Larry Brent Classic 029: Die Sumpfhexe - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 029: Die Sumpfhexe E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Lebende Leichen Schwester Marion hat Nachtdienst. Leer und still liegen die Korridore und Treppenaufgänge vor ihrer gläsernen Loge. Die grauhaarige Frau glaubt nicht an Geister und Spuk. Von einer Sekunde zur anderen aber muß sie ihre Meinung revidieren. Sie hört ein leises Geräusch und auf der Kellertreppe nimmt sie eine Bewegung wahr. Eine Gestalt im weißen Totenhemd? Die Arme hängen schlaff an den Seiten herab. Um Kinn und Kopf spannt sich das schmale, weiße Tuch, das jeder Tote trägt, damit der Mund nicht offen klafft. Schwester Marion will schreien, doch kein Wort kommt über ihre Lippen, als der Tote aus dem Leichenkeller auf sie zukommt. Die Leichen erwachen! Machetta - Sumpfhexe vom Mississippi Clay Anders, ein Vertreter für Bücher, klingelt in einem New Yorker Hochhaus an einer Tür. Als ihm geöffnet wird glaubt er seinen Augen nicht zu trauen. Vor ihm steht Perry Wilkinson, ein alter Freund, den er vor zwanzig Jahren zum letzten Mal sah. Doch dieser erkennt ihn nicht mehr und weist ihn schroff ab. Clay hat jedoch das Gefühl, daß Perry ihn aus unerfindlichen Gründen nicht mehr kennen will. Zwei Stunden später ist der Vertreter tot. Larry Brent nimmt Wilkinson unter die Lupe und folgt kurz darauf einer Spur von Mord und Blut. Sie führt ihn in die Sumpflandschaft des Mississippi, in der er auf Machetta, die Sumpfhexe stößt. Wilkinson hat hier - ohne es zu wissen - zwanzig Jahre seines Lebens verbracht. Nun ist Larry dran, in ihre Netze verstrickt zu werden!

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 29

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-829-7

Dan Shockers Larry Brent Band 29

DIE SUMPFHEXE

Mystery-Thriller

Lebende Leichen

von

Dan Shocker

Prolog

Die grauhaarige Schwester in der gläsernen Loge hob lauschend den Kopf. Die Uhr der nahen Kirche schlug. Es war elf. Das große Haus lag still, die breite Vorhalle und die Treppen verschwanden im Halbdunkel. Nur ab und zu hörte man von außen, von jenseits des kleinen Parks, der das Hospital umgab, das ferne Rollen eines Autos. Durch die offene Glastür drangen die Nachtkühle und der Duft blühender Bäume und Blumenbeete. Es war die Stunde, in der sie leicht ins Träumen geriet. Das hatte Schwester Marion schon immer gern getan. Sie wusste, es war nicht gut für ihren Beruf, und sie nahm sich auch sonst sehr zusammen. Aber um diese Nachtzeit durfte sie es. Während sie sich über eine Liste der neu eingelieferten Patienten beugte, hörte sie plötzlich ein Geräusch. Zuerst unbewusst, aber es drang durch ihre Gedanken hindurch und brachte sie in die Wirklichkeit zurück.

Es schien, als käme jemand mit nackten Füßen langsam eine Treppe herauf, Schritt für Schritt. Dazwischen lagen Sekunden, und nach jedem Schritt raschelte es, als schleife Papier über den Boden.

Schwester Marion hob den Kopf und spähte in die halbdunkle Halle. Nichts war zu sehen, doch dann erkannte sie etwas genau.

Nackte Füße kamen die Treppe herauf, die in den Keller führte.

Die Augen der Schwester weiteten sich vor Entsetzen. Auf der Kellertreppe im Hintergrund der Halle stand jemand und trug das weiße Leinenhemd, das sonst den Toten übergezogen wurde.

Die Gestalt verharrte einen Augenblick. Es war ein Mann. Sein Gesicht war verzerrt, unbeweglich und bleich wie Wachs. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Die Arme, die schlaff zu beiden Seiten hingen, baumelten bei jedem Schritt. Am linken Fuß zog er bei jedem Schritt das Kartonpapier hinter sich her, auf dem man Namen und Alter des Toten vermerkte.

Wie ein Roboter zog der Mann durch die halbdunkle Halle. Seine Augen standen offen. Sie waren blind und tot.

Schwester Marion wollte schreien, aber kein Ton entrang sich ihren weiß gewordenen Lippen. Sie wollte aufspringen, doch ihr Körper war wie gelähmt.

Sie sah den Mann immer näher auf sich zukommen. Diese blinden Augen! Diese baumelnden Arme! Das verzerrte starre Gesicht!

Langsam ging der Mann an der Loge vorbei auf die offene Tür zu.

In diesem Augenblick löste sich die nur lose geknüpfte Schnur, mit dem das Kartonpapier an seinen linken Fußknöchel gebunden war. Es blieb liegen.

Mit den Augen folgte Schwester Marion dem Mann. Sie sah ihn durch die gläserne Tür gehen und hörte seine Füße die wenigen Stufen hinunter in den Park schlurfen.

Marion konnte sich wieder bewegen. Ihre Arme und Hände flogen, als sie zum Telefon griff. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer. Eine Männerstimme meldete sich.

»Dr. Martin. Kommen Sie schnell! Schwester Marion spricht hier.«

»Ist was passiert?«

»Ein Toter ist gerade zur Tür hinaus!«

»Aber Schwester, ich bitte Sie!«

»Doch, doch! Er kam aus dem Keller, und ist eben hinausgegangen! Ich schwöre es!«

»Reißen Sie sich zusammen, Schwester! Irgendein dummer Scherz! Wer soll denn das gewesen sein?«

»Ich weiß es nicht. Aber er hat sein Etikett verloren. Warten Sie, ich hole es, Augenblick!«

Die Schwester legte den Hörer auf den Tisch, verließ die Loge und hob das Kartonpapier auf den Steinfliesen auf. Ihre Augen starrten dabei zur offenen Tür. Wenn dort wieder die Gestalt aufgetaucht wäre, dann wäre sie entweder in Ohnmacht gefallen oder hysterisch schreiend irgendwohin gelaufen. Aber die Tür blieb leer.

Marion hastete zum Telefon.

»Es steht da, Dvorak, Karl, 37 Jahre. Kennen Sie den Mann?«

Sie hörte die Stimme des jungen Arztes antworten: »Jetzt hören Sie mir mal in Ruhe zu, Schwester Marion! Dieser Dvorak war Monteur. Er ist heute Nachmittag bei Arbeiten an der Hochspannungsleitung verunglückt. Er hat einen Stromstoß von 20 000 Volt bekommen und war sofort tot. Das überlebt kein Mensch. Niemand! Verstehen Sie! Ich habe diesen Dvorak selbst untersucht, und Polizeiarzt Dr. Abel hat den Totenschein ausgestellt. Der Mann ist tot!«

»Ich kann nur sagen, was ich eben gesehen habe. Der Tote ist soeben hier vorbeigegangen! Er war tot, aber er ist vor mir in den Park gegangen! Ich schwöre es Ihnen!«

Sie hörte den Arzt seufzen. Dann sagte er: »Na schön, ich komme.«

»Vielen Dank, Herr Doktor!«

Die Schwester ließ den Hörer sinken. Ihre vor Angst geweiteten Augen waren die ganze Zeit auf den offenen Eingang gerichtet, aber sie sah nur den Kiesweg, ein Stück Rasen, einige dunkle Räume.

Was sie nicht sah, war die dunkle Gestalt, die draußen, unweit des Kiesweges, hinter einem dichten Gebüsch kauerte. Fast unbeweglich. So stand sie seit mehr als einer halben Stunde.

Der Nachtwind wehte dem Wartenden das strähnige weiße Haar ins Gesicht, und weiß war auch der Bart, der sein Gesicht umrahmte.

Als um elf Uhr zehn der Tote im Eingang des Krankenhauses erschien und mit seinen nackten Füßen die Stufen in den Park hinuntertappte, schlug der Mann hinter dem Gebüsch für einen Augenblick beide Hände vor sein Gesicht, als überwältigte ihn dieser Anblick. Dann starrte er dem Toten mit glühenden Augen nach, bis er ihn nicht mehr sah.

Als Schwester Marion den Telefonhörer auflegte und ihren Stuhl zurechtrückte, war die Stelle hinter dem Gebüsch leer.

In derselben Nacht passierte ein weiteres Ereignis. In einer armseligen Straße der winkligen Altstadt.

Am späten Nachmittag hatte man die sechsjährige Susi Matlehner am Wehr des Mühlbaches aus dem Wasser gezogen. Nach über einer Woche Regen war das Rinnsal zu einem zwei Meter breiten wilden Bach angeschwollen.

Das Kind hatte sich nach seinem Ball gebückt, der an das Ufer gerollt war. Es verlor die Balance, und das schmutzige Wasser riss es mit sich fort. Erst am Wehr hatte man die Kleine herausgeholt. Es war längst zu spät.

Man brachte das tote Kind zu seinen Adoptiveltern. Fassungslos hatten es die beiden älteren Leute in seinem Bett aufgebahrt. Am Abend erschien der Polizeiarzt Dr. Abel, um die Todesurkunde auszufüllen.

Minutenlang saß der etwa 50jährige, kahlköpfige Mann schweigend neben dem Bett. Es war der zweite tödliche Unfall innerhalb von neunzig Minuten: erst der Monteur mit seinen schwarzverbrannten Händen, dann das kleine Mädchen, das wie schlafend dalag. Dr. Abel konnte in diesem Augenblick nicht voraussehen, dass man ihn in einigen Stunden zu einem dritten Toten rufen würde.

Das Ehepaar Matlehner teilte sich die Nachtwache. Bis Mitternacht saß Frau Matlehner bei dem toten Mädchen. Dann übernahm ihr Mann den Platz. Sie ging in ihr Schlafzimmer und fiel aufs Bett, erschöpft vom Weinen schlief sie schließlich ein.

Ein Geräusch ließ sie wieder nervös in die Höhe fahren. Sie wusste nicht, wie spät es war und wie lange sie geschlafen hatte. Die Lampe mit ihrer schwachen Birne erhellte das Zimmer nur matt. Sie hörte die Turmuhr der Kirche einmal schlagen.

Ein neues Geräusch riss sie hoch.

Sie lauschte. War es ein Knacken auf der anderen Seite der Tür? Atmete da nicht jemand? Da war doch jemand!

Dann hörte sie es genau, es klopfte an die Tür. Sanft und zaghaft.

Wieder Stille. Dann klopfte es ein zweites Mal. Sie hielt den Atem an und spürte, wie an ihrem Körper eisige Kälte hochkroch. Plötzlich fiel auf der anderen Seite etwas gegen die Tür. Ein kleiner Körper.

Mit einem Schrei sprang sie aus dem Bett. Das Grauen schüttelte sie. Dann riss sie die Tür auf. Das tote Kind fiel ihr entgegen. Es hatte vor der Tür gekauert.

Im gegenüberliegenden Zimmer sah sie ihren Mann liegen, zurückgelehnt, den Mund offen, in tiefem Schlaf.

Sie schüttelte ihn: »Wie kannst du sie mir vor die Tür legen? Bist du wahnsinnig geworden?«

Der Mann fuhr hoch, sah schlaftrunken auf seine Frau, auf das leere Kinderbett und auf die Decke, die am Boden lag.

Schließlich galt sein Blick dem toten Kind an der Türschwelle. Er stotterte: »Entschuldige, ich bin eingeschlafen.«

»Und das Kind? Hörst du, das Kind! Wie kommt es vor die Tür?«

»Ich weiß es nicht. Es lag in seinem Bett, als ich einschlief. Mein Gott, warum hast du es dir denn geholt?«

»Nein«, schrie die Frau, »ich habe es nicht geholt! Es hat an meine Tür geklopft. Verstehst du, es hat an meine Tür geklopft!«

Kurz nach vier Uhr morgens wurde Wachtmeister Tomaschek in der Polizeiwache von seinem Kollegen Kober abgelöst.

Der Mann schnupperte genießerisch, als er das Wachlokal betrat, und Tomaschek nickte ihm zu:

»Wenn du frischen Kaffee haben willst, auf der Heizplatte steht er.«

»Was Neues?«

»Nur den alten Saufbold, den Polz, haben sie wieder eingeliefert. Voll bis an den Rand. Wir haben ihn zum Ausschlafen in die Zelle gesteckt.«

»Hat er wieder sein besoffenes Elend gehabt?«

»Und ob! Sein Leben sei verpfuscht, er bringe sich um, hat er geflennt. Vielleicht trinkt er auch einen schwarzen Kaffee. Ich will ihn mal fragen.«

Tomaschek ging auf den Gang hinaus. Kober hörte, wie die Guckklappe an der Zellentür beiseite geschoben wurde und dann Tomascheks halblaute Stimme: »Das ist doch nicht möglich!«

»Was ist denn los?«

»Komm mal schnell her, der hat sich doch tatsächlich aufgehängt!«

Sie öffneten hastig die Zellentür. Am Fensterkreuz hing an einem Hosenträger ein unrasierter, älterer Mann. Seine Beine schleiften auf dem Boden. Tomaschek griff nach seiner Hand und ließ sie rasch fallen.

»Er muss schon einige Stunden tot sein. Ruf mal Dr. Abel an! Der wird fluchen. Zwölf Minuten nach Vier.«

Eine Viertelstunde später hastete grußlos der Polizeiarzt ins Wachlokal. In der Zelle warf er nur einen Blick auf den alten Polz, hob seinen steifen Arm und fragte: »Wann wurde er eingeliefert?«

»Zwölf Uhr fünfzehn, Herr Doktor!«

»Dann muss es bald darauf geschehen sein. Sie hätten ihn nicht abnehmen sollen, Wachtmeister! Na ja, ist auch nicht so wichtig. Lassen Sie ihn hier auf der Pritsche liegen! Wo habe ich denn eine Kinnbinde? Ach ja, hier. So! Sieht besser aus. Ich schicke Ihnen am Vormittag zwei Männer, die ihn abholen. Vielleicht bin ich selbst dabei.«

»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten, Herr Doktor?«

»Danke, nein! Koche ich mir jetzt selbst. Guten Morgen!«

»Guten Morgen, Herr Doktor!«

Kurz nach neun kam Dr. Abel mit zwei Angestellten des Marienhospitals wieder. Sie trugen eine Bahre ins Wachlokal, wo sich mehrere Polizisten aufhielten. Der kahlköpfige Polizeiarzt winkte Vizewachtmeister Kober zu.

»Sperren Sie mal die Zelle auf!«

»Sofort.«

Kober öffnete die Tür und wies auf die Pritsche. »Da liegt er.«

»Da liegt niemand«, sagte einer der Männer.

Der Polizist stierte auf die leere Pritsche. »Verstehe ich nicht! Es war niemand von uns in der Zelle!«

Der Polizeiarzt wies auf den Schatten des Fenstergitters, den die Morgensonne auf den Zellenboden warf. Deutlich erkannte man an dem Gitter eine Gestalt.

Dr. Abel stieß die Tür ganz auf. Am Fensterkreuz hing der Trunkenbold. Um seinen Hals und eine Eisenstange war sein Hosenträger geschlungen. Nur lose diesmal.

Aber es bestand kein Zweifel, der Tote hatte sich ein zweites Mal aufgehängt! In der Zelle, die niemand betreten hatte.

1. Kapitel

»Wenn Sie Zeit haben, machen Sie doch einen Umweg über das Burgenland, es lohnt sich!«

So hatte man Larry Brent in der PSA-Zentrale geraten. Und X-RAY-3 hatte Zeit. Es war ziemlich gleichgültig, ob er in zwei Tagen oder in einer Woche in Budapest eintraf. Der Mann, den er dort sprechen wollte, wurde ohnehin nicht vor einer Woche erwartet.

Die Fahrt mit seinem roten Lotus Europa wurde eine richtige Urlaubsfahrt. Durch das strahlend grüne Land im Osten Österreichs, mit den blauen Hügeln am Horizont, durch die freundlichen Orte mit ihren weißen Häusern und roten Ziegeldächern, vorbei an alten Burgen und an den kilometerweiten, windbewegten Schilfwäldern des Neusiedlersees. Und Larry Brent kam rasch dahinter, warum man den berühmten Rotwein dieses fruchtbaren Landes bevorzugt gleich in den Weinkellern trank.

Am dritten Tag der Fahrt, bereits östlich des Neusiedlersees und nicht mehr allzu weit von der ungarischen Grenze entfernt, erlebte Larry, was ihm selten passierte, unterwegs ging ihm das Benzin aus. Er erreichte gerade noch eine Tankstelle am Rand eines kleinen Ortes.

Larry merkte, wie der braungebrannte, junge Tankwart aufmerksam seinen Wagen studierte. Der Mann war neugierig.

»Sie wollen noch weiter, nach Ungarn?«

»Stimmt! Allerdings auf einigen Umwegen.«

»Kommen Sie vielleicht auch über Moolstadt?«

»Das habe ich vor.«

Der Tankwart schwieg einen Augenblick, dann zuckte er mit den Achseln. »Es geht mich ja nichts an, aber an Ihrer Stelle würde ich da lieber einen Bogen machen.«

»Warum?«

»Ach, nur so.«

Eine kleine Autokolonne fuhr an der Tankstelle vorbei, voll mit Menschen und Koffern. Der Tankwart wies mit dem Kopf auf sie. »Die kommen alle aus Moolstadt!«

»Sieht aus als würden sie mit Kind und Kegel in die Ferien fahren. Um diese Zeit?«

»Ferien? Ha! Ich will Ihnen sagen, Mister, was die machen, die fliehen! Seit gestern kommen immer neue Wagen durch.«

»Weshalb denn? Ich habe seit Tagen nur flüchtig die Zeitungen gelesen«, meinte Larry Brent, »aber ich hoffe, wir haben immer noch tiefen Frieden.«

Der Tankwart wischte das Seitenfenster ab, dann hob er den Kopf und musterte Larry. »Ich spreche nicht gern mit Fremden darüber. Gestern Abend hat mich einer für verrückt erklärt.«

»Mit mir können Sie aber sprechen! Sie machen auf mich nicht den Eindruck, als wenn Sie nicht normal wären.«

Der Tankwart stellte unvermittelt eine Frage: »Finden Sie nicht auch, dass das Burgenland eine sehr freundliche Gegend ist?«

»Das kann man wohl sagen.«

»Sehen Sie, und mit diesem Moolstadt ist es etwas anderes. Als wenn es nicht hierhergehören würde! Sand, es gedeiht nichts dort. Die Moolstädter wollten immer für sich leben, es heißt, sie hätten viel Inzucht getrieben. Wenn jemand nicht ganz normal ist, dann sagen wir, der kommt wohl aus Moolstadt. Mein Großvater sagte immer, in der Gegend dort sei der letzte Tropfen Hunnenblut gefallen und habe alles vergiftet. Das ist natürlich ein Märchen. Aber jetzt ...«

»Ja?«

»Jetzt sieht es tatsächlich so aus, als sei der Ort irgendwie verflucht.«

»Nanu, wieso denn?«

Der Tankwart neigte sich vor und dämpfte unwillkürlich seine Stimme: »Dort stehen die Toten wieder auf. Und das ist wahr!« Er blickte in Larry Brents überraschtes und ungläubiges Gesicht. »Sehen Sie, Sie glauben es auch nicht. Es klingt ja auch verrückt. Aber ich sage Ihnen, es ist wahr! Die Leute, die es erlebt haben, schwören jeden Eid darauf. Und zu denen gehören der Polizeiarzt, eine Krankenschwester und mehrere Wachleute. Warum sollen die lügen? Nachts ist es passiert. Und zwar gleich dreimal! Dreimal!«

»Ich verstehe nichts. Was ist da eigentlich passiert? Sind die Toten aus den Gräbern gekommen?«

»Nein. Es begann mit einem Monteur, der in die Hochspannungsleitung geriet. Man brachte seine Leiche ins Krankenhaus. In der Nacht ist er dann aufgestanden und fortgegangen. Eine Krankenschwester hat es gesehen. Man hat ihn wiedergefunden. Wissen Sie wo?«

»Nein.«

»Er lag am Fuß eines Hochspannungsmastes. Die Leitung läuft nämlich ganz in der Nähe des Krankenhauses vorbei. Der Mann war tot. Aber er muss bis dorthin gegangen sein. Obwohl er tot war! Verstehen Sie, dass die Leute durchdrehen?«

»Hm. Und der zweite Fall?«

»Das war ein kleines Kind, das im Bach ertrunken ist. Nachts ist es aufgestanden und hat an die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern geklopft.«

»Das wird eine Halluzination gewesen sein.«

»Nein! Das Kind lag nämlich tot vor der Tür. Es war aus seinem Bett gestiegen, obwohl es tot war! Die Eltern schwören, es nicht angerührt zu haben. Ich finde, dass man mit so was doch keine Witze macht.«

»Normalerweise nicht, da haben Sie recht. Und der dritte Fall?«

»Ich glaube, der hat den Leuten den Rest gegeben. Der passierte nämlich unter den Augen der Polizei. Auf der Wache hatte sich ein Betrunkener erhängt. Der Polizeiarzt hat ihn sofort selbst untersucht. Einwandfrei tot. Man ließ ihn in der Zelle liegen, die Zelle war verschlossen, und niemand hat sie betreten. Als man morgens öffnete, hatte sich der Mann doch tatsächlich noch mal erhängt.«

»Interessant! Aber ich finde, alle drei Fälle können auch ganz normal erklärt werden. Es ist doch bekannt, dass Stromstöße manchmal zum Scheintod führen, weshalb man ja auch stundenlang Wiederbelebungsversuche macht.«

»Vielleicht bei 220 Volt. Aber bei 20 000! Ich bitte Sie!«

»Es kann trotzdem ein Sonderfall gewesen sein. Das wäre nicht das erste medizinische Wunder, das passiert. Es ist bekannt, dass gerade Leute, die ständig mit elektrischem Strom zu tun haben, eine erstaunliche Widerstandskraft entwickeln.«

»Und das kleine Kind?«

»Wahrscheinlich schliefen die Eltern, und ein Elternteil hat dann im Schlaf das tote Kind hochgehoben und vor die Tür gelegt. Und der Mann, der sich zweimal aufhängte, dieser Fall scheint mir der einfachste zu sein. Auch unter Polizisten gibt es Spaßvögel. Ich könnte mir denken, dass sich die einen Jux gemacht haben. Vielleicht wollten sie dem Polizeiarzt eins auswischen.«

»Meinen Sie? Aber wir hier sind alle anderer Ansicht. Eines können nämlich auch Sie nicht klären, Mister!«

»Und das wäre?«

»Wieso sich alle diese drei Fälle in einer Nacht und an einem Ort zugetragen haben. Solche Zufälle gibt es nicht! Das können Sie mir nicht einreden. Sagen Sie, was Sie wollen, das geht nicht mit rechten Dingen zu! Machen Sie lieber einen Bogen! Dieses Moolstadt ist verflucht, glauben Sie mir.«

Larry Brent fuhr weiter. Er war nachdenklich geworden. Das Argument des jungen Tankwarts hatte ihn doch etwas beeindruckt. Drei seltsame Vorgänge, alle in einer Nacht und in einer mittelgroßen Stadt, da half der Hinweis auf den allmächtigen Zufall nicht viel.

Die Landschaft wandelte abrupt ihr Gesicht. Die Weiden und Äcker verschwanden. An ihre Stelle traten gelbgraue Sanddünen mit verstreuten Waldungen kahler Kiefern. Auch die Natur schien zu verstummen. Nisteten hier keine Vögel, lebten hier keine Tiere? Kahle, bizarre Felsklippen tauchten links und rechts vor ihm auf. Sie reichten bis an die Straße heran.

Als Larry Brent eine Kurve nahm, sah er links die Abzweigung einer schmalen Straße. Sie führte in langen Windungen einen nahezu kahlen Hügel hinauf, wo ein schlossähnliches, düsteres Gebäude mit einem gedrungenen, runden Turm, den einige Zinnen krönten, stand.

Es sah aus, als stamme das Bauwerk aus der Türkenzeit. Oder war es gar eine alte Festung Attilas? Larry musste lächeln. Der Tankwart und dessen Großvater waren ihm eingefallen.

Larry Brent wusste nicht, dass ihm die Heunenburg, so hieß sie, einige Tage später fast zum Schicksal werden sollte und dass sie für ihn eines der seltsamsten und grausigsten Dramen bereithielt.

Bei der übernächsten Biegung, nachdem er ein Stück Wald durchfahren hatte, lag plötzlich Moolstadt vor ihm. Am Ende einer kilometerlangen Geraden. Er hielt an. Sein Blick schweifte über die Zusammenballung von eintönig grauen Häusern mit düsteren Schieferdächern, überragt von einem gedrungenen Kirchturm. Da war nichts mehr zu sehen von leuchtend weißen Häusern und roten Ziegeldächern. Rings um die Stadt lagen kahle Sandhügel.

Seltsam. Larry Brent spürte, wie ihn bei diesem Anblick plötzlich fröstelte er. Sollte er weiterfahren?

Unsinn! Die Stadt war eine Stadt wie tausend andere. Hier wohnten gute und schlechte Menschen, wie überall. Und Larry wollte wissen, was es mit diesen wandelnden Toten auf sich hatte. Er glaubte kein Wort davon. Für alles gab es eine natürliche Erklärung.

Larry fuhr weiter. Aber vielleicht nur hundert Meter. Dann sah er am Straßenrand einen alten, klapprigen Wagen. Ein jüngerer Mann mit heller Hose und rotem Hemd wechselte einen Reifen.

Larry Brent fuhr langsam an ihn heran und hielt. »Kann ich helfen?«

Der junge Mann, der in der Hocke neben dem Wagen kniete, schüttelte den Kopf. »Danke, ich bin gleich fertig.«

Im Wageninnern sah Larry Brent weiße Kissen, ein Federbett. Auf den Kissen lag der Kopf einer Frau. Sie musste bis auf die Knochen abgemagert sein, ihre Haut war gelb und runzelig, das schüttere Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Ihr Blick war glanzlos auf Larry Brent gerichtet.

Der PSA-Agent fragte: »Bringen Sie sie ins Krankenhaus?«

Der Mann lachte kurz auf. »Im Gegenteil! Ich habe sie dort rausgeholt! Es ist meine Mutter. Sie lebt nur noch ein paar Tage. Aber sie soll nicht in Moolstadt sterben. Ich fahre sie irgendwohin, wo sie es ohne Angst tun kann. Und wo es dann ein für allemal vorbei ist. Das bin ich ihr schuldig, verstehen Sie? Oder wissen Sie nicht, was in Moolstadt los ist?«

»Ich habe davon gehört. Aber ist denn da etwas Wahres dran?«

Der junge Mann richtete sich auf sah Larry Brent erst schweigend an und sagte dann: »Glauben Sie denn, dass ich meine sterbende Mutter zum Vergnügen spazieren fahre? Bei uns wandeln die Toten! Ich bin weiß Gott nicht fromm. Aber haben Sie schon mal was vom Jüngsten Gericht gehört? So fängt's doch an, nicht? Ich würde selbst mit einer kaputten Achse so weit fahren, wie es nur geht!«

Er warf sein Handwerkszeug in den Kofferraum, schloss ihn und stieg ein. Durch das heruntergedrehte Fenster rief er Larry Brent zu, bevor er abfuhr: »Und Ihnen kann ich nur sagen, drehen Sie um, Mann! Niemand weiß, was noch kommt!«

Larry Brent nickte. »Das ist gerade der Grund, warum ich hinfahre!«

Auf dem Marktplatz von Moolstadt hielt Larry Brent seinen Wagen an.

Graue, schmale zweistöckige Häuser ringsum, ausgetretene Kopfsteinpflaster, ein toter Springbrunnen auf der einen Hälfte des Platzes, eine Pestsäule mit den Figuren der Dreifaltigkeit auf der anderen. Dort, wo die Straße auf den Platz mündete, ein gedrungenes Gebäude mit etwas höheren gotischen Fenstern. Es war offenbar das Rathaus. Ein paar Obst- und Gemüsestände auf dem Platz, Frauen mit dunklen Kopftüchern dazwischen. Zwei Gendarmen mit geschultertem Gewehr, gefolgt von einigen barfüßigen Jungen.

Larry Brents Blick fiel auf ein Haus, das in der Höhe des ersten Stocks einen eisernen Balkon hatte. Über der Doppeltür las er auf einem vergilbten Schild in Schnörkelbuchstaben Gasthaus zum Einhorn, darunter: Fremdenzimmer. Neben dem Gasthaus war ein kleiner Laden, eine Tabaktrafik. Larry Brent stieg aus und ging hinein. Über der Tür schepperte eine rostige Glocke.

Hinter der Theke stand ein einäugiger Mann. In der Ecke zwischen dem Schanktisch und einem Regal saß auf einem abgenutzten Holzstuhl ein zweiter Mann, schnauzbärtig, den Hut ins Genick geschoben, eine lange Virginia im Mundwinkel.

Der Einäugige sagte soeben mit erhobenem Zeigefinger zu dem Mann, ohne Larry Brent zu beachten:

»Aber ich habe es doch selbst gesehen, Herr Hunyadi, die Polizei kam schon um neun Uhr heute Morgen ins Haus. Und kurz darauf traf auch der Polizeiarzt ein.«

Der Schnauzbärtige besah seine Virginia. »Verstehe ich nicht. Was soll denn die Polizei hier? Die Frau ist doch nicht ermordet worden. Die hat einen ganz normalen Schlaganfall gehabt.«

»Stimmt! Das hat Dr. Abel auch gesagt. Es war der dritte. Die Frau hat gar nichts davon gemerkt, dass es auf einmal vorbei war, meinte er.«

»Na also, was soll denn dann die Polizei?«

»Das will ich Ihnen erklären, Herr Hunyadi. Die Frau ist allein gestorben. Sie lag friedlich und angezogen auf der Couch. Aber sie hatte die Augenlider geschlossen, als sie heute Morgen von ihrer Nachbarin gefunden wurde. Verstehen Sie! Tote haben ja sonst die Augen offen, und in einem solchen Fall muss sich die Polizei einschalten.«

»Und was hat sie herausbekommen?«

»Es heißt, die Frau sei von dem Schlaganfall im Schlaf überrascht worden, so dass sie die Augen gar nicht mehr aufgemacht hat. Das gäbe es.«

»Und dazu also die ganze Aufregung! Haben sie die Leiche inzwischen geholt?«

»Nein, die liegt noch oben.«

Der Einäugige winkte mit der Hand ab.

»Worum geht es denn?«, erkundigte sich Larry Brent.

»Um eine alte Frau, die in diesem Haus gestorben ist. Im ersten Stock. Ihre Nachbarin hat sie heute Morgen gefunden. Als die Polizei kam, haben die Leute gedacht, es sei etwas Furchtbares geschehen und haben einen richtigen Auflauf gebildet, bis die Gendarmen ihn zerstreuten. Ich kann es ja verstehen, die Leute sind alle verrückt geworden!«

»Und warum?«

Der Mann sah Larry Brent misstrauisch an und murmelte: »Ach, nur so!«, wandte sich um und begann in dem Regal Zigarrenkisten zu ordnen.

»Eine Frage«, sagte Larry Brent. »Wie ist man denn nebenan im Einhorn untergebracht?«

Der Schnauzbärtige auf dem Stuhl nahm die Virginia aus dem Mund und sagte: »Kann man durchaus empfehlen. Saubere gute Küche. Besondere Ansprüche dürfen Sie natürlich nicht stellen.«

Larry dankte und ging aus dem Laden. Er hatte einige Schritte in Richtung zu seinem Wagen gemacht, als er stehenblieb und sich hastig umdrehte.

Eine Frau hatte geschrien.

Der Schrei kam aus dem Haus mit dem Tabakladen. Es war ein durchdringender, schriller Schrei des Entsetzens.

Die Menschen in der Nähe blieben stehen. Die Tür zu dem Tabakladen öffnete sich, der Einäugige und der Schnauzbärtige traten heraus und lauschten.

Für Sekunden war es still.

Dann wies der Einäugige zu einem offenen Fenster im ersten Stock. Dahinter wehte eine weiße Gardine. Sie sahen es alle, eine schmale, wächserne Hand schob den Vorhang langsam zur Seite.

In diesem Augenblick stürzte eine junge, schwarzhaarige Frau aus der Haustür. Sie sah sich wirr um und taumelte dem Einäugigen in die Arme. Haltlos begann sie mit einer Stimme zu schreien, die sich überschlug: »Ich kann es nicht sehen. Sie lebt! Ich kann es nicht sehen!«

Alle sahen bewegungslos zu dem Fenster hinauf. Larry Brent spürte im Nackenhaar ein eisiges Kribbeln.

Neben der Gardine stand eine kleine, alte Frau. Schwarzgekleidet, die weißen Haare sauber in der Mitte gescheitelt. Ihr runzeliges Gesicht war von erschreckender Blässe. Ihr Mund hing schief nach einer Seite. Sie sah über alle Zeugen mit gebrochenen Augen hinweg. Um Kopf und Kinn hatte sie ein weißes, schmales Tuch geschlungen.

Larry Brent wusste, dass die Frau, die soeben ans Fenster getreten war und die Gardine beiseite geschoben hatte, tot war. Ohne jeden Zweifel! Sie war tot. So sahen Tote aus.

Der PSA-Agent hörte, wie der Einäugige mit klappernden Zähnen sagte: »So hat sie immer am Fenster gestanden!«

Die junge Frau schrie wieder haltlos.

Plötzlich sank die kleine, schwarze Gestalt oben am Fenster zusammen. Als habe ihr jemand die Beine unter dem Leib weggezogen. Larry Brent glaubte den dumpfen Fall zu hören, mit dem sie auf dem Boden aufschlug.

X-RAY-3 war der erste, der die schmale, ausgetretene Treppe hinaufeilte und das kleine, mit alten Möbeln ausgestattete Wohnzimmer betrat.

Am Fenster lag zusammengesunken die alte Frau. Larry Brent griff nach ihrem Puls. Zwischen seinen Fingerspitzen spürte er nichts als dünne Knöchel, von einer eisig kalten Haut überspannt.

Durchs Fenster hörte er unten die junge, schwarzhaarige Frau stoßweise erzählen.

»Im Wohnzimmer der Frau Matuschek hat die Couch gequietscht, als ob jemand aufstehe. Ich habe durch die offene Tür geguckt, und da stand die tote Matuschek mit dem Rücken zu mir! Plötzlich begann sie zu gehen. Nein, nein, es war grässlich. Ich gehe nie mehr in das Haus zurück!«

Larry Brent beschloss zu bleiben.

Etwas später betrat er die Gaststube des Einhorns. Sie war leer. Hinter der Theke stand ein Mann, der ihm schon vorher in der Menge aufgefallen war, ein breiter, korpulenter Typ mit auffallend strohgelben Stehhaaren. Er sah Larry Brent erwartungsvoll an.

»Kann ich ein Zimmer haben?«

»Das können Sie. Aber eins muss ich Ihnen gleich sagen: Ich habe kein Personal mehr. Alle Leute sind weggelaufen, bis auf einen Kellner.«

»Das macht mir nichts aus. Ich helfe mir selbst. Garage?«

»Natürlich! Hinterm Haus. Einfahrt von der Rückseite. Eine Frage, gehört Ihnen vielleicht der amerikanische Wagen da draußen?«

»Ja.«

»Sind Sie Journalist?«

»Nein.«

»Oder Leichenbestatter?«

Larry Brent lachte. »Auch nicht. Warum?«

»Die Frage ist gar nicht so komisch. Die Totengräber hier sind alle aus dem Häuschen. Verständlich, nicht? Ist eine unangenehme Vorstellung, Tote zu beerdigen, die wieder lebendig werden. Wer tot ist, hat tot zu sein. Das stimmt nicht mehr. Jetzt spazieren sie herum und schauen zum Fenster raus. Und wer weiß, wie oft sie aufwachen? Vielleicht noch im Grab? Wissen Sie es? Ich nicht.«

»Sind Sie der Wirt?«

»Ja. Ich heiße Jirasek. Hier ist Ihr Schlüssel. Zimmer elf. Im ersten Stock. Sie können auch jedes andere Zimmer haben. Aber dieser Raum hat den Vorteil, dass Sie von dort auf den Friedhof bei der Kirche schauen können. Falls da nachts welche herausklettern!«

Der Wirt stieß ein homerisches Gelächter aus, und Larry Brent dachte sich, dass eben jeder auf seine Weise mit dem Grauen tief innen fertig werden musste.

Aber was ging in dieser Stadt wirklich vor?

Vom Einhorn schlenderte Larry Brent zur Post. Er führte ein Gespräch mit der PSA-Zentrale in New York.

Es kam ihm darauf an, dass ihm X-RAY-1 rasch und reibungslos alle Wege bei den Behörden in Moolstadt ebnete, und zwar über jene Stelle im Wiener Innenministerium, die über Larry Brent und seine Tätigkeit für die PSA in New York, die Psychoanalytische Spezialabteilung informiert war.

Als Larry das Postgebäude verließ, es trug noch den gelblichen Anstrich wie zu Zeiten der k. und k. Monarchie, fiel sein Blick auf den barocken Turm der Kirche.

Er hatte sich in seinem Zimmer im Einhorn davon überzeugt, dass man von dort aus tatsächlich ein Stück des Friedhofs an der Kirche sehen konnte. Unwillkürlich schlug Larry seinen Weg dorthin ein.

Der Friedhof war von einer übermannshohen steinernen Mauer umgeben. Ihr Bewurf war an vielen Stellen abgebröckelt. Die Rotbuchen und Kastanienbäume im Friedhof mussten sehr alt sein. Sie überspannten ganze Teile des Areals wie mit einem Blätterdach und hüllten die Gräber und Wege in düsteres Dämmerlicht, das die Sonnenstrahlen nur stellenweise durchdrangen.

Langsam ging Larry Brent die Reihen entlang. Auf vielen Gräbern standen einfache Kreuze aus verwittertem Stein oder rostigem Eisen. Hin und wieder nur war dazwischen ein etwas prunkvolleres Monument.

An Brents Ohr drang eine Stimme, die lateinische Worte sprach. Bei der nächsten Wegkreuzung sah er in einem Seitenweg eine Gruppe dunkel gekleideter Menschen um ein offenes Grab stehen.

Ein Geistlicher hatte eben den Segen erteilt. Nun reichte er den Weihkessel dem Messbuben zurück und wandte sich zum Gehen. Langsam schritt er auf dem Seitenweg davon.

Die Trauernden drängten sich an die Gruft heran, um Blumen und einige Handvoll Erde auf den Sarg zu werfen. Plötzlich stockten ihre Bewegungen. Sie neigten sich zueinander und begannen zu flüstern. Wandten dann ihre Köpfe und schauten in eine Richtung.

Larry Brent folgte ihren Blicken. Zwischen den Bäumen sah er in einer Entfernung von etwa dreißig Metern eine junge Frau. Sie saß auf einem liegenden Grabstein und hielt einen großen Skizzenblock in Händen. Man sah, dass sie auf ihn zeichnete, wobei sie ab und zu prüfend zu der Gruppe Menschen an dem offenen Grab hinübersah.

Die junge Frau trug ein graues Kostüm, und unter ihrem dunkelblauen, turbanähnlichen Hut quollen Haarlocken von solch strahlendem Rot hervor, wie es Larry Brent selten gesehen hatte.

Sicher hat sie grüne Augen, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf.

Die Gruppe der Menschen am offenen Grab geriet in Bewegung. Eine Frau rief: »Was macht die dort?« Und schriller: »Vertreibt sie doch! Der Tote soll in Frieden ruhen!«

Einige Männer lösten sich von der Gruppe und gingen auf die junge Frau zu. Sie stand von dem Grabstein auf und sah den Leuten verwirrt entgegen. Sie hielt den großen Skizzenblock zur Erde gewendet, als wolle sie verbergen, was sie gezeichnet hatte.

Ein hagerer Fünfziger, der einen altmodischen Zylinder in der linken Hand trug, griff hastig mit der Rechten nach dem Block. Das obere Blatt zerriss dabei in der Mitte.

»Da! Das sind wir!«, rief der Mann und hielt das halbe Blatt in die Höhe.

»Jagt sie fort.«

Die junge Frau raffte hastig ihre Sachen zusammen, machte einige Schritte rückwärts, drehte sich um und begann zu laufen. Die Männer blieben stehen, und der Hagere rief der Fliehenden nach: »Lassen Sie sich nie wieder auf unserem Friedhof sehen!«

Er knüllte das halbe Skizzenblatt zusammen und warf es in Richtung der laufenden Frau. Dann gingen die Trauernden zu dem Grab zurück.

Die Rothaarige verlangsamte ihren Schritt und kam auf Larry Brent zu. Er neigte sich ihr etwas entgegen. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«

Sie blieb stehen, sah ihn kurz an, schluckte und sagte zögernd: »Wenn Sie so freundlich sind und mich zu meinem Wagen bringen wollen. Er steht vor der Kirche.«

Larry nickte und ging neben der Frau her. Unwillkürlich sah er auf die andere Hälfte des zerrissenen Skizzenblattes, die sie in der Hand hielt. Sie zeigte in knappen Kohlestrichen Bäume, einen Teil der neuen Grabstätte, die Menschen, die darum standen und den Priester. Larry Brent hatte etwas Dilettantisches erwartet, aber er sah auf den ersten Blick, das war gekonnt!

»Ich verstehe es nicht.« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe doch nur gezeichnet. Das mache ich öfters hier auf dem Friedhof. Ich habe den Leuten doch nichts getan.«

X-RAY-3 antwortete beruhigend: »Die Menschen in dieser Stadt sind sehr nervös geworden.«

Sie sah ihn von der Seite an, während sie dem Ausgang zustrebten. Tatsächlich, sie hat grüne Augen, durchzuckte es Larry Brent.

»Das verstehe ich durchaus. Aber was habe ich damit zu tun? Ich merke, dass sie hinter meinem Rücken tuscheln. Aber heute habe ich zum ersten Mal gespürt, dass sie mich hassen.«

»Ich sagte Ihnen ja, alle sind sehr aufgeregt.«

»Nein, nein! Ich habe dem Mann, der mir das Skizzenblatt zerriss, ins Gesicht gesehen. Das war Hass, glauben Sie mir!«

Sie hatten den Friedhof verlassen und gingen über den stillen Platz vor der Kirche. Im Schatten einer Baumgruppe stand ein beigefarbener Porsche-Targa.

Die Rothaarige öffnete die Wagentür und sah Larry Brent zum ersten Mal direkt an. Was für eine ungewöhnlich schöne und anziehende Frau, dachte der PSA-Agent. Sie lächelte ihn etwas zaghaft an.

»Wahrscheinlich halten diese Leute mich für eine Hexe, für jemand, der Tote aufwecken kann! Dabei gibt es für alles vielleicht eine einfache Erklärung, so unerklärlich es zunächst auch aussehen mag. Finden Sie nicht? Ich danke Ihnen vielmals.«

Sie stieg ein. Larry Brent drückte die Tür zu, und Sekunden später fuhr der offene, beigefarbene Wagen davon. Die Frau drehte sich nicht mehr um.

Larry sah ihr nachdenklich nach. Eine einfache Erklärung? Hatte sich die Frau etwas dabei gedacht, als sie das sagte?

Larry Brent ging in sein Lokal zurück, um ein spätes Mittagessen einzunehmen. Der Kellner, ein älterer, offenbar magenkranker Mann, setzte ihm wortlos eine Grießsuppe, dann Spitzfleisch mit Spinat auf den Tisch.

»Was anderes gibt es nicht«, fügte er hinzu, »der Chef muss selbst kochen.«

Er senkte seine Stimme: »Wissen Sie, ich bleibe auch nicht mehr lange.«

Nach dem Essen trat der Wirt an Larry Brents Tisch, zog einen Stuhl heran, ließ sich darauf nieder, fuhr sich mehrmals mit der Hand über seine strohgelben Stehhaare, wünschte Larry Brent gut gespeist zu haben und teilte ihm dann eine Neuigkeit mit. »Sie haben übrigens Gesellschaft bekommen. Im Zimmer nebenan, Nummer zehn.«

»Und wer ist das?«

»Ein Herr Gradl. So hat er sich eingeschrieben. Angeblich aus Kärnten. Sein Wagen hat aber eine Wiener Nummer. Als er Ihren Namen las, stutzte er und erkundigte sich nach Ihnen. Na ja, ich konnte ihm nicht viel erzählen.« Der Wirt schob seinen Stuhl näher. »Unter uns gesagt, mit dem Mann stimmt nicht alles. Besser, ich sage es Ihnen.«

»Wieso?«

»Der Name Gradl scheint falsch zu sein. Ich habe gesehen, dass seine Taschentücher mit O.S. gezeichnet sind. Und diese Anfangsbuchstaben hat er auch auf seiner Aktentasche. Wichtiger ist was anderes, der Mann hat eine Pistole dabei.«

»Woher wissen Sie das?«

»Er sagte, dass er in sein Zimmer gehe, um sich zu rasieren. Ich dachte, ich bringe ihm heißes Wasser. Er muss mein Klopfen nicht gehört haben. Da stand er in Hemdsärmeln am Fenster, und ich sah genau, als er sich umdrehte, dass er unter der linken Schulter eine Halfter trägt, aus der der Knauf einer Pistole schaute.«

»Vielleicht darf er eine tragen.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Als Wirt gewöhnt man sich daran, sich seine Gedanken über die Gäste zu machen. Damit es keine unliebsamen Überraschungen gibt. Da kommt er!«

Ein etwa fünfzigjähriger Mann betrat die Gaststube. Auf den ersten Blick hätte Larry Brent gesagt: keinerlei besondere Kennzeichen. Der Mann konnte jeden Beruf haben. An seinem Benehmen war nichts Auffälliges.

Der Wirt schob den Stuhl zurück, stand auf und trat zu ihm. »Haben Sie irgendwelche Wünsche, Herr Gradl?«

»Ja, ich brauche eine Auskunft.«

»Bitte schön.«

»Kurz vor dem Ort liegt auf einer Anhöhe ein schlossähnliches Gebäude.«

»Ja, das ist die Heunenburg.«

»Scheint bewohnt zu sein.«

»Seit einem halben Jahr gehört sie einem Baron Parsini. Er hat sie der Stadt abgekauft und wohnt dort.«

»Das ganze Schloss?«

»Nein, er soll nur einen Teil des linken Flügels bewohnen. Hat trotzdem eine Menge Geld gekostet, bis alle Ratten und Spinnen draußen waren.«

»Wohnt er allein?«

»Nein, eine alte Frau ist dort, offenbar eine Haushälterin. Und eine junge.«

»Wer ist das?«

Der Wirt zuckte die Achseln, und Larry Brent sah, dass sich seine Mundwinkel nach unten zogen.

»Ich weiß es nicht. Man munkelt so allerlei.«

»Chauffeur? Diener? Gärtner?«

»Nein, meines Wissens nicht.«

»Etwas komisch, nicht? Dieser Baron Parsini scheint doch Geld zu haben.«

»Da ist manches komisch.«

»Wieso?«

»Nur so. Die Leute reden halt.«

»Hm. Danke schön!« Gradl setzte seinen Hut auf und ging zur Tür der Gaststube. Er kam dabei an Larry Brents Tisch vorbei und musterte den Agenten. Er hatte kluge, durchdringende, zugleich kalte Augen.

Gradl neigte sich etwas vor und fragte halblaut: »Mister Brent?«

»Der bin ich.«