Larry Brent Classic 026: Albträume - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 026: Albträume E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Im Labyrinth des Ghuls Es ist stockfinstere Nacht. Die männliche Gestalt, die zwischen den verwitterten Gräbern entlanggeht ist kaum von der Dunkelheit zu unterscheiden, und doch bewegt sie sich sicher, als ob sie jeden Quadratzentimeter Boden kennen würde. Ihre Arme sind im Vergleich zu seinem Körper viel zu lang, und würde ein Mensch in das Gesicht blicken können, wäre er zu Tode erschrocken. Ein bleiches, knittriges Antlitz, durch das kein Tropfen Blut mehr fließt. Das Geschöpf ist tot, und doch lebt es. Es ernährt sich von den Toten, denn die Gestalt ist ein Ghul. Die Alpträume des Mr. Clint Harold Glancey schläft, doch es ist kein ruhiger und erholsamer Schlaf. Er träumt, wälzt sich in seinem Bett, schwitzt, zittert und schreit. Als ihn seine Frau weckt, schlägt er die Augen auf, und er weiß daß sie wieder da waren. Nicht zum ersten Mal hat er von den kleinen braunen Männchen geträumt, die aussehen, als ob sie aus Lehm geformt wären. Ein immer wiederkehrender Alptraum? Gil Glancey hat das Gefühl, daß ihr Mann dringend ärztliche Hilfe braucht, doch dann sieht sie die Figuren auch. Sie leben, existieren, und steigen über die Dächer der Stadt!

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 26

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-826-6

Dan Shockers Larry Brent Band 26

ALPTRÄUME

Mystery-Thriller

Im Labyrinth des Ghuls

von

Dan Shocker

Prolog

Dunkle Wolken hingen schwer am Himmel. Kein Stern, kein Mond leuchtete. Es war finstere Nacht. Der Mann, der sich wie ein Schatten hinter dem hohen, verwitterten Grabstein löste, hatte breite Schultern, kräftige, affenähnliche Arme und stämmige Beine.

Ungepflegtes Haar hing ihm wirr ins Gesicht, das auffallend bleich war, als flösse kein Tropfen Blut durch die Adern des einsamen Friedhofbesuchers.

Die klobigen, kräftigen Hände mit den langen Fingernägeln schabten trocken über das raue Gestein.

Der Ghul kehrte in sein Reich zurück.

»Halt's Maul, Kumpel«, grölte die Rothaarige, griff nach dem halbgefüllten Glas und schüttete den üblen Fusel in sich hinein. Wie Öl lief der Alkohol die Kehle des Animiermädchens hinunter. Sie schüttelte sich nicht mal. Der Mann, auf dessen Schoss sie saß, musterte sie aus wässrigen Augen.

»Ich glaube, jetzt reicht's«, murmelte Paul Morey. Man sah ihm an, dass auch er schon etliche über den Durst getrunken hatte, aber er konnte noch erkennen, dass man es nicht nur mit ihm gut meinte. Die Rothaarige sorgte nämlich dauernd dafür, dass die Flasche schneller leer wurde, als dies normalerweise der Fall war. Das allein jedoch hätte ihn nicht mal gestört. Es war ihm aufgefallen, dass sie das Glas, das sie sich vollschenkte, nicht immer austrank. Der Inhalt wanderte heimlich an den nächsten Tisch weiter, wo zwei finster blickende Kerle saßen und sich von der Dame offensichtlich auf ihre Weise freihalten ließen.

Die Rote strich sich durch das gelockte Haar. Ihr strammer Busen stieß gegen Paul Moreys Kinn und gewährte dem Angetrunkenen Einblick in tiefere Gefilde. »Du hast was gegen mich, stimmt's?«, fragte sie lautstark. »Du gönnst mir die paar Tropfen wohl nicht?«

»Dir schon, aber nicht den Kerlen nebenan«, presste Paul Morey leise zwischen den Zähnen hervor.

Die Luft war stickig und rauchgeschwängert. Die Qualmwolken hingen dick und schwer im Raum.

»Oder biste etwa pleite?« Die Rote kniff die großen, glänzenden Augen zusammen, stieß sich an Moreys Brust ab und stellte sich auf die Beine. Ihre Schenkel zeichneten sich üppig unter dem enganliegenden Rock ab, der gerade noch ihr Gesäß bedeckte. »Ich habe ein bisschen mehr von dir gehalten. Wenn du glaubst, dass ich noch für dich zahle, dann irrst du dich. Mit Marnie steigt man nicht so ganz ohne ins Bett. Ich verschenk meinen Körper nicht!« Abrupt wandte sie sich ab. »Die Rechnung für Tisch vier«, rief sie durch die Kneipe. »Aber beeil dich, Jenny, sonst geht dem Kumpel hier inzwischen die Puste aus und er lässt noch anschreiben!«

Jenny war eine schlanke Person mit langen, wohlgeformten Beinen und einem kleinen runden Po, der unwillkürlich die Blicke auf sich zog. Das lag nicht allein an der großen, hervorragend gebundenen Schürzenschleife, die bei jeder Bewegung auf- und abwippte.

»Sonnyboy will zahlen?«, fragte Jenny. Sie war frisch wie eine Blume und passte irgendwie nicht in diese Spelunke, die sich Last Rose schimpfte. Paul Morey hätte sich ohrfeigen können, dass er hier reingestiefelt war. Aber was machte ein Mann nicht alles, wenn er wütend oder verärgert war. Bei ihm zu Hause stimmte es schon lange nicht mehr. In den letzten Monaten war er fast zu einem Dauergast in den verrufenen Kneipen unten am Hafen und hier in Soho geworden. Er rutschte immer tiefer ab, und der Sumpf, in den er geraten war, drohte ihn zu verschlingen.

Sein Leben war verwirkt. Es gelang ihm nicht mehr, sich zu fangen. Zu lange schon lebte er von Patricia getrennt. Ob er es nicht doch noch mal versuchen sollte? Er merkte, wie Selbstmitleid in ihm aufstieg. Aber er verdrängte die auf ihn einstürmenden Gefühle ebenso schnell wieder, wie sie gekommen waren.

»Was kostet der Spaß?«, fragte er lächelnd und warf der anziehenden Jenny einen aufmerksamen Blick zu. »Weil Sie's sind, dürfen Sie zehn Prozent mehr nehmen. Ich hoffe, Sie revanchieren sich.«

»Das kommt darauf an.« Sie hatte eine angenehme, dunkle Stimme. Paul konnte es nicht unterlassen, ihr einen sanften Klaps aufs Hinterteil zu geben. Jennys einzige Reaktion war ein leichtes Hochziehen der Augenbrauen.

»Das ist eigentlich nur Stammgästen erlaubt«, sagte sie sanft, und ein leichtes Lächeln erhellte ihre gleichmäßigen Züge.

»Was nicht ist, kann noch werden. Bei Ihnen möchte ich gern Stammgast sein.«

»Ich liebe großzügige Männer. Was Marnie jedoch zu erkennen gab, lässt nicht viel erhoffen. Wahrscheinlich sind Sie geizig. Das mögen wir hier nicht allzu gern.«

»Marnie hätte alles bekommen. Aber wenn sie schon in meiner Gesellschaft ist und ich jeden Drink zahle, dann soll sie sich auch nur mir widmen und die Gläser nicht weiterreichen. Ich hab einiges intus, aber ich weiß noch genau was um mich herum geschieht.«

»Das ist eben unsere Art von Großzügigkeit«, meinte Jenny leichthin. Ihr Parfüm duftete, dass es sogar Alkoholdunst und Zigarettenqualm verdrängte. »Bei Marnie können Sie nichts mehr werden. Sie haben sie verärgert. Sie müssen sich schon mächtig anstrengen, um bei ihr noch mal zu landen. Hier ist Ihre Rechnung.«

Paul Morey wollte gerade sagen, dass sie, Jenny, ihn mehr interessiere als die üppige Marnie. Aber die Bemerkung blieb ihm im Hals stecken, als er die Endsumme sah, die Jenny mit kräftigem Strich auf den angeschmutzten Zettel geschrieben hatte.

»Das kann nicht stimmen«, bemerkte er und tippte mit dem rechten Zeigefinger auf den Betrag. »So viel habe ich nicht getrunken.«

»Du hast auch gegessen«, warf Marnie von der Seite ein. Sie saß auf dem Nebentisch, die prallen Beine übereinandergeschlagen, so dass sich der Rock über ihre Hüften spannte.

»Ein Steak, okay«, sagte Paul Morey und fuhr sich mit dem Handrücken über seine schweißnasse Stirn. »Aber hier wird mir ein ganzer Ochse berechnet. Soviel wie da draufsteht, kann ein einzelner Mensch nicht verzehren, und ich denke nicht daran, achtundzwanzig Pfund zu zahlen. Was ich hier verzehrt habe, kann höchstens acht Pfund kosten!« Er lief rot an.

Der links neben Marnie sitzende Fremde nahm seine Hand langsam von Marnies Schenkel, den er die ganze Zeit über genussvoll gestreichelt hatte. Dass seine Rechte dabei auch hin und wieder unterhalb des Rocksaums gerutscht war, hatte weder ihn noch Marnie gestört.

»Will da einer seine Rechnung nicht bezahlen, Jenny?«, fragte der Mann dröhnend.

»Sieht ganz so aus«, erwiderte das schlanke Serviermädchen, das Paul Morey nun gar nicht mehr so sympathisch fand.

Er kam sich wie in einem Käfig vor. Platzangst überfiel ihn. Man hatte ein Komplott gegen ihn geschmiedet. Schon mehr als einmal hatte man versucht, ihn übers Ohr zu hauen, aber mit kleinen Beträgen. Da hatte er nichts gesagt. Aber hier ging es um zwanzig Pfund.

»Ich werde die Polizei verständigen«, sagte Paul. Er versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben.

Der Mann neben Marnie lachte dröhnend und drückte sich wie ein Gorilla langsam von dem ächzenden Stuhl hoch. »Das Wort hören wir hier nicht gern, mein Freund. Wir regeln das ohne Polizei. Gesetzt den Fall allerdings, du würdest darauf bestehen, einen Bobby sprechen zu wollen, dann wird sich das natürlich zu deinem Nachteil auswirken. Zechprellerei. Ein klarer Fall. Wir können das bezeugen.«

Paul Morey merkte, dass er am kürzeren Hebel saß. Aber er war nicht bereit, sich das große Geld aus der Tasche ziehen zu lassen.

Er blickte in vier zum Teil amüsierte und auch feindselige Gesichter.

Da handelte er.

Blitzschnell war er auf den Beinen. Mit einem einzigen Ruck stieß er den Tisch von sich. Der kippte um. Die leere Flasche, zwei Gläser und der randvolle Ascher gerieten ins Schweben. Der Ascher entleerte sich lautlos auf Marnies Schoss, die kreischend die Arme hochwarf. Flasche und Gläser schepperten auf den rauen Steinfußboden.

Wie von Furien gehetzt spurtete Paul Morey los. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was jetzt kam. Mit zwei, drei raschen Sätzen erreichte er die schief in den Angeln hängende Schwingtür und stürmte die nachfolgenden, steil nach oben führenden Stufen empor.

Die Kneipe war in dumpfen Kellerräumen etabliert. Die schmalen, vergitterten Fenster zur Straße und zum Hof hin waren dunkelgrün und dunkelrot gestrichen und wirkten an der grauen, bröckeligen Hauswand wie Farbkleckse und Reklameschilder für ein Farbengeschäft.

Paul Morey musste scharf nach rechts abbiegen. Mit der Rechten stützte er sich an der rauen Flurwand ab und stieß eine zweite Tür auf. Kalte Nachtluft und wabernde Nebelschleier schlugen ihm ins Gesicht.

Paul jagte die letzten Stufen zur Straße hoch.

Auf der letzten Stufe rutschte er aus, verlor wertvolle Sekunden und hörte, wie seine Verfolger unten die Tür aufrissen und ihre Absätze auf den steinigen Boden schlugen.

Paul wusste, dass er schnell sein musste. Wenn man ihn erwischte, sah es ziemlich böse für ihn aus.

Die Kneipe Last Rose lag in einer der typischen, engen Gassen, wie man sie vor der Jahrhundertwende noch kannte.

Nur wenige Schritte von ihm entfernt stand eine Laterne am Straßenrand, deren weißer Lichthof vom Nebel fast geschluckt wurde. Paul Morey konnten die augenblicklichen Wetterverhältnisse nur recht sein. Bei diesen Bedingungen sah man ihn schlecht. Sein Körper wurde zum Schemen.

Aber seine Verfolger richteten sich nach den Geräuschen. Das Klappern seiner Absätze verriet genau die Richtung, in die er sich bewegte.

Paul passierte eine Telefonzelle. Er konnte es nicht riskieren, die Polizei zu verständigen. Außerdem hatte er sich selbst schuldig gemacht. Er hatte tatsächlich seine Zeche geprellt. Vier Zeugen konnten gegen ihn aussagen. Marnie, Jenny und die anderen steckten unter einer Decke.

Wenn er noch mal mit heiler Haut hier rauskam, dann durfte er sich auf keinen Fall mehr sehen lassen.

Paul rannte durch die dunkle, neblige Gasse. Er hielt sich dicht an der Hauswand. In den anschließenden Häusern hatten sich hauptsächlich Bars und andere Vergnügungslokale etabliert. Die Türen waren fest verschlossen, um die kühle Nachtluft draußen zu lassen.

Er fröstelte. Er trug nur eine dünne Jacke über dem offenen Sporthemd. Seinen Mantel hatte er in der Kneipe zurückgelassen.

Paul Morey rannte bis zum Ende der schmalen Gasse. Er atmete schnell und stoßweise, sein Herz schlug heftig, und der Schweiß rann ihm trotz der Kälte über die Stirn und fing sich in den Augenwinkeln. Die schlechte Sicht trug mit dazu bei, dass er nach zehn Minuten in eine Gegend geriet, die er nicht kannte. Die Häuserreihen waren dunkel, die Gasse so schmal, dass ein normaler PKW in der Breite nicht durchgekommen wäre.

Eine Sackgasse.

An einer Hauswand standen ein altes, verrostetes Rad und drei Mülltonnen, die überfüllt waren und aus denen der Unrat quoll. Es stank erbärmlich, und Paul Morey rümpfte die Nase.

Argwöhnisch warf er einen Blick zurück, blieb kurz stehen und lauschte. Die Schritte waren weit entfernt. Offenbar hatten seine Verfolger die Spur verloren.

Er atmete auf und drehte sich um.

Ungewollt stieß er mit dem linken Arm gegen den lose auf der Mülltonne liegenden Deckel. Das Geräusch, das der auf den Boden schlagende Deckel verursachte, hallte durch die Nacht.

Paul Morey fluchte leise vor sich hin. Es ging aber auch alles schief!

Er musste schneller werden. Seine Beine bewegten sich nur schwerfällig. Das Laufen fiel ihm nicht leicht. Er stolperte über den Rand eines Bürgersteigs. Nur eine Handbreite von ihm entfernt ragte ein dunkler Eisenpfosten aus dem Boden, an dessen oberer Spitze eine defekte Lampe hing, die nicht mehr leuchtete.

Paul Morey überquerte einen freien Platz und erkannte, dass es ein Hof war, um den sich mehrere alte, schmalbrüstige Häuser formierten. Alle Fenster waren dunkel. Die Luft um ihn herum still bis auf leise Schritte, die ihn darauf aufmerksam machten, dass er es doch noch nicht geschafft hatte.

Du musst in ein Haus, zuckte es plötzlich in seinem Gehirn auf. Er musste sich verstecken.

Als er diesen Gedanken gefasst hatte, setzte er ihn so schnell wie möglich in die Tat um.

Da war eine alte Lagerhalle, aber die schien ihm nicht sicher genug. Neben einem Wohnhaus stand noch das Skelett einer Ruine aus dem letzten Krieg. Hier in London konnte man gerade in Soho und in der Nähe der Kingsroad noch auf Trümmergrundstücke stoßen, die von Luftangriffen herrührten. Die Eigentümer hatten sich nicht entschließen können, die zerbombten Häuser noch mal aufzubauen. Außerdem waren im Lauf der Jahrzehnte die Auswirkungen von Wind und Wetter hinzugekommen. Das Gemäuer war morsch und baufällig. Ein Schild warnte vor dem Betreten des Grundstücks.

Paul Morey hatte keine Lust, sich das Genick zu brechen. Er versuchte sein Glück am Nachbarhaus, das ziemlich ramponiert aussah. Anstelle von Scheiben steckten in einzelnen Fensterrahmen Sperrholzplatten oder waren breite, durchsichtige Plastikbahnen gespannt. Die Tür zum Hausflur war nur angelehnt. Das Schloss funktionierte schon lange nicht mehr. Dennoch wiesen vereinzelte Anzeichen daraufhin, dass diese Bruchbude noch bewohnt war.

Ein guterhaltenes Rad stand an die Hauswand neben der Treppe gelehnt, die Mülltonnen waren gefüllt und legten Zeugnis vom Lebensstandard der Bewohner ab. Von Wohlstandsmüll konnte hier nicht gerade die Rede sein. Mitten im Herzen einer Millionenstadt glaubte man sich plötzlich in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt.

Doch Paul Morey war kein Philosoph, und er machte sich auch keine weiteren Gedanken über die Menschen, die hier wohnten und die an der untersten Stufe der sozialen Leiter existierten. Er schlug nach seinem leisen Eindringen in das Haus sofort den Weg Richtung Keller ein. In der Dunkelheit würde ihn niemand so leicht finden.

Auf Zehenspitzen schlich er die ausgetretenen, glitschigen Stufen hinab. Es gab ein wackeliges Geländer, aber daran hielt er sich nicht fest. An der untersten Stufe angekommen, konnte er direkt in den Keller gehen. Es gab keine weitere Tür, die ihn aufgehalten hätte.

Paul war überzeugt davon, dass er es nun doch noch geschafft hatte. Hier unten würden ihn seine Verfolger, die ihm lange Zeit auf den Fersen geklebt hatten, nicht vermuten.

Er ging so weit nach hinten wie möglich.

In der Dunkelheit sah er kaum eine Hand vor Augen. Er verließ sich ganz auf seinen Tastsinn.

Der Hauptgang des Kellers machte einen Knick nach links. Dann stand Paul in einer Nische. Dort blieb er stehen und wartete ab. Atmete tief durch. Die Luft hier unten war stickig, modrig und verbraucht. Es mischte sich ein äußerst widerlicher Gestank darunter.

Paul Morey hielt den Atem an, schluckte und schnüffelte dann wieder.

Es war klar ersichtlich, dass der Mief stärker geworden war. Offensichtlich war er genau neben einem Berg Unrat angelangt.

Paul fühlte sich bereits so sicher, dass er es riskierte, ein Streichholz anzuzünden. Er führte die Flamme im Kreis vor seinem Gesicht herum, hielt sie dann nach unten und leuchtete den Boden ab.

Der Mann fuhr zusammen, als er die verschmutzte, übelriechende Gestalt wie ein Gespenst neben sich stehen sah.

Er befand sich nicht allein in dem Keller!

Blitzschnell riss Paul seine Rechte, die das Streichholz hielt, hoch.

Der Geruch war jetzt so heftig, dass er sich schüttelte. Entsetzt blickte er in das totenblasse Gesicht, in dem die dicken, wulstigen Augenbrauen wie hässliche struppige Raupen wirkten. Das Haar hing ungepflegt bis tief in den Nacken und über die Ohren herab. Der Fremde fletschte seine gelben, hässlichen Zähne, und ein heißer, unangenehmer Atem schlug Paul Morey entgegen.

Der angetrunkene Engländer wusste nicht, ob er wachte oder träumte. Gelegenheit, dies in Erfahrung zu bringen, wurde ihm nicht mehr gegeben.

Die klobigen Hände des Fremden legten sich um seinen Hals. Seine Fingernägel waren so lang, dass sie Paul Morey ins Fleisch drangen.

Der empfand den Schmerz nicht mehr. Er starb unter dem Würgegriff des menschlichen Ungeheuers, dem er begegnet war und das ihn langsam in die Finsternis des abknickenden Ganges zurückschleifte.

Das Streichholz, das Paul Morey aus den verkrampften Fingern gefallen war, flammte in dem fingerdicken Staub noch mal auf und verlöschte dann.

1. Kapitel

Iwan Kunaritschew warf einen Blick auf das Namensschild, auf dem in winzigen Buchstaben der Name Bracziskowsky stand. Die Aufmachung des Schildchens wies Iwan Kunaritschew darauf hin, dass er es offensichtlich mit einem Individualisten zu tun hatte. Bracziskowsky schälte sich aus der Masse heraus. Nun, das, was er ihm, dem Russen, mitzuteilen hatte, war auch alles andere als alltäglich.

Der bärenstarke PSA-Agent mit der stoppeligen Igelfrisur und dem struppigen, roten Bart grinste still vor sich hin. Er drückte den Klingelknopf und wartete, bis sich jemand im Lautsprecher der Haussprechanlage meldete.

»Ja?«, fragte eine sanfte Mädchenstimme.

»Hier ist ein Besucher, der das große Namensschild entdeckt hat, Miss. Ich war mit Mister Bracziskowsky verabredet. Kunaritschew ist mein Name.«

»Ah, Mister Kunaritschew!«, klang es erstaunt aus der Membrane. Gleichzeitig wurde der Türöffner betätigt. Ein monotones Surren ertönte.

Der Russe drückte gegen die Tür.

»Ich erwarte Sie, Mister Kunaritschew!«, sagte die verführerische weibliche Stimme.

X-RAY-7 pfiff leise durch die Zähne. »Das hat man gern«, murmelte er vor sich hin, während er schon in dem weißgekachelten Flur stand und auf den Lift wartete, der ihn in den achten Stock tragen sollte. »Da ist man mit einem Schriftsteller verabredet und wird von der Sekretärin empfangen. Wenn das der gute Larry gewusst hätte, dann wäre er bestimmt hierher gegangen anstatt zum Friedhof.«

Iwan Kunaritschew verließ den Aufzug. Ein langer Korridor lag vor ihm. Der ganze Aufbau des Hauses erinnerte ihn an ein Krankenhaus. Auf dem Flur lagen etwa zehn Türen nebeneinander.

Das Hochhaus war erst vor einem Jahr bezogen worden. Es gehörte zu den modernsten in diesem Stadtteil Londons.

Iwan Kunaritschew konnte sich mit dieser Art von Gebäuden nicht anfreunden. Er sah sich suchend um und wusste einen Moment lang nicht, ob er sich erst nach links oder nach rechts wenden sollte, als nur wenige Schritte von ihm entfernt eine Tür geöffnet wurde.

Das Mädchen, das sich zeigte, war eine Klasse für sich, ein richtiger Vamp. Das lange, rote Haar schmiegte sich wie elastisches Kupfer an ihre schmalen Schultern. Ihre Haut war von vornehmer Blässe, und sie sah mit ihren großen, dunkel umränderten Augen aus, als hätte Graf Dracula seine Freude an ihr gehabt. Sie trug einen anthrazitfarbenen Hausanzug, mit silbern schimmernden Lurexfäden verwirkt. Der Ausschnitt war langgezogen und reichte fast bis zum Nabel. Dass sie keinen BH trug, war auf dem ersten Blick zu erkennen.

Die Schönheit lächelte ihm aufmunternd zu. »Treten Sie näher, Mister Kunaritschew! Sie sind richtig hier!«

Er kam auf sie zu, reichte ihr die Hand, und sie führte ihn in die luxuriös eingerichtete Wohnung. Sie bestand aus drei großen Zimmern. Eines davon war als Arbeitsraum des Schriftstellers eingerichtet. An einer Wand hingen Merkzettel und Pläne, lange Papierstreifen, auf denen nur Namen und Begriffe in verschiedenen Farben vermerkt waren.

Iwan Kunaritschew nahm diese Eindrücke nur flüchtig im Vorübergehen an der halb geöffneten Tür zum Arbeitszimmer auf.

Das Mädchen führte ihn in den Salon, der hell und freundlich eingerichtet war. Durch die vorgezogenen Vorhänge fiel das helle Sonnenlicht. Der sonnige Eindruck wurde durch den warmen Gelborangeton der Vorhänge noch verstärkt.

In der Wohnung roch es nach Kaffee, dem feinen Duft einer Damenzigarette und einem dezenten Parfüm.

Das Mädchen lächelte. »Nehmen Sie Platz, Mister Kunaritschew. Eine Tasse Kaffee?«

»Gern. Ich habe zwar schon gefrühstückt, aber einen Kaffee kann ich immer vertragen.«

»Mister Bracziskowsky lässt sich entschuldigen«, fuhr der Vamp von der Küche her fort. Die Kaffeemaschine rauschte, als das heiße Wasser abgelassen wurde.

»Er ist nicht da?«, wunderte der Russe sich.

Es war früh morgens. Er war um acht Uhr mit dem Schriftsteller verabredet. Der Termin stand seit über einer Woche fest.

Das Mädchen tauchte mit einem Tablett und dem Kaffeegeschirr an der Türschwelle zur Küche auf und näherte sich dem flachen Couchtisch, wo Iwan Kunaritschew saß.

»Ich heiße Sandy«, sagte sie lächelnd, während sie das Old England Porzellan hinstellte und die Tassen vollgoss. »Zucker? Milch?«

»Pur. Schwarz wie die Nacht. So ist er richtig.« Iwan Kunaritschew sah sie lächelnd an. Er musterte sie insgeheim. Larry würde platzen, wenn er von diesem Girl erzählte. »Und nun sagen Sie mir bitte, warum mich Bracziskowsky versetzt.«

»Er musste plötzlich abreisen. Ich bin seine Sekretärin. Unter anderem«, fügte sie leise hinzu. »Ich kümmere mich auch um den Haushalt. Bracziskowsky ist ein ordnungsliebender Mensch, aber er selbst ist nicht in der Lage, Ordnung zu halten. So kümmere ich mich außerhalb der Sekretärinnenarbeit um diese Dinge.«

Sie lächelte und zeigte zwei Reihen weißblitzender, gleichmäßiger Zähne. Als sie nach ihrer Tasse griff, senkte sie den Blick. Ihre Lider schimmerten in einem sanften Grün, das im Gegensatz zu ihren rotorangefarbenen Haaren stand.

»Wohin ist Bracziskowsky gereist? Und wann kommt er zurück?«

Sie zuckte die schmalen Schultern und seufzte, dass sich die kleinen Brüste unter der weichen Wolle hoben. »Beides kann ich Ihnen nicht sagen. Bracziskowsky hat es mir nicht mitgeteilt.«

Iwan Kunaritschew murmelte etwas in seinen Bart. »Das Gespräch zwischen ihm und mir sollte unter vier Augen stattfinden. Es war sehr wichtig. Für uns beide. Hat er etwas darüber gesagt?«

»Nein. Aus dem Terminbuch weiß ich, dass Sie für heute Morgen angesagt waren, das war auch alles. Ich wusste schon seit Tagen, dass heute ein Besucher namens Kunaritschew kommen würde. Aber Bracziskowsky hat mir nichts Näheres gesagt. Es gibt Dinge, über die er nicht spricht.«

X-RAY-7 nickte. »Hat er eine Nachricht für mich hinterlassen?«

»Nein.«

Das war ungewöhnlich. Iwan Kunaritschew hatte genaue Absprachen mit Bracziskowksy getroffen.

»Würden Sie mir eine Frage beantworten, Miss Sandy?«

»Gern. Wenn ich in der Lage dazu bin.«

»Sie sind Bracziskowskys engste Vertraute?«

»Ja, so kann man es ausdrücken.«

»Hat er Geheimnisse vor Ihnen?«

»Manchmal, Mister Kunaritschew.«

»Wenn's um Frauen geht? Das kann ich mir nicht vorstellen, bei Ihrem Aussehen!«

»Er liebt die Abwechslung.«

»Wenn Sie mal einen neuen Chef brauchen, wenden Sie sich an mich! Ich suche schon lange eine Sekretärin. Ich habe mich entschlossen, meine Memoiren zu schreiben.«

»Von der Wolfsjagd in den Wäldern Sibiriens, Mister Kunaritschew?«, lachte sie.

Sie wusste nichts über seine wirkliche Mission. Von der PSA und ihren Aufgaben hatte sie nie etwas gehört. Iwan stimmte in das Lachen mit ein.

»Scherz beiseite. So eine hübsche Mitarbeiterin wie Sie wird mir wohl ein Leben lang versagt bleiben. Dabei bin ich kein Kostverächter.«

Sie schenkte die leeren Tassen wieder voll. »Was ich wissen wollte, ist, ob Sie alles für Bracziskowsky tippen?« Iwan Kunaritschew wurde wieder ernst.

»Fast alles«, entgegnete Sandy mit einem Augenaufschlag. Sie lehnte sich in die weichen Polster zurück und schlug die Beine übereinander. Das helle Licht, das durchs Fenster drang, lag auf ihren festen Schenkeln. Die weiße, makellose Haut schimmerte durch das großporige Gewebe.

»Seine in verschiedenen Tageszeitungen unter dem Pseudonym Brax veröffentlichten Artikelserien hat er mir diktiert, und sie werden von mir getippt. Eine Überarbeitung erübrigt sich grundsätzlich. Brax sieht sich den Text kein zweites Mal mehr an. Er ist nämlich ein Phänomen. Er arbeitet an drei, vier Romanen, Artikeln und Kurzgeschichten gleichzeitig. Wenn ich morgens meine Arbeit beginne, habe ich zunächst zwei volle Stunden zu tun, um die Kurzgeschichten zu schreiben, die er im Morgengrauen auf Band spricht. Danach diktiert er ohne Pause anderthalb Stunden einen Zeitungsartikel, der noch am selben Morgen zur Post geht. Nach der Mittagspause beantwortet er eine Stunde lang die Post und arbeitet an einem auf drei Teile geplanten Romanzyklus weiter. Um vier Uhr nachmittags beschließt er seine Arbeit.«

Das war mehr als ausführlich gewesen. Iwan Kunaritschew hatte Sandy nicht ein einziges Mal unterbrochen.

»Was sind das für Bücher, die er im Moment schreibt?«, setzte der Russe seine Fragen fort.

Sandy erklärte es ihm, und Iwan erfuhr eigentlich nur das, was er schon wusste: Bracziskowsky hatte sich der phantastischen Literatur verschrieben. Er galt als Kenner des Okkulten und des Aberglaubens. Man sagte ihm nach, dass kein Autor den Schrecken unter der Oberfläche einer leichtfüßig geschriebenen Erzählung so gut spürbar werden lassen konnte wie Bracziskowsky. Der von polnischen Eltern abstammende Schriftsteller war in seiner Jugend schon durch die ganze Welt gereist und viele seiner Abenteuer, die in dem Buch Phantastische Erzählungen veröffentlicht worden waren, hatte er nach Meinung von Kritikern selbst erlebt. Bracziskowsky hatte diese Dinge nie bestätigt, aber auch nie dementiert.

Innerhalb der PSA waren seine Schriften gerade in der letzten Zeit von einem Fachgremium eingehend unter die Lupe genommen worden. An der Auswertung verschiedener Fakten waren auch die beiden großen Hauptcomputer beteiligt gewesen. Das Material war so vielschichtig, so kompliziert angelegt, dass eine Gruppe von fünf Fachleuten daran ein ganzes Jahr zu tun gehabt hätte. Der PSA aber war es auf eine schnelle und umfassende Auswertung angekommen. Man war dabei auf Elemente gestoßen, die den Verantwortlichen zu denken gaben.

In einem Telefongespräch, das der Leiter der PSA, X-RAY-1, mit Bracziskowsky daraufhin geführt hatte, war zum Ausdruck gekommen, dass X-RAY-1 den Schriftsteller mit seinem immensen Wissen über außergewöhnliche Erscheinungen und Vorkommnisse gern für die PSA engagiert hätte.

Bracziskowsky hatte erwähnt, dass er an einer Dokumentation schreibe. Es war für ihn kein Geheimnis mehr, dass es Werwölfe und Vampire unter der derzeitigen Generation gab, dass sie sich vortrefflich tarnten und dass sie unter den Normalen oft unerkannt existierten, ehe ihre furchtbare Veranlagung wie der Ausbruch einer Krankheit akut wurde. In dem Gespräch zwischen Bracziskowsky und X-RAY-1 war festgelegt worden, dass der Autor in seinem Buch, dem er den Arbeitstitel Die Anderen gegeben hatte, etwas schreiben sollte, was zu einer Sensation würde.

Bracziskowsky tippte lediglich an, dass damit einige ungeklärte Mordfälle der letzten Zeit und eventuell auch einige der Vergangenheit, die sich nachweislich in Deutschland, genauer gesagt in Frankfurt, ereignet hatten, hier Aufklärung finden würden. Doch es ginge nicht nur um die Morde allein. Auch was sich unter Umständen still und abseits von den Menschen unter der Erde abspiele, könne dabei unter Umständen eine Erklärung finden.

Hier war X-RAY-1 hellhörig geworden. Larry Brent und Iwan Kunaritschew wurden sofort beauftragt, Bracziskowskys Andeutungen zu überprüfen. Für X-RAY-1 stand es fest, dass Bracziskowsky nur von einer Person gesprochen haben konnte, die jeder vernünftige Mensch normalerweise ins Reich der Phantasie und des Horrors verbannte: von einem Ghul!

Bracziskowsky war nicht bereit gewesen, nähere Einzelheiten mitzuteilen. In einem zweiten Telefongespräch jedoch konnte X-RAY-1 einen kleinen Erfolg erringen. Der Schriftsteller war grundsätzlich an einem Treffen mit einem PSA-Agenten interessiert, erbat sich jedoch Bedenkzeit. Man machte einen Termin aus. Das geschah in einem dritten Gespräch. Iwan Kunaritschew wurde zum Gesprächspartner auserkoren. Das war eine gute Entscheidung.

Was X-RAY-1 bisher über Bracziskowsky in Erfahrung bringen konnte, ließ sich nur aus seinen Büchern herauslesen und zusammensetzen. Der PSA war bis zur Stunde niemand bekannt, der persönlichen Kontakt mit Bracziskowsky gehabt hätte, außer seiner Sekretärin Sandy Whorne.

Aus der Vielzahl der Erzählungen und Artikel, die Bracziskowsky bisher veröffentlicht hatte, wusste man, dass er zwei Jahre lang durch Russland und Polen gestreift war. In einem Band phantastischer Geschichten, die ausschließlich diesen Landstrichen gewidmet waren, kam diese Tatsache zum Ausdruck.

Bracziskowsky schien eine ganze Menge zu wissen. Zu denken gab der PSA-Leitung allein die Tatsache, dass sich der Schriftsteller bereits seit mehreren Monaten fest in London aufhielt und dort sogar ein verhältnismäßig luxuriöses Apartment gemietet hatte.

Allgemein war es so, dass Bracziskowsky durch die Welt reiste, dass seine Manuskripte von überallher den Redaktionen auf den Tisch flatterten und guten Absatz fanden, was die Verkaufsziffern bewiesen.

Iwan Kunaritschew zeigte sich Sandy Whorne gegenüber enttäuscht. Durch den Autor hatte er gehofft, Dinge in Erfahrung zu bringen, über die man bei der PSA noch rätselte.

Ob Bracziskowsky überhaupt noch mal kam? Auch diese Möglichkeit ging dem Russen plötzlich durch den Kopf. Iwan Kunaritschew stellte geräuschvoll seine Tasse auf den Tisch. »Dann will ich Sie nicht länger aufhalten, Sandy«, sagte er und erhob sich. »Sie haben sicher noch eine ganze Menge zu tun.«

Sandy winkte ab. »Nicht der Rede wert. Wenn Brax nicht da ist, mache ich auf gemütlich, Mister Kunaritschew. Ich habe kaum Arbeit. Ich bin nur hier, weil ich Sie erwartet habe. Wenn Sie weggehen, verschwinde ich auch.« Sie schenkte ihm wieder ihr verführerisches Lächeln und tastete nach der Zigarettenschachtel auf dem Tisch. »Auch eine?«, fragte sie.

»Ich habe meine eigenen, danke schön.« Iwan griff in seine Jackettasche und brachte zuerst Streichhölzer hervor, riss eines an und reichte der charmanten Sekretärin Feuer. Dann nahm er eine seiner berühmten Selbstgedrehten. »Keine Lust, mal 'ne andere Marke zu versuchen?«

»Russisches Fabrikat?«

»Mhmmm ...«

»Allerdings ein bisschen stark«, fügte Iwan Kunaritschew hinzu.

»Macht nichts! Kann mir nicht stark genug sein. Ich rauche sowieso schon das letzte Kraut. 'ne russische hatte ich noch nie zwischen den Lippen. Geben Sie mal eine her, das interessiert mich.«

Sandy Whorne legte die Zigarette, die sie gerade angeraucht hatte achtlos in den Ascher zurück und nahm sich Iwan Kunaritschews Glimmstängel. Sie suchte vergebens nach der Marke.

»Selbstgedreht«, wies der Russe darauf hin.

»Gibt's denn so was heute noch?«

»Wie Sie sehen! Hat mit Sparsamkeit nichts zu tun, Miss. Ist einfach eine Frage der Qualität. So ein Stöffchen bekommen Sie in keinem Laden, weder im Osten noch im Westen.«

»Riecht würzig«, sagte sie, an der Zigarette schnuppernd. Dann rauchte sie die Selbstgedrehte mit drei kräftigen Zügen an, als hätte sie in den letzten Wochen abstinent gelebt.

»Schmeckt noch würziger«, nickte der Russe. »Ist allerdings nicht jedermanns Geschmack.«

Sandy Whornes Züge veränderten sich. Aus einem leicht ungläubigen Blick wurde so etwas wie Panik.

»Natürlich auch nicht jeder Frau Geschmack«, beeilte er sich zu sagen.

Sandy wurde noch bleicher, als sie von Natur aus schon war. Ihre Augen glänzten und wurden feucht.

»Mein Gott«, krächzte sie, »was haben Sie mir denn da für ein Höllenkraut angedreht.« Mit zitternden Fingern drückte sie die Zigarette aus, sprang blitzschnell in die Höhe und rannte ins Bad. Iwan Kunaritschew seufzte, presste mit zwei Fingern die Glut an seiner Zigarette ab und steckte das Stäbchen wieder zu den anderen in das Etui.

Er hörte, wie Sandy im Bad das Wasser andrehte, wie sie sich einen Becher volllaufen ließ, den Mund spülte und gurgelte.

»Dagegen ist es ja geradezu harmlos, ein paar Peperonis zu essen«, vernahm er ihre Stimme. Sie klang noch immer angegriffen, als hätte sie gerade eine schwere Bronchitis durchgemacht.

Iwan zuckte die Achseln. »Es ist immer dasselbe«, murmelte er vor sich hin. »Da glaubt man, es wäre möglich, mal in Gesellschaft eine gepflegte Zigarette zu rauchen, und schon ist's wieder nichts! Die Freude an einem wahren, markigen Genuss ist den meisten verlorengegangen, eigentlich schade.«

Als Iwan Kunaritschew wenig später die Straße betrat, war die Luft kühl und feucht. Die Sonne, die am wolkenlosen Himmel stand, täuschte.

Der Russe nahm das Miniaturfunkgerät aus der Tasche und versuchte, mit seinem Kollegen Larry Brent Kontakt aufzunehmen.

Die beiden Agenten waren so weit voneinander entfernt, dass die Geräte bis zur Grenze belastet wurden. Iwan Kunaritschew konnte die Stimme nur sehr leise und unter kratzenden Geräuschen vernehmen.

»Ich kann dich kaum verstehen, Brüderchen«, ertönte Larry Brents verzerrte Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. »Nur, dass du mit deinem Besuch bei Bracziskowsky Pech hattest.« Iwan Kunaritschew musste schon genau hinhören, um etwas mitzubekommen. Manchmal waren es nur Wortfetzen, die er empfing. »Bei uns sieht es besser aus ... kannst herkommen ... sprechen darüber ... an Ort und Stelle.«

X-RAY-3 beschrieb seinem Freund die Stelle in Soho, wo er sich gerade aufhielt. Es war die Rede von einer kleinen, alten Kirche mit anschließendem Friedhof.

»Choroschow, Towarischtsch«, sagte Iwan Kunaritschew abschließend. »Ich komme.«

Er nahm sich ein Taxi. Nach einer langsamen Fahrt von zehn Minuten ging es endlich etwas zügiger voran. Der Fahrer, ein waschechter Schotte mit einem buschigen Oberlippenbart und einem freundlichen Grinsen, steuerte das Taxi mit dem röhrenden Motor durch den dicksten Verkehr.

Sie befuhren die Straße, die direkt am Buckingham-Palast entlangführte. Hunderte von Touristen waren schon auf den Beinen und versuchten den vordersten und günstigsten Platz am Zaun zu erwischen. Regelmäßig morgens um die gleiche Zeit fand im Hof vor den Augen der Besucher die berühmte Wachablösung statt. Und wer London ohne die Horse Guard und die Wachablösung am Buckingham-Palast gesehen zu haben verließ, der hatte die Stadt eigentlich nicht gesehen.

Die Menschen waren mit Fotoapparaten und Videokameras bewaffnet.

Im Vorüberfahren warf Iwan Kunaritschew einen Blick zur Seite. Er sah die beiden Wachtposten, deren Wetterhäuschen unmittelbar neben dem Tordurchlass im Palasthof standen und die vor den tiefliegenden Fensterreihen in regelmäßigen Abständen auf dem schmalen Betonstreifen marschierten. Der Russe fand das ulkig.

Die beiden Posten spazierten gemächlich etwa fünfzehn bis zwanzig Meter zur Seite, rissen dabei die Knie ziemlich weit hoch, drehten am Endpunkt zackig und marschierten mit der gleichen Gangart wieder zum Häuschen zurück, dort erfolgte wieder eine zackige Wende, wobei sie jedes Mal auf den Boden stampften, als gelte es, einem spanischen Flamencotänzer den Rang abzulaufen.

Es ging Richtung Soho. Je näher sie dem Stadtteil kamen, desto schleppender wurde die Fahrt. Die Straßen in diesem alten Viertel waren eng und überfüllt. An einer Straßenecke stand ein Tieflader, der direkt vor einem Antiquitätengeschäft parkte. Drei Männer waren bemüht, ein wahres Ungetüm von wurmzerfressenem Schrank zu entladen und dann durch die verhältnismäßig schmale Tür des Geschäftes zu bringen. Das erwies sich als Schwierigkeit. An der Geste des einen Möbelträgers war zu erkennen, dass er vorschlug, die wuchtigen, gekrümmten Beine abzusägen. Wie die Sache schließlich geklärt wurde, erfuhr der Russe nicht. Der Fahrer bog nach links ab.

»Jetzt haben wir's gleich«, grinste der Schotte und warf einen Blick in den Innenspiegel.

Iwan Kunaritschew verzog die Lippen und warf einen Blick auf seine Uhr. Sie waren seit fast einer halben Stunde mit dem Taxi unterwegs.

Der Eingang zum Friedhof wurde von zwei Bobbys bewacht. Die Begräbnisstätte war für den Publikumsverkehr gesperrt. Auch Iwan Kunaritschew wurde zunächst abgewiesen. Als er jedoch den Namen Larry Brent erwähnte, ließ man ihn ohne weiteres passieren.

X-RAY-3 befand sich in Begleitung eines Bobbys, zweier Scotland-Yard-Beamter und zweier Totengräber auf dem Friedhof. Das Grab, an dem er stand, war geöffnet. Deutlich war zu sehen, dass der Sargdeckel auf der Seite lag und dass die freigelegte Leiche mit einem grauen Laken zugedeckt war. Auf dem Grund der Öffnung stand ein Totengräber, die Hände auf den Stiel seines Spatens gestützt, und wartete auf weitere Anweisungen.

Iwan Kunaritschew begrüßte die Anwesenden. Er sah Larry, der einen ernsten und abgespannten Eindruck machte, fragend an.

»Wir sind fertig«, murmelte Larry Brent »Was habt ihr entdeckt, Towarischtsch?«

»Um's zu verstehen, muss ich dir die Vorgeschichte erzählen. Eigentlich bin ich hier, um mir ein paar Gräber anzusehen, die in letzter Zeit auf irgendeine Weise verwüstet worden waren. Die Tageszeitungen der letzten Monate waren voll davon. Man nahm an, dass Rowdys die Grabstätten niedergetrampelt, Blumen herausgerissen und Grabsteine umgestürzt haben. Solche bedauerlichen Fälle ereignen sich jeden Tag. Überall in der Welt. Das ist noch lange kein Grund, die PSA auf den Plan zu rufen.«

X-RAY-3 unterbrach sich und rief dem Totengräber am Fuß des Grabes zu, nach oben zu kommen. Der Mann befolgte den Rat, kam aus dem Loch und zündete sich eine Zigarette an.

»Die Nachforschungen und Beobachtungen ergaben, dass sich in der Tat einige unreife Burschen einen Jux daraus machen, die Stätten zu verwüsten. Nur in zwei Fällen blieb die recherchierende Dienststelle diesen Nachweis schuldig. Da ich sowieso mit dir einigen Problemen in London nachgehen sollte, schloss ich mich Higgins an, als er erwähnte, dass sie durch einen anonymen Anruf veranlasst wurden, ein Grab zu öffnen. Hier liegt seit Dienstag vergangener Woche ein Mann begraben, der laut Totenschein an akutem Kreislaufversagen verstorben ist. Der geheimnisvolle Anrufer jedoch behauptet, das sei falsch. Dem Mann sei eine Dosis Gift verabreicht worden. Für Higgins gab es da nur eins: das Grab öffnen lassen und nachsehen.«

Iwan Kunaritschew nickte. »Hört sich wie eine ganz normale Mordgeschichte an. Aber da ich dich kenne, ist kaum anzunehmen, dass du noch hier wärst, wenn man nur nach Giftsubstanzen in der Leiche fahndete. Stimmt's, Towarischtsch?«

»Genau, Brüderchen. Higgins stieß seltsamerweise auf einen zweiten Toten, der im Sarg lag, der hier aber nie offiziell beerdigt worden war!«

»Wie kommt denn das? Hat da jemand die Bestattungskosten sparen wollen?«

»Der Mann hatte noch seine Ausweispapiere bei sich. Er war offenbar drei bis vier Tage später in den Sarg gelegt worden, als der erste, angeblich vergiftete Tote. Die Papiere des Mannes lauten auf den Namen Paul Morey. Komm, ich zeig dir was!«

Larry setzte sich in Bewegung. X-RAY-3 trug einen maßgeschneiderten grauen Anzug mit Weste. Schwere, englische Stoffqualität. Dazu im Kontrast ein gelbes Hemd mit passender Krawatte.

Der feuchte Boden rutschte ein wenig nach unten ab, als der Agent und sein Freund in die Tiefe stiegen. Erst jetzt, da er einen anderen Blickwinkel hatte, wurde für ihn das Loch sichtbar, das sich in der rechten Seitenwand des aufgeschaufelten Grabes befand. Das Loch war beachtlich. Wenn man auf die Knie herunterging, konnte man bequem durch die Öffnung rutschen.

Iwan Kunaritschew legte die Stirn in Falten und kraulte sich seinen feuerroten Bart. »Wegen dem zweiten, Larry«, bemerkte er leise, »den ihr im Sarg gefunden habt. Vielleicht kam er zu Besuch, als Nachbar gewissermaßen.« X-RAY-7 nahm den makabren Vorgang von der heiteren Seite.

Larry nickte. »Obwohl du die Hintergründe noch nicht kennst, hast du den Nagel auf den Kopf getroffen«, ging er zu Iwan Kunaritschews Erstaunen auf die Bemerkung ein. »Er kam tatsächlich aus dem Nachbargrab! Allerdings nicht allein. Irgendjemand, der sich hier unten verdammt gut auskennt, hat ihn hergebracht. Morey muss ihm über den Weg gelaufen sein, er wusste möglicherweise sogar etwas von seiner Existenz.«

Iwan Kunaritschew schluckte. Die beiden Freunde sahen sich an. Sie verstanden sich, ohne dass einer dem anderen etwas zu erklären brauchte.

Larry ging neben dem Sarg in die Hocke. Iwan starrte in das dunkle Loch an seiner Seite. Ein regelrechter Stollen grub sich da in die dunkle, modrig riechende Erde.

»Geh ruhig rein«, forderte Larry seinen Kollegen auf.

X-RAY-7 schob sich in den Stollen. Larry folgte. Über ihnen ragten Wurzeln und Erdbrocken aus dem Boden und kleine Steine. Von der Seite her schob sich das Endstück eines Sarges in den Stollen. Das Holz war schon zerfallen, und die Fußknochen des Toten steckten in der übelriechenden Erde.

»Wie weit soll ich noch zusammengestaucht auf Zwerggröße den Spaziergang durchhalten, Towarischtsch?« Iwan Kunaritschew holte mit seinen langen Beinen weit aus. Er hockte da wie ein Kosakentänzer, es fehlte nur noch, dass er die Arme über die Brust verschränkte.

»Drei bis vier Meter nach vorn, dann kommt der unterirdische Keller des angrenzenden Kirchenschiffes, Brüderchen. Es war bis vor wenigen Stunden nicht bekannt, dass es einen solchen Verbindungsgang überhaupt gibt.« Larry ließ seine Taschenlampe aufblitzen. Der Strahl wanderte durch das röhrenähnliche Gebilde und riss den Eingang zu dem gemauerten Kellertunnel aus der Finsternis.

Aus dem Hintergrund, von der Seite des freigelegten Grabes, vernahmen die beiden PSA-Agenten aufkommende Stimmen. Sie hörten, wie die Erde über ihnen dumpf dröhnte.

»Ich glaube, Higgins kommt zurück!« Larrys Stimme hallte durch den Tunnel, verlor sich auf der anderen Seite des Kellers und kehrte als leises, wisperndes Echo zurück. »Der Stollen endet auf der anderen Seite der Straße, nachdem er rund zweihundert Meter an einem nicht mehr benutzten Abwasserkanal entlangführt. Aber das kann ich dir später noch zeigen. Jetzt bin ich erst mal auf Higgins gespannt. Was er zu berichten weiß.«