Larry Brent Classic 040: Die Nebelhexe - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 040: Die Nebelhexe E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Super-Virus aus der Hölle Eine Wahrsagerin verkündet mehreren Menschen eine sehr düstere Zukunft, die aber unmittelbar mit ein und demselben Ereignis zu tun hat, wie sich später herausstellt. Der Wissenschaftler Jeremy Tanner stirbt tatsächlich bei einem Autounfall, doch damit beginnt das Grauen erst. Tanner hat im Geheimen mit tödlichen Viren experimentiert. Ohne Wissen seiner Auftraggeber, doch mit der Hilfe böser Mächte hat er theoretisch eine Art Super-Virus erschaffen. Seine Experimente sind aber noch nicht abgeschlossen, also übernimmt sein Geist den Körper von Fletcher Garner, der Tanner nach seinem Unfall zu Hilfe eilen wollte. In den Krallen der Nebelhexe Cindy Calhoon, eine ältere Dame, lebt seit dem Tod ihrer Schwester in deren einsamen Haus direkt an der Küste im Norden Kaliforniens. Eines Abends wird sie von einem geisterhaften Wesen angegriffen, welches aus dem Nebel zu bestehen scheint, der die Gegend um das Haus seit vielen Jahren umgibt. Cindy bleibt seitdem spurlos verschwunden. Diese Umstände kommen der ehemaligen Schauspielerin Rose Margonny sehr gelegen, denn sie kennt das Anwesen seit ihren Kindertagen und sehnt sich danach, dort ihren Lebensabend zu verbringen.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 40

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-840-2

Dan Shockers Larry Brent Band 40

DIE NEBELHEXE

Mystery-Thriller

Supervirus aus der Hölle

von

Dan Shocker

Prolog

Auf dem Rummelplatz von Long Island ging es hoch her.

Frankie Patterson, bekannt dafür, überall da zu sein, wo was los war, fühlte sich wieder mal in seinem Element.

Man merkte, dass er an diesem Abend schon ein paar Schlucke mehr getrunken hatte, als ihm zuträglich war.

Er rempelte die Leute an, machte dumme Bemerkungen und ärgerte sich darüber, dass Jim und Hal nicht gekommen waren, obwohl sie es ihm fest versprochen hatten. Jim und Hal hatten die Girls mitbringen wollen.

Er blickte einem mittelblonden Mädchen nach, das hautenge Bluejeans trug und einen knallroten, nicht minder eng anliegenden Pulli.

Frankie Patterson hob die Augenbrauen. »Na also«, murmelte er im Selbstgespräch. »Dann ist der Abend ja doch noch gerettet ... Es gibt mehr Girls in New York, als Jim und Hal denken, ... und die gefällt mir ...«

Er stiefelte hinter der etwa Zwanzigjährigen her, die schnell und mit aufregendem Gang zwischen den anderen Besuchern des Rummelplatzes untertauchte.

Er forcierte sein Tempo und hatte Glück, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie verschwand in einem kleinen, im Folklore-Look errichteten Zelt, das wie ein Vorbau zu einem Zigeunerwagen aussah.

Auf einem Pappschild, das am Zelteingang hing, standen nur drei Worte:

»Clara, die Seherin«.

Frankie Patterson grinste.

»Jetzt lässt sie sich die Zukunft sagen«, murmelte er. »Da wird sie gleich erfahren, was die Nacht heute bringen wird ...«

Zehn Minuten vergingen, eine Viertelstunde.

Da wurde es Frankie Patterson zu lange.

Er öffnete den Eingangsspalt und blickte in das dämmrige Innere des Zeltes.

Ein kleiner Tisch stand darin, darauf eine brennende Kerze. Die hintere Wand zierte ein großer bunter Teppich. Am Tisch saß die attraktive Fremde mit sehr ernstem Gesicht, ihr gegenüber eine Zigeunerin, die aufblickte, als er eintrat.

»Bitte, gedulden Sie sich noch einen Augenblick«, sagte Clara freundlich.

»Wir sind gleich soweit ...«

Frankie Patterson winkte ab und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Keine Eile ... ich will meine Zukunft nicht wissen. Ich warte nur auf die Süße da ...«

»Ah, Sie sind befreundet?«

Das Girl in Pulli und Jeans schüttelte empört den Kopf. »Ich kenne ihn nicht ...«

»Genau das ist es«, bestätigte Patterson. »Und deshalb bin ich gekommen. Wenn die alte Zauberin Ihnen nichts über Ihre Zukunft sagen kann, ich kann's bestimmt. Wir werden uns heute Abend noch kennenlernen.«

»Von mir aus besteht da wenig Interesse«, antwortete die Unbekannte.

»Umso stärker ist es bei mir. Wir werden uns schon verstehen ... Ich warte. In fünf Minuten seh ich wieder nach. Sind Sie dann fertig?«

»Ja«, antwortete die Zigeunerin anstelle der Besucherin. Patterson zog den Kopf zurück.

Als er ihn wenig später wieder hineinstreckte, war das Mädchen verschwunden. Die Zigeunerin kam auf ihn zu.

»Wo ist sie? Was haben Sie mit ... ihr gemacht?«, fragte Patterson.

»Sie ist hinten aus dem Zelt gegangen.«

»Verdammt!« Patterson wollte davonlaufen. Da hielt die Frau ihn fest.

»Nicht so eilig. Ich kann Ihnen möglicherweise auch etwas über Ihre Zukunft sagen ...«

»Ich glaube nicht an den Quatsch!«

»Vielleicht ist es Ihnen bestimmt, die Flüchtige wiederzusehen ... wenn es so ist, brauchen Sie sich gar nicht anzustrengen. Das Schicksal erledigt die Dinge von ganz allein ...«

»Unsinn!« Patterson blickte sich um und wollte sich losreißen.

Noch hielt Clara ihn fest, warf nur einen kurzen, flüchtigen Blick in seine Hand. »Nein«, sagte die Frau dann mit belegter Stimme. »Nein, Sie werden sie nicht wiedersehen, obwohl Sie erstaunlicherweise ganz nahe bei ihr sind ...«

»Ich bin ganz nahe bei ihr? Wie soll ich das verstehen?«

»Sie gehen Tag für Tag aus der gleichen Tür, und haben sich doch noch nie gesehen. Das große Haus ... in ihm passiert es auch ...«

»Was passiert?«

Er ließ sich einfangen, ohne dass er es wollte.

»Ihre Zeit ist abgelaufen. In drei Tagen, zwei Stunden nach Mitternacht, begegnen Sie dem Grauen. Von Ihnen wird nichts übrigbleiben ...«

Patterson schüttelte sich, und jetzt konnte er sich auch losreißen. »Makabres Gequatsche«, stieß er wütend hervor. »Glauben Sie wirklich, damit könnten ... Sie mir Angst einjagen? Wahrscheinlich hat sie Ihnen eingeredet, dass Sie mich damit ärgern sollen ... Patterson wirft so schnell nichts um.«

»Dies wird Sie umwerfen, junger Mann«, murmelte die Zigeunerin, aber er hörte es schon nicht mehr. »Sie hätten sogar noch eine Chance, wenn Sie in jener Nacht nicht nach Hause kämen ... aber Sie werden ... und es gibt keine Rettung mehr ... es ist furchtbar, so furchtbar ...«

1. Kapitel

Dass er die prickelndsten und interessantesten Partys gab, war stadtbekannt.

Ale Cameron feierte oft und gern, lud sich das Haus voller Gäste und stattete besonders seine Geburtstagsfeiern immer so aus, als wäre es die letzte, die er erlebte.

Dabei wurde Cameron gerade vierzig. Und das war ein Grund, noch mehr auf die Pauke zu hauen als sonst.

Alle zehn Jahre, das war seine Devise, musste es ganz groß werden.

Viele, die seinen zwanzigsten Geburtstag miterlebt hatten, waren wieder mit von der Partie. Nachts um zwölf tauchten dreißig spärlich gekleidete Girls auf, die noch kein Mensch vorher gesehen hatte. Dass die Damen sich schließlich völlig ungeniert und hüllenlos zwischen den geladenen Gästen bewegten, gehörte zu den Gags, die er sich hatte einfallen lassen. Da die Girls alle durchweg gut gewachsen waren, hatten besonders die anwesenden männlichen Gäste nichts dagegen einzuwenden.

Nun feierte Ale Cameron, inzwischen Erbe von 50 Millionen Dollar, mehreren Ölfeldern und einer eigenen Fluggesellschaft, die ›Cameron Air-Busses‹, sein vierzigstes Wiegenfest. Und wieder ging es hoch her ...

Diesmal hatte er in ein New Yorker Nobelhotel gebeten.

Alles, was Rang und Namen hatte, in Wirtschaft, Politik, im Show-Business und in der Kunst, war gekommen.

Genau vierhundert Gäste waren geladen und auch erschienen.

Champagner floss, eine bekannte TV-Band spielte zum Tanz, hin und wieder gab es künstlerische Einlagen. Das alles gehörte noch durchaus zum normalen Programm einer Cameron-Party. Jeder, der vor zehn oder zwanzig Jahren schon zu den Super-Geburtstagsfeiern Ales eingeladen gewesen war, wartete mit Spannung auf den unausweichlichen Knüller, der noch kommen musste.

Kurz vor Mitternacht gab Cameron ihn bekannt.

»In dieser Minute, liebe Anwesende« tönte seine Stimme über die in den Festsälen angebrachten Lautsprecher, »ist die Überraschung des heutigen Abends eingetroffen ...«

Bis vor wenigen Augenblicken herrschte noch reger Betrieb in allen gemieteten Räumen und füllte Stimmengemurmel die Luft. Nun war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören.

»... alle zehn Jahre sollte etwas Außergewöhnliches geschehen, das hatte ich euch bei der letzten Gelegenheit versprochen, als wir uns verabschiedeten. Die meisten »Alten« von damals sind auch heute wieder dabei. Die neu hinzugekommen sind, haben inzwischen schon von Ales Partys gehört. Nun, wir werden sehen, was der einzelne zu dem sagen wird, was ich mir für heute ausgedacht habe. Mit vierzig wird man langsam klug und weise, sagt man, um besonders klug und weise für die Zeit zu sein, die noch vor uns liegt, die meisten der Anwesenden befinden sich im gleichen Alter ...«

Unruhe kam auf. Einige weibliche Gäste begannen protestierend zu murmeln, und Ale Cameron fing den Ball sofort auf.

»Es gibt keinen Grund, sich zu beschweren, meine Damen«, fuhr er fort und lächelte süffisant. »Das betraf selbstverständlich nur alle Männer hier im Raum ...«

Lachen, Beifallklatschen ... man prostete ihm zu.

Als wieder Ruhe eingekehrt war, beendete Cameron seine kurze Ansprache. »Heute Abend weilt sie unter uns, Clara, die Seherin ...«

Alle glaubten an einen schlechten Scherz, als Cameron zur Seite trat und aus der Tür hinter ihm eine zierliche Zigeunerin kam. Die Frau trug einen langen schwarzen Rock, eine weitfallende Bluse und einen bunten Seidenschal um den Hals.

Ihr Alter war schlecht zu schätzen. Sie wirkte seltsam alterslos.

»Clara, eine Zigeunerin, die in Deutschland geboren wurde und seit drei Jahren in den Staaten lebt«, fügte Ale Cameron erklärend hinzu. Er überging die abschätzenden Blicke, die ihn trafen. Clara war wie ein Fremdkörper zwischen den festlich gekleideten Menschen, und es war schon bemerkenswert, dass sie sich in der Gesellschaft nicht unwohl oder unsicher fühlte. Ihre dunklen Augen waren auf die Anwesenden gerichtet. Eine eigenartige Stimmung entstand. »Vielleicht hat der eine oder andere sie schon gesehen oder von ihr gehört ... Clara geht von Hotel zu Hotel, von Lokal zu Lokal und bietet ihre Dienste als Handleserin und Seherin an. Sie ist auf Rummelplätzen und Volksbelustigungen zu finden ... bei einer solchen Gelegenheit habe ich sie kennengelernt. Nun, einige mögen jetzt die Nase rümpfen ... Der Millionär Ale Cameron gibt sich mit einer Zigeunerin ab, die wie ein Hund durch die Straßen streunt ... Ich kann so drastisch reden, weil Clara weiß, wie die meisten hier denken, und trotzdem ist sie gekommen ...«

Die Zigeunerin verzog keine Miene. Der Situation war eine gewisse Peinlichkeit nicht abzusprechen.

»Die Zeiten sind ernster geworden ... wer möchte da nicht wissen, was gerade für ihn die Zukunft bringt. Ich hatte die Gelegenheit, mit der Seherin lange, ausführliche Gespräche zu führen. Ich habe, was mein ganz persönliches Schicksal betrifft, einige sehr interessante Einzelheiten erfahren, über die ich mit einem anderen natürlich nicht sprechen werde.

Jeder kann sich sein Schicksal deuten lassen. An der Schwelle zu meinem neuen Lebensjahrzehnt biete ich euch jedenfalls die Gelegenheit, etwas über die ganz persönliche Zukunft zu erfahren. Macht Gebrauch davon, oder lasst es ... Clara steht euch zur Verfügung!«

Mit einer beinahe zärtlichen Geste nahm er die Zigeunerin bei der Hand und führte sie zu den Umstehenden.

»Clara wird mit jedem einzelnen sprechen, versteht sich. Keiner der Anwesenden wird etwas über den anderen erfahren ...« Es ging nicht alles so glatt. Doch dann brach das Eis. Clara war einfach, aber charmant.

Sie sprach keine sehr gepflegte Sprache, aber das, was sie zu sagen hatte, schien den einen oder anderen doch sehr schnell in seinen Bann zu ziehen. Sie blickte einem Menschen in die Augen, sah sich dann seine beiden Hände an und begann zu sprechen. Leise, flüssig, ohne zu stocken.

Sie sagte keinen Ton über irgendwelche vergangenen Ereignisse. Nur das Kommende stand im Mittelpunkt ihrer Worte. Sie machte genaue Angaben, die von den meisten Zuhörern belächelt wurden. Der eine oder andere, das konnte Cameron jedoch erkennen, war nachdenklich geworden. Diese Nachdenklichkeit verging sehr schnell wieder.

Man sah das Ganze als Unterhaltung, als einen Gag an. Sich sein Schicksal und die eigene Zukunft deuten zu lassen, wurde plötzlich zum Spiel.

Ein Spiel war es auch für Jeremy Tanner, der gegen zwei Uhr morgens mit der Seherin ins Gespräch kam.

Tanner war groß, hager, dunkelhaarig. Er arbeitete für die Regierung, war Wissenschaftler und an der Entwicklung biologischer Waffen beteiligt. Über diese Dinge aber wusste niemand etwas, nicht mal seine besten Freunde. Es war bekannt, dass Tanner als Biologe für das Research-Institut tätig war. Das Research-Institut entwickelte neue Impfstoffe und arbeitete auf dem Gebiet der Gen-Forschung ebenso wie an der Bekämpfung hartnäckiger Krankheitserreger. In den Brutschränken der Forschungsstätte lagerte der millionenfache Tod. Die Labors wurden streng bewacht und waren mehrfach gesichert, damit nichts schief ging.

Tanner hatte an diesem Abend zwei Gläser Champagner getrunken, die meiste Zeit zwischendurch dann nur Fruchtsaftgetränke oder Soda-Wasser. Er musste als einer der wenigen nachts noch zurück. Zu schlafen brauchte er nicht. Er konnte nächtelang wach bleiben und durcharbeiten.

Jeremy Tanner war ein biologisches Phänomen. Wenn er davon sprach, dass er gegen 10 Uhr vormittags bereits wieder in einer Konferenz saß, dann sahen die anderen ihn nur aus großen Augen an.

Das einzige, was er an solchen Abenden nicht tun durfte, war, Alkohol zu trinken. Das gebot auch schon die Vernunft, da rund zwei Autostunden Weg vor ihm lagen.

Der Wissenschaftler lächelte die Zigeunerin an. »Ich sehe, Sie sind gerade frei, ... vielleicht können Sie mir auch mal etwas Schönes sagen ...«

Clara hob kaum merklich die feingeschwungenen Augenbrauen. »Ob es nur etwas Schönes ist, bleibt abzuwarten ...«

»Sie dürfen mir auch Unangenehmes sagen, wenn es sein muss.«

Clara blickte ihn intensiv an. Er spürte den Blick der dunklen Augen auf dem Grund seiner Seele. »Kann ich Ihre Hände sehen?«

»Bitte ...«Er streckt ihr beide entgegen.

Aufmerksam begutachtete die Zigeunerin erst seine linke, dann seine rechte Hand. Jeremy Tanner beobachtete aufmerksam das Mienenspiel der Seherin.

»Wollen Sie wirklich alles hören, Mister Tanner?«

»Wenn ich dazu schon die Gelegenheit hab, natürlich! Sagen Sie mir, wo ich nächstes Jahr um diese Zeit sein werde.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

»Nicht mehr unter den Lebenden, Mister Tanner! Sie werden tot sein und doch existieren ...«

Er starrte sie mit durchdringenden Augen an.

Eine solche Reaktion der Zigeunerin hatte er nicht erwartet.

Um seine Lippen zuckte es. »Das sollten Sie mir schon näher erklären, Clara ... Was sehen Sie noch? Das ist ja hochinteressant ... Sicher können Sie mir weitere Einzelheiten dazu sagen.«

»Ja, das kann ich ...« Sie sprach sehr leise, hielt die Augenlider geschlossen. »Ich sehe Sie am Steuer eines Wagens sitzen ... eine Frau neben Ihnen ...« Er hob die Augenbrauen.

»Sie irren«, sagte er und lachte leise. »Ich bin weder verheiratet noch habe ich eine Freundin ... ich pflege stets allein im Wagen zu sitzen ...«

»Es ist eine fremde Frau«, fuhr Clara ungerührt fort. »Sie trägt ein blaues Kostüm, der Rock ist geschlitzt ...«

»Wunderbar«, grinste Tanner, »so etwas mag ich. Welche attraktiven Besonderheiten weist die Schöne noch auf?«

»Sie ist schlank.«

»Hm, dafür hab ich eine Schwäche.«

»Hat lange, schwarze Haare und trägt am Ringfinger der linken Hand einen kostbaren Smaragd-Ring.«

In Gedanken ließ er die Frauen Revue passieren, die er kannte. Es war keine darunter, auf die die detaillierte Beschreibung gepasst hätte.

»Fehlanzeige, liebe Seherin«, strahlte er, und es beglückte ihn, die Zigeunerin zu kritisieren. »Offenbar haben Sie meine Handlinien mit denen einer anderen Person verwechselt.«

Clara ging nicht auf die Bemerkung ein. »Die Frau braucht Ihre Hilfe ... Sie begegnen ihr auf der Fahrt nach Hause. Und auf dem Nachhauseweg passiert es ...«

»Was passiert?«, fragte Tanner verschmitzt. »Sehen Sie, dass sie sich verführen lässt?«

»Auf der Straße befindet sich eine Ölspur. Sie kommen in eine Kurve und Ihr Fahrzeug gerät außer Kontrolle. Sie fahren gegen einen Baum. Die Frau wird herausgeschleudert und bleibt mit leichten Verletzungen liegen. Sie aber sterben an Ort und Stelle ...«

Jeremy Tanner konnte sich eines gewissen Unbehagens nicht erwehren.

»Nicht gerade angenehm, was Sie mir da erzählen«, sagte er mit belegter Stimme.

»Sie wollten, dass ich Ihnen alles sage. Das habe ich getan.«

»Und Sie sind überzeugt davon, dass alles genau so eintreten wird, wie von Ihnen beschrieben?«

»Es ist das, was ich in Ihren Augen und Ihren Schicksalslinien erkennen kann.«

»Mehr nicht?«

»Es bleibt nicht mehr viel, Mister Tanner ... Der nächste Morgen ist nicht mehr weit. Darüber hinaus gibt es in Ihren Schicksalslinien keine Auskunft. Bis auf eines ...«

»Sie machten vorhin schon eine merkwürdige Andeutung, Clara. Ich werde tot sein, und doch existieren ...«

»Richtig. Darauf bezieht es sich.«

»Sagen Sie mir mehr darüber.«

Sie seufzte und blickte ihn eindringlich an. »Tut mir leid, aber das kann ich nicht.«

»Und warum nicht?«

»Da ist eine Wand ...«

»Verstehe. Schwarzer Nebel ...«

»Ja, so ähnlich. Sie verbirgt Ihre Person. Da ist ein anderer Mann in der Wohnung, die Sie zuvor bewohnten.«

Jeremy Tanner zuckte die Achseln. »Das kann ich mir denken. Man wird sie weitervermieten, wenn ich nicht mehr bin ...«

Das Spiel begann plötzlich wieder zu amüsieren. Den ersten Schrecken hatte er überwunden. Clara verstand ihr Geschäft. Sie hatte schnell erkannt, dass er das, was sie zu sagen hatte, nicht allzu ernst nahm. Deshalb machte sie es um so drastischer, um ihn zu ängstigen.

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist kein Mieter, Mister Tanner ... der Mann ist Ihnen fremd und hat doch etwas mit Ihnen zu tun ...«

»Dunkel ist der Rede Sinn«, konnte Tanner sich die Bemerkung nicht verkneifen.

Wieder überging sie seinen Spott und schien mit ihren Sinnen und Gedanken weit weg zu sein. »Er übernimmt Ihre Wohnung ... Ihre Art zu leben ... Ihre Arbeit ... Das Geheimnis liegt in dem Labor, das Sie dort eingerichtet haben ...«

Da zuckte Tanner doch zusammen. Sie sprach von einem Labor. Sie wusste nichts von seiner wissenschaftlichen Arbeit. Es sei denn, dass Ale Cameron eine Bemerkung gemacht hatte. Aber das war eher unwahrscheinlich. Schließlich wusste auch Ale nicht, dass Jeremy Tanner ein eigenes Labor unterhielt, von dem kein Mensch etwas ahnte. Es waren verbotene Experimente, die er durchführte. Nicht mal seine Vorgesetzten hatten eine Ahnung davon. Er war einen eigenen Weg gegangen, einen sehr gefährlichen.

Er ließ sich die aufkommende Unruhe nicht anmerken.

»Sagen Sie mir mehr darüber«, bat er.

»Über die Experimente, die weitergehen, auch wenn Sie nicht mehr sind?«

Direkter konnte sie nicht fragen. Tanner lief es eiskalt den Rücken runter. Er nickte nur.

»Sie werden den Mann, wenn Sie tot sind, persönlich in seine Aufgabe einweisen, Mister Tanner ...«

»Und wie soll das möglich sein?«

»Haben Sie noch nie von Kontakten aus dem Jenseits gehört?«

»Oh doch, schon eine ganze Menge. Aber ich glaube weder an Stimmen aus dem Jenseits noch an Geistererscheinungen, noch an Botschaften ...«

»Es wird weder das eine noch das andere sein, Mister Tanner. Jemand wird Ihre Arbeit fortsetzen, mit Ihrem Willen und Ihren Vorstellungen. Ich kann es nicht näher begründen. Das Geheimnis liegt dort, wo Sie leben und wirken. Es ist ein sehr altes Haus, das Sie bewohnen, nicht wahr?«

Das stimmte. Tanner musste es zugeben.

Clara nickte. »In diesem Haus ist vor langer Zeit etwas geschehen ...«

»Was?«, wollte Tanner wissen.

»Ich weiß es nicht, weil ich die Menschen nicht kenne, die einst darin wohnten. Sie sind alle tot.«

Die Seherin war an einem Punkt angelangt, an dem sie offensichtlich nicht weiterkam.

Sie wollte schon zum nächsten Klienten weitergehen, als Jeremy Tanner noch mal auf einen Punkt zu sprechen kam, der ihn doch intensiver beschäftigte, als er sich ursprünglich eingestehen wollte.

»Sie haben mir auf einer ganz bestimmten Wegstrecke ein ganz bestimmtes Schicksal vorausgesagt, Clara. Ich bin also vorgewarnt, folglich kann ich diesem Schicksal entgehen ...«

»Das ist ein Irrtum!«

»Ich könnte eine andere Strecke fahren, der Ölspur ausweichen ... Selbst wenn ich den Weg fahre, den ich mir vorgenommen habe, Clara, ich könnte so vorsichtig fahren, dass überhaupt nichts passieren kann ...«

»Und doch wird etwas passieren, Mister Tanner! Haben Sie schon mal etwas vom Schicksalsschlauch gehört?«

»Nein. Was ist das?«

»Stellen Sie sich einen riesigen Schlauch vor, in dem wir uns allesamt bewegen. Innerhalb dieses Schlauches können wir uns vor und zurück, hin und her bewegen. Aber aus dem Schlauch heraus, das können wir nicht. Das ist unser aller Schicksal.«

Er sah ihr nach, als sie im Gewühl verschwand. Wenig später war Clara, die Seherin, mit einem anderen Gast im Gespräch vertieft.

Eine Zeitlang befasste sich Tanner noch mit dem Gehörten. Dann verblassten die Dinge langsam. Er nahm sie nun immer weniger ernst und hielt die Begegnung mit Clara für nichts weiter als eine unwichtige Episode seines Lebens.

Um vier Uhr morgens verabschiedete er sich vom Gastgeber Cameron. Der Millionär begleitete ihn bis zum Lift.

»Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht, Jeremy?«

»Es war wie immer ein Erlebnis.«

»Wie fandest du Clara?«, fragte Cameron unvermittelt.

»Amüsant.«

Cameron hob kaum merklich die Augenbrauen. »Nur amüsant? Hat sie dir denn gar nichts Persönliches sagen können?«

»Doch, eine ganze Menge. Aber du weißt, wie ich zu diesen Dingen stehe. Ich glaube, sie wollte sich nur interessant machen. Es steckt nicht viel dahinter.«

»Sie ist unschlagbar.«

»Kommt wohl darauf an, von welcher Warte man es sieht. Na, ich ruf dich in den nächsten Tagen mal an, Ale ... dann reden wir ausführlich darüber. Bis dahin wird sich dann eine ihrer Prophezeiungen erfüllt haben, oder auch nicht ...«

»Was ist es denn?«, wurde Cameron neugierig.

»Lass dich überraschen.« Fünf Minuten später saß Tanner in seinem nachtblauen Pontiac Grand Prix und raste auf der Ausfallstraße in nordwestlicher Richtung davon.

Sein Ziel war Hartford. Fahrzeit etwa zwei Stunden von New York.

Er war munter, als hätte er sieben Stunden geschlafen und nicht die Nacht durchgefeiert.

Die Straße schimmerte feucht. Es hatte zuvor leicht geregnet.

Tanner war mit der bisherigen Fahrt zufrieden. Er war sogar schneller vorangekommen als erwartet.

Allerlei Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Sie befassten sich zum Teil mit dem, was die Seherin Clara gesagt hatte, zum Teil mit der Besprechung, die vor ihm lag.

Tanner dachte an die Versuchsserie CXP-23. Sie befand sich im entscheidenden Stadium. Zum ersten Mal war es ihm gelungen, die Gen-Struktur von Krankheitserregern derart zu verändern, dass sie auch gegen stärkste Giftdosen unempfindlich geworden waren. Die Erreger hatten darüber hinaus eine völlig neue Eigenschaft entwickelt. Versuchstiere, die damit geimpft wurden, starben binnen weniger Sekunden. Ihre Körper trockneten blitzschnell aus, sie wurden zu Mumien. Gleichzeitig vermehrte sich die Erregeranzahl in dem ausgetrockneten Körper um ein Vielfaches. Wie dies im einzelnen zusammenhing, musste er jetzt noch klären. Es gab niemand, der vom Experiment CXP-23 wusste. Die Versuche spielten sich in seinen hauseigenen Labors ab, und er wusste, dass er eine Revolution einleitete, wenn er den Verantwortlichen einen Tipp zukommen ließ. Ob dem amerikanischen oder russischen Geheimdienst, das blieb sich zunächst gleich. Seine Entdeckung war ein Vermögen wert. Und darauf allein kam es ihm an. Vielleicht konnte er sogar zweimal absahnen, auf der einen wie auf der anderen Seite, wenn er es geschickt genug anfing.

Es kam ihm auf das Geld an, auf viel Geld.

Seltsam ... es hatte mal eine Zeit gegeben, da interessierte ihn das Materielle überhaupt nicht. Er wollte forschen und entdecken, dem allein galt sein Interesse.

Das hatte sich gewandelt.

Er empfand so etwas wie Genugtuung, als er daran dachte, wem er mit seiner Erfindung alles einen Streich spielen und wen er gleichzeitig an der Nase herumführen konnte.

Es wurde ihm nicht bewusst, dass um seine Lippen ein satanisches Grinsen spielte. Hätten seine engsten Freunde ihn so gesehen, sie wären erschrocken gewesen.

Tanner war als strebsam, sympathisch und freundlich bekannt. Diese Art passte nicht zu ihm. Es schien, als hätte etwas anderes von ihm Besitz ergriffen ...

Abrupt brachen seine Gedanken ab, als er sie am Straßenrand stehen und winken sah. Die Scheinwerfer rissen die Gestalt aus dem Dunkeln. Da stand eine Frau. Groß, langbeinig, das schulterlange Haar war schwarz. Sie trug ein blaues Kostüm und eine mit Rüschen besetzte Bluse, deren obere Knöpfe geöffnet waren, so dass er die Spitzen des knappen BHs deutlich sehen konnte ...

Im ersten Moment war es ihm, als ob er träume. Claras Worte kamen ihm wieder in den Sinn.

»Aber, das gibt's doch nicht!«, entfuhr es ihm, ohne dass es ihm bewusst wurde.

Er bremste. Fast zu schnell. Die Reifen quietschten.

Tanner konnte seinen Blick nicht von der Fremden wenden, die hier rund zwölf Meilen von Hartford entfernt, in aller Herrgottsfrühe am Rand der Landstraße stand und per Anhalter mitwollte.

Nein, nicht per Anhalter. Sie hatte etwas auf dem Herzen ... Er erfasste den wahren Grund ihres Winkens erst jetzt.

Einige Schritte hinter ihr stand ein dunkler Chevrolet Caprice. Er war unbeleuchtet und hob sich von dem Hintergrund der schwarzen Stämme, die jenseits der Straße standen, kaum ab.

Tanners Fahrzeug kam zum Stehen. Noch ehe es völlig ausrollte, betätigte er schon den Knopf, der das elektrisch betriebene Fenster zum Beifahrersitz nach unten gleiten ließ.

»Ist etwas, Madam?«, fragte er überflüssigerweise. »Kann ich etwas für Sie tun?«

Die fremde Frau in dem blauen Kostüm trat einen Schritt näher und beugte sich vor dem geöffneten Fenster herab.

»Mein Wagen ist liegengeblieben«, sagte sie rasch.

»Ich werde mal nachsehen ...« Tanner öffnete schon die Tür und wollte nach draußen.

»Vergebliche Mühe!«, rief sie ihm zu. »Ich weiß, was er hat. Ich bin viel unterwegs. Da muss man sich, wenn mal etwas schiefgeht, allein helfen können. Die Lichtmaschine hat einen Schaden ... alle elektrischen Funktionen sind plötzlich ausgefallen. Ohne Werkstatt geht's nicht ...«

»Soll ich Sie abschleppen?«

»Zu umständlich. Es ist ja nur noch ein Katzensprung bis Hartford. Dort wohnt eine Kollegin, mit der ich mich treffen wollte. Wir sind für Lilli's unterwegs, wenn Sie wissen, was ich damit meine ...«

»Schon davon gehört. Vom Baby-Puder bis zum sündhaft teuren Parfüm stellen die alles her, was mit Kosmetik zu tun hat. Dann steigen Sie mal ein, Madam.«

»Jeany, sagen Sie Jeany zu mir ... nichts mit Madam.«

Sie hatte aufregend lange Beine. Der Rock rutschte weit über die Knie, als sie sich neben ihn auf den Beifahrerplatz setzte. Seidig schimmerte das Braun ihrer Nylons. »... in Hartford komme ich schon weiter. Wir sind von einem großen Kaufhaus eingeladen, unsere Produkte vorzuführen.«

»Im Ritchies-Market?«

»Ja! Kommen Sie etwa aus Hartford?«

»Jeremy ... Jeremy Tanner ... ja, ich wohne dort.«

»In einem dieser modernen Kästen?«

»Zum Glück nicht«, lachte er. »Ich würde darin zugrunde gehen ... Sie haben Glück, Jeany, dass Sie mich getroffen haben. Um diese Zeit fährt kein Mensch Richtung Hartford.«

»Ich habe immer Glück«, erwiderte sie einfach. Als er losfuhr, an dem unbeleuchteten Chevrolet vorbei, da durchfuhr es ihn siedendheiß. Er warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf seine Begleiterin. Blaues Kostüm, geschlitzter Rock, der den ihm zugewandten Schenkel halb freilegte, an ihrem linken Ringfinger ein kostbarer Smaragd ... Clara! Ihre Beschreibung und die eingetretene Wirklichkeit passten zusammen. Glück? Hatte Jeany wirklich Glück, oder hatte das Schicksal, über das die Seherin in dieser Nacht so ausführlich gesprochen hatte, die Weichen gestellt? Ein Schicksal, das mit seiner Abfahrt in New York begonnen hatte und zum bitteren Ende führte? Er umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad so stark, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Jeany merkte nichts von seiner Erregung, nichts von den Überlegungen, die ihm durch den Kopf gingen.

Blitzschnell überdachte er die vor ihnen liegende Strecke. Er kannte jede Kurve, jede Abzweigung, jeden Baum, jedes Hinweisschild. Er konnte die Route im Schlaf fahren ...

Selbst wenn es stimmte, dass vor ganz kurzer Zeit ein Wagen die Strecke gefahren war, der Öl verlor, musste nicht notgedrungen das eintreten, was Clara als Schlussfolgerung ausgesprochen hatte.

Wenn die Begegnung mit der hübschen Kosmetik-Vertreterin kein dummer Zufall war, konnte er dem Schicksal noch ein Schnippchen schlagen.

Er fuhr betont vorsichtig.

Sie merkte es, sagte aber nichts. Tanner war seit vier Uhr in der Früh unterwegs. Vielleicht war er müde ...

Noch etwa eineinhalb Meilen, hämmerte es hinter den Schläfen des Wissenschaftlers. Dann kommt eine Abzweigung. Die werde ich nehmen ... Von wegen, Clara, von wegen Unabänderlichkeit des Schicksals ... Wenn ich die Gefahr, die du mir angekündigt hast, bewusst annehme, dann kann ich ihr ausweichen. Ich werde dir beweisen, dass man sein Schicksal in die Hand nehmen kann, es lenken, es verändern ...

Dieser Gedanke beschäftigte ihn massiv. Das bewirkte, dass er seinen Trotz heraufbeschwor.

Warum sollte er seine Fahrtroute ändern?

Das würde doch nur beweisen, dass er die Worte der Zigeunerin viel zu ernst nahm.

Die Begegnung mit Jeany war ein dummer Zufall. Ein Zufall, dass sie so gekleidet war, wie von Clara beschrieben.

Aber das andere brauchte schließlich nicht einzutreten, wenn er sich danach richtete ...

Er war wieder so weit wie vorher.

Der Widerspruchsgeist in ihm war stärker als das Gefühl, da könnte wirklich etwas passieren.

Er ging bewusst weiter mit der Geschwindigkeit herunter.

Jeany hob erstaunt die Augenbrauen. »Sie sind ein sehr vorsichtiger Fahrer«, bemerkte sie beiläufig.

»Haben Sie etwas dagegen?«

»Nicht unbedingt, nein ... ich bin für Vorsicht. Aber ich wundere mich, weshalb Sie auf dieser geraden Strecke verhältnismäßig langsam fahren. Die Straße ist strohtrocken, es herrscht kein Verkehr ... Sie könnten in der Hälfte der Zeit in Hartford sein ...«

»Stimmt.«

»Und warum wollen Sie das nicht?«

»Ich trage schließlich für den Fahrgast, den ich aufgenommen habe, die Verantwortung.«

»Oh, Sie meinen ich fürchte mich vor Tempo?«

»Vielleicht ...«

Jeany lachte leise. »Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Mir kann's nie schnell genug gehen. Ich bin selbst im Jahr rund dreißigtausend Meilen unterwegs. Die kriegt man nur hinter sich, wenn man schnell fährt. Fahren Sie nur zu ... Ich bin nicht so zart besaitet. Im Gegenteil! Je früher ich in Hartford bin, desto besser. Ich werde dort noch genug Zeit verlieren ... jede Minute, die ich also auf andere Weise gewinne, ist mir lieb ...«

Deutlicher konnte die Aussage nicht sein.

Tanner konnte schlecht dagegen argumentieren.

Er fühlte sich veranlasst, nachzugeben.

Was würde seine hübsche Mitfahrerin, die er aufgelesen hatte, von ihm denken, wenn er weiterhin so durch die Landschaft schlich?

Er tat es mechanisch und presste seinen Fuß fester auf das Gaspedal. Der Wagen wurde schneller.

Einen Moment dachte Tanner auch nach diesem kurzen Gespräch mit Jeany nicht an die prophezeite Gefahr.

»Na wunderbar!«, strahlte die schwarzhaarige Schönheit an seiner Seite.

»So sieht's schon günstiger aus ...« Der Morgen graute. Die Straße lag wie ein graues Band vor ihm. Bis zur Kurve, die noch nicht mal angezeigt war, lagen noch eineinhalb Meilen vor ihm.

Wenn er davor langsamer wurde, war es verständlich, und ...

Er sah die dunkle Lache plötzlich auf der Fahrbahn.

Und dann ging auch schon alles rasend schnell, so dass seine Sinne es nicht mehr erfassten ...

Er bremste. Nicht unkalkuliert, sondern mit Bedacht, um nicht ins Schleudern zu kommen. Im gleichen Augenblick bereute er seine Reaktion. Den Wagen einfach weiterrollen lassen ... mit der gleichen Geschwindigkeit. Er erkannte noch seinen folgenschweren Fehler. Er war auf die Ölspur fixiert, wusste, welche Bedeutung sie für sein Schicksal haben konnte, und forderte dieses Schicksal durch sein eigenes Verhalten noch heraus. Er bremste, und der Wagen drehte sich im gleichen Augenblick um die eigene Achse. Wie auf einer Schlittschuhbahn raste er quer über die Fahrbahn. Der Baum! Wie ein riesiger schwarzer Schatten wuchs er vor ihm auf. Ein markerschütternder Aufschrei! Er kam aus Jeanys Mund ... Dann krachte es. Ein hässliches Geräusch entstand, als die Kühlerhaube platzte und der Wagen bis zum Dach aufriss. Die rechte Tür flog ab. Mit ihr wurde Tanners Beifahrerin hinauskatapultiert.

Sie flog dreißig Meter weit durch die Luft und landete bewusstlos zwischen dornigen Büschen.

Jeremy Tanner wurde in dem völlig zertrümmerten Fahrzeug eingekeilt.

Seltsamerweise spürte er keinen Schmerz. Es kam ihm so vor, als schwimme er in einer großen Wanne, die mit warmem Wasser gefüllt war.

Es war sogar angenehm, bis auf die Angst, die langsam das Gefühl des Schwebens und Wohlempfindens durchbrach.

Er würde sterben!

Blitzartig stand die Erkenntnis vor ihm.

Wie lange dieser Gedanke dauerte, ob nur den Bruchteil einer Sekunde oder viele Minuten, das entzog sich seiner Kenntnis.

Aus der Ferne glaubte er ein Geräusch zu vernehmen.

Ein Motor!

Da näherte sich ein Fahrzeug, eine Tür schlug, dann tauchte ein Schatten über ihm auf.

Jeremy Tanner ahnte ihn mehr, als er ihn sah.

»Warten Sie ... ich helfe Ihnen ... verdammt, Sie sitzen darin fest wie angewachsen ... da muss die Feuerwehr her ... Können Sie mich hören?«

Er glaubte zu nicken.

Hilfe war gekommen. Also doch nicht der Tod. Clara, die Zigeunerin, hatte also doch geirrt ... Und dann sprach er doch. Er registrierte seine eigenen Worte, und sie kamen wie selbstverständlich über seine Lippen.

»Wer ... sind Sie?«

»Garner ... Fletcher Garner ... aber das ist jetzt nicht so wichtig ... Verhalten Sie sich still. Man wird Sie schon befreien.«

»Zu spät!« Tanner öffnete die Augen und sah die Gestalt wie ein Schemen. »Das Zischen ... hören Sie nicht das Zischen ... die Benzinleitung ist zerstört, der Motor ist heiß ...« Er wusste es alles, und es war ihm im selben Augenblick auch klar, dass er keine Chance mehr hatte.

Doch allerdings eine andere! Und auch diese Gewissheit erfüllte ihn.

»... Sie werden ... von mir hören ... ich werde weitermachen ... Verlassen Sie sich ... darauf ... Garner ... Fletcher Garner ...«

Dann entstand eine dumpfe Explosion.

Der Mann, der den Eingekeilten gefunden hatte, fand gerade noch die Zeit, sich mit einem Sprung seitwärts in Sicherheit zu bringen.

Die Stichflamme schoss empor, das Feuer lief blitzschnell über den zertrümmerten Motorblock, das Wrack war im Nu eine einzige Lohe.

Der Mann lief bis zur Straße zurück, um sich in Sicherheit zu bringen. Er holte aus seinem Fahrzeug den Feuerlöscher und rückte damit dem Brand zu Leibe. Doch er war zu umfangreich, der Löschschaum reichte nicht aus.

Fletcher Garner blieb nichts mehr übrig, als so schnell wie möglich Richtung Hartford zurückzufahren. Nahe dem Ortseingang gab es eine Telefonzelle. Von dort aus rief der Büroangestellte Polizei und Feuerwehr an und schilderte den schrecklichen Unfall.

Zehn Minuten später waren die alarmierten Helfer zur Stelle.

Das brennende Wrack war schnell gelöscht. Von dem Insassen war nur noch ein kümmerlicher, verkohlter Rest übriggeblieben. Ihm konnte niemand mehr helfen.

Die Polizei suchte die Umgebung ab. Dies war das Glück von Jeremy Tanners Beifahrerin. Man fand die Bewusstlose und brachte sie auf dem schnellsten Weg ins Hospital nach Hartford.

Fletcher Garner gab noch einige Auskünfte, die protokolliert wurden, und nannte Namen und Anschrift für eventuelle Rückfragen an ihn.

Er kam an diesem Morgen fast eine Stunde später in dem Werbebüro an, in dem er arbeitete.

Garner war dreiundvierzig Jahre alt, Junggeselle, Nichtraucher, als fleißig und zuverlässig bekannt.

Der dunkelhaarige Werbegraphiker arbeitete seit rund zehn Jahren für dieselbe Firma, war unauffällig, selten krank gewesen, und sein Leben schien nach genauen Regeln abzulaufen.

Es war Garners erster Unfall. Er beschäftigte ihn. Er konnte das von Agonie gekennzeichnete Gesicht des Eingeklemmten nicht vergessen, auch die Worte nicht, die der Mann offenbar schon in anderen Gefilden, ohne Sinn gesprochen hatte.

Immer wieder klangen sie wie ein Echo in ihm nach.

»... Sie werden von mir hören ... ich werde weitermachen ...«Dies war ein Teil der Botschaft, die er nicht verstand.

Offenbar hatte der verunglückte Fahrer bis zuletzt nichts von seinen Verletzungen geahnt und von seiner Arbeit gesprochen. Wer war er? Was tat er?