt schrie, musste einen besonderen Grund haben. Vielleicht fürchtete er sich, vielleicht hatte er nur geträumt. Mrs. Falker öffnete die Tür und knipste das Licht an. Der Kleine saß im Bett, sein Gesicht war verheult, und er rieb sich mit den Händen die Augen, weil das aufflammende Licht ihn blendete. Unwillkürlich warf Mrs. Falker einen Blick in die Runde, um sich zu vergewissern, ob auch wirklich niemand außer ihr und dem Kind im Raum war. Die alte Frau hatte plötzlich das Gefühl, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag. Sie merkte, wie es eiskalt über ihren Rücken lief.

»Schon gut, Danny!«, beruhigte Mrs. Falker den Jungen. »Ich bin ja da, du brauchst keine Angst zu haben.« Sie lächelte, doch der Fünfjährige schrie weiter. Die Frau erkannte, dass ihre Stimme verändert und unsicher klang. Sie hatte selbst Furcht und vermochte nicht zu sagen, weshalb.

Der Wunsch, jemand bei sich zu haben, wurde in ihr wach, während sie den Jungen aus dem Bett nahm und tröstend über seinen Blondschopf strich. Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie wahr, dass die untere Bücherreihe im Regal ungeordnet war und einige Bücher auf dem Teppichboden lagen. Der Spielschrank war geöffnet und sein Inhalt durcheinandergestreut, als hätte sich ein Orkan ausgetobt. »Nun«, sagte Mrs. Falker, »wenn es nur das ist, das kriegen wir wieder hin. Komm, wir beide werden jetzt alles wieder fein einräumen, und wenn Mummy und Daddy nach Hause kommen, werden sie sich freuen, einen so ordentlichen Sohn zu haben.«

Der Junge beruhigte sich. »Danny hat das nicht getan«, murmelte er schläfrig und mit tränenerstickter Stimme.

»Aber wer denn sonst? Wir beide haben doch ...« Weiter kam sie nicht.

Panik ergriff sie, als sie den Jungen plötzlich ansah. Sie glaubte, einen Alptraum zu träumen. »Danny!« Mrs. Falkers Stimme überschlug sich. Ein Schatten fiel über ihr Gesicht, und gierige Krallen rissen ihr die Kopfhaut auf. Mehrmals schlugen furchtbare Hände, die mit einem Mal da waren, auf sie ein und stürzten sich wie die Klauen eines Geiers auf sie. Sofort schoss das Blut aus den tiefen Wunden, strömte über Mrs. Falkers Gesicht und saugte sich in ihre Kleidung. In Bruchteilen von Sekunden wurde die Frau fürchterlich zugerichtet. Ein spitzer Gegenstand bohrte sich in ihre Halsschlagader. Zähne? Klauen? Sie wusste es nicht. Sie begriff nichts mehr. Ihr fieberndes Gehirn ließ ihr nur noch eines bewusst werden: sie schwebte in tödlicher Gefahr.

»Danny? Danny?«, murmelte sie entsetzt. Aber der Junge konnte es nicht sein. Sie sah nichts mehr, weil das Blut ihr die Augen verklebte. War der Junge auch in Gefahr? Wenigstens ihn musste sie in Sicherheit bringen. Aber dazu musste sie dem unheimlichen Angreifer entkommen. In ihrer Verwirrung begriff sie nicht, dass das Wesen, das sie bekämpfen und den Jungen, den sie beschützen wollte – ein und dasselbe war!

Die gierigen, messerscharfen Krallen rissen ihr Gesicht auf. Mrs. Falker schleuderte den kleinen Körper von sich und taumelte blutüberströmt zur Tür. Ihre Hände rutschten über die hellgrüne Tapete und hinterließen breite Schleifspuren. Stöhnend und ächzend schob sich die alte Frau auf den Korridor. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Ihr Ziel war die Wohnungstür. Schwer wie Bleigewichte schleppte sie ihre Beine nach. Das Blut tropfte zwischen ihren Fingern auf den Boden. Mrs. Falker sah erschreckend aus. Ihre Sinne schwanden.

Alles vor ihr drehte sich wie ein feuriges, teuflisches Karussell. Mrs. Falker lehnte sich gegen die Wand und wehrte sich vergebens. Langsam glitt sie auf den Boden. Ihre Hände rutschten über die Wand und rissen ein Bild herab, das scheppernd neben ihr zersprang. Die sterbende Frau riss die Augen auf, als wolle sie ihre Umgebung als unauslöschbares Bild mit ins Jenseits nehmen und sich für alle Zeiten einprägen. Sie hob stöhnend den Kopf und richtete sich zitternd wieder auf. Ihr Blick war genau auf die Tür zum Kinderzimmer gerichtet. Sie öffnete und schloss mehrmals die Augen und nahm den blutrot gefärbten Schatten wahr, der genau auf der Schwelle stand und die Größe Dannys hatte. Ein bizarrer, unwirklicher Schädel saß auf den schmalen, kindlichen Schultern. Ein schauriger Aufschrei entrann den Lippen der Sterbenden.

War dies Wirklichkeit oder ein Zerrbild, das sie in ihrer Agonie erlebte? Sie sah den dämonenhaften, teuflischen Schädel, das satanische Lächeln, das um die schmalen Lippen lag, sie sah die furchtbaren Raubtieraugen – mit schmalen, sichelförmigen Pupillen – bernsteingelb. Das Entsetzen und das Grauen verfolgten sie bis in den Augenblick ihres Todes. Und ihr verzerrtes, schreckgezeichnetes Gesicht änderte sich auch im Tod nicht!

Zwanzig Minuten nach elf kamen Ed und Sheila Morgan nach Hause. Der Lift trug sie in das zehnte Stockwerk, in dem sie ihre Wohnung hatten. Alles im Haus war still. Sheila lehnte sich lächelnd an die Schulter ihres Gatten.

»Es war ein schöner Abend, Ed«, sagte sie leise und hauchte einen Kuss auf seine Lippen. Das Paar hatte zuerst das Musical My Fair Lady gesehen und war anschließend noch in das Theaterrestaurant gegangen, um bei einer Flasche guten Weines den Abend ausklingen zu lassen. Es war wie in der Zeit ihrer Flitterwochen.

Seit das Kind da war, hatten sie kaum Zeit zum Ausgehen. Aber es lag nicht allein an Danny. Auch Ed war sehr stark in seinem Beruf eingespannt. Er wollte weiterkommen, und nun schien es, als hätten sich seine Anstrengungen und Entbehrungen gelohnt. Ed Morgan war vor drei Tagen zum ersten Mann im Büro der Corner's Live Insurances ernannt worden. Ein Grund zum Feiern. Ed wäre gern länger geblieben, aber Sheila hatte ihn dazu bewogen, noch vor Mitternacht nach Hause zu kommen. Ihre Mutter – das wusste sie aus Erfahrung – ging grundsätzlich nicht ins Bett, solange sie noch nicht zu Hause waren. Sie blieb dann im Sessel sitzen und schlief in dieser unbequemen Lage ein.

Am nächsten Morgen dann taten ihr alle Knochen weh, und sie konnte den Kopf kaum drehen. Außerdem hatte Mrs. Falker die Angewohnheit, nicht über Nacht in der Wohnung ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes zu bleiben. Und wenn es noch so spät wurde, sie wollte nach Hause. Zum Glück wohnte sie nur knapp anderthalb Meilen entfernt, aber Ed Morgan ließ es nicht zu, dass seine Schwiegermutter allein den Weg ging. Heute wollten sie aufgrund des besonderen Tages gemeinsam noch eine Flasche Champagner trinken. Ed Morgan hatte echten französischen mitgebracht, das Geld reute ihn nicht. Vergnügt tänzelte er hinter Sheila und hielt den kühlen Champagner wie ein Wickelkind auf dem Arm.

»Die wird uns heute noch schmecken«, freute er sich. »Ed«, sagte Sheila mit leiser Stimme, während sie die Wohnungsschlüssel aus der silbernen Tasche zog, »du hast heute Abend schon etwas getrunken. Da du Mutter noch nach Hause fahren musst, wäre es mir lieb, wenn du dir dein Glas Champagner bis nachher aufheben würdest. Du weißt, dass ich nicht mag, wenn du mit Alkohol am Steuer sitzt.«

Er hob den Zeigefinger wie ein Lehrer, der seinem Schüler etwas erklären will. »Aus dir, mein Götterweib«, sagte er mit einer Stimme, der man deutlich anhörte, dass er etwas getrunken hatte, »spricht die Vernunft. Ich habe eine Schwäche für vernünftige Frauen und deshalb habe ich dich geheiratet.« Er blieb kerzengerade stehen und schlug die Hacken zusammen wie ein Soldat, der sich zum Rapport meldet: »Sieh an, wie ich hier steh! Ich wackle nicht, du könntest jetzt eine Zeitaufnahme von mir schießen, und das Bild würde gestochen scharf sein.«

Bei diesen Worten schwankte er hin und her wie ein Schilfrohr im Wind. »Es wäre schade um den Film«, lachte Sheila Morgan. Dann wurde sie ernst. »Aber jetzt Spaß beiseite, Ed. Zum Theater hin und zurück lassen wir uns mit dem Taxi fahren – und auf der letzten Meile, die du selbst fährst, passiert es dann.«

»Ich bin hoch versichert«, lautete die Antwort, und ein breites Grinsen lag auf dem Gesicht Eds. »Du bist eine gute Partie, wenn man mich heute vom nächsten Straßenbaum pflückt.«

»Ed, bitte! Du weißt, dass ich solche Scherze nicht mag.«

»Okay, Darling. Dann gehen wir zu einem anderen Thema über. Wer sagt dir überhaupt, dass ich deine Mutter heimfahre?«

Sheila steckte den Schlüssel in die Wohnungstür. »Weil es ein ungeschriebenes Gesetz ist«, antwortete die reizende Blondine auf die Frage ihres Mannes.

»Hoho! Wer sagt dir, dass ich nicht die Macht habe, ein Gesetz zu brechen? Heute habe ich es mir vorgenommen. Bei dieser Flasche Champagner wird es mir gelingen, deine Mutter umzustimmen. Nach dem dritten Glas wird sie nicht mehr in der Lage sein, bis zum Lift zu gehen.«

»Den Eindruck habe ich von dir langsam auch«, erwiderte Sheila Morgan. Mit diesen Worten drückte sie leise die Tür auf und legte den Finger auf den Mund, um ihrem Mann anzudeuten, jetzt endgültig Ruhe zu halten. »Denk an Danny! Wenn du so laut redest, wird er noch wach.«

Sie drückte die Tür so weit auf, dass sie beide hintereinander eintreten konnten. Sheila Morgan ging an der Spitze und bekam zuerst das furchtbare Bild zu sehen. Ihr gellender Aufschrei hallte durch den Flur und durchs ganze Haus. Abrupt wandte sie sich ab. Ed Morgan sah sekundenlang ihr kalkweißes, verzerrtes Gesicht. Sheila verdrehte die Augen. Ein dumpfes Gurgeln drang aus ihrer Kehle. Ed Morgan konnte seine ohnmächtig werdende Frau gerade noch auffangen. Er blickte über ihre Schulter hinweg, und alles in ihm sträubte sich gegen das, was er sah. Die blutüberströmte Mrs. Falker lag reglos, mit dem Kopf leicht gegen die Wand gelehnt, am Boden.

Ein Zittern lief durch Morgans Körper. Sein Rausch war wie verflogen. Er verstand die Welt nicht mehr und begriff nicht, wie das hier passiert war. Er trug seine Frau zu dem im Korridor stehenden Sessel und musste selbst gegen eine Schwäche ankämpfen, die ihn zu überfallen drohte. Ein Verbrechen in seinem Haus! In seinen ärgsten Träumen hatte er nicht damit gerechnet. Doch er musste mit dieser schrecklichen Tatsache fertig werden.

»Danny«, flüsterte eine leise, kraftlose Stimme. »Du musst nach ihm sehen, Ed.«

Sheila war wieder zu sich gekommen. Sie wagte es nicht, in Richtung der toten Mutter zu blicken. Ed Morgan nickte. Er nahm die Champagnerflasche vom Tisch, auf den er sie gestellt hatte; packte sie wie einen Prügel und näherte sich dem Zimmer, in dem der Junge schlief. Sekundenlang verharrte er vor der Tür und wagte es nicht die Klinke herunterzudrücken, aus Angst, ein weiteres grauenvolles Bild zu sehen.

»Danny – lebt er noch?« Sheilas Stimme war wie ein Hauch. Ed erschrak, drückte die Klinke herab und dachte an den geheimnisvollen Unhold in der Wohnung. Das Verbrechen konnte noch nicht lange zurückliegen. Das Blut war frisch und klebrig, und der süßliche Geruch hing betäubend in der Luft. Ed schaltete Licht ein. Mit einem Blick registrierte er die Szene: ein großer Blutfleck auf dem Boden, Tür und Wände verspritzt, Blutspuren auf dem Federbett. Rasch war Ed Morgan quer durch den Raum am Bett des Knaben. Danny lag ruhig und friedlich in den Kissen. Das helle Licht weckte ihn. Der blonde Junge blinzelte und rieb sich die Augen.

»Danny?«, fragte Ed Morgan erregt. »Ist alles in Ordnung?« Der Junge lebte! Doch etwas befremdete ihn, aber er wusste im Moment nicht zu sagen, was es war. Danny lächelte. Blaue Kinderaugen strahlten Ed Morgan an. »Hello, Daddy«, sagte der Junge. »Ich freue mich, dass ihr schon da seid.«

Sheila tauchte an der Türschwelle auf. In ihrem schwarzen Chiffonkleid wirkte sie wie von den Toten auferstanden. Mit fragenden Augen starrte sie ins Zimmer. Ed Morgan erschrak, als er seine Frau sah. Sie schien um Jahre gealtert. Die Haut wirkte fahl und leblos, und die gesunde Frische, die Heiterkeit, die Jugend, die Sheila noch auf dem Nachhauseweg verkörpert hatte, war verschwunden. Wirr hing das Haar in ihre Stirn, und schwarze Schatten lagen um ihre Augen. »Es ist alles okay, Honey«, sagte Ed leise.

»Aber das Blut, Ed! Wie kommt es auf seine Bettdecke?« Langsam, mit müden Schritten, näherte sich Sheila Morgan dem Bett. »Hier muss es passiert sein, als Danny schlief. Er hat von allem nichts bemerkt.« Der frische Geruch einer parfümierten Badeseife stieg in ihre Nase, und es war, als wäre Danny erst vor wenigen Minuten aus der Wanne gestiegen. »Du musst ihn ablenken. Geh mit ihm rüber ins Schlafzimmer«, flüsterte Ed Morgan seiner Gattin zu.

»Ich rufe die Polizei an.« Sheila redete mit ihrem Sohn, ohne dass ihr der Sinn ihrer Worte eigentlich bewusst wurde. Ed Morgan ging an der Seite seiner Frau und verhinderte, dass Danny den Kopf drehte und die Tote zu Gesicht bekam. Rasch sah er in der angrenzenden Küche und im Bad nach. Verbarg sich hier jemand?

Doch Ed täuschte sich. Nirgends fand sich ein Hinweis, der seine Befürchtung rechtfertigte. Der geheimnisvolle Täter hatte auf ebenso rätselhafte Weise die Wohnung wieder verlassen, wie er sie betreten hatte. Gerade dieser Umstand gab Morgan die meisten Rätsel auf. In die Wohnung konnte niemand ohne Erlaubnis eindringen. Über die Gegensprechanlage musste sich jeder Besucher melden, und es war kaum anzunehmen, dass die alte Frau einem Fremden geöffnet hatte.

Dann musste im Lauf des Abends also ein guter Bekannter hier gewesen sein! Blitzschnell stellte Morgan seine Kombinationen auf. Zahlreiche Namen und Personen fielen ihm ein, die eventuell in Frage kamen. Doch niemand traute er eine solche verabscheuungswürdige Tat zu. Ein Mörder in seinem Freundes- und Bekanntenkreis? Nein! Müde ließ sich Sheila Morgan aufs Bett sinken. Sie hielt ihren Sohn an sich gepresst, als fürchte sie, jemand würde ihn ihr wegnehmen.

»Hattet Ihr Besuch heute Abend, Danny?«, fragte Ed mit ruhiger Stimme. Er lächelte sogar. Der Junge brauchte nicht zu merken, dass hier etwas nicht stimmte.

Danny schüttelte den Kopf. »Nein, Daddy! Es war niemand hier. Nur Grandma.« Jedes einzelne Wort, das Danny sprach, brannte wie eine glühende Nadel im Bewusstsein Ed Morgans. Doch dann bemühte er sich, die quälenden Gedanken und Überlegungen abzustreifen. Schließlich war es nicht seine Sache, den Mord hier aufzuklären. Wozu gab es schließlich die Polizei?

Sheila Morgan saß leise vor sich hinmurmelnd im Schlafzimmer, während Ed sich im Arbeitszimmer aufhielt und von dort aus die Mordkommission anrief. Die junge Frau starrte abwesend auf einen imaginären Punkt. Besorgt betrachtete Ed Morgan vom gegenüberliegenden Zimmer her seine Frau. Ein tiefer Atemzug hob und senkte die Brust des Mannes. Er hatte Angst um Sheila. Hoffentlich verkraftete sie den Vorfall. Ihr Zustand veranlasste ihn dann doch, nochmal zum Telefonhörer zu greifen. Er wählte die Nummer von Dr. Parkinson. Mit leiser Stimme unterrichtete er den Arzt von Sheilas Befinden.

»Okay, Ed. In zehn Minuten bin ich da.«

Es knackte im Telefon, als Doc Parkinson, der langjährige Hausarzt der Familie, auflegte. Ed ging zu Sheila hinüber. »Wie fühlst du dich, Darling?«

fragte er besorgt. Sie nickte nur und murmelte etwas, das er nicht verstand. Er drang nicht weiter in sie. Abwesend liebkoste sie den kleinen Danny, der sich die Zärtlichkeiten gern gefallen ließ und zu dieser vorgerückten Stunde seine Freude daran hatte. Sie küsste sein kleines Gesicht, nahm seine Hände in die ihren und fuhr ebenfalls mit ihren Lippen darüber hinweg. Ed Morgans Blick fiel auf die kleinen rosigen Hände. Sein Herzschlag stockte, und er hatte das Gefühl, als ob eine eiskalte Hand seinen Rücken betastete. Unter den kleinen Fingernägeln Dannys saß Blut!

1. Kapitel

Die Mordkommission unter Führung von Captain Jeffers nahm den Tatbestand auf. Die Lage war verworren. Jeffers kam nicht voran. Der Fall gab ihm Rätsel über Rätsel auf.

»... sieht so aus, als hätte ein Tier sie angefallen«, besprach er nach der Routineuntersuchung mit dem Polizeiarzt den Fall.

Der Doc nickte. »Das ist auch mein Eindruck. Messerscharfe Krallen haben Mrs. Falker verletzt. Die Wunden in ihrem Kopf sind mehrere Millimeter tief. Die Krallen haben die Blutgefäße aufgerissen. Mrs. Falker ist an dem starken Blutverlust gestorben. Genaueres kann ich natürlich erst nach der Obduktion sagen, Captain.«

Ed Morgan war Zeuge dieses Zwiegespräches geworden. »Gibt es einen Hund im Haus?«, wollte Captain Jeffers von Ed Morgan wissen. »Es wäre die einzige Erklärung, wenn Sie mir sagen würden, dass Sie ein Haustier haben. Tollwut.«

»Es gibt keinen Hund, Captain.«

Jeffers zuckte die Achseln und zündete sich eine Zigarette an. Nachdenklich sah er zu, wie die inzwischen eingetroffenen Leichenträger die Tote in den Metallsarg legten. »Das wär's dann wohl für heute, Captain?«, fragte der eine der beiden, ein dicker, kurzatmiger Bursche mit teigigem Gesicht. »Oder haben Sie noch eine Überraschung auf Lager?«

Er fletschte sein gelbes Pferdegebiss und schob mit der Zunge die überdimensionale Zigarre in den rechten Mundwinkel. »Wir sind zudem auf schöne Leichen spezialisiert«, machte der andere sich bemerkbar, noch ehe Jeffers etwas auf die Frage des Dicken erwidern konnte. Das grauenvoll verzerrte Gesicht also war etwas, was jedem auffiel. Was hatte Mrs. Falker kurz vor ihrem Tod gesehen? Was hatte sie erlebt? Diese Frage stellte Jeffers auch Ed Morgan immer wieder.

»Ich weiß es nicht, Captain, und wenn Sie mir Löcher in den Bauch fragen!« Morgan griff zum Whisky. Seit die Polizei in seiner Wohnung war, hatte er angefangen zu trinken. Mit einem Schluck leerte er das Glas. »Ich habe den Wunsch, mich sinnlos zu betrinken, Captain«, sagte er mit rauer Stimme. »Dieser Abend hätte etwas Besonderes werden sollen, verstehen Sie? Er ist etwas Besonderes geworden – aber im entgegengesetzten Sinn. Wollen Sie einen Drink, Captain?«

»Nein, danke!«

»Well, dann erlauben Sie sicher, dass ich noch einen zu mir nehme.« Mit glasigem Blick verfolgte Morgan, wie die Leichenträger den Metallsarg aus der Wohnung schafften. Kaum war die Tür ins Schloss gezogen, kehrte auch der Hausarzt der Familie aus dem Schlafzimmer zurück. Morgan wandte sich sofort zu ihm um.

»Wie geht es meiner Frau? Irgendwelche Bedenken hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes, Doc?« Man merkte seiner Stimme an, dass er schon einige Whisky intus hatte.

»Sie sollten nicht so viel trinken, Ed«, mahnte Doc Parkinson. Er war Mitte der Fünfzig, sah aber jünger aus. Der Arzt hatte rote Pausbacken wie ein Säugling. Seit über zwanzig Jahren betreute er die Morgans, und Ed war bei ihm schon in Behandlung gewesen, als er noch zur Schule ging. »Damit helfen Sie sich und Ihrer Frau am wenigsten.«

»Okay, Doc. Wenn Sie meinen. Sie wissen, dass ich Ihren Rat stets geschätzt habe.« Mit hörbarem Geräusch stellte er das Glas auf den Barschrank zurück. »Und nun zu meiner Frau.«

»Sie schläft. Ihre Frau hat leider einen Schock erlitten, nicht sehr stark, aber das ist eine Sache, die man nur relativ beurteilen kann. Sie muss mit dem Geschehen fertig werden, Ed, das ist verdammt wichtig. Sie kann es schaffen.«

Ed Morgan kniff die Augen zusammen. Er schluckte heftig, als würgte er plötzlich an einem Kloß. Parkinson spielte mit offenen Karten, das war man von ihm gewohnt. Er verschwieg seinen Patienten und deren Angehörigen nur das, was er wirklich nicht verantworten konnte zu erwähnen. Aber seine Devise war: die Wahrheit denjenigen zu sagen, die stark genug dafür waren. »Wollen Sie damit sagen, dass die akute Gefahr für Sheila noch nicht vorüber ist?«, stammelte Ed Morgan.

»So ungefähr, Ed. Das Problem ist ziemlich kompliziert. Ich versuche es auf einen einfachen Nenner zu bringen: Es kann zu einem Rückfall kommen, in dessen Verlauf Sheila den Verstand verliert. Aber es muss nicht sein, verstehen Sie? Was sie jetzt dringend braucht, ist Ruhe und nochmals Ruhe. Und vor allen Dingen: Ihre Hilfe! Das ist mehr wert als alles andere. Sie muss ganz schnell über den Vorfall hinwegkommen. Dabei können Sie und der kleine Danny ihr behilflich sein. Ich lasse Ihnen auf jeden Fall noch ein Medikament da, das Sie ihr geben können, wenn sie keine Ruhe findet.«

Parkinson drückte Morgan ein kleines blaugrün-gelb gestreiftes Schächtelchen in die Hand, in dem sich ein starkes Sedativum befand. »Sie wird auf jeden Fall darauf ansprechen. Und nun gute Nacht, Gentlemen!« Der Doc tippte an die breitrandige Hutkrempe und ging. Unmittelbar nach Parkinson verließen auch die Männer des Spurensicherungsdienstes und der Polizeifotograf die Wohnung. Dr. Linters, der Polizeiarzt, wollte sich anschließen. »Noch auf ein Wort, Doc«, machte Ed Morgan sich bemerkbar.

»Ja, bitte?«

»Sie haben vorhin so etwas Merkwürdiges erzählt, Doc. Von Krallen und einem Tier. Könnte es möglich sein, dass ein Mensch in der Lage ist einem anderen solche Verletzungen beizubringen?«

Linters kniff die Augen zusammen und warf einen schnellen Blick auf Captain Jeffers. »Ein Mensch mit den Fingernägeln?«, fragte er, als hätte er Morgans Andeutung nicht richtig verstanden.

»Genauso meinte ich es, Doc.«

»Das halte ich für ausgeschlossen. So lange Fingernägel hat niemand und so stark, dass sie dann nicht abbrächen – nein, unmöglich, Morgan! Es waren Krallen!«

»Wenn jemand solche Krallen gehabt hätte?«, warf Morgan hartnäckig ein.

Linters zuckte die Achseln. »Wer soll schon solche Krallen haben? Sie müssen jedenfalls verdammt stabil gewesen sein, wir haben nicht mal einen einzigen Splitter gefunden.«

Das Gespräch war noch keineswegs beendet, doch Linters zog es vor, die Angelegenheit als abgeschlossen zu betrachten. Was Morgan da faselte, war das Gerede eines Betrunkenen. Es war besser, darauf nicht näher einzugehen. Betrunkene konnten verdammt widerspenstig sein. Schließlich war Morgan noch allein mit Jeffers, der sich ebenfalls zum Gehen anschickte. »Sie sind hier mit allem fertig, nicht wahr?«, wollte Morgan wissen.

»Die Spuren haben wir gesichert, sofern man überhaupt von Spuren reden kann. Es gibt leider nicht den geringsten Hinweis auf den Täter. Das bereitet mir das meiste Kopfzerbrechen, denn irgendwie muss er ja in die Wohnung gekommen sein. Und in Luft kann er sich nicht aufgelöst haben. Ich würde morgen früh nochmal gern mit Ihrem Sohn sprechen, Mister Morgan. Vielleicht kann sich der Junge doch an etwas erinnern.«

Ed schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn bereits gefragt. Es kam niemand in die Wohnung, von dem er etwas wüsste.«

Captain Jeffers seufzte und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Das Ganze ist schon ein makabres Ding, das hier passiert ist«, sagte er, während er langsam zur Wohnungstür ging und von Morgan begleitet wurde.

»Ich muss dafür sorgen, dass meine Frau so schnell wie möglich alles vergisst, was mit diesem Vorfall zusammenhängt, Captain. Sie haben nichts dagegen, wenn ich gleich morgen früh die Spuren der scheußlichen Tat beseitige?«

»Nein. Wir sind fertig. Sie können von mir aus den Teppichboden herausreißen und die Tapeten von der Wand pflücken, wenn Sie das wollen.«

»Genau das habe ich vor, Captain. Alles, was Sheila an den Tod ihrer Mutter erinnern könnte, muss verschwinden.«

Die Tür klappte ins Schloss, und erst jetzt wurde Morgan bewusst, dass er den Gute-Nacht-Gruß Jeffers' überhört hatte.

Ed Morgan wischte sich die Augen und atmete tief durch. Die Luft hier war verbraucht, stickig und mit einem Mal heiß. Schleppenden Schrittes durchquerte er das Kinderzimmer, öffnete die Tür zum Balkon, ging hinaus und starrte in die milde, dunkle Nacht. In der Ferne blinkten vereinzelt noch ein paar Lichter, in der Tiefe zogen die roten Schlangen von Autorücklichtern vorüber.

Ein leichter Regen fiel. Vom Westen schob sich eine schwarze Wolkenwand heran und verschluckte die winzigen, stecknadelkopfgroßen Sterne, die noch vereinzelt am Himmel leuchteten. Dumpfes Grollen kündete ein Gewitter an. Grelle Blitze spalteten den Himmel, zerrissen die Schwärze, und ihr Widerschein spiegelte sich auf den Dächern der Häuser. Die Umgebung war Morgan vertraut. Er sah im Aufleuchten der Blitze die alte Kirche, den Verlauf der Straßen, die er täglich fuhr, und doch schien etwas nicht mehr zu stimmen. Sein Wilmington kam ihm fremd und unheimlich vor. Über zehn Minuten verbrachte der Mann auf dem Balkon und versuchte, seine Gedanken zu ordnen und wieder zu sich selbst zu finden. Es gelang ihm nicht, und der genossene Alkohol trug sicher dazu bei, dass seine Überlegungen ins Nichts zerflossen.

Der Regen wurde stärker, und ein kühler Wind wehte. Morgan fröstelte und zog sich ins Zimmer zurück. Schlagartig brach dann der Gewitterregen los, klatschte und trommelte gegen die Fensterscheiben und auf die Blechverkleidung draußen auf der Balkonbrüstung. Ed Morgan wischte sich geistesabwesend über das feuchte, regenverspritzte Gesicht und löschte das Licht im Kinderzimmer. Er zog die Tür hinter sich ins Schloss. Danny schlief bei Sheila im Elternschlafzimmer. Er wollte nach beiden sehen. Als er das Zimmer betrat, lagen Mutter und Sohn friedlich schlafend in den Betten. Sheila trug noch ihre Unterwäsche. Das dunkle Chiffonkleid hing an der spaltbreit geöffneten Schranktür. Sheila Morgan atmete ruhig und tief, im Schlaf hatte ihr hübsches Gesicht einen leicht rosafarbenen Hauch.

Ed Morgan hoffte, dass sie sich wieder erholte und vergaß, was geschehen war. Danny lag auf dem Bauch neben seiner Mutter. Seine rechte Hand ruhte genau auf Sheilas Stirn. Er hielt die Finger ein wenig gekrümmt, so dass es aussah, als wolle er seine Fingernägel in den Kopf der Mutter bohren! Ed Morgan verstand seine eigene Reaktion nicht. Er stand plötzlich neben dem Bett, riss die Hand des schlafenden Kindes brutal auf die Seite und sah, dass Sheila unverletzt war. Erst in diesem Augenblick setzte sein Denken wieder ein. Er hatte sich benommen wie ein Idiot. Wie konnte er nur annehmen, dass ...

Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Die Ereignisse belasteten ihn offensichtlich stärker, als er sich selbst eingestehen wollte. Danny bewegte sich. Er rollte sich auf die Seite und schlug die Augen auf. Ed Morgan zuckte zusammen, als er diesem eisigen Blick begegnete!

»Warum hast du mich geweckt, Vater?« Wie eine Drohung kam es aus dem kleinen Mund, der ihm plötzlich entsetzlich und unbegreiflich hart erschien. »Ich wollte dich nicht wecken, Danny, ich ...«, stammelte er. Ed Morgan war unfähig sich zu rühren, als er sah, wie die Pupillen seines Sohnes sich veränderten und ein sichelförmiges Aussehen annahmen. Pupillen wie bei einer Raubkatze! Morgan rieb sich die Augen, presste sie mehrmals stark zusammen und öffnete sie dann wieder. Danny lag vor ihm auf dem Rücken, lächelte, und seine großen, blauen Augen strahlten ihn an.

Ed Morgan wagte nicht zu atmen. Hatte er sich getäuscht? Hatten die Vorgänge sein Gehirn genarrt? War es der Anfang des Wahnsinns? Er griff sich an den Kragen, starrte noch immer auf das teuflisch lächelnde Gesicht des Knaben, das er nur verschwommen wahrnahm, und der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Verdammtes Sauwetter«, schimpfte James Rutigan, kniff die Augen zusammen und starrte auf die nasse Straße. Der Regen klatschte herab und spritzte vor dem langsam fahrenden Auto auf. Die Nacht war tiefschwarz, und nur wenn ein Blitz aufleuchtete, wurden die dichtbelaubten, dunklen Bäume am Straßenrand sichtbar.

»So stellt man sich wahrhaftig den Mai nicht vor. Wenn es schon so anfängt, wie wird dann dieses Jahr erst der Sommer ausfallen.« Er warf einen Blick zur Seite. Neben ihm saß Violetta. Schlank, glutäugig, rothaarig. Er war vernarrt in sie, und es machte ihn glücklich, dass sie diesmal die Zeit gefunden hatte, die Geschäftsreise mit ihm gemeinsam durchzuführen.

Sie war im Sekretariat einer großen Schallplattenfirma tätig. Rutigan, im Vertrieb derselben angestellt, lernte Violetta dort kennen und lieben. Sie verstanden sich beide ausgezeichnet, und ihre Heirat war beschlossene Sache. Rutigan verdiente im Außendienst ein anständiges Geld, doch er wollte höher hinaus und einen eigenen Vertrieb aufziehen. Aus diesem Grund war er mit mehreren wichtigen Leuten zusammengetroffen. Violetta war ein positiver Faktor in seinen Berufsplänen. Wo er mit ihr auftauchte, hinterließ er einen unverwischbaren Eindruck. Hinzu kam, dass Violetta gleich ihren neuen Aufgabenbereich kennenlernte.

James lächelte. »Ich habe mir diesen Abend doch ein bisschen anders vorgestellt«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich hatte gehofft, spätestens um Mitternacht in Chesapeake City zu sein. Aber daraus wird nun nichts mehr. Es ist schon eine Stunde über die Zeit.« Sie legte ihm ihre Linke auf die Schulter und ihre schlanken, hübschen Finger kraulten sein welliges Nackenhaar. »Nimm's nicht tragisch! Besser ist, wir kommen wenigstens im Schritt voran, als gar nicht.«

»Okay.« Er musste noch weiter mit dem Gas heruntergehen. Es war unmöglich, die Hand vor Augen zu sehen. Vor dem Wagen stand förmlich eine Wand aus Wasser, und die Scheibenwischer schafften es nicht mehr, die Regenmassen auf die Seite zu drängen. Die Sicht war miserabel. Rutigan lag halb über dem Steuer und starrte mit brennenden Augen auf die einsame Straße.

»Warum bleibst du nicht stehen?« Violetta drehte ihm das feingeschnittene Gesicht zu. Ihre Lippen schimmerten verführerisch.

»Dann kommen wir gar nicht mehr weiter.«

»Wir könnten abwarten, bis das Gewitter vorüber ist.«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum nicht? Du vernachlässigst mich jetzt schon, mein Lieber. Ich kann mich an die ersten Tage unserer Bekanntschaft erinnern. Wenn du einen Seitenweg entdeckt hast, bist du hineingefahren, du hast dich immer darum bemüht, die verkehrsreichen Straßen abseits liegen zu lassen. Du wolltest mit mir allein sein, darauf kam es dir an. Ein Flirt im Auto.«

Er lachte. Wenn sie so zu ihm sprach, konnte er nie ernst bleiben. Er beugte sich zu ihr hinüber, suchte ihren Mund und küsste sie, wobei er den Wagen langsam weiterrollen ließ. »Ich vernachlässige dich nicht, Honey. Ich werde es niemals tun, das verspreche ich dir. – Aber ich bin in deiner Gesellschaft zu einem Feinschmecker geworden. Warum sollen wir's uns unbequem machen, wenn wir es bequem haben können? Ich habe mich entschlossen, heute Nacht nicht mehr weiterzufahren. Wir werden erst morgen früh nach Chesapeake City aufbrechen. Bis dahin bleiben wir im Hotel.«

Sie blickte ihn erstaunt an. »Hotel? Ich denke, das nächste ist in Chesapeake.«

»Du irrst. Hier in der Nähe gibt es ein Hotel. Es ist schon fünf oder sechs Jahre her, seit ich das letzte Mal dort übernachtete. Auf dem halben Weg nach Chesapeake. Ich muss jedoch einen Umweg fahren. Irgendwo da vorn muss es bald rechts abzweigen.« Er setzte sich wieder richtig hinter das Steuer und gab etwas mehr Gas. Der eisgraue Chevrolet glitt weich über den Asphaltuntergrund. Der Motor schnurrte leise wie ein Uhrwerk. Rutigan fuhr einen Wagen nie länger als zwei Jahre, und dies hier war das letzte Modell des Automobilwerkes. Es regnete unvermindert stark. Auf dem ganzen Weg begegnete ihnen nicht ein einziges Auto. Die Straße lag wie ausgestorben.

»Da ist es.« Rutigan entdeckte die Abfahrt in letzter Sekunde. Er zog den Wagen herum und verließ die Hauptstraße. Auch die Strecke, die er jetzt fuhr, war asphaltiert. Die Straße war nur schmaler und bohrte sich wie eine mehrfach gewundene Riesenschlange in ein Waldstück. Rutigan fuhr schneller, als es die Sicht erlaubte.

»Ich hätte eigentlich eher darauf kommen sollen«, sagte er unvermittelt. »Aber vor lauter Geschäftsbesprechungen hatte nichts anderes mehr in meinem Kopf Platz. Außer dir natürlich«, fügte er schnell hinzu, als er merkte, dass Violetta eine Erwiderung auf der Zunge hatte. Die attraktive Begleiterin schaltete das Radio ein. Auf verschiedenen Sendern gab es ausgezeichnete Musik. Der Rhythmus ging ins Blut. Violetta rutschte auf ihrem Sitz hin und her, als würde das Leder unter ihrem Po plötzlich heiß.

»Wie in alten Zeiten«, sagte sie, mit den Fingern schnippend. »Rock'n'roll, das war die beste Musik für die Jugend, die es jemals gab.« Rutigan kam in eine aufgekratzte Stimmung. Er schien es kaum erwarten zu können, in dem einsamen Hotel die Nacht mit Violetta verbringen zu können.

»Wir dürfen annehmen, dass wir so ziemlich die einzigen Gäste sein werden«, sagte er kurz vor dem Ziel. »Um diese Jahreszeit ist hier nicht allzu viel los. Erst Mitte des Monats beginnt die Reisezeit.« Violetta seufzte. Sie musterte Rutigan mit großen schwarzen Augen. Wer die temperamentvolle junge Dame zum ersten Mal sah, erkannte sofort, dass spanisches Blut in ihren Adern floss.

Violetta Lanzaro hatte die Schönheit ihrer Mutter geerbt. »Dass wir allein sein werden, glaube ich wirklich bald, James«, meinte sie. »Wie lange fahren wir eigentlich jetzt schon diesen kurvenreichen Kurs?«

»Gut zwanzig Minuten.«

»Mir kommt es so vor, als ob du dich verfahren hast. Wo soll hier in dieser Wildnis ein Hotel stehen?«

Er lachte trocken. »Ich, verfahren? Violetta! Wenn ich mal eine Strecke gefahren bin, dann hat sie sich unauslöschlich in mein Bewusstsein eingegraben. Wir sind jetzt gleich da, darauf kannst du dich verlassen.« Nach fünf Minuten bog Rutigan auf einen schmalen Pfad ein. Der Boden war weich, und die Reifen des Chevys drückten sich tief in den Schlamm. Violettas hübsches Gesicht wurde ernst.

»Ich habe das Gefühl, dass unsere Reise gleich zu Ende sein wird, und richte mich darauf ein, die Nacht hier zu verbringen.« Mit diesen Worten begann sie, den großen Drehknopf an der Seite ihres Sitzes zu verstellen. Die Rückenlehne sank langsam nach hinten, bis sie vollends unten war. Violetta richtete ihr Lager mit eleganten, fließenden Bewegungen, und es machte Spaß, ihr dabei zuzusehen. Sie stemmte die langen, braunen Schenkel am Armaturenbrett ab. Ihr knapper Rock rutschte nach oben, und ihre mattschimmernden Beine boten sich bis zum Ansatz seinen Blicken dar. James Rutigan schaffte es, den Wagen über die aufgeweichte Zufahrt zum Hotel zu bringen, ohne steckenzubleiben. Die Büsche und Sträucher zu beiden Seiten des Weges waren verwildert. Die langen Zweige ragten weit in den Weg, und sie streiften den Wagen. Dann rollte der Chevrolet auf die große, dunkle Lichtung zu. Die Scheinwerfer wanderten über den schlammigen, unter Wasser stehenden Boden. Ein einziger See breitete sich vor ihnen aus. Dann rissen die Autolichter das große, dunkle Gebäude aus der Finsternis. Violetta, die dabei war, es sich bequem zu machen, starrte auf das Gebäude.

»Das also ist dein Hotel?« Sie spitzte die Lippen. »Sieht wohl ein bisschen verändert aus, nicht wahr?« James Rutigan glaubte seinen Augen nicht zu trauen. »Das darf nicht wahr sein«, sagte er mit belegter Stimme. Er gab noch mal Gas, durchquerte den See und hielt dann etwa drei Meter vom Eingang entfernt.

»Als ich vor fünf Jahren zum letzten Mal hier war, sah es noch ganz ordentlich aus.« Die Bemerkung Violettas, dass das Hotel sich doch wohl ein bisschen verändert habe, war eine Schmeichelei. Es war nämlich zur Ruine geworden, ein dunkles Gemäuer, zum Teil mit leeren Fensterhöhlen und einer windschief in den Angeln hängenden Tür. Schmutz und Gesteinsbrocken befanden sich auf den ausgetretenen Treppen. Rutigan griff zum Zündschlüssel, drehte ihn um und schaltete den Motor ab.

Der Regen rauschte auf den Wagen herab, der Wind pfiff in den Bäumen, und das emaillierte Metallschild über dem ehemaligen Hoteleingang schwang quietschend an einer verrosteten Kette hin und her. Auf dem Schild stand, gerade noch erkennbar, die Bezeichnung Hotel. Verschnörkelte, altmodische Buchstaben.

»Okay, dann wollen wir uns gleich an der Rezeption melden.« Violetta lachte. James konnte ihre Heiterkeit nicht teilen. Die Überraschung, die er in diesen Sekunden verdaute, saß ihm in den Knochen. Er blickte zu den Fenstern im ersten Stock. Dort waren die Scheiben noch erhalten. Doch eine dicke Schmutz- und Staubschicht lag über ihnen.

»Ich habe vor langer Zeit mal gelesen, dass hier in der Gegend ein großer Meteorit vom Himmel herunter gekommen sein soll«, fuhr er nach einigen Minuten nachdenklichen Schweigens fort. »Sieht gerade so aus, als hätte das Ding das Haus unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen.« Er wollte noch etwas hinzufügen, als Violetta sich schon bemerkbar machte. »Schade. Ich habe mich schon so auf die Nacht im Hotel gefreut. Bei dir ist man vor Überraschungen nie sicher, scheint mir.«

Er grinste. »Daran erkennst du, dass du keinen langweiligen Mann zum Gatten bekommst. Ich werde mich bemühen, mir immer etwas Neues einfallen zu lassen.«

Violetta lächelte. Ihre weißen Zähne schimmerten wie Perlen. »Aber nun Spaß beiseite: Du hast gewusst, was uns erwartet, nicht wahr? Du wolltest sehen, wie ich darauf reagiere?«

James schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte keine Ahnung.«

»Aber es ist doch ausgeschlossen, dass ein Haus innerhalb von fünf Jahren so herunterkommt, James?« Ihre Stimme klang verändert. Draußen ließ der Regen schlagartig nach. Noch ein paar vereinzelte Tropfen, dann war es vorbei. Das Gewitter verzog sich. Ein kühler Wind säuselte in den dichtbelaubten Wipfeln. Die Stille, die sie mit einem Mal umgab, war unheimlich. »Ja, das sollte man meinen«, reagierte Rutigan auf die Frage seiner Begleiterin. »Aber wir werden hier eines besseren belehrt.« Er beugte sich nach vorn. »Sieht beinahe so aus, als ob die alten Gonzieros doch noch hier wohnen.«

»Gonzieros?«

»Ein mexikanisches Ehepaar, dem der Schuppen hier gehörte. Im Obergeschoss sind die Vorhänge noch dran, nicht wahr?« Violetta folgte seinem Blick. James Rutigan betätigte die Hupe. Das nervenaufreibende Geräusch drang durch die Nacht und echote aus dem finsteren Wald zurück. Im Haus rührte sich nichts. »Lass uns gehen«, schlug Violetta vor. In der Nähe dieses alten, menschenleeren Gemäuers kam es ihr plötzlich nicht ganz geheuer vor.

»Okay. Dann machen wir uns auf den Rückweg.« James zuckte die Achseln. Mechanisch drehte er den Schlüssel im Zündschloss. Im gleichen Augenblick verlöschte das Abblendlicht, das er die ganze Zeit über hatte brennen lassen. Der Chevrolet reagierte nicht. James Rutigan kniff die Augen zusammen. Er unternahm mehrere Startversuche. Nichts!

»Kurzschluss?« Violettas Stimme klang plötzlich wieder hellwach. »Bedeutet das, dass wir die Nacht im Freien verbringen müssen?« Rutigan atmete tief ein und stieß hörbar die Luft durch die Nase. »Weiß ich noch nicht. Ich seh mal nach.« Er versank bis an die Knöchel im Schlamm und Regenwasser, als er den Wagen verließ. Die kühle Nachtluft fächelte sein Gesicht. Rutigan klappte die Motorhaube auf. Ein brenzliger Geruch stieg ihm in die Nase, aber er suchte vergebens nach einer Schmorstelle, und er sah auch keinen Rauch aufsteigen. Merkwürdig! Er verstand das nicht. Der Wagen hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Aber irgendwann musste es ja ein erstes Mal geben. Ausgerechnet jetzt in dieser Situation. Er biss sich auf die Lippen und kam um den Wagen herum. Seine Schuhe waren durchnässt.

»Da ist nichts zu machen. Ich weiß nicht, was los ist. Irgendein Fehler in der elektrischen Versorgung.« Hilflos blickte er sich um, sein Blick blieb an dem dunklen Gemäuer haften, das mit einem Male wie eine drohende Festung vor ihm im Dunkeln stand. Abwesend drehte er die abgeschaltete Taschenlampe in der Rechten. »Vielleicht sehe ich doch mal nach, Violetta«, murmelte er. »Irgendwo müssen wir heute Nacht schließlich bleiben, wenn der Wagen streikt.« James Rutigan stieß sich von dem Chevrolet ab. »Ich bin gleich wieder zurück.«

»Hoffentlich.« Violettas Augäpfel leuchteten aus dem Wageninnern. Sie empfand eine gewisse Furcht bei dem Gedanken, allein zurückzubleiben. Dunkelheit, Einsamkeit und Stille berührten sie eigenartig. Violetta kurbelte das Fenster an ihrer Seite ein paar Zentimeter tief herab. Rutigan stand genau unter dem Hoteleingang.